Der Bibliothekar als Kultfigur in Cyberspace

Tagtraeume eines deutschen Bibliotheksbenutzers


von Alois Payer

mailto: payer@hbi-stuttgart.de


Zitierweise / cite as:

Payer, Alois <1944 - >: Der Bibliothekar als Kultfigur in Cyberspace : Tagträume eines deutschen Bibliotheksbenutzers. -- Fassung vom 10. Juni 1995. -- URL: http://www.payer.de/einzel/alois.htm. -- [Stichwort].

Anlaß: Vortrag am Bibliothekartag 1995 in Göttingen

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Gruezi miteinand,
meine sehr verehrten, lieben Damen und Herren!

"Es ist wirklich erstaunlich, was jemand mit einer Kenntnis von allgemeinen Katalogwoertern und -phrasen mit Archie zustande bringt. Aber ich vermute, das ist es, wozu Bibliothekare ausgebildet sind." (Zitat)

"Einige der leidenschaftlichsten Benutzer des Internet sind Bibliothekare. (Freilich hat dies nichts mit dem Internet zu tun: Bibliothekare sind von Natur aus leidenschaftlich). Im Internet gibt es so viele Resourcen, dass nur ein Bibliothekar sie alle katalogisieren und beschreiben kann." (Zitat)

Diese zwei Zitate stammen nicht etwa von Fuktionaeren eines bibliothekarischen Berufsverbandes, sondern von Cybergurus, Leuten, die schon im 21. Jahrhundert leben.

Es ist schon ein seltsamen Gefuehl fuer einen alten Mann wie mich: als meine Frau vor ueber zwanzig Jahren ihre Bibliotheksausbildung machte, war ein Bibliothekar ein liebenswertes schrulliges, etwas verstaubtes, rueckwaerts-gewandtes Wesen, und da wacht man eines Tages auf und entdeckt, dass neben einem die Angehoerige eines Berufsstandes liegt, der an der Spitze von Hightech marschiert und eine ganz wesentliche Rolle in den revolutionaeren Vorgaengen spielt, die durch die Moeglichkeiten computervermittelter Kommunikation eingeleitet wurden.

Doch wenn ich nach anfaenglichem Erstaunen mir diesen Wandel im Berufsbild naeher ueberlege, dann weicht die Verwunderung der Einsicht, dass diese Entwicklung ganz konsequent ist. Haben doch Bibliothekare immer schon eine wichtige Rolle gespielt als Vermittler ungleichzeitiger und ungleichartiger Kommunikation. Ungleichzeitige Kommunikation indem Bibliothekare durch ihre Sammlertaetigkeit Kommunikation selbst ueber die Jahrhunderte hinweg ermoeglichen. Vermittlung ungleichzeitiger Kommunikation durch die Haltung und Erschliessung ungeheurer Zeitschriftenbestaende ist fuer uns heute eine solche Selbstverstaendlichkeit, dass wir uns der Leistung der Bibliothekare kaum mehr bewusst sind. Zur Illustration der Leistung von Bibliothekaren als Vermittler ungleichortiger Kommunikation muss ich nur als Beispiel darauf hinweisen, dass Bibliothekare mir ermoeglichen, im vertraeumten Tuebingen besser mit Kollegen in Indien zu kommunizieren, als es an den meisten Orten Indiens moeglich ist.

Auch haben Bibliothekare schon laengst eingesehen, dass die Beschraenkung der vermittelten Resourcen auf gedruckte Medien nicht sinnvoll ist. So bieten mir Bibliothekare schon lange neue Medien an, und gute Auskunftsbibliothekare wissen auch, dass die beste Resourcenvermittlung oft der Hinweis auf eine kompetente lebende Person ist.

Mit diesen nun schon traditionellen Vermittlungstaetigkeiten decken Bibliothekare ein weites Feld dessen ab, was computervermittelte Kommunikation in einem noch nie dagewesenen Umfang und mit voellig neuen Qualitaeten ermoeglicht.

Computervermittelte Kommunikation macht voellig unabhaengig davon, dass die Kommunizierenden am gleichen Ort und zur gleichen Zeit kommunizieren. Sie befreit weitgehend von Ort und Zeit. Computervermittelte Kommunikation befreit auch - und das ist neu - weitgehend von der Bindung von Kommunikation an ein bestimmtes physikalisches Medium, sei es Stimme, Papier, Mikrofilm oder sonst ein bestimmter Datentraeger. Computervermittelte Kommunikation wird ausserdem immer mehr eine Kommunikation von Mensch zu Mensch mit all seinen Sinnen sein. (Weder ein beschriebenes oder bedrucktes Blatt Papier, noch Bildschirm, Maus und Tastatur sind die menschengerechtesten und menschenwuerdigsten Formen von Kommunikation!). Computervermittelte Kommunikation befreit vom Rundfunkmodell der Kommunikation (einer teilt durch ein Buch, einen Aufsatz vielen etwas mit, man macht Retrieval in einer Datenbank) und anderen nicht-dialogischen Kommunikationsmodellen. Computervermittelte Kommunikation ermoeglicht naemlich alle Formen von Kommunikation:
- Eine zu Einer
- Eine zu Vielen
- Viele zu Einer
- Viele zu Vielen

Damit solch maechtige Moeglichkeiten, wie sie computervermittelte Kommunikation bietet, auch sinnvoll genutzt werden koennen, bedarf es Fachleute, die Hilfe und Orientierung bieten koennen und wollen. Und hier ist die Chance fuer Bibliothekare, Kultfiguren im Cyberspace zu werden.

Ich moechte diese Chance mit wenigen Schlagworten andeuten:

Schlagwort 1: Befreiung vom Zwang zur Gleichzeitigkeit

Wenn auch computervermittelte Kommunikation vom Zwang zur Gleichzeitigkeit endgueltig befreit, so besteht doch die Gefahr, dass die Moeglichkeit der Kommunikation ueber die Jahrhunderte hinweg dann verschlechtert wird, wenn sich niemand dafuer zustaendig fuehlt, zu sammeln, zu speichern und das Gespeicherte zu pflegen - klassische Aufgaben von Bibliothekaren! Da nun aber jeder leicht sein eigener Verleger sein kann, stellt sich die Frage, was fuer die Nachwelt gesammelt und gespeichert werden soll und darf. Hierzu gibt es eine relativ einfache Loesung: die URC - Universal Resource Characteristics - . Wenn die URC Informationen darueber enthaelt, wie lange z.B. ein Paper gueltig sein soll, dann kann der Autor in der URC auch angeben, ob und fuer wie lange sein Produkt gesammelt und gespeichert werden soll. Dies waere die Anwendung des Grundsatzes der WELL: You own your own words. Aufgabe der Bibliothekare waere das so bevollmaechtigte Sammeln und Speichern.

Hier eine Kleine Nebenbemerkung: Unsere Bundes- und Landesbibliotheken sammeln mit gesetzlicher Grundlage alle Buecher, Zeitschriften usw. aus ihrem Zustaendigkeitsbereich in gedruckter Form. Dabei wird heute kaum noch etwas gedruckt, ohne dass es zuvor in elektronischer Form vorliegt. Gewiss, das Zugaenglichmachen solcher Werke in elektronischer Form haengt noch von vielen ungeloesten rechtlichen Problemen ab. Wie waere es aber, wenn die Bibliothekare eine Lobby bilden wuerden fuer ein Pflichtexemplarrecht, das die Verleger zur Abgabe der elektronischen Vorlagen ihrer Verlagsprodukte verpflichten wuerde. Diese elektronischen Vorlagen waeren dann so lange gesperrt, bis die rechtlichen Fragen geloest sind bzw. das Copyright erloschen ist. So wuerden Bibliothekare kuenftigen Generationen ersparen, muehsam wieder in elektronische Form bringen zu muessen, was einstmals vor der gedruckten Form schon in elektronischer Form vorlag. (Hinweis auf den Urheber dieses Vorschlags)

Schlagwort 2: Befreiung der Kommunikation von der Abhaengigkeit von Ort, Medium, Verlegern, DFG, Fachreferenten und anderen Zensoren

Nicholas Negroponte, einer der Grossen am Media Lab des Massachusetts Institute for Technology schreibt:
"Thomas Jefferson begruendete oeffentliche Bibliotheken als Grundrecht der Amerikaner. Diesem Vorvater kam aber niemals in den Sinn, dass jeder Buerger jederzeit jede Bibliothek betreten koennte, jedes Buch sofort entleihen koennte, mit einem Knopfdruck, ohne sich auch nur einen Schhritt von zuhause wegbewegen zu muessen. Ploetzlich werden all diese Bibliotheksatome zu Bibliotheksbits und sind jedem im Netz zugaenglich. Das konnte sich Jefferson nicht vorstellen, das stellen sich Autoren nicht vor, das stellen sich Verleger nicht so vor. Das Problem ist einfach. Solange Information an Atomen haengt, so lange braucht man alle moeglichen industriellen Mittel und grosse Unternehmen zur Informations-Lieferung. Wenn aber das Schwergewicht auf die Bits faellt, dann sind ploetzlich die traditionellen Grosskopferten nicht mehr noetig. Do-it-yourself-publishing im Internet ist sinnvoll, bei Verbreitung durch Papier ist es nicht sehr sinnvoll." (Zitat)

Auch Negropontes Bild vom elektronischen Betreten der Bibliotheken ist noch viel zu traditionell. In Wirklichkeit kann sich jeder jederzeit eine virtuelle Bibliothek der Resourcen schaffen, die er gerade wuenscht oder benoetigt. Der tatsaechliche Standort, das urspruengliche Medium der Resource ist voellig unwichtig. Auch kann mir kein Verleger, keine DFG, kein Fachreferent, kein anderer Zensor den Bestand meiner virtuellen Bibliotheken beschraenken. In meinen virtuellen Bibliotheken gibt es keine Giftschraenke, die nicht ich selbst eingerichtet habe.

Das klingt ja alles schoen und recht und ist auch schon beginnende Wirklichkeit. Doch erlebe ich immer wieder, dass auch sehr intelligente Menschen voellig ueberfordert sind, sich ihre virtuellen Bibliotheken ihrer Resourcen aufzubauen oder sinnvoll im Netz zu kommunizieren und publizieren. Dies liegt zum Teil daran, dass sich zum Glueck nicht das erratische Projekt Xanadu durchgesetzt hat, sondern das anarchistische Internet. Allerdings bedeutet im Internet Anarchie zur Zeit nicht nur schoepferisches Chaos, sondern auch Leerlauf-bedingendes Chaos. Hier fuehlen sich die Bibliothekare gefordert. Besonders die deutschen Bibliothekare sind ja Spezialisten im Umgang mit Anarchie, man muss nur an die Verbuende denken. Bibliotheksbau wird eine Aufgabe von allen Bibliothekaren, nicht nur von profilierungssuechtigen Politikern und Bibliotheksdirektoren. Bibliotheksbau aber nicht von Palaesten aus Glas, Stahl und Stein, sondern Bau von Millionen virtueller Bibliotheken im weltweiten Dorf. Die klassische Funktion des Bibliothekars als Vermittler von Resourcen!

Sind damit die Bibliothekare nicht zeitlich voellig ueberfordert? Ganz gewiss! Deshalb werden Bibliothekare ihre ganze Erfahrung einbringen in die Entwicklung von elektronischen Bibliothekaren, Programmen, die dem Benutzer die von ihm gewuenschten Resourcen erschliessen. Solche elektronischen Bibliothekare duerfen keine starren Fach- oder Benutzerprofile sein, sondern sie muessen wie gute Auskunftsbibliothekare lernfaehig und flexibel im Laufe der Zeit die Beduerfnisse des Benutzers immer besser erfuellen.

Schlagwort 3: Befreiung von Kontrolle durch Unternehmer, Interessengruppen, sonstigen "Wohltaetern" der Menschheit

Was nuetzen aber all die Moeglichkeiten computervermittelter Kommunikation, wenn sie letztlich doch wie die meisten klassischen Medien unter die Kontrolle von Unternehmern, Interessengruppen und aehnlichen "Wohltaetern" der Menschheit fallen?

Hier sehe ich eine ganz grosse Aufgabe der Bibliothekare als Lobbyisten der Freiheit, damit die computervermittelte Kommunikation nicht letztendlich doch von den Bertelsmaennern und/oder von Leuten kontrollifert und bestimmt wird, die schon immer wussten, was fuer uns gut oder schlecht ist und wovor wir bewahrt werden muessen.

Meine lieben angehenden Kultfiguren! Entwickeln und pflegen Sie, bitte, zusaetzlich zu Ihren klassischen bibliothekarischen Tugenden noch folgende Eigenschaften:

- ein kindlich-naives Gemuet mit Neugier und Offenheit fuer alles Neue

- die Faehigkeit, alte Denkgewohnheiten aufzugeben, wenn die Voraussetzungen
nicht mehr bestehen, unter denen diese Denkgewohnheiten sinnvoll waren.
Haben Sie den Mut zu sagen: das war 1950 sinnvoll, es war 1970 sinnvoll,
1995 ist es Mist, also weg damit!

Kurz, entwickeln Sie, was man im Zen-Buddhismus "a beginner´s mind" nennt. Dann kann ich voll folgende Aussage von Nicolas Negroponte unterschreiben:

Bibliotheken als Gemaeuer mit Buechern werden immer mehr vergehen
(dafuer sorgt schon der Saeurefrass)
Bibliothekare aber bleiben bestehen(Zitat)

Zurueck zu Tuepfli´s Global Village Library


Anmerkungen

Anm. 0: Archie ist ein Datenbanksystem, das die Verzeichnisse von Anonymous-FTP-Servern erschliesst. Mittels von Archie kann man recht schnell ermitteln, wo bestimmte Files heruntergeladen werden koennen. (Zurueck zum Text)

Anm. 1: Krol, Ed: The whole Internet user´s guide and catalog. - 2. ed. - Sebastopol, Calif. : O´Reilly, 1994. - ISBN 1-56592-063-5. - S. XXIV. (Zurueck zum Text)

Anm. 2: Hahn, Harley: The Internet golden directory / Harley Hahn ; Rick Stout. - 2. ed. - Berkeley : Osborne McGraw-Hill, 1995. - ISBN 0-07-882107-X - S. 394. (Zurueck zum Text)

Anm. 3: Cybergurus sind Gurus (angesehene Lehrmeister) in Cyberspace. Der Ausdruck "Cyberspace" - von griech. kybernao ("Steuermann sein", "steuern") und engl. space - geht zurueck auf den Science-Fiction-Roman "Neuromancer" von William Gibson. Er bezeichnet eine virtuelle, computergeschaffene Realitaet, in der man mittels Gehirn-Computer-Interfaces herumnavigieren kann. (Zurueck zum Text)

Anm. 4: Viele Vernuepfungen mit Resourcen zur computervermittelten Kommunikation findet man in den Telecommunications-Abschnitten von Tuepflis Global Village Library. (Zurueck zum Text)

Anm. 5: Zu URI, URN, URL, URC s. http://www.acl.lanl.gov/URI/. (Zurueck zum Text)

Anm. 6: Die WELL (Whole Earth ´Lectonic Link) ist eine experimentierfreudige virtuelle Gemeinschaft mit Schwerpunkt in Kalifornien. Naeheres zur Well findet man im WELL-Gopher und den WELL-WWW-Pages. (Zurueck zum Text)

Anm. 7: Dieser Vorschlag geht zurueck auf: Negroponte, Nicholas: A bill of writes. - In: Wired. - 3 (1995), 5. - S. 224. (Zurueck zum Text)

Anm. 8: Nicholas Negroponte: e-mail: nicholas@media.mit.edu
Zu Negroponte´s neuestem Buch "Being digital" finden sie im WEB-Server von Randomhouse naehere Informationen und auch einige Auszuege.
MIT Media Lab: http://www.media.mit.edu. Obwohl schon veraltet, ist immer noch lesenswert: Brand, Steward: Media Lab : Computer, Kommunikation und neue Medien ; die Erfindung der Zukunft am MIT. - Reinbeck bei Hamburg : Rowohlt, 1990. - (rororo ; 8169). - ISBN 3-499-18169-X. - Einheitssacht.: The media lab. (Zurueck zum Text)

Anm. 9: Negroponte, Nicholas: Bits and atoms. - In: Wired. - 3 (1995), 1. - S. 176. (Zurueck zum Text)

Anm. 10: Eine hervorragende Darstellung des Projektes Xanadu ist: Wolf, Gary: The curse of Xanadu. - In: Wired. - 3 (1995), 6. - S. 137ff. (Zurueck zum Text)

Anm. 11: Vgl. Negroponte, Nicholas: Less is more : Interface agents as digital butlers. - In: Wired. - 2 (1994), 6. - S. 142. (Zurueck zum Text)

Anm. 12: "Libraries as places and as buildings, are the product of an industrial age, and, sooner or later, will go away. But librarians will not disappear." Negroponte, Nicholas in der Antwort auf eine Leserzuschrift . - In: Wired. - 3 (1995), 4. - S. 28. (Zurueck zum Text)


Autor:
Alois Payer
Buddhologe und Indologe
Universitaet Tuebingen
e-mail: payer@well.com

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