"Wir wollen unsere Mitglieder nicht zu kleinen Indern, Tibetern, Japanern oder Chinesen machen"

Buddhismus für den Westen

Vortrag


von Alois Payer

mailto: payer@well.com


Zitierweise / cite as:

Payer, Alois <1944 - >: "Wir wollen unsere Mitglieder nicht zu kleinen Indern, Tibetern, Japanern oder Chinesen machen" : Buddhismus für den Westen : Vortrag. -- Fassung vom 21. Juli 1998. -- URL: http://www.payer.de/einzel/buddhwest.htm. -- [Stichwort].

Anlaß: Vortrag anläßlich der Ausstellung von Bildern Lama Anagarika Govinda's im Kornhaus Tübingen, 26. März 1998

Erstveröffentlichung: 21. Juli 1998

Überarbeitungen:

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Guten Abend miteinander!

Ich bin ganz überwältigt, daß Sie bei diesem wunderschönen Wetter diesen abgeschlossenen Raum einem schönen Abendspaziergang vorziehen. Ich hoffe, daß wir miteinander eine vergnügliche Stunde verbringen. Buddha hat ja auf der Welt gewirkt, um das Leiden zu verringern, und nicht, um es durch anödende Vorträge über Buddhismus zu vergrößern.

Wie Frau Kasper schon in der Einleitung gesagt hat, stammt das Zitat im Titel des Vortrags von Lama Anagarika Govinda (1898 - 1985), von dem wir jetzt diese nette kleine Ausstellung haben. In seinem sehr lesenswerten Buch "Lebendiger Buddhismus im Abendland", das 1986, also postum erschienen ist, schreibt er über den von ihm gegründeten Orden Arya Maitreya Mandala:

"Wir wollen daher unsere Mitglieder nicht zu kleinen Indern, Tibetern, Japanern oder Chinesen machen, sondern uns vielmehr darum bemühen, zunächst einmal das Wesen unserer eigenen, abendländischen Tradition und Kultur in ihrer ganzen Entwicklung zu begreifen, um davon ausgehend die Traditionen anderer Kulturen zu studieren und sie verstehend achten zu lernen." [Govinda <Lama Anagarika> <1898 - 1985>: Lebendiger Buddhismus im Abendland. -- ISBN 3-502-61233-1. -- S. 26]

Ich muß sagen: dies ist nicht nur für den Orden AMM, sondern das ist wirklich ein Programm für Buddhismus für den Westen.

Überlegen wir uns einmal: "Wir wollen ... unsere Mitglieder nicht zu kleinen Indern, Tibetern, Japanern oder Chinesen machen". Dies ist eine Absage an Exotismus. Exotismus ist ein wichtiger Zugang zu Buddhismus für Leute, die einen Hang zum Exotismus haben. Dieser Exotismus steht in der Nachfolge der Völkerschauen bei Hagenbeck. Das meine ich keineswegs negativ. Ich als Indologe bin natürlich auf dieser Schiene und habe sehr viel übrig für Räucherstäbchen-Buddhismus, für tibetische Trompeten, für Gongs und alles mögliche. Wenn ich es mir aber genau überlege, ist die Botschaft Buddhas ja eigentlich nicht an solche Vorlieben für Exotisches gebunden. Ich habe in den alten buddhistischen Schriften nirgendwo gefunden, daß der Buddha gesagt hat: Du mußt zuerst Räucherstäbchen lieben oder dein Herz muß zuerst in Laos oder sonstwo an einem exotischen Ort daheim sein, und dann reden wir weiter miteinander. Das kann es nicht sein!

Weiters schreibt Lama Anagarika Govinda an der genannten Stelle, daß wir uns bemühen sollen, zunächst unsere eigene Tradition und Kultur zu begreifen. Wie wir sehen werden, versucht der Buddhismus, eine Anleitung zu sein, das, was wir Wirklichkeit nennen, etwas anders anzuschauen. Das ist das Zentrum der buddhistischen Lehre: die Wirklichkeit selbständig anders anzuschauen, nicht aber in einer fremden Sprache etwas nachzuplappern. Weder Sanskrit, noch Pali, noch Tibetisch ist heilsnotwendig. Es wäre schlimm, wenn unser Heil an die Kenntnis dieser Sprachen gebunden wäre. Es geht also nicht um das Nachplappern in einer Sprache, die nicht die unsere ist. Wenn wir uns gegenseitig mit indischen Termini bewerfen, klingt das gut, schafft es uns Ansehen und Respekt. Das ist alles recht und gut, aber ist das Heil wirklich davon abhängig?

Unsere eigene Kultur begreifen, heißt auch, daß wir die Errungenschaften unserer Kultur nicht verleugnen. Wir haben die Aufklärung durchgemacht. Wir haben Erfahrung im Umgang mit historischen Dokumenten. Wir denken historischer als z.B. die meisten Inder, ganz einfach weil wir andere Erfahrungen z.B. im kritischen Umgang mit religiösen Schriften gemacht haben. Albert Schweitzer (1875 - 1965) schreibt im Vorwort zur 6. Auflage seiner "Geschichte der Leben Jesu Forschung" (1950) sehr schön über diese Errungenschaft des Abendlandes:

"Die Leben-Jesu-Forschung ist eine Wahrhaftigkeitstat des protestantischen Christentums. In der Darstellung ihres Verlaufes lasse ich eine Epoche wissenschaftlicher protestantischer Theologie vor den späteren Generationen wieder aufleben. Mögen sie den Willen zur Wahrhaftigkeit, der jene Generationen beseelte, miterleben und dadurch in der Erkenntnis gefestigt werden, daß unbeirrbare Wahrhaftigkeit zum Wesen echter Religiosität gehört." [Schweitzer, Albert <1875 - 1965>: Gesammelte Werke in fünf Bänden. -- Bd. 3. -- Zürich : Ex Libris, [o.J.]. -- S. 36f.]

Wir haben im Westen erlebt wie protestantische Theologen eine solche Wahrhaftigkeitstat von Innen heraus gemacht haben mit der Entmythologisierung ihrer Religion. Eine solche Wahrhaftigkeitstat steht uns Buddhisten noch bevor: von innen her, als Wahrhaftigkeitstat von Buddhisten, nicht von außen, von Leuten, die in solch vornehmer Distanz zum Buddhismus stehen, daß 20 Jahre nach ihrem Tod ihre Schüler immer noch darüber rätseln, wie sie persönlich zum Buddhismus gestanden sind; und dies, obwohl sie sich 60 Jahre lang damit beschäftigt haben. Solch vornehmen Geistern sollten wir diese Wahrhaftigkeitstat nicht überlassen. Auch dies bedeutet, unsere eigene Kultur und Tradition begreifen und aus ihr lernen.

Keine kleinen Inderlein usw. machen, bedeutet auch, Tibeter, Inder, Japaner und Chinesen nicht nachäffen in Organisatorischem und anderem, was bei diesen vielleicht einen guten Sinn hat. Wenn ich hier in Deutschland mit kahlgeschorenem Haupt herumlaufe, dann ist die erste Assoziation der Leute: das ist ein Skinhead, und nicht: das ist jemand, der der Welt entsagt hat. Wenn ich in Deutschland mit einem dünnen gelben Baumwolltuch herumlaufe und vor der Wahl stehe, mich darunter dick anzuziehen oder zu erfrieren, dann ist der Sinn dieses Baumwolltuches, das es als Kleidung in einem tropischen Land hatte, futsch. Warum also dieses Nachäffen?

Aber Lama Anagarika Govinda geht noch weiter. Er fordert, das Wesen unserer Kultur in ihrer ganzen Entwicklung zu begreifen. Beim Versuch, dieser imposanten Forderung auch nur ganz entfernt nachzukommen, werden wir sehen, daß es auch in unserer Kultur schon ganz kluge Leute gegeben hat, hochachtenswerte Leute, die schon manches erkannt haben, was zutiefst buddhistisch ist, und dies in unserer Sprache in unseren Denkweisen ausgedrückt haben. Dies ist gar nicht verwunderlich. Ich sage ganz ehrlich: Mir käme der ganze Buddhismus äußerst suspekt vor, wenn das nicht so wäre. Die Buddhisten behaupten vom Buddhismus, daß die buddhistische Lehre allgemeine Gesetzmäßigkeiten darstellt, nicht irgendeine Privatoffenbarung. Da wäre es doch sehr seltsam  und zutiefst verdächtig, wenn in den Tausenden von Jahren unserer eigenen Traditionen und Kultur sich nicht viel finden würde, was wenigstens Teile und Aspekte dieser Gesetzmäßigkeiten ausdrückt.

So dürfen wir uns nicht wundern, daß Martin Luther (1483 - 1546) in seinem Großen Katechismus (1529) in der Auslegung des Ersten Gebotes Aussagen darüber gemacht hat, wie wir unser Herz an Abergötter hängen, wozu jeder Buddhist sagen muß, daß er es auch nicht besser ausdrücken kann. Der Unterschied zwischen Luther und Buddha ist, daß es für Luther neben den vielen Abergöttern, als da sind Geld, Kunst, Macht usw., auch den einen Gott gibt, an den man sein Herz zu recht hängen kann. Für Buddha dagegen gibt es nur Abergötter. Das Überwinden der Abgötterei ist das Zentrum des Buddhismus. Hohlheit, ein zentraler Begriff im Großen Fahrzeug des Buddhismus, bedeutet ja nichts anders als Überwinden der Abgötterei, Abwendung von den vielen Göttern, die wir uns machen, an die wir unser Herz hängen, dann zutiefst enttäuscht werden und uns so Leid schaffen.

Jemand anderes in unserer Tradition, der zutiefst buddhistische Einsichten gewonnen hat und sie äußerst klar ausgedrückt hat, ist der große Physiker Ernst Mach (1838 - 1916). In seinen "Antimetaphysischen Vorbemerkungen" zu "Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis der Physischen zum Psychischen" (1900) hat er selber Auffassungen zur Auflösung unserer Seelenvorstellungen und ähnlicher Konstruktionen   entwickelt, die für das Verständnis der buddhistischen Lehre von der Seelenlosigkeit und Herrenlosigkeit sehr nützlich sind. Die meisten von uns sind keine Ernst Mach's. Wir müssen also dankbar sein, daß wir so etwas in unserer Sprache, in unserer Denkweise und in unserer Tradition vorfinden. Das Faszinierende an Ernst Mach ist, daß er auch praktische Konsequenzen aus seiner Sicht der menschlichen Wirklichkeit gezogen hat.

Ich habe bisher so getan, als ob Buddhismus für den Westen überhaupt Sinn macht. Eigentlich habe ich Ihren lauten Protest dagegen erwartet. Buddhismus hat ja keinen Wert an sich, höchstens einen antiquarischen Wert, weil er so alt ist. Auch bietet der Buddhismus keine heilsnotwendige Institution, an deren Ausbreitung in den Westen ein verständliches Interesse bestände. Man kann nicht sagen: Du mußt Mitglied in unserem Verein werden, denn außerhalb davon gibt es kein Heil. Wir bekommen nicht einmal Kirchensteuer -- also gibt es keinen zwingenden und unmittelbar einleuchtenden Grund für die Ausbreitung des Buddhismus im Westen.

Ich will also jetzt die Verpflichtung einlösen, ihnen ein paar Gedanken vorzulegen, aufgrund derer Sie selbst entscheiden können, ob ein Buddhismus für den Westen notwendig -- die Not wendend -- ist, ob es sich lohnt, sich für so etwas einzusetzen, da hinein sein Gedankenschmalz, seine Energien und sonstiges zu vergeuden oder nicht zu vergeuden.

Um einige häufige Mißverständnisse von vornherein abzuwehren, will ich zunächst einmal ein paar negative Aussagen machen:

Buddhisten sind, um mit dem Konstanzer Soziologen Detlef Kantowsky (1936 - ) zu sprechen, keine Vereinigung von Leuten, die im Stechschritt zum Nirwana marschieren. Ich habe nichts dagegen, wenn man so etwas Buddhismus nennt; aber mit dem historischen Buddhismus und dem Buddhismus der Länder, in denen es Buddhisten in größerer Zahl gibt, hat ein Stechschritt-Buddhismus reichlich wenig zu tun. Buddhisten denken nämlich in geologischen und paläontologischen Zeiträumen mit vielen Wiedergeburten. Darum hat man mit sich selber und mit anderen viel Geduld. Für einen Buddhisten ist es super, wenn man ihm sagen kann: In 2500 Jahren schaffst du die Erlösung. Damit sind wir schon wieder beim Buddhismus für den Westen: während die vielen Wiedergeburten für die meisten Buddhisten des Ostens eine kulturelle Selbstverständlichkeit sind, ist Wiedergeburt für viele im Westen etwas zumindest Zweifelhaftes. Ich würde auch nicht jemandem im Westen gleich die vielen Wiedergeburten um die Ohren knallen. Was wir im Westen sofort lernen können, ist diese Sicht von allem unter geologisch-paläontologischem Zeitaspekt. Das ist etwas, was uns eher schnell zugänglich ist; dann können wir uns noch immer über die Wiedergeburten unterhalten.

Eine weitere negative Aussage: Buddhisten sind keine Bessermenschen. Der gute Mensch von Buddhisthan existiert ebenso wenig wie der gute Mensch von Jesusthan, der gute Mensch von Marxosthan oder sonst irgendwo. So lange sie unerlöst sind, sind Buddhisten Menschen wie du und ich. Unerlöste Buddhisten jagen in Gier, Haß und Verblendung demselben Wahnsinn nach wie wir.

Noch eine negative Aussage: Buddhismus ist kein Diskutierzirkel und auch keine scharfsinnige Denksportaufgabe. Das betone ich hier in Tübingen: da hat man mit Theologen immer ein bißchen ein Problem. Solch beliebte Kaffeekränzchen-Unterhaltungen wie die Lehre vom Nicht-Ich oder von der Leerheit finden hellen Anklang. Auch ich liebe solche Unterhaltungen. Am Ende langer Diskussionen, in denen man sich geistig die Köpfe gegenseitig eingeschlagen hat, merkt man dann vielleicht, daß all das geistvolle Gerede wenig Relevanz hatte für den Zweck des Buddhismus. Die Intention des Buddhismus ist der Umgang mit unseren alltäglichen Erfahrungen von Leiden, von Alter, Krankheit, Tod, unliebsamen Erfahrungen mit unseren Mitmenschen, Frustration usw. Umgang also mit Problemen, die wir auch 1998 noch haben.

Deswegen sind Buddhisten auch keine Spezialisten mit einem Bauchladen für Esoterik oder sonst etwas solches. Da ist man bei Buddhisten an der falschen Adresse: das machen andere besser. Es geht wirklich nicht um Esoterisches, sondern es geht um etwas ganz zentrales Alltägliches, nämlich Leiden. Nicht um abstraktes Leid, sondern um Leiden wie wir es alle erfahren.

Ausgangspunkt des Buddhismus ist die Erfahrung von Leiden, konkret von Alter, Krankheit und Tod, Zusammentreffen und Zusammensein mit etwas, was man nicht mag, etwas Unangenehmen, Widerwärtigen, Getrenntsein und Getrenntwerden von dem, was man mag, und die Frustration, wenn man etwas erreichen oder haben möchte und es nicht bekommt. Das ist der Ausgangspunkt.

Dazu behaupten Buddhisten, daß sie eine Lösung dafür haben, nämlich Einsicht in die Bedingungen von Leiden und Aufhebung dieser Bedingungen. Wenn etwas schon existiert, kann man nichts dagegen tun. Man kann nur etwas, was in der Zukunft sein könnte, vermeiden, indem man die Bedingungen dafür nicht setzt. Bedingung für Leiden ist das Sich-Selbst-Durchsetzen, die Selbstverwirklichung, die Gier, eben all das, was unsere Welt im Gange hält. Diese Selbstverwirklichung, dieses Sich-Selbst-Durchsetzen wird durch Selbst-Losigkeit überwunden. Selbstlosigkeit als solche ist nichts Außergewöhnliches. Wie viele sind doch selbstlos für Gott, Kaiser und Vaterland gefallen! Wie viele haben selbstlos für irgend etwas sich gegenseitig die Köpfe eingehauen und ihren eigenen Kopf hingehalten! Das Entscheidende an der buddhistischen Sicht von Selbstlosigkeit ist, daß die Selbstlosigkeit nicht in ein höheres Selbst, eine höhere Einheit integriert wird, auch nicht in den Buddhismus, in Buddhas Willen oder dergleichen. Das ist schwierig. Natürlich kann ich auch im Namen des Buddhismus etwas machen, z.B. Andersdenkende verfolgen; dabei bin ich ganz selbstlos. Aber das wäre genau das Verkehrte. Es ist eine Selbstlosigkeit ohne Integration in eine höhere Einheit, in der man dann zwar selbst selbstlos ist, die aber als solche alles andere als selbstlos ist. Buddhismus ist nach meinem Verständnis eine Anleitung, den Weg zu dieser Art von nichtintegrativer Selbst-Losigkeit zu gehen. Dazu muß man Gesetzmäßigkeiten, Regelmäßigkeiten kennen. So wie man, um einen elektrischen Apparat zu bauen, eine Ahnung von den Gesetzmäßigkeiten der Elektrizität haben muß, so muß man, um den Weg zur Befreiung vom Leiden durch Selbstlosigkeit, Gierlosigkeit gehen zu können, die Gesetzmäßigkeiten des Entstehens von Leid, von Gier und von Selbstdurchsetzung kennen.

Die erste Stufe dieser Gesetzmäßigkeiten ist das, was man als Karma bezeichnet. Karma bedeutet ja nicht, daß meine Frau einmal Kleopatra war, ich der Löwe der Kleopatra (und daß wir dann beide in "Asterix und Kleopatra" verfilmt wurden). Karma heißt, daß wir zu sehen lernen, wie oft wir uns selbst Leiden schaffen. Wir drücken das ja auch in unserer Sprache aus: "Ich rege mich über etwas auf." Mich regt nichts auf, aber ich rege mich darüber auf. Das verdirbt mir meine ganze Laune, macht mich grantig und bereitet mir eine Menge Leid. "Ich bin frustriert." Warum? Weil ich mir selbst irgendwelche Flöhe in den Kopf gesetzt habe. Diese Einsicht nenne ich Karmasicht. Das ist etwas ganz anderes als Karma-Ideologie. Wir machen die Karmasicht, die Anleitung, Leiden zu vermindern, kaputt, wenn wir daraus eine Ideologie machen und sagen, auch wenn wir gar keinen Zusammenhang sehen: Das wird schon irgendwie Karma sein. Das ist Blödsinn. Das ist schädlich. Das ist Quatsch. Karma ist aber kein Quatsch: es ist eine Sichtweise, die uns eine wichtige Ursache von Leiden erfahrbar erkennen läßt.

Nach diesen Vorbemerkungen noch etwas zur Methode buddhistischer Anleitung. Es dürfte schon klar geworden sein, daß buddhistische Unterweisung nicht darin besteht, daß man den Leuten die vier edlen Wahrheiten um die Ohren knallt. Nach einer Überlieferung, die von allen Richtungen des Buddhismus gut bezeugt wird, ereignete sich wenige Monate vor dem Lebensende des historischen Buddha Gautama folgende Begebenheit:

König Adschatasattu (Ajatasattu) von Magadha, schon seit vielen Jahren ein begeisterter Anhänger des Buddha, will einen Angriffs- und Eroberungskrieg gegen eine benachbarte Föderation von zwei Republiken führen. Er schickt darum seinen Minister zum Buddha, damit dieser Buddhas Rat hole. Stellen Sie sich das einmal vor! Und wie reagiert nun der Buddha? Buddha ist nicht entsetzt und sagt nicht: "Ja mei, jetzt hat dieser Depp noch immer nichts vom Buddhismus verstanden!" Buddha hebt auch nicht den Zeigefinger und sagt nicht: "Du! Du! Du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, und vor allem sollst du nicht gierig sein!" Nichts von alledem. Nein, der Buddha weist darauf hin, daß bei dieser Republiken-Föderation bestimmte politische und andere Sitten herrschen, die es unmöglich machen, daß Angriffs- und Eroberungskriege gegen sie Erfolg haben. Buddha schließt sinngemäß so: "So lange diese Konföderation ein einig Volk von Schweizern ist, so lange ist ein Krieg gegen sie aussichtslos."

Was können wir aus dieser Story lernen? Erstens: buddhistisches Lehren ist geduldig. Zweitens: buddhistische Beratung geht auf den individuellen Horizont des Ratsuchenden ein. Man sieht und akzeptiert, daß die Menschen unterschiedlich sind. Nach einem schönen buddhistischen Gleichnis gleicht die Menschenwelt einem Lotusteich am Morgen: einige Lotusse haben ihre Köpfe weit unter der Wasseroberfläche im Schlamm, einige Lotusse haben ihre Köpfe direkt unter der Wasseroberfläche und einige heben ihre Köpfe aus dem Wasser heraus und haben wunderschöne, geöffnete Blüten. Die Unterschiede in den -- wenn man so will -- geistlichen Entwicklungsstadien dürfen nie Anlaß zu Hochmut sein. Ich denke, solcher Hochmut wäre lächerlich. Wenn jetzt der Buddha daher käme oder ein Buddhist, der gerade sein Ziel erreicht hat, und sich hochmütig über uns auslassen würde, dann würden wir zu Recht antworten: Was hast denn du die letzten zwei Millionen Jahre gemacht? Warum hast denn du so viele Äonen von Geburten gebraucht bis du so weit gekommen bist, wie du jetzt bist? Auch der Buddha hat Tausende von Geburten gebraucht bis er ein Buddha war.

Nach diesen Vorbemerkungen will ich jetzt zum eigentlichen Thema kommen: ein paar Gedanken, die Ihnen ermöglichen sollen, selbst zu entscheiden, ob das am Anfang zitierte Programm von Lama Anagarika Govinda für einen Buddhismus für den Westen überhaupt sinnvoll ist, oder ob Buddhismus doch eher etwas fürs Museum ist.

Ich werde meine Anregungen in zwei Teile teilen: einerseits Lockerungsübungen, andrerseits Anleitung zur richtigen Sicht der Wirklichkeit.

Die Lockerungsübungen dienen der Auflockerung der Fesseln durch unsere ganze Selbstsucht, Selbstdurchsetzung, sei es unseres individuellen Selbst, sei es einer höheren Einheit, als deren Teil und Funktionsglied wir uns sehen. Selbstlosigkeit im Sinne des Buddhismus bedeutet ja -- wie wir schon gehört haben -- nicht Integration in eine höhere Einheit, wie das All, Gott, Gottes Wille, die Menschheit, die Evolution usw.

Die erste Lockerungsübung ist Freigebigkeit, und zwar ganz normale materielle Freigebigkeit. Wir können schon bei kleinen Kindern beobachten, wie wichtig Freigebigkeit zur Überwindung der Egozentrik ist. Natürlich hat die Betonung der Freigebigkeit im Buddhismus auch einen Hintergedanken: der buddhistische Orden ist von der Freigebigkeit der Laien abhängig. Da der buddhistische Orden immer schon aus Menschen wie du und ich bestand, hat dieses aufs eigene Überleben bezogene Motiv immer auch eine Rolle bei der Empfehlung von Freigebigkeit gespielt. Aber das ist nicht alles: Freigebigkeit, bei der die richtige Einstellung entscheidend ist, ist Ausdruck von Nichtgier und Nichthaß. Freigebigkeit ist so eine Lockerungsübung, um sein Festhalten, sein Anhaften, seine Gier, seine Aggression zu vermindern. Der Geber erfährt unmittelbar die Vorzüge der Freigebigkeit: er wird seiner Mitwelt lieb und angenehm, Menschen und Tiere mögen ihn, er kann selbstsicher, ohne Befangenheit auftreten, er ist eine angesehene Person. Das ist Karma. Freigebigkeit ist eine sehr wichtige Lockerungsübung, wir dürfen sie nicht unterschätzen und sie beiseite legen, um angeblich zu den zentraleren Punkten des Buddhismus vorzudringen. Doch Freigebigkeit ist nicht genug!

Die zweite Lockerungsübung sind die Trainingspunkte der Sittlichkeit. Man kann die ganze buddhistische Laienethik als Form der Freigebigkeit zusammenfassen: als die freigebige Gabe der Angstlosigkeit und Furchtlosigkeit. Kurz zusammengefaßt lautet die gesamte buddhistische Ethik so: Ich trainiere ein solches Verhalten, daß meine Mitwelt vor mir möglichst keine von mir verursachte Angst und Furcht haben muß. Das ist die ganze buddhistische Ethik. Und Sie sehen: es ist eine reine Sozialethik. Allerdings klingt diese Formulierung sehr abstrakt. Jemand, der im harten Erwerbsleben steht, hat nicht die Zeit, sich die Anwendungen dieses Prinzips im Einzelnen zu überlegen. Deshalb ist die buddhistische Laienethik in fünf Übungspunkten spezifiziert.   Im einzelnen bedeutet dieses ethische Prinzip also:

  1. ich trainiere ein solches Verhalten, daß meine Mitwelt von mir keine Verletzung ihrer körperlichen Unversehrtheit befürchten muß -- das ist der erste Übungspunkt der Sittlichkeit: Enthaltung vom Töten von Lebewesen
  2. ich trainiere ein solches Verhalten, daß meine Mitwelt von mir nicht Verletzung von Besitz und Eigentum, von Hab und Gut befürchten muß -- das ist der zweite Übungspunkt der Sittlichkeit: Enthaltung von Diebstahl
  3. ich trainiere ein solches Verhalten, daß andere von mir nicht die Verletzung erotisch-sexueller Treueversprechen oder sexuelle Gewalt und sexuell-erotische Verletzungen befürchten müssen -- das ist der dritte Übungspunkt der Sittlichkeit: Enthaltung von sexuell-erotischem Fehlverhalten (auch dies rein sozialethisch)
  4. ich trainiere ein solches Verhalten, daß meine Mitmenschen nicht befürchten müssen, von mir betrogen, hintergangen, denunziert, verbal verletzt oder zum Gegenstand von Geschwätz gemacht zu werden -- das ist der vierte Übungspunkt der Sittlichkeit: Enthaltung von Lügen, Hintertreiberei, Denunziation, verbalen Grobheiten, Klatsch und Geschwätz
  5. ich trainiere ein solches Verhalten, daß die Gesellschaft und die von mir Abhängigen nicht befürchten müssen, daß ich schuldhaft meinen sozialen Verpflichtungen nicht nachkomme, weil ich ein Drogenabhängiger werde -- das ist der fünfte Übungspunkt der Sittlichkeit: Enthaltung von Rauschmitteln, die Anlaß zu Nachlässigkeit sind. Es wird oft so getan, als ob dieser Übungspunkt lautete: Enthaltung von Rauschmittel. Der Zusatz "die Anlaß zu Nachlässigkeit sind" zeigt aber ganz deutlich, daß auch dieser Übungspunkt sozialethisch zu verstehen ist

Man könnte die ganze buddhistische Laienethik auch positiv ausdrücken. Dies ist im Bekenntnis der Deutschen Buddhistischen Union (DBU) sehr schön zusammengefaßt:

"Zu allen Wesen will ich unbegrenztes Wohlwollen, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut entfalten, im Wissen um das Streben aller Lebewesen nach Glück."

Bei der Entfaltung einer solchen Einstellung beginnt man am besten mit sich selber: Wohlwollen usw. gegenüber sich selber, dann dehnt man sie allmählich aus auf Wesen, bei denen es einem relativ leicht fällt, dann auf Wesen, bei denen es einem schwer fällt, von der Heiligen Dreifaltigkeit bis zu armen Teufeln in irgendeiner Hölle.

Ein wichtiger Begriff ist dabei das Einüben, das Entfalten. Es ist kein Alles-oder-Nichts-Standpunkt. Ein solcher Standpunkt würde immer wieder zu neuem Leid führen. Wenn ich z.B. ein Geschäftsmann wäre und beschlösse, ab sofort nicht mehr zu betrügen, dann wäre dies wahrscheinlich einer der guten Vorsätze, mit denen bekanntlich der Weg zur Hölle gepflastert ist. Wenn ich aber 1998 meine Betrügereien um 20 Prozent heruntersetze, dann ist das schon ein toller Erfolg.

Trainingspunkte der Sittlichkeit sind etwas zum geduldigen Einüben, es sind keine Gebote. Würde ich mir jetzt in den Kopf setzen: die buddhistischen Grundsätze der Sittlichkeit sind toll, ab heute halte ich sie ein, dann wäre dies der Anfang von Frust, und damit neuem Leid, also das Gegenteil einer Lockerungsübung. So etwas wäre auch eine Allmachtsträumerei. Und wie wir später noch sehen werden, ist eine ganz wichtige buddhistische Einsicht, daß es niemand Allmächtigen gibt, der Herr über die Situation ist.

Der Nutzen der Einstellungen des Wohlwollens, des Mitgefühls, der Mitfreude und des Gleichmuts und der daraus fließenden Gedanken, Worte und Werke kommt zunächst und in erster Linie dem zu, der diese Haltung in Gedanken, Worten und Werken entwickelt. Aversionen, Grausamkeiten, Neid und fehlender Gleichmut plagen vor allem den, der solche negativen Einstellungen hat. Wie sehr kann uns Neid umtreiben! Wie aus solchen Einstellungen kommende Worte, Taten und Verhalten beim Adressaten ankommen, das haben wir ziemlich wenig in der Hand. Mißverständnisse, böswillige Fehlinterpretationen unserer Handlungen gehören zu unserer täglichen Erfahrung.

Der Inhalt der vier genannten Haltungen wird in ihren Formeln sehr klar ausgedrückt:

So viel zur zweiten Lockerungsübung, den Trainingspunkten der Sittlichkeit.

Nun eine dritte Lockerungsübung: die Relativierung der Freuden und des Glücks. Diese Funktion erfüllten im alten Buddhismus unter anderem die Himmel. Warum? Dazu gibt es eine wunderschöne Story, egal ob sie historisch stimmt oder nicht. Ein Mönch zu Buddhas Zeiten geht morgens auf den Almosengang, sieht eine junge Frau, entbrennt in heißer Leidenschaft für sie, geht zu Buddha und sagt diesem: "Ich habe heute ein Weib gesehen, da halte ich es im Orden nicht mehr aus, ich muß aus dem Orden austreten." Buddha fragt: "War diese Frau schön?" "Ja, wunderschön. Mindestens so schön wie Claudia Schiffer." Wie reagiert Buddha? Nicht so, wie wir es vermutlich täten. Buddha erinnert den Mönch nicht daran, daß auch diese Frau einmal alt und weniger schön wird. Er sagt auch nicht, daß hinter der schönen Figur vielleicht eine richtige Bißgurn (= Reibeisen)  steckt. Nein, Buddha weiß, daß all dies bei einem verliebten Gockel nichts nützt. Statt dessen hat Buddha diesen Mönch in einen Himmel versetzt: dort waren Göttinnen, eine fescher als die andere. Dann kam der Mönch aus dem Himmel wieder zurück. Da sagt ihm der Buddha. "Du wolltest doch aus dem Orden austreten, das können wir jetzt machen." Doch der Mönch wollte nicht mehr. "Du hast doch dieses tolle Weib bei deinem Almosengang gesehen!" "Ach was, so toll ist die ja nun auch wieder nicht." Wir sehen: das Bessere ist des Guten Feind. Heute brauchen wir für diese Relativierung keine Himmel mehr dafür. Wir erfahren das in unserer schnellebigen Zeit täglich: unsere ganze Wirtschaft und Gesellschaft beruht ja darauf, daß wir immer Besserem und Neuerem nachrennen. Jetzt haben wir es erwischt und in fünf Jahren halten wir es für schlecht, minderwertig usw. Ich erinnere mich noch gut an 1964/65: wir standen in Innsbruck vor dem ersten Computer. Es war eine Zuse VI. Wir haben ihn so bewundert und ich war von dem Ding so begeistert, daß ich daheim immer nur von der Zuse erzählte. Meine Mutter verstand immer "Suse" und war ganz wütend, da sie meinte ich hätte mich in eine Suse verliebt. Wenn ich heute einen Computer mit der Leistung der Zuse VI an irgendeinen Buben verschenke, dann schmeißt ihn mir dieser an den Kopf, denn jedes Nintendo ist bedeutend leistungsfähiger. Man sieht daran: Das Bessere ist des Guten Feind. Dies ist eine Lockerungsübung, die vielleicht zur vierten Lockerungsübung führt, die einem hilft einzusehen, daß alles Gute doch ein bißchen hohl und leer ist. Dann könnte man sich in einer sechsten Lockerungsübung Gedanken machen über den Vorteil von Entsagung.

Ich stelle diese Lockerungsübungen hintereinander dar, weil ich sie in einem Vortrag nicht anders als in einer Zeitreihe darstellen kann. Das bedeutet aber nicht, daß sie in der Realität des Lockerungstrainings auch so hintereinander stehen sollten. Nein, sie sind miteinander verzahnt.

Neben all dem Gesagten gibt es noch einen Komplex von Lockerungsübungen. Sie werden sich bestimmt schon wundern, daß bis jetzt noch gar nichts über Meditation gesagt wurde. Dabei ist doch Meditation nach geläufigem Verständnis das A und O des Buddhismus. Der Komplex von Lockerungsübungen, den ich nun erwähnen werde, ist der Komplex Ruhigwerdemeditation. Diese Lockerungsübung ist im Gegensatz zu den zuvor genannten Lockerungsübungen nicht notwendige Bedingung für die Erlösung, sondern nur förderliche Bedingung. Ruhigwerdemeditation kann helfen, Gelassenheit, Gleichmut zu erreichen, und damit einen Abstand zur Wirklichkeit, der hilfreich ist, das, was wir als Wirklichkeit bezeichnen, einmal unbefangen anzuschauen. Eine solche unbefangene Sicht der Wirklichkeit ist ja sehr schwierig: wir stehen mitten in der Wirklichkeit und können uns nicht einfach aus ihr hinauskatapultieren.. Die Lockerungsübungen der Ruhigwerdemeditation sind nichts spezifisch Buddhistisches. Solche Lockerungsübungen können sie in mancher christlichen Gruppe ebenso wenn nicht besser lernen. Auch autogenes Training gehört z.B. hierher. Es ist nur eine Lockerungsübung, nicht der eigentliche Weg zur Beendigung des Leidens, zur Erlösung.

Der eigentliche Weg zur Beendigung des Leidens ist die Einsicht in die Wirklichkeit, wie sie wirklich ist. Es ist eine Anleitung, selbst genau zu schauen. Damit sind wir wieder bei unserem Ausgangspunkt: daß es nämlich nicht darum geht, irgendwelche Formeln nachzusprechen, sich in irgendwelche exotische Vorstellungen hineinzudenken, sondern selbst hinzuschauen. Der Buddha hat einmal das sehr schöne Wort gesagt: Seid euch selbst eine Leuchte, seid euch selbst eine rettende Insel. Ich würde sagen, eine ganz wichtige Einsicht des Buddhismus ist, daß man sich selbst eine Funzel sein soll. Normalerweise ist man ja zunächst eine ziemliche Funzel, nicht gerade ein Halogenscheinwerfer. Trotzdem: sich selber eine Funzel sein ist besser als in der ganzen Welt nach einem Halogenscheinwerfer herumzusuchen. Das kennen wir alle: wir haben den Drang, endlich einmal den großen Meister zu finden, der uns alles beleuchtet. Da könnte eine ganze Fluglinie davon leben von diesem Guru-Such-Buddhismus, davon, daß man von einem Guru zum anderen fliegt bis man wieder einmal sieht, auch dieser ist nicht die Halogenleuchte, die man gesucht hat. Aber vielleicht ist ja gerade diese Suche nach einer Halogenleuchte das Verkehrte. Vielleicht sollten wir selbst versuchen, genau hinzuschauen. Das heißt nicht, daß wir uns hinsetzen und auf die Wirklichkeit starren. Da kommt nichts Gescheites dabei heraus. Dafür brauchen wir auch keinen Buddhismus. Wir brauchen die buddhistische Anleitung, weil es ein angeleitetes Hinschauen ist. Die Anleitung ist relativ einfach: es gilt, die Wirklichkeit unter drei Aspekten zu sehen: in ihrer Unbeständigkeit, in ihrer Herrenlosigkeit und Hohlheit, und deswegen in ihrem Leidvollsein. Unbeständig, deswegen leidvoll und deswegen herrenlos, Nicht-Ich. Wäre nämlich etwas mein, wäre es unter meiner Herrschaft, dann könnte ich bestimmen: das hat mir imponiert, so soll es sein, so soll es bleiben. Dann wäre es nicht leidvoll, denn ich würde das Leid vermeiden. Deshalb wäre es auch nicht unbeständig: Unbeständigkeit verursacht ja Trennungsschmerz. Diese Einsicht in diese drei Eigenschaften von Wirklichkeit ist das Zentrum der Einübung der Einsicht. Dafür kann es gut sein, wenn man sich ab und zu zurückzieht, um diese Einsicht einzuüben, aber erst im täglichen Leben zeigt sich, wie weit man mit dieser Einsicht gekommen ist. Einübung der Einsicht ist nicht etwas außerhalb des alltäglichen Lebens, sondern etwas, was im alltäglichen Leben wirksam werden muß.

Jetzt fragen Sie vielleicht, was man denn dann erreicht. Da erreicht man vielleicht den Erlösungszustand. Was ist aber dieser Erlösungszustand? Entweder wissen Sie es, weil Sie Erlösung verwirklicht haben, oder Sie wissen es nicht, weil sie Erlösung (noch) nicht verwirklicht haben. Wenn Sie es nicht wissen, kann ich Ihnen auch nicht sagen, was Erlösung ist. Wollte ich es versuchen, dann wäre es, wie wenn ein Farbenblinder (Ich) anderen Farbenblinden (Ihnen) einen Vortrag über das Wesen von Farbempfindungen halten wollte. Ich kann Ihnen nur sagen, wann man Erlösung im buddhistischen Sinn nicht begriffen hat, nämlich, wenn man den alten Buddha nicht begriffen hat: da humpelt ein altes, runzliges Männlein durch Nordindien, hat alle üblichen Altersbeschwerden und -- wie es einer meiner Studenten metaphorisch so schön ausgedrückt hat -- singt "Schön ist es auf der Welt zu sein!". Nicht: "Halleluja, bald ist alles vorbei!", nein: "Schön ist es auf der Welt zu sein!". Das ist der Zustand des Erlösten, der wirklich sagen kann: "Tod wo ist dein Sieg, Tod, wo ist dein Stachel?!" (1. Korinther 15,55). Im alten Buddhismus sagt man, daß man über den Erlösungszustand nicht sprechen kann, sondern daß man ihn verwirklichen muß. Die alten Buddhisten haben sich erstaunlicherweise an diese Maxime ("worüber man nicht reden kann, darüber muß man schweigen" Ludwig Wittgenstein <1889 - 1951>, Tractatus Logico-Philosophicus) gehalten.

Kehren wir zum Schluß zu Lama Anagarika Govinda zurück. In dem zu Beginn genannten Buch "Lebendiger Buddhismus im Abendland" (1986) begrüßt Govinda nicht nur eine religiöse Vielfalt der Menschheit, sondern auch eine Vielfalt innerhalb des Buddhismus. Nach buddhistischer Lehre ist, wie wir gehört haben, alles unbeständig, "dem Wandel unterworfen, auch die Formen einer Lehrdarlegung und meditativen Annäherung". Für Govinda ist der Buddhismus mit seinen vielen Richtungen wie ein riesiger lebender Baum, "der nur als Ganzes lebensfähig ist." Ich würde hinzufügen -- und ich glaube, Lama Anagarika Govinda würde mir auch darin zustimmen -- ein Baum, der um lebensfähig zu bleiben, auch manchmal ordentlich gestutzt gehört. Nicht alles, was auf einem Baum kommt, ist ja im Sinne des Gesamtzwecks des Baumes förderlich, wenn nicht gar schädlich und hinderlich. Lama Anagarika Govinda schreibt:

"Man kann nicht nur den Stamm haben wollen oder nur die Blätter oder nur die Blüten oder die Samen. Man muß Wurzeln, Stamm, Äste, Zweige, Blätter, Blüten und Samen als Einheit erfahren. Man muß erkennen, daß dieser Baum einmal aus einem Samenkorn hervorgegangen und gewachsen ist und weiterwachsen wird nach dem ihm innewohnenden Gesetz. Es wäre töricht, wollte man die Entwicklung des Baumes aus dem Samen und seine immer reichere Entfaltung leugnen: Wer das Wachstum des Baumes auf ein bestimmtes Stadium fixieren möchte, würde ihm das Leben nehmen. Genauso töricht aber wäre es auch, wenn man nur einen bestimmten Teil des Baumes nutzen wollte in dem Glauben, man habe damit das Wesen des ganzen Baumes erfaßt. Aber gerade das machen heute viele, die den Buddhismus propagieren wollen: Sie sehen alles nur von ihrem eigenen, engbegrenzten Standpunkt und meinen, daß dies das Ganze sei." [Govinda <Lama Anagarika> <1898 - 1985>: Lebendiger Buddhismus im Abendland. -- ISBN 3-502-61233-1. -- S. 25]

Auch ich habe heute hier alles nur von meinem eigenen, engbegrenzten Standpunkt aus gesehen, anders ging es gar nicht. Ich kann Ihnen aber versichern, daß das, was ich versucht habe, Ihnen zum Bedenken zu geben, nicht das Ganze ist.

Meine lieben Damen und Herren, ich hoffe, daß es mir, wenn auch unzureichend, gelungen ist, Ihnen zu erleichtern, selbst zu entscheiden, ob so etwas wie Buddhismus für den Westen der Mühe wert ist, wie sie Lama Anagarika Govinda programmatisch definiert, oder ob Buddhismus für den Westen wertlos ist. Ich danke Ihnen auf alle Fälle für die Geduld, die Sie mir so freigebig geschenkt haben. Danke schön!

ENDE