Ist Zuspätkommen unhöflich?

Ein Blick auf andere Zeitkulturen

von

Margarete Payer


Margarete Payer: payer@payer.de


Zitierweise / cite as:

Payer, Margarete <1942 - >: Ist Zuspätkommen unhöflich? : Ein Blick auf andere Zeitkulturen. -- Fassung vom 2008-10-13. -- URL: http://www.payer.de/einzel/nuernberg-text.htm 


Anlass: Vortrag am 2008-10-03 bei MinD-Akademie in Nürnberg.

Erstmals publiziert: 2008-10-13

Überarbeitungen:

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Dieser Text ist Teil der Abteilung Länder und Kulturen von Tüpfli's Global Village Library


0. Übersicht



Wichtigste Quellensammlungen:

Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky : Großbibliothek. -- Berlin : Directmedia Publ., 2005. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 125). -- ISBN 3-89853-525-8

Deutsche Autobiographien : 1690 - 1930 ; Arbeiter, Gelehrte, Ingenieure, Künstler, Politiker, Schriftsteller / hrsg. von Oliver Simons. -- Berlin : Directmedia Publ., 2004. -- 1 CD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 102). -- ISBN 3-89853-502-9

Gutes Benehmen : Anstandsbücher von Knigge bis heute / hrsg. von Werner Zillig. -- Berlin : Directmedia Publ., 2004. -- 1 CD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 108). -- ISBN 3-89853-508-8


1. Einleitung


Mein Referat heute ist für 19 Uhr angekündigt. Es ist jetzt genau ... Uhr und ich darf beginnen. Würde ich dieses Referat in Bolivien halten, stände zwar auch Beginn 19 Uhr auf dem Programm, aber es wären wohl noch keine Zuhörer anwesend. Etwa eine Stunde später könnte ich vielleicht schon beginnen.

Ich als Mitteleuropäer empfinde ein solches Verhalten als absolut unhöflich. Ich möchte am Beispiel Pünktlichkeit bewusst machen, dass in fremden Zeitkulturen andere Werte gelten können und Zuspätkommen eben gerade keine Unhöflichkeit ist, bzw. im Wort Zuspätkommen schon unsere Wertvorstellung enthalten ist. Das Problem des Einhaltens der verabredeten Zeit ist für Deutsche, die in Ländern mit anderen Zeitkulturen Urlaub machen, mehr oder weniger ein Abenteuer oder ein Ärgernis, mit dem man sich abfinden kann. Viel schwieriger wird es bei einer Zusammenarbeit in wirtschaftlichem und wissenschaftlichem Bereich und an dieser Zusammenarbeit kommen wir im Zeitalter der Globalisierung nicht vorbei.

Um fremde Kulturen verstehen zu lernen, ist es nötig zuerst einmal die eigene Kultur und ihren geschichtlichen Hintergrund zu kennen. Manche Wertvorstellungen, an denen wir sehr hängen, sind keineswegs universal, sondern vielleicht mitteleuropäisch, deutsch, bayrisch oder sogar nur auf unser Dorf bezogen. In unserem Beispiel Pünktlichkeit gehen wir davon aus, dass Pünktlichkeit als ein wichtiger Wert in Mittel- und Nordeuropa, Nordamerika und Japan angesehen wird. Von Japan sagt man, dass die Tugend Pünktlichkeit am strengsten befolgt wird. Es lässt sich dokumentieren an der Pünktlichkeit der Hochgeschwindigkeitszüge: als 2005 einer der Züge 90 Sekunden Verspätung hatte, raste der Lokomotivführer viel zu schnell in eine Kurve, weil er die Verspätung einholen wollte. Der Zug sprang aus den Schienen und 100 Tote waren zu beklagen. [Fritz, Martin: Japans Eisenbahn : Pünktlichkeit durch Psychoterror. - 2005-04-29. - http://www.tagesschau.de/ausland/meldung 185502.html]


2. Pünktlichkeit als Wert in unserer Kultur


Dass Pünktlichkeit als Tugend angesehen wird, ist in unserer Kultur sehr viel tiefer verankert als man vielleicht denkt. Es läge nahe zu sagen, dass mit der aufkommenden Industrialisierung man sich des Wertes Pünktlichkeit bediente. Man kann aber eher nur sagen, dass nun alle Bevölkerungsschichten sich des Wertes bewusst wurden. Wie wichtig die Pünktlichkeit schon für unsere Vorfahren war, zeigt sich nicht nur in Anstandsbüchern sondern z.B. in der deutschen schöngeistigen Literatur der Neuzeit [Anm.: die Literatur des Mittelalters habe ich nicht durchsucht]:


2.1. Hinweise in der schöngeistigen Literatur


Der Begriff pünktlich bzw. Pünktlichkeit wird in der Literatur sowohl im strengen Wortsinn Einhalten der genauen Uhrzeit als auch im weiteren Sinn von korrekt ("er erledigte alles korrekt"), verlässlich ("er bezahlte pünktlich") und gewissenhaft verwendet. Im weiteren beziehe ich mich auf den strengen Wortsinn.

Soll ein Mensch als positiv beschrieben werden, wird er als pünktlich meist verbunden mit ordentlich bezeichnet, wobei als Kriterium oft der Hinweis zu finden ist, dass jemand genau zur verabredeten Zeit kommt. So erkennt bei Rilke eine Schwiegermutter ihren Schwiegersohn an, weil er genau zur angekündigten Zeit kam:

"Ja, mein lieber Schwiegersohn, ich habe viele gute Eigenschaften an dir entdeckt, auch, dass du nicht rauchst usw. Aber seit ich weiß, dass du pünktlich bist - ich sag dir: du kannst mich um den Finger wickeln."

[Rainer Maria Rilke (1875–1926): Ohne Gegenwart. 1898. In: Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky, S. 450903]

Wie beeindruckend Pünktlichkeit sein kann, wird schön in Raabes Hungerpastor beschrieben: der Kandidat fragt gerade die Bewohner von Freudenstadt nach dem rechten Weg, aber:

"Zwölf Uhr schlug´s auf dem Kirchturm von Freudenstadt, und sämtliche anwesende Bewohner von Freudenstadt schlossen mit einem Ruck die zur Antwort geöffneten Kau- und Schluckorgane, drehten sich mit einem Ruck auf den Hacken und gingen davon - ohne Antwort, ein jeglicher zu seinem Mittagessen. Mit offenem Munde aber stand Hans Unwirrsch da und sah ihnen nach; der Eindruck, den diese Pünktlichkeit auf ihn machte, war wahrhaft überwältigend; und wenn die alten, schiefen Giebelhäuser sich ebenfalls umgedreht hätten und abmarschiert wären zum Essen, so würde das kaum noch seine Bewunderung erhöht haben."

[Wilhelm Raabe (1831–1910): Der Hungerpastor. 1863/64. In: Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky, S. 439506]

Pünktliche Menschen werden u. a. beschrieben als:

Unpünktliche Menschen werden u. a. beschrieben als:

Tiere und Gespenster werden als pünktlich beschrieben: der Fuchs, der pünktlich morgens um 7 Uhr kommt, um seine vom Bauern versprochene Belohnung abzuholen, bezahlt das allerdings mit seinem Leben, weil die Bäuerin ihn pünktlich erschlägt. In einem japanischen Märchen wird erzählt, dass eine Vampirkatze jeden Abend pünktlich um 10 Uhr alle Bewacher eines Fürsten betäubte, damit sie dessen Blut trinken konnte [Japan. Märchen der Welt, S. 11846. In: Digitale Bibliothek. Bd. 157]

Die regelmäßige Pünktlichkeit Kants führte zum Sprichwort:

"Es kann noch nicht sieben sein, Professor Kant ist noch nicht vorbeigegangen"

[Karl Friedrich Wilhelm Wander: Deutsches Sprichwörterlexikon. Bd. IV. (1876), S. 553].

In der deutschen schöngeistigen Literatur fällt weiterhin auf, dass viele Schriftsteller z.B. Grimmelshausen Wert legen auf genaue Zeitangaben, auch wenn für das Verständnis der Erzählung eine ungefähre Angabe gelangt hätte. Vergleicht man damit indische Romane des 20. Jahrhunderts, findet man nur dort genaue Zeitangaben, wo es unumgänglich ist. Von Zuspätkommen wird dann berichtet, wenn es für die Erzählung sehr wichtig ist, z.B. im Zusammenhang mit der Brautschau:

"Die Sanyals kommen eine geschlagene Stunde zu spät. 'Das hat nichts zu bedeuten' wird Tante später sagen. 'Ich kenne Fälle, wo die Familie des Jungen beschloss, einen ganzen Tag später zu kommen. All das Essen war verdorben, die Familie des Mädchens drehte durch, die zukünftige Braut war in Tränen aufgelöst und jammerte, fragte sich, ob jemand sie verleumdet hatte und die Verbindung nicht zustande kommen würde. Damit wollen sie doch nur zeigen, wer die Zügel in der Hand hält'."

[Banerjee Divakaruni, Chitra (1956 - ): Die Prinzessin im Schlangenpalast : Roman. - München ; Zürich : Diana-Verl., 1999. - ISBN 3- 8284-0031-0. Aus dem Engl.: Sister of my heart.  - S. 134f.]

Man zeigt seine Macht, indem man die Familie der Braut warten lässt.

In Frage gestellt wird der Wert der Pünktlichkeit in unserem Kulturkreis nur dort, wo Menschen überzogen pünktlich sind. So beschreibt Fontane einen "Uhrenzieher", der seinen Mitmenschen auf die Nerven geht, weil er ostentativ seine Uhr zieht, obwohl eine korrekt gehende Uhr an der Wand hängt [Theodor Fontane (1819 - 1898): Der Tunnel über der Spree. In: Von Zwanzig bis Dreißig. 1894/96. In: Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky, S. 133528]

Tucholsky macht sich lustig über die Pünktlichkeit der Berlinerin:

"Venus der Spree - wie so fleißig
liebst du, wie pünktlich dabei!
Zieren bis zwölf Uhr dreißig,
Küssen bis nachts um zwei.

Alles erledigst du fachlich,
bleibst noch im Liebesschwur
ordentlich, sauber und sachlich:
Lebende Registratur!

[Kurt Tucholsky (1890 - 1935): An die Berlinerin. 1922. In: Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky, S. 548135]

Heinrich Heine sieht übertriebene Pünktlichkeit bei den Engländern. Er schreibt das dem Einfluss der Vollkommenheit der englischen Maschinen zu:

"Das Bestimmte, das Genaue, das Ausgemessene und die Pünktlichkeit im Leben der Engländer beängstigte mich nicht minder; denn gleichwie die Maschinen in England uns wie Menschen vorkommen, so erscheinen uns dort die Menschen wie Maschinen. Ja, Holz, Eisen und Messing scheinen dort den Geist des Menschen usurpiert zu haben und vor Geistesfülle fast wahnsinnig geworden zu sein, während der entgeistete Mensch, als ein hohles Gespenst, ganz maschinenmäßig seine Gewohnheitsgeschäfte verrichtet, zur bestimmten Minute Beefstaeke frisst, Parlamentsreden hält, seine Nägel bürstet, in die Stage-Coach steigt oder sich aufhängt."

[Heinrich Heine (1797 - 1856): Florentinische Nächte. 1836. In: Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky, S. 243660]


2.2. Hinweise im Internet


Dass Pünktlichkeit aber nicht nur historisch gesehen für uns ein Wert ist, zeigt eine Internetbefragung im April 2007. Die Frage "Wie wichtig ist Euch Pünktlichkeit?" erbrachte folgende Antworten.

[Die Ratgeber-Community in gutefrage.net]


2.3. Gründe für den Wert Pünktlichkeit


Warum ist für unsere Zeitkultur Pünktlichkeit so wichtig? Es liegt nahe ein Blick auf die unsere Kultur prägende Bibel zu werfen. Da fällt aber auf, dass nur in den jüngeren Schriften des Neuen Testaments exakte Zeitangaben gemacht werden und zwar dort, wo die Wichtigkeit der jeweiligen Aussage betont werden soll, z.B. bei der Kreuzigung. Diese Zeitangaben spielen bei dem schon erwähnten Abraham a Sancta Clara als Begründung für Pünktlichkeit eine Rolle.

Wichtig für unser europäisches Zeitbewusstsein ist die feste Einteilung des Tages nach den Gebetsstunden im mittelalterlichen Mönchtum. Die Mönche orientierten sich am Psalm 119, 62 und 119,164. Danach  soll in der Nacht einmal und am Tag siebenmal gebetet werden. Es geht am Tag um Laudes, Prim, Terz, Sext, Non, Vesper und Komplet. Soll eine Gemeinschaft regelmäßig zum Gebet zusammenkommen, muss man feste Zeiten einführen, die pünktlich eingehalten werden müssen. Vor dem 13. Jahrhundert, als es noch keine Räderuhren gab und die Sonnenuhren ja nur eingeschränkt eingesetzt werden konnten, musste man vor allem für die Nachtzeit Methoden der Zeitmessung wie z.B. die Wasseruhr oder die Kerzenuhr erfinden.

Wie entscheidend für das mönchische Leben das pünktliche Einhalten der Zeit war, kann man den Regeln des Heiligen Benedikt aus dem 6. Jahrhundert entnehmen: es gibt ein eigenes Kapitel mit dem Thema "Die Bußen für Unpünktlichkeit". Es bezieht sich auf das Zuspätkommen zum Gottesdienst und zu den gemeinsamen Mahlzeiten. Kommt ein Mönch zum Gottesdienst zu spät, bekommt er einen bestimmten Platz zugewiesen, an dem er  öffentlich Buße tun muss:

"7. Wir lassen die unpünktlichen Brüder bewusst auf dem letzten Platz oder abseits stehen, damit sie von allen gesehen werden, sich schämen und deshalb sich bessern".

Als Strafe beim Zuspätkommen zum gemeinsamen Essen ist allein Essen und Entzug von Wein vorgesehen. [Benedikt von Nursia (480 - 547): Die Regel des Heiligen Benedikt. Kap. 43: De iis, qui ad Opus Dei, vel ad mensam tarde occurrunt. - Http://www.benediktiner.de/regula/index.htm]

Eine Rolle spielt sicher auch die sich über Jahrhunderte durchziehende Erziehung zur Pünktlichkeit. Ab dem Spätmittelalter kann man davon ausgehen, dass in den Städten und zumindest den größeren Dörfern Uhren an Kirchtürmen und Rathäusern lautstark die Zeit anzeigten, so dass man Pünktlichkeit erwarten konnte. Noch in meiner Kindheit gab es mütterliche Schläge, wenn man nicht gleichzeitig mit dem Glockenschlag um 6 Uhr abends zu Hause eintraf. Selbstverständlich wurden mit dem Einführen der allgemeinen Schulpflicht Lehrer und Schüler zur Pünktlichkeit verpflichtet.

Als weiteren Grund kann man die wirtschaftliche Entwicklung in den spätmittelalterlichen Städten benennen: man lernte, dass Zeit Geld ist und Wartenlassen durch Unpünktlichkeit Geldverschwendung ist. (Bei manchen Fakultätssitzungen, die nach meiner Erfahrung selten pünktlich beginnen können, weil Kollegen sich herausnehmen zu spät zu kommen, sollte man sich bewusst werden, dass Zeit in diesem Fall das Geld der Steuerzahler ist. )

Eine weitere Rolle könnte das Vorbild von Vorgesetzten oder hochgestellten Persönlichkeiten gewesen sein. In der Literatur stößt man immer wieder  auf Berichte, dass der deutsche Kaiser oder das deutsche Kaiserpaar pünktlich bereitstand. [vgl.: Ernst Wichert (1831 - 1902): Richter und Dichter. 1899. In: Deutsche Autobiographien, S. 72856]

Deutsche Anstandsbücher betonen erwartungsgemäß die Regeln zur Pünktlichkeit, wobei oft die wichtige Aufgabe der Hausfrau betont wird. Bei Gleichen-Russwurm geht es darum, dass Beamte nicht ihre Macht zeigen sollen, indem sie warten lassen:

"Macht ist, dass sie zwingt unzählige Menschen der Hölle des Wartens zu überliefern. Nicht umsonst war 'Pünktlichkeit die Höflichkeit der Könige'. Sie sollte zur Selbstverständlichkeit jeder Behörde und jedes Beamteten gehören. [...] Nichts ist grausamer und verstößt mehr gegen den guten Ton, ja, ich möchte sagen, nichts verkündet so beredt niedrige Gesinnung, als andere Menschen durch Wartenlassen zu demütigen. [...] Die Zeit der anderen müsste dem Ehrlichen ebenso heilig werden, wie das Geld des anderen"...

[Alexander von Gleichen-Russwurm (1865 - 1947): Der gute Ton. o.J. In: Gutes Benehmen: Anstandsbücher von Knigge bis heute, S. 6738]


3. Pünktlichkeit in anderen Zeitkulturen


Während in unserer Zeitkultur die religiöse Kultur und die Alltagskultur in Bezug auf Pünktlichkeit übereinstimmen, kann das in anderen Kulturen völlig unterschiedlich sein.

So kann Pünktlichkeit im religiösen Zusammenhang gefordert und streng eingehalten werden, während im mitmenschlichen Bereich Pünktlichkeit nicht als Wert angesehen wird. Als Beispiel möchte ich Indien nehmen und eine Aussage von einem Zeitgenossen Benedikts Varaha Mihira, der um 550 n. Chr. gewirkt hat, zitieren:

"Ohne Astrologen gerieten die Stunden ... in heillose Verwirrung ... Keiner, der glücklich sein will, sollte in einer Gegend leben, wo es keine Sterndeuter gibt, denn der Astrologe ist das Auge des Landes, und wo er wohnt, geschieht keine Unglück".

Astrologie spielt im täglichen Leben der Inder auch heute noch eine äußerst wichtige Rolle. Aus dem Geburtshoroskop, für das man genaue Angaben zum Zeitpunkt der Geburt benötigt, ergibt sich z.B. die Antwort nach dem günstigen Zeitpunkt einer Operation, einem Stellenwechsel oder einer neuen Geschäftsbeziehung und vor allem nach dem richtigen Heiratspartner. Stimmen die Horoskope der Heiratspartner überein, wird Vivaha Muhurta = der günstigste Zeitpunkt für die Eheschließung festgelegt. Z.B. Am Samstag, 5. Mai, um 8.52 Uhr. Die Minute wird streng eingehalten. Eine indische Studentin, die vor 3 Jahren in Indien geheiratet hat, konnte nicht mehr ihren korrekten roten Hochzeitssari anziehen, weil sie die Zeit sonst überzogen hätte.

Auch im islamischen Pakistan spielt das Geburtshoroskop eine große Rolle, so hat der neugewählte Präsident Zardari die Ablegung des Amtseids verschoben, weil die eigentliche Wahl am 6. September unter einem ungünstigen Stern für ihn stand, er aber durch die Verschiebung der Amtseinführung auf den günstigen 9. September das Schlimmste abzuwenden hofft. [Zardaris Sterndeuter. In: Neue Zürcher Zeitung. - Internat. Ausg. - 2008-09-09. - S. 2]

Wendorff berichtet, dass die islamischen Malayen Gebetszeiten gewissenhaft einhalten, aber im Alltag keineswegs auf Pünktlichkeit achten [vgl.: Wendorff, Rudolf: Der Mensch und die Zeit. - Opladen : Westdt. Verl., 1988. - ISBN 3-531-12046-8. -  S. 131f.]


4. Unpünktlichkeit in Alltagskulturen anderer Länder


Allgemein kann man sagen, dass in asiatischen (ohne Japan), afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern Pünktlichkeit im allgemeinen in unserem Sinn nicht als besonderer Wert geschätzt wird. Man muss sich dabei bewusst sein, dass man mit Stereotypen z.B. "In Lateinamerika kommt man regelmäßig zu spät" arbeitet. Zur Vorbereitung auf eine andere Kultur können solche pragmatischen Aussagen sehr helfen, aber im Einzelfall kann man es durchaus mit pünktlichen Menschen zu tun haben. Unberechenbar wird die Verabredung oder die Zusammenarbeit dann, wenn beide Seiten sich der kulturellen Unterschiede bewusst sind und jeweils dem anderen entgegen kommen wollen. Vor allem bei dem unter Umständen ersten wichtigen Treffen , teilt man ja nicht vorher mit, an welche Regeln man sich hält. Im Folgenden werden ein paar Beispiele aufgeführt.


4.1. Im Privatbereich


Da das Leben im privaten Bereich im allgemeinen sich eher an traditionellem Verhalten orientiert, muss man mit anderen Verhältnis zur Zeit rechnen. Verabredet man sich z.B. in Thailand zu einer bestimmten Zeit, kann das bedeuten, relativ bald nach dem gewählten Zeitpunkt, mehrere Stunden oder auch Tage danach. Es kann aber auch sein, dass man überhaupt nicht kommt, denn die Höflichkeit verbietet ein eindeutiges Nein bzw. das Ja ist so ausgedrückt, dass ein Nichtthai das sprachlich nicht verstehen kann. Man kann sich aber immer darauf verlassen, das jemand nicht vor dem abgemachten Termin kommt.

Die Schwierigkeit sich an deutsches Zeitverständnis anzupassen, erlebte ich bei meiner kasachischen Freundin. In der ersten Woche bei uns hat sie jeweils ihren Bus verpasst, weil sie sich einfach nicht vorstellen konnte, dass ein Busfahrplan echte Zeiten angibt. Viel peinlicher war es aber, dass sie bei ihrem Doktorvater einen wichtigen Termin nicht eingehalten hat. Der Termin war festgelegt von 11 bis 12 Uhr, meine Freundin traf kurz vor 12 dort ein und war stinkesauer, dass der Professor ihr mitteilte, dass er um 12 Uhr zu einer längeren Flugreise aufbrechen musste. Es ging nicht um ein sprachliches Problem.

Kennt man sich privat besser, gibt es Lösungsmöglichkeiten. So hat man in Bolivien bei Zeitangaben "nach deutscher Zeit oder nach bolivianischer Zeit" hinzugefügt. Eine gute Lösung hat ein Ehepaar in La Paz bei der Einladung zu einem Kindergeburtstag gefunden: die bolivianischen Kinder wurden auf 14 Uhr eingeladen, das deutsche Kind auf 17 Uhr. Als das deutsche Kind pünktlich um 17 Uhr ankam, waren wenige Minuten zuvor alle bolivianischen Kinder eingetroffen.


4.2. Bei wissenschaftlicher Zusammenarbeit


Als Beispiel soll hier die Planung von Tagungen genannt werden, wenn "Zuspätkommen" keine abwertende Bedeutung hat. Wenn ein Referent in Bolivien ein bis zwei Stunden nach dem im Programm angekündigten Termin kommt, ist das nicht zu spät sondern in Ordnung. Als ich bei einer Tagung, für deren Planung ich mitverantwortlich war, nervös wurde, als der Referent nach mehr als zwei Stunden immer noch nicht erschienen war, wurde ich von den beiden auch schon länger wartenden Zuhörerinnen getröstet, das sei nun mal die Kultur Boliviens. Die beiden waren übrigens nur deshalb so rechtzeitig eingetroffen, weil es für sie nur eine frühe Busverbindung gab. Der Referent ließ uns dann noch über die übliche Zeit warten, weil er damit seine Bedeutung als Dekan einer Fakultät herausstreichen wollte.

Einen Misserfolg hatten wir bei der Planung eines Kongresses, zu dem wir einen sehr wichtigen Politiker eingeladen hatten. Politiker sind bekanntlich für die Öffentlichkeitsarbeit sehr brauchbar, denn die Presse kommt. Da wir vom Stereotyp unpünktlich ausgingen, hatten wir unterlassen, uns über die Gewohnheiten des Politikers zu informieren. Er kam pünktlich, aber die Zuhörer natürlich nicht.

In einem internationalen Institut in Bogor, Indonesien, gab es immer wieder Probleme in der Zusammenarbeit zwischen dem einheimischen und dem internationalen Personal. Um die Situation zu verbessern, wurde eine Professorin aus Jakarta beauftragt, sich der Sache anzunehmen. Als erstes ließ sie die Gruppen getrennt das aufschreiben, was einen an der anderen Gruppe am meisten stört. Die Fremden gaben übereinstimmend mit oberster Priorität an, dass die Unpünktlichkeit der Einheimischen sie am meisten störte. Die Indonesier beklagten beim internationalen Personal die mangelnde Religiosität an erster Stelle.   


4.3. Im wirtschaftlichen Bereich


Ein Schweizer indischer Abstammung , der im Auftrag seiner Schweizer Firma vor kurzem in Indien war, musste feststellen, dass er in der Schweiz am Tag problemlos acht Kunden besuchen kann, in Indien aber nur zwei. Der Grund waren die Zeitabsprachen, auf die er sich nicht verlassen konnte und die dadurch bedingten Wartezeiten. Nachdem er sich an die Verspätungen gewöhnt hatte, kam er bei einem nächsten Kunden 15 Minuten zu spät. Dieser Kunde aber hatte sich auf Schweizer Pünktlichkeit eingestellt und sah die Verspätung als Beleidigung an: das Geschäft kam nicht zustande.

Missverständnisse im Zeitverhalten können ein Betriebsklima nachhaltig verschlechtern. So hat ein deutscher Direktor in einem internationalen Institut auf den Philippinen jeden Morgen um 8 Uhr mit der Uhr in der Hand am Eingangstor des Instituts gestanden und überprüft, ob die Angestellten pünktlich kamen.  Er soll die Zuspätkommenden fotografiert haben. Bei meinem Praktikum dort wurde die Zusammenarbeit erst dann gut, als ich alle überzeugen konnte, dass ich keine Verbindung mit dem früheren deutschen Direktor hatte. Der schwierige Teil daran war, erstmal herauszubekommen, warum die Gruppe so misstrauisch mir gegenüber war.

Trompenaars und Hampden-Turner berichten von einem sehr erfahrenen und erfolgreichen deutschen Manager Heinz, der in Kolumbien einer großen Firma helfen sollte, aus den roten Zahlen zu kommen. Sein kolumbianischer Vizechef Antonio ist durchaus von der technischen und organisatorischen Fähigkeit des deutschen Managers überzeugt. Aber:

"Antonio is, however, shocked by the way Heinz is trying to impose his methods and ideas on the Colombians. He describes this as turning them into robots; he is dehumanizing the whole organization. He says Heinz seems obsessed with time and money. People hardly count at all. He yells at workers for taking longer breaks than they should, forgetting that the previous week they worked overtime without extra pay, without complaint and, of course, without thanks. He does not seem to realize that punctuality is not possible. We have people reporting for work who walked when the bus broke down and he shouts at them as they limp in at the gate. Antonio is amazed that they come to work at all. " "Antonio ist jedoch schockiert über den Weg, mit dem Heinz versucht, seine Methoden und Ideen den Kolumbiern aufzuerlegen. Antonio beschreibt das als Umwandeln der Arbeiter in Roboter; der Deutsche entmenschlicht die ganze Organisation. Antonio sagt, dass Heinz von Zeit und Geld besessen zu sein scheint. Die Leute zählen nicht. Er beschimpft die Arbeiter, dass sie längere Pausen nehmen als sie dürfen, aber er vergisst, dass die Arbeiter in der vorhergehenden Woche Überstunden geleistet haben, und zwar ohne Überstunden-Bezahlung, ohne Klagen und natürlich ohne Dank. Er scheint sich nicht klar darüber zu sein, dass Pünktlichkeit nicht möglich ist. Wir haben Arbeiter, die zu Fuß kamen, weil der Bus ausfiel, und Heinz beschimpfte sie, als sie am Tor ankamen. Antonio hingegen ist erstaunt, dass die Arbeit überhaupt zur Arbeit gekommen sind."

[Trompenaars, Fons and Charles Hampden-Turner: Riding the waves of culture : understanding cultural diversity in global business. - 2. ed. - New York [u.a.] : McGraw-Hill, 1998. - ISBN 0-7863-1125-8. - S. 176]

Der deutsche Manager geht davon aus, dass die einheimischen Arbeiter kommen, wann sie wollen und jeweils faule Ausreden erfinden. Trompenaars und Hampden-Turner bezeichnen das deutsche Verhalten als Eiffel-Turm-Kultur - eine strenge formale Hierarchie - im Gegensatz zur Familienkultur, in der persönliche Beziehungen eine große Rolle spielen.

In der Zusammenarbeit mit chinesischen Firmen wird immer wieder darüber geklagt, dass die chinesischen Manager Lieferfristen eher als Vorschlag denn als feste Abmachung ansehen. Für deutsche Firmen, die nach dem Prinzip des just-in-time arbeiten, kann das sehr teuer werden, weil bei unpünktlicher Lieferung an Kunden Vertragsstrafen fällig werden können bzw. man die Kunden ganz verliert, da man nicht mehr als vertrauenswürdig angesehen wird. Es kann übrigens sein, dass die chinesische Firma sehr wohl weiß, dass sie die Fristen nicht einhalten kann, dass es aber unhöflich ist Nein zu sagen.

Auch die zeitlichen Vorstellungen arabischer Geschäftsleute entsprechen asiatischen Gepflogenheiten. So sollte man sich bei Kontakten auf Wartezeiten und vor allem auf zeitlich ausgedehntere Gespräche und Verhandlungen einstellen. Rothlauf weist darauf hin, dass bei Verabredungen mit dem Zusatz "So Gott will" mit zeitlichen Verzögerungen sehr wohl zu rechnen ist. [vgl.: Rothlauf, Jürgen: Interkulturelles Management : mit Beispielen aus Vietnam, China, Japan, Russland und Saudi-Arabien. - München ; Wien : Oldenbourg, 1999. - (WiSo-Lehr- und Handbücher). - ISBN 3.486-25170-8. - S. 384 f.]


5. Gründe für die Unpünktlichkeit


Wendorff geht bei den Malaien, die ihre Gebetszeiten sehr pünktlich nach der Uhr einhalten, davon aus, dass die Fähigkeit zur Pünktlichkeit vorhanden ist, aber die Motivation und Einsicht in Notwendigkeiten auch im privaten Bereich pünktlich zu sein nicht gegeben ist. [Wendorff a.a.O.]

Als Gründe können allgemein angegeben werden:

Die Unterschiede im Zeitverständnis in den verschiedenen Kulturen spielen sicher eine große Rolle. Unserer Kultur schreibt man ein lineares Zeitverständnis zu. Man spricht von einem Zeitpfeil, der in die Zukunft weist. Die Zeit ist einmalig. Wartezeit ist verlorene Zeit. Der religiöse christliche Hintergrund, dass man sich im Leben auf der Erde bewähren muss, um das ewige Leben zu erreichen, spielte für unsere Vorfahren ein sehr viel wichtigere Rolle. Schön drückt das Eichendorff aus:

"Wie im Turm der Uhr Gewichte
Rücket fort die Weltgeschichte,
Und der Zeiger schweigend kreist,
Keiner rät, wohin er weist.

Aber wenn die ehrnen Zungen
Nun zum letztenmal erklungen,
Auf den Turm der Herr sich stellt,
Um zu richten diese Welt.

Und der Herr hat nichts vergessen,
Was geschehen, wird er messen
Nach dem Maß der Ewigkeit -
O wie klein ist doch die Zeit!"

[Joseph von Eichendorff (1788 - 1857): Weltlauf. Gedichte (Ausg. 1841). In: Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky, S. 110786]

Der Gegensatz ist das zyklische Zeitverständnis: die Zeit wiederholt sich regelmäßig und der Mensch hat die Möglichkeit, eine Aufgabe im nächsten Zeitzyklus zu erfüllen. Buddhisten und Hindus sehen weitere unendlich viele  Leben als Chance an. Schaffe ich in diesem Leben nicht das, was ich mir vorgenommen habe, kann ich es im nächsten versuchen. Zumindest in Thailand kann man beobachten, dass eine solche Haltung zu Geduld gegenüber den Mitmenschen und mit sich selbst führen kann.

Dieser religiöse Hintergrund erklärt vieles, aber warum gehören die christlich geprägten Lateinamerikaner und auch Südeuropäer zu den Unpünktlichen? Die Japaner trotz ihres doch starken buddhistischen Hintergrunds zu den pünktlichsten Menschen?

Lateinamerika und Südeuropa schreibt man eine gegenwartsorientierte Zeitkultur zu, während man Nordamerika, Mittel- und Nordeuropa als calvinistisch beeinflusst sieht. Das heißt, es geht um stark zukunftsorientierte Kulturen mit ihrer Betonung von harter Arbeit und Erfolg, aber gleichzeitig um Kulturen, in denen Technisierung und Industrialisierung immer mehr das Umgehen mit der Zeit bestimmen. [vgl.: Maletzke, Gerhard: Interkulturelle Kommunikation : zur Interaktion zwischen Menschen verschiedener Kulturen. - Opladen : Westdt. Verl., 1996. - ISBN 3-531-12817-5. - S. 55]

Das letztere könnte auch die japanische Pünktlichkeit begründen und stimmt mit Beobachtungen in Ländern wie Singapur und Malaysia überein. Dort herrscht im industriellen und geschäftlichen Bereich Pünktlichkeit.

Wenn man davon ausgeht, dass das strenge Einhalten der Gebetszeiten der mittelalterlichen Mönche bei unserem Thema wichtig ist, rechnet man auch damit, dass die islamischen Kulturen mit ihren vorgeschriebenen Gebetszeiten einen Einfluss auf die allgemeine Pünktlichkeit haben müssten - zumal das alle Muslime betrifft. Auf die Wichtigkeit der Gebetszeiten weisen  innerislamische Stellungnahmen hin:  z.B. wendet sich der Muslim Khadijah Mohamed Hussain im Internet gegen Leute, die mit der Ausrede "Muslim standard time" zu spät kommen. Er wehrt sich u. a. gegen die Behauptung, dass der Islam den Menschen unpünktlich werden lasse.

"The last thing we should attribute to Islam is the notion that its teachings somehow make us late, slow, slugging, and anything but punctual. What a sad state of affairs, indeed, that we attribute our own weaknesses to our religion or ethnicity!"

[Khadijah Mohamed Hussain: Punctuality in Islam. - 2007-05-20. - http://khad-safiy.blogspot.com/2007/05/punctuality-in-islam.html]

Aber die islamische Kultur ist eher vergangenheitsorientiert oder gegenwartsorientiert, denn

"Das Verhältnis der Araber zur Zeit verdeutlicht am augenscheinlichsten ihre religiöse Annahme, dass Allah die Zeit kontrolliert. Kommt ein Araber zu spät - was nicht unbedingt selten geschieht - zeigt er keinerlei Schuldbewusstsein, da keine Kontrolle über seine Zeit hat. Die arabische Kultur glaubt an eine höhere Macht, die alle Ereignisse und Ergebnisse diktiert..."

[Rothlauf: a. a. O., S. 384]

Dieses Zeitverhalten wirkt sich auf das Management von Firmen aus: man ist eher auf die Bewahrung des Status quo ausgerichtet. [vgl. Rothlauf, S. 396]


6. Schlussbemerkung


Bei der Vorbereitung zu diesem Vortrag ist mir bewusst geworden, dass die durchaus hilfreiche Zuordnung der verschiedenen Zeitkulturen in

zwar sehr viel erklärt, aber nicht bei jedem Individuum oder auch jeder Gruppe von Menschen anwendbar ist. Vielleicht gewinnen andere menschlichen Eigenschaften die Überhand? z.B. die Gier? Wieso sind so viele Finanzmanager aus eigentlich zukunftsorientierten Gesellschaften so gegenwartsbezogen, dass sie nur noch am kurzfristig zu machenden Gewinn interessiert sind? Das aber wäre ein weiteres Thema, das sich zu untersuchen lohnt.



Abb.: Sonnenuhr in Gengenbach
[Bild: Payer, 2008]