Materialien zur Religionswissenschhaft

Gandhi

Gandhi

Hindureligionen


von Alois Payer

mailto:payer@well.com


 

Payer, Alois <1944 - >: Materialien zur Religionswissenschaft. -- Hindureligionen. -- Fassung vom 12. November. 1995. -- URL: http://www.payer.de/hinduismus/hindu01.htm. -- [Stichwort].

Letzte Überarbeitung: 11. Juli 1996

Anlaß: Lehrveranstaltung Wissenschaftskunde Religionswissenschaft / Theologie, HBI Stuttgart, WS 1995/96; Ursprünglich Seminarveranstaltung auf einem Seminar zu politisch-kirchlichen Zeitfragen im Bildungszentrum Wildbad Kreuth / Bildungswerk Hanns-Seidel-Stiftung eV am 7. Sept. 1990

©opyright: Dieser Text steht der Allgemeinheit zur Verfügung. Eine Verwertung in Publikationen, die über übliche Zitate hinausgeht, bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Verfassers.


0. Übersicht



1. Einleitung


Betrachten wir die Religionsstatistik Indiens von 1981, so scheint das Bild zunächst sehr übersichtlich: 83% der über 800 Millionen Inder sind Hindus.


  1. Anhänger von Hindureligionen 83%
  2. Muslime 11%
  3. Christen 2-3% (davon 60% Katholiken
  4. Sikhs 2%
  5. Buddhisten 1%
  6. Jainas 0,5%
  7. Parsen 120.000
  8. Juden 12.000

Doch was verbirgt sich hinter diesem Begriff Hindu bzw. Hinduismus. Ist es ein Begriff, hinter dem sich so vielerlei verbirgt, wie hinter dem Begriff Christentum mit seinen Tausenden von Denominationen? In Wahrheit ist der Begriff Hinduismus noch viel schillernder als der Begriff Christentum. Man kann mit gutem Recht behaupten, Hinduismus sei nicht eine Religion, sondern eine Enzyklopädie von Religionen. Hinter Hinduismus verbergen sich im theologischen -- nicht im soziologischen -- Sinne mindestens drei große Religionen mit jeweils zahllosen Denominationen/Sekten: die drei grossen theologisch -- nach ihrem Gott -- unterschiedenen Religionen sind


Übersicht über die wichtigsten Hindureligionen


Die folgende Liste beansprucht weder Vollständigkeit noch Allgemeingültigkeit. Sie soll nur einen Eindruck geben von der Komplexität des Phänomens Hindureligionen.

  1. Vedische Religion und Religion der Brâhmana
  2. Vishnuismus
    1. Bhâgavata's
      • Mârâtha Bhakta's(Gottesname: Vitthal/Vithobâ)
      • Mâdhva's
      • Vishnusvâmî's
      • Nimbârka's
      • Chaitanya's
      • Vallabhâcârya's
      • Râdhâ-Vallabhî's
      • Hari-dâsî's
      • Svâmî-Nârâyanî's
    2. Pâñcarâtrin's
      • Shrî Vaishnava
      • Vada-galai (Nördliche Schule)
      • Tengalai (Südliche Schule)
      • Mahânubhava's(Manbhau)
      • Râmânandî's
      • Raidâsî's
    3. Reformgruppen und Neubildungen
      • Kabîrpanthî's
      • (Sikh's)
      • Dâdûpanthî's
      • Satnâmî's
      • Râdhâ Soâmi Satsang
    4. und viele andere
  3. Shivaismus
    1. Pâshupata
      • Nâtha's
      • Gorakhnâthî's
    2. Âgama Shaivas
      • Sanskrit Shaiva Siddhânta
      • Tamil Shaiva's
      • Sittar's
      • Kashmir Shaiva's
      • Vîra Shaiva's (Lingâyats)
    3. Khândobâ Kult in Maharashtra
  4. Shaktismus (Devî-Kult)
    1. Linkshändiger Shaktismus
    2. Rechtshändiger Shaktismus
      • Affinität zu Smârta's(eigentl. vedische Religion)
    3. Bhakti Shaktismus
  5. Gânapatya's (Verehrer des Ganesha)
  6. Advaita-Vedânta
  7. Neo-Hinduismus
    1. Brahmo Samaj
    2. Arya Samaj
    3. Ramakrishna Mission
    4. Theosophen

Theologisch gesehen gibt es also den Hinduismus vielleicht gar nicht, wohl aber gibt es ihn heute als als Selbst- und Fremdidentifikation: zunächst einmal sind in diesem soziologischen -- und auch im rechtlichen Sinne -- Hindus alle die, die einheimischen Nichtstammesreligionen anhängen, also auch Buddhisten, (Jaina's) und Sikh's. Im engeren Sinne sind Hindus diejenigen aus dieser Gruppe, die sich nicht selbst ausdrücklich als Nicht-Hindus ausgrenzen, das sind besonders Buddhisten und heutzutage auch Sikhs.


All diese Hindu-Religionen und -Denominationen unterscheiden sich u.a.:

Ich hoffe, es ist mir schon gelungen, Sie gehörig zu verwirren, denn die Vielfalt der Hindureligionen und Denominationen ist wirklich verwirrend. Sind wir uns dieser verwirrenden Vielfalt nicht bewußt, dann ist unser Indienbild völlig unrealistisch.


Was bedeutet diese Vielfalt: in sehr vielen Fällen ist es eher eine echte Vielfalt des Angebotes, als eine trennende Vielheit von exklusiven, die anderen ausschließenden Religionen und Denominationen. Es gibt allerdings auch Denominationen mit einem Entweder-Oder Standpunkt. Häufiger ist allerdings vermutlich der Sowohl-als-auch Standpunkt.

Es ist durchaus nicht unüblich, daß Anhänger verschiedenster Hindureligionen und Denominationen in derselben Familie zusammenleben. Dies wird z.B. ideologisch möglich gemacht durch die Unterscheidung îshvara (der eine Gott) und ishtadevatâ (die Gottheit, d.h. Erscheinungsform Gottes, die dem eigenen Geschmack am besten zusagt). D.h. z.B. der eine Gott ist Vishnu, je nach persönlichem Geschmack und Situation verehre ich ihn als Krishna oder Râma usw. Oder auch der eine Gott ist der namenlose Unfaßbare, der als Vishnu, Shiva, Göttin usw. verehrt wird.

Wir finden die Einstellung, daß alle Hindureligionen gleich sind, da sie in Wirklichkeit denselben Gott verehren, daß die verschiedenen Religionen -- auch die Nicht-Hindureligionen -- nur verschiedene Wege zum selben Ziel sind. Besonders schön drückt dies der indische Heilige Ramakrishna (1836-1886) aus, der nicht nur verschiedene Hinureligionen, sondern auch Islam und Christentum ausprobiert hatte:

"Ich habe alle Religionsbräuche geübt: den Hinduismus, den Islam, das Christentum, und ich bin auch die Wege der verschiedenen Sekten des Hinduismus gegangen, und ich habe gefunden, daß es derselbe Gott ist, zu dem sie alle streben, wenn auch auf verschiedenen Wegen ... Ihr müßt diese verschiedenen Wege gehen und einmal jede Glaubensform wirklich durchproben. Ich sehe überall Menschen, die sich im Namen der Religion streiten: Hindus, Muslime, Brahmos, Vischnuiten usw. Sie bedenken aber nicht, daß Der, der Krischna genannt wird, ebenso auch Schiwa heißt, und ebensogut kann er Urkraft, Jesus oder Allah genannt werden und ebensogut der eine Rama mit seinen tausend Namen. Ein Teich mit vielen Badetreppen. Auf einer schöpfen die Hindus das Wasser in Krügen und nennen es Dschal; auf einer anderen schöpfen die Muslime das Wasser in ledernen Schläuchen und nennen es Pani; auf einer dritten die Christen und nennen es Water. Können wir uns denn vorstellen, daß dieses Wasser nicht Dschal ist, sondern Pani oder Water? Das wäre doch lächerlich! Der Urgrund ist Einer unter verschiedenen Namen, und ein jeder sucht nach demselben Urgrund; nur Klima, Naturanlage und Benennung schaffen die Unterschiede."

Ramakrishna brachte dafür gerne ein schönes Gleichnis:

"Gott ist auf dem Dach. Nun muß man hinaufklettern. Die einen nehmen eine Leiter, die anderen ein Seil oder eine Steintreppe oder eine Bambusstange, andere steigen hinauf nach ihrer Art. Die Hauptsache ist nur eines: daß man auf das Dach hinaufkommt, ob ihr diesen oder jenen Weg nehmt, ist ziemlich gleichgültig. Was man natürlich nicht tun kann, ist, mehrere Arten zugleich verwenden; wenn schon, dann eine nach der anderen. Wenn ihr Gott gefunden habt, dann seid ihr auf dem Dach, und nun versteht ihr, daß man verschiedene Wege nehmen kann, um ihn zu erreichen. Nur dürft ihr keinesfalls meinen, daß die anderen Wege nicht zu Gott führen. Es sind verschiedene Wege auf dasselbe Dach! Ein jeder gehe seinen eigenen Pfad! Wer aber redlich und heißen Herzens Gott sucht - Friede sei mit ihm! Gewiß wird er Ihn finden. Ihr mögt sagen, in einer anderen Religion gebe es doch viele Irrtümer und Aberglauben. Darauf antworte ich: Es mag so sein. Jede Religion hat ihre Irrtümer, jeder denkt, daß nur seine Uhr richtig geht. Es genügt aber, eine heiße Liebe zu Gott zu haben. Es genügt, Ihn zu lieben und sich zu ihm hingezogen zu fühlen. Wißt ihr denn nicht, daß Gott unser innerer Führer ist?"

Diese Anschauung von der Einheit aller Religionen ist zwar verbreitet, öfter aber findet man eine evolutionistische Anschauung, in der alle Religionen -- nicht nur die Hindureligionen -- in ein Entwicklungsschema gebracht werden, und die eigene Auffassung an der Spitze steht. Die anderen Auffassungen sind aber dennoch berechtigt und können recht tolerant behandelt werden, da das Fassungsvermögen der Menschen verschieden ist: man denkt ja in vielen Wiedergeburten, deshalb ist das gegenwärtige Leben nicht von ausschlaggebender Wichtigkeit: wenn also auch nur Anhänger der eigenen Denomination zur Erlösung gelangen können, so bedeutet das für die anderen dennoch nicht ewige Finsternis: sie haben ja noch andere Wiedergeburten vor sich, irgendwann evtl. auch als Mensch, und dann haben sie wieder die Möglichkeit zur Erlösung.

Gegen diese "snobistische" Auffassung einer Entwicklungspyramide hin zur wahren Religion stehen allerdings Auffassungen und Hindureligionen, die die höchste Religion als auch dem Einfachsten und Niedrigsten zugänglich darstellen.

Bisher bin ich in dieser Einleitung zu unserem Thema vorwiegend auf die Vielheit und dissoziierende Kraft der Hindureligionen eingegangen. In den Hindureligionen steckt allerdings auch eine starke integrative Kraft: immer wieder wurden viele lokalen Eigentümlichkeiten in die überlokalen und überregionalen religiösen Traditionen absorbiert. Die wichtigsten Mechanismen dabei sind Inklusion, die übernahme von ursprünglich fremden Elementen, und die Identifikation von z.B. regionalen oder lokalen Gottheiten mit einer Gestalt der großen Hindureligionen, wie z.B. Vishnu. Die Hindureligionen trugen und tragen auch zur Integration von Nicht-Hindu-Gruppen in die gesamtindische Gesellschaft bei. Dies geschieht durch Hinduisierung und insbesondere Sanskritisierung: die Nicht-Hindus übernehmen z.B. Vegetarismus, soziale Vorschriften, Götter, Riten und Mythen, wie sie in der Sanskrit Literatur definiert sind und vonBrahmanen vertreten werden. Eine solche Sanskritisierung kann zu einer Hebung des sozialen Ansehens der betr. Gruppe führen. So gesehen sind die Sanskrit Hindureligionen die integrierende grosse Tradition, die selber ständig verändert wird durch regionale und lokale "kleine" Traditionen.


Bisher habe ich in dieser Einleitung allerhand über Hindureligionen gesagt, ohne sie inhaltlich näher zu bestimmen. Ich werde jetzt versuchen, einige Gemeinsamkeiten der meisten Hindureligionen aufzuzählen, dann werde ich einige Phänomenevon Hindureligionen etwas ausführlicher behandeln.

Gemeinsam ist den meisten Hindureligionen:

  1. die Verehrung der Veden, der altindischen heiligen Texte aus ca. dem 15. bis 9. Jhdt. v. Chr. Diese Verehrung ist meist sehr abstrakt und hat wenig inhaltliche Auswirkungen für die meisten Hindureligionen.
  2. die zweite Gemeinsamkeit ist der Glaube an Gott in irgendeiner persönlichen oder unpersönlichen Form
  3. die dritte Gemeinsamkeit ist die Überzeugung, daß jeder an seinen Platz in der Gesellschaft geboren wird, und daher seine spezifischen Pflichten hat, mit einem anderen Wort das Ständesystem und Kastensystem (varnâshrama-dharma)
  4. die vierte Gemeinsamkeit ist das starke Gewicht, das dem Ritual gegeben wird. Ritual muß dabei keineswegs nur -- oder vorrangig -- öffentliches Tempelritual mit Tempelpriestern sein. Das private, häusliche Ritual, bei dem ein Familienmitglied oder ein Ritualspezialist der Zelebrant ist, kann wichtiger sein.
  5. die fünfte Gemeinsamkeit ist die Wichtigkeit, die dem Vertrauen zu einem Guru, einem "Seelenführer" beigemessen wird
  6. die sechste (und für uns jetzt letzte) Gemeinsamkeit ist der Glaube an Wiedergeburt und damit gleichzeitig an die Verwandtschaft und Verbundenheit aller Lebewesen, insbesondere von Mensch und Tier.

Wie gesagt, zu jeder dieser Gemeinsamkeiten gibt es viele Ausnahmen.

Damit möchte ich die -- etwas ausgeuferte -- Einleitung zu unserem Thema beenden. Ich bitte Sie aber, das Geasagte als Hintergrund zu allem Folgenden zu behalten, damit Sie nicht durch die zeitmässig nötigen schweren Vereinfachungen allzu sehr in die Irre geleitet werden.


2. Die Religion des Veda


Ich gehe hier nicht deswegen auf die vedische Religion ein, weil sie noch sehr verbreitet ist. Im Gegenteil: es ist heute sehr schwierig, noch kompetente Ausübende der vedischen Religion zu finden. Im Laufe der Verwestlichung und Industrialisierung werden immer mehr die Söhne der Spezialisten für vedisches Ritual und Rezitation Elektronikingenieure, Programmierer u. dgl.

Ich behandle hier kurzdie vedische Religion aus zwei Gründen:

  1. einmal, weil ihr im Westen -- bedingt durch das vom Motto "Zurück zu den Ursprüngen" geleitete Interesse der ersten Generationen europäischer Indologen -- ein Gewicht gegeben wurde, das sie in der der Praxis Indiens heute gewiß nicht hat.
  2. der zweite Grund ist, daß in Indien die Veden theoretisch ein grosses Gewicht haben, wenn auch ihr Inhalt faktisch keine grosse Rolle spielt.

Unter vedischer Religion versteht man die Religion der Sanskrit sprechenden Indogermanen, die sich in Nordindien ansiedelten, und die ihren Niederschlag in den heiligen Texten der drei (bzw. vier) Veden zwischen ca. dem 15. und 9. Jhdt v. Chr. fand.

Für jemanden, der bei indischen Religionen gleich an die herrlichen indischen Tempel denkt, ist es zunächst überraschend, daß die vedische Religion keine Tempel und keine Götterbilder kennt. Die Bilderlosigkeit der vedischen Religion bedingte die Wichtigkeit des gesprochenen Wortes, d.h. der Veden. Die Tempellosigkeit bedeutet, daß die Gottheiten geographisch nicht beschränkt sind: Es gibt nur einen Agni, keinen Agni von Benares. Die vedischen Götter sind zwar geographisch unbeschränkt, dafür sind sie aber funktional beschränkt, so gibt es z.B. den Gott Agni (Feuer), der für den Transport der Opferspeise vom Opferplatz zu den Göttern zuständig ist, den Gott Mitra (Vertrag), der für die Einhaltung von Verträgen zuständig ist, den Gott Varuna (Wahrheitswort), der für Wahrheit und den Eid zuständig ist, den Gott Soma (Preßtrank), den berauschenden Opfertrank usw.

Gegenüber späteren Hindureligionen ist nicht nur die Tempellosigkeit und Bilderlosigkeit ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal der vedischen Religion, sondern auch, daß die vedische Religion keine Erlösungsreligion ist und daß die vedische Religion keine Wiedergeburt kennt. Zweck der vedischen Religion ist nicht die Erlösung, sondern die Bewältigung und Gestaltung des Alltags. Dazu bedarf man des Wohlwollens der Götter. Wie schon kurz angedeutet, sind die Götter auch für die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung zuständig, indem sie Übeltäter in diesem Leben bestrafen.

Der wichtigste Umgang der Menschen mit den Göttern geschieht im Opfer. Der Grundgedanke des vedischen Opfers ist, daß die Götter als Gäste zu einem Gastmahl kommen und dafür -- wie gute Gäste -- Gastgeschenke mitbringen. Dieser Gedanke der Behandlung als Gast ist übrigens auch der Schlüssel zu den meisten heutigen Hinduritualen: deshalb erinnern sie einen Außenstehenden manchmal etwas an Mit-Puppen-spielen. Der

Opfernde versteht sich beim vedischen Opfer alsgleichberechtigter Partner der Götter und handelt nach dem Prinzip do ut des: Ich gebe Dir, was du brauchst, damit du mir gibst, was ich brauche. In der späteren Zeit verselbstständigte sich das vedische Opfer vom Gedanken der Gastfreundschaft: wichtig für den Bestand der Welt war nicht mehr, ob die Götter existieren, sondern daß die Opferrituale fehlerfrei ausgeführt wurden. Das Opfer wurde also -- dies meine ich wertfrei -- zur Magie.

Ein weiteres wichtiges -- in brahmanischen Kreisen bis heute wirksames -- Element der vedischen Religion ist der Ahnenkult. Diese Totenverehrung steht in Beziehung zum Erbrecht: der Sohn, der den Besitz übernimmt, hat für das Wohl seiner männlichen Vorfahren zu sorgen. Deshalb ist es neben ihrer Verwertung als Beschützer und Arbeitskräfte, auch deswegen wichtig, einen männlichen Nachkommen zu zeugen, damit dieser beim monatlichen Totenopfer für die Ernährung seines Vaters, Großvaters und Urgroßvaters im Schattenreich sorgen kann.

Diese paar Bemerkungen sollen ihnen eine Vorstellung von der vedischen Religion geben.


3. Die "Mystik" der Upanischaden


Die Upanischaden (Geheimlehren) sind philosophisch-mystische Traktate, von denen behauptet wird, daß sie erläuternde Anhangswerke zu den vier Veden sind, obwohl sie in Wirklichkeit gegenüber den Veden ganz bedeutende Neuerungen einführen. Die Upanischaden, die uns hier interessieren sind wohl zwischen dem 9. und 5. Jhdt. v. Chr. verfaßt worden. Die beiden für die Folgezeit zentralen Neuerungen sind die Alleinheitslehre verbunden mit dem Erlösungsgedanken und die Lehre von der Wiedergeburt in einer neuen Gestalt, die aus den im früheren Leben vollbrachten Taten resultiert.

Die Alleinheitslehre bezeichnet das All-Eine vor allem mit zwei Bezeichnungen: das All-Eine ist das Brahma, die Macht welche dem Opfer seine Kraft gibt und die alles trägt, und das All-Eine ist der Âtman, das wahre Selbst, der innerste Kern des Einzelwesens und des Weltganzen. Somit sind Atman und Brahman identisch, wie ein alter Text aus der Chandogyaupanischad sagt (Châ 3,14):

"Dieses Selbst in meinem Herzen ist kleiner als ein Reiskorn, oder ein Gerstenkorn, oder ein Senfkorn, oder ein Hirsekorn, oder der Kern eines Hirsekorn;

Dieses Selbst in meinem Herzen ist größer als die Erde, größer als das Zwischenreich [zwischen Himmel und Erde], größer als der Himmel, größer als diese Welten.

Ihm gehören alles Handeln und alle Wünsche, alle Gerüche und alle Wahrnehmungen; es hat dieses All an sich gerissen; es ist ohne Rezitation und ohne Ehrfurcht [d.h. es anerkennt nichts Göttliches über sich].

Dieses Selbst ist das Brahman. Zu diesem Selbst werde ich werden, wenn ich von hier abgeschieden bin."

Erlösung aus der Verstrickung des Nichtwissens besteht in der Erkenntnis: das Selbst ist das Brahman.

Neben reiner Spekulation hat diese Lehre wohl auch eine Wurzel in -- durch Meditationstechniken und/oder Drogen -- hervorgerufenen veränderten Wachbewußtseinszuständen, die häufig das Merkmal der ozeanischen Selbstentgrenzung haben.

Diese Gedanken bewegten die ganze folgende indische Religionsgeschichte, insbesondere im Vedânta. Diese Gedanken fanden auch im Westen große Aufmerksamkeit, vielleicht relativ größere als in Indien selbst.


4. Die Bhagavadgîta, ein Modell vischnuitischen Hindudenkens


Statt Ihnen eine Übersicht über alle späteren Hindureligionen zu geben, will ich Ihnen modellhaft an einer der berühmtesten und verbreitesten Hl. Schriften der Hindus einiges zeigen. Die Bhagavadgîta ist ein Propagandawerk gegen Weltflucht, gegen Aussteiger, die die etablierte Sozialordnung gefährden könnten. Gleichzeitig ist die Bhagavadgîta auch eine der Grundschriften zum Problem Gewalt und Gewaltlosigkeit.

Spätestens seit dem Gandhifilm verbindet sich bei uns die Vorstellung von indischer Spiritualität mit Gewaltlosigkeit. Die Tatsache, daß Indien über 18% (1983) seiner öffentlichen Ausgaben für das Militär verwendet, und daß die indische Geschichte, was Kriege betrifft, den Vergleich mit der europäischen Geschichte nicht scheuen muß, könnte demgegenüber als das übliche Auseinanderklaffen von Ideal und Wirklichkeit betrachtet werden.

Die Auswahl der Bhagadvadgita legte sich um so mehr nahe, als man sie zu Fug und Recht als Bibel Mahatma Gandhi's bezeichnen kann. Mahatma Gandhi schreibt in seiner Autobiographie (erschienen 1930):

"Gegen das Ende meines zweiten Jahres in England begegnete ich zwei Theosophen, Brüdern, beide unverheiratet. Sie sprachen mir von der Gîtâ. Sie lasen Sir Edwin Arnolds übersetzung <The Song celestial> -- und luden mich ein, das Original mit ihnen zu lesen. Ich fühlte mich beschämt, denn ich hatte die göttliche Dichtung weder in Sanskrit noch in Gujarati gelesen. Ich mußte ihnen sagen, daß ich die Gîtâ nicht gelesen hätte, mich aber freuen würde, sie mit ihnen zu lesen; und obgleich meine Sanskrit-Kenntnis mager sei, hoffte ich doch, imstande zu sein, das Original so weit zu verstehen, um sagen zu können, wo die übersetzung etwa den richtigen Sinn verfehlt habe. Ich begann die Gîtâ mit ihnen zu lesen. ... Das Buch erschien mir als unschätzbar wertvoll. Dieser Eindruck hat sich seither ständig vertieft mit dem Ergebnis, daß ich es heute als das Buch par excellence für die Erkenntnis der Wahrheit halte."

Ich muß gleich vorausschicken, daß ich die Gîtâ etwas anders lese als Gandhi und sie Ihnen zunächst einmal so darstellen werde, wie sie einem möglichst unbefangenen Leser erscheint.


Die Bhagavadgîtâ, so wie sie uns vorliegt ist Bestandteil des Mahâbhârata. Das Mahâbhârata ist ein riesiges Epos mit ca 90 000 Versen, dem im Laufe der Zeit (ca. 5 Jhdt vor Chr bis 5. Jhdt n. Chr) die gegenwärtige Gestalt gegeben wurde. Der Hauptinhalt des Mahâbhârata sind die Streitigkeiten um die dynastische Nachfolge zwischen zwei eng verwandten Gruppen. Diese Streitigkeiten führen schließlich zum Krieg, wobei das Mahâbhârata die Partei der einen Gruppe ergreift: es ist also ein gerechter Krieg, da -- wie heutige Inder manchmal sagen -- der Gegner der Hitler des indischen Altertums ist. Die Bhagavadgîtâ spielt genau zu Beginn dieses Krieges: die beiden feindlichen Heere stehen einander gegenüber, ein "Fünfsternegeneral" der gerechten Partei läßt sich vor die Front fahren, damit er sich einen Gegner aussuchen kann, der seiner würdig ist. Und nun geschieht das geradezu Groteske: dieser General -- Arjuna ist sein Name -- sieht im feindlichen Heer all seine Verwandten, Lehrer und Freunde, bekommt Skrupel und beschließt Kriegsdienstverweigerer zu werden. Seine Argumente: Was soll ich mit der Herrschaft, wenn ich dafür meine Verwandten töten muß: die Freuden der Herrschaft haben nur Sinn, wenn man sie mit seinen Verwandten teilen kann. Außerdem und noch viel wichtiger: Wenn man Familien zerstört, zerstört man die Grundlagen der Gesellschaft:

Familien sind die eigentlichen Keimzellen der Gesellschaft, in denen die gesellschaftlichen Werte sozialisiert werden. Zerstört man die Familie, dann zerstört man auch die Opfer an die Ahnen: niemand bringt die Ahnenopfer mehr dar, von denen die verstorbenen Ahnen abhängig sind: so zerstört man nicht nur die gegenwärtige und zukünftige Generationen, sondern auch vergangene. Kurz gesagt: Wenn ich jetzt kämpfe, würde ich eine furchtbare übeltat begehnen und sicher in die Hölle kommen.

Eine solche Einstellung zu einem solchen Zeitpunkt ist für die etablierte Gesellschaftsordnung selbstverständlich lebensbedrohlich. Übersetzen Sie die Situation nur in die Gegenwart: Ein Fünfsternegeneral, der zu Beginn eines gerechten Krieges beschließt, Aussteiger zu werden! Da war General Bastians Kritik am Bundewehrkonzept nichts dagegen.

Zum Glück bediente sich die göttliche Vorsehung zur Übermittlung ihrer Ratschlüsse nicht des unzuverläßigen Engels und vormaligen Dienstmanns Alois Haberl, der im Bürgerbräukeller hängenblieb, weswegen die bayerische Staatsregierung bis heute vergeblich auf die göttlichen Ratschläge wartet. Nein Gott war Mensch geworden und war der Wagenlenker von General Arjuna, sodaß er in unserer bedrohlichen Situation eingreifen konnte. Allerdings wußte Arjuna zu diesem Zeitpunkt noch nicht von der Göttlichkeit seines Wagenlenkers Krshna. Krshna versucht nun also mit einem Feuerwerk von Überredungskunst, Arjuna von seinen staatszersetzenden Gedanken abzubringen. Dabei entwickelt er Denkmuster, die als typisch gelten können für viele Hinduismen.


Man kann die anfanglose und unsterbliche Seele nicht töten. Die Seele wandert von einem Körper zum anderen so wie man alte Kleider wegwirft und neue anzieht. Getötet wird nur der Körper, der sowieso sterben muß. So ist es unsinnig, den Tod von jemandem zu betrauern, und es gibt auch keinen Grund, Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen zu betreiben, weil man nicht töten will.


Du gehörst nach der "natürlichen" Sozialordnung von Geburt aus zum Kriegerstand. Für einen Angehörigen des Kriegerstandes gibt es nichts besseres, als im Kampf zu fallen: dann kommt er nämlich sofort in den Himmel. Andrerseits gibt es für einen Krieger nichts Schändlicheres, als im Kampf davonzulaufen. Unehre ist für einen krieger fürchterlich. Wenn du kämpfst riskierst du nichts: entweder siegst du, dann kannst du die Erde ausbeuten, oder du wirst getötet, dann kommst du direkt in den Himmel. Risiko = Null.


Du kannst vermeiden, daß du -- wie du meinst -- in eine Hölle kommst, indem du in richtiger Weise kämpfst. Man kann nämlich handeln, um eine gute Frucht seines Handelns -- sei's in diesem Leben oder insbesondere in einer späteren Geburt -- zu erhalten. Handeln, das gute oder böse Früchte für den Handelnden hervorbringt, das also karmisch wirksam ist, zeichnet sich dadurch aus, daß es Zuneigung und Abneigung zeigt, daß es an den Objekten hängt oder von ihnen abgestossen wird, daß es im Handeln Selbstverwirklichung sucht. Karmisch unwirksam wird Handeln dagegen dadurch, daß es tut, was zu tun ist, ohne Zuneigung oder Abneigung, ohne Selbstverwirklichung zu suchen, daß es die Pflicht um der reinen Pflicht willen tut, unerschüttert von Leid und Freude, indifferent. Wenn du so kämpfst, kann dein Tun gar keine bösen Folgen haben.

Der metaphysische Hintergrund zu dieser Haltung ist, die Tatsache, daß das eigentliche Ich überhaupt nicht tätig ist, sndern daß nur das empirische Ich, das man fälschlich mit dem eigentlichen Ich verwechselt, handelt. Das eigentliche Ich kann sich also gar nicht in Taten verwirklichen. Diese Metaphysik hat ihre Grundlage auch in veränderten Wachbewußtseinszuständen, wie sie durch Drogen oder meditative Praktiken hervorgerufen werden können, in denen die Einheit der Person zersplittert, indem die Verfügbarkeit über normale Ichfunktionen nicht mehr gegeben ist <zB: Meine eigenen Gefühle kamen mir fremd, als nicht zu mir gehörend vor. Ich fühlte mich wie ein Automat. Ich beobachtete mich selbst wie einen fremden Menschen>.

An dieser Stelle muß Krshna seine Lehre vom Handeln von einer traditionellen indischen Lehre abheben, die auch im Handeln den "Weg" sieht, der Lehre von den Opfern und rituellen Handlungen. Diese Lehre von den Opfern krankt daran, daß man opfert, um in den Himmel zu kommen, man haftet also an seinen Taten. Nun wäre es unklug, diese verbreitete religiöse Lehre nur zu attakieren: viel besser ist es, man zeigt daß man selber den eigentlichen, wahren Kern dieser Lehre bei sich aufgehoben hat. Dies tut auch Krshna: Wahres Opfer ist, daß man seine soziale Pflicht in der Welt erfüllt, ohne sich dabei an die Welt zu binden. Wenn Arjuna also mit dieser Opfermentalität kämpft, kann nichts schiefgehen.

Wie aber kann man einen solchen Zustand der Indifferenz gegenüber seinen Werken erreichen? Nur dadurch, daß man seine Sinnesorgane und sein Denken im Zaum hält: ist man nicht an diesen Toren achtsam, kann man nicht mehr viel machen, man wird von seinen Leidenschaften und Aversionen fortgerissen.

Nun stellt sich aber für Arjuna die Frage: es gibt ja im Indien seiner Zeit ganz viele Lehren, die Erlösung durch Erkenntnis lehren. Als Voraussetzung für diese Erkenntnis betrachtet man es sehr oft, daß man sich aus dem tätigen Leben zurückzieht und in der Einsamkeit meditiert. Wäre es also nicht noch viel besser, Arjuna würde -- statt zu kämpfen -- aussteigen und nicht handeln? Krshna antwortet nun nicht, daß das Aufgeben des Handelns nicht der rechte Weg ist. So würde er die Aussteiger und potentiellen Aussteiger nur verprellen, er will sie aber in die Gesellschaft reintegrieren. Also sagt er: Aufgeben des Handelns ist nötig. Das geht aber gar nicht dadurch, daß man nicht handelt. Jeder handelt notwendigerweise, sonst würde er nicht leben. Also kann absolutes Nicht-Handeln in diesem Sinne nicht das Ziel sein. Für einige ist der Weg der Entsagung dadurch, daß sie sich aus der Welt zurückziehen, durchaus angemessen. Besser aber und auch viel einfacher ist eine andere Form des Nicht-Handelns: Nichthandeln, Aufgeben des Handelns heißt, an seinen Werken nicht hängen, von ihnen nicht abgestossen werden. So ist richtiges Handeln besser als Untätigkeit.

Dies läßt sich auch aus der alten Opferlehre beweisen: Nach dieser ist der natürliche Weltenlauf mit seiner Vegetation, Fauna, Menschen- und Götterwelt davon abhängig, daß geopfert wird. In dieser Gesinnung -- die Welt- und Sozialordnung aufrecht zu erhalten -- muß man handeln, dann ist das Handeln Opfer.

Hieraus folgt eine besondere Verpflichtung für Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens -- wie es General Arjuna ja ist: sie sind Opinion leader: nach ihnen richten sich die Leute. Wenn opinion leader sich nicht an die sozialen Normen halten würden, sondern aus der Gesellschaft aussteigen würden, dann würden die gottgewollten sozialen Normen an Wirkung verlieren: Chaos würde hereinbrechen. Der Unterschied zwischen einem, der die wahren Weltgesetze kennt, und der grosssen Masse, die diese nicht kennt, ist nicht das, was sie tun, sondern mit welcher Gesinnung sie es tun: die Unwissenden handeln, indem sie in ihren Werken Selbstverwirklichung suchen, Wissende handeln nur, damit nicht Chaos ausbricht. Es wäre katastrophal, wenn ein Wissender hinginge und Leuten, die dafür noch gar nicht reif sind, Lehren vorsetzen würde, die sie nur mißverstehen können. Deshalb darf man die Unwissenden nicht verwirren, sondern muß sie durch sein eigenes vorbildliches Handeln dazu anspornen, ihre sozialen Pflichten zu erfüllen.


Gewiß: eine solch indifferente Einstellung beim Handeln ist schwierig, doch dies braucht dich, Arjuna nicht zu entmutigen.

Das Tolle an meiner, des Krshna, Lehre ist, daß man das, was man einmal erreicht hat nie wieder verliert: Während man, wenn man Verdienstvolles als Verdienstvolles tut, dafür eine Zeitlang in einen Himmel kommt, wo das Verdienst aufgebraucht wird, und man dann wieder auf tiefer Stelle von vorne anfangen muß, ist es beim Versuch um die Verwirklichung dieser Einstellung so, daß man in zukünftiger Geburt als Mensch nach langem Aufenthalt in einem Himmel wieder genau von dem Niveau anfängt, mit dem man aufgehört hat, dh. im Gegensatz zu Verdienst wird das Niveau, das man in der rechten Einstellung erreicht hat, nirgends aufgebraucht. Dies ist natürlich ein vorzügliches Argument, es doch einmal auszuprobieren.


Eine solche Verteidigung des gesellschaftlichen status quo, wie sie Krshna gibt, darf natürlich selbst auch keine revolutionäre neue Lehre sein. Deshalb behauptet nun Krshna, daß er diese ewige Lehre zu Beginn des jetzigen Weltzyklus verkündet hat. Dies ist die Gelegenheit, auf eine entsprechende verwunderte Frage des Arjuna hin, seine wahre Natur zu offenbaren: Krshna ist der einzig wahre Gott, der Herr aller Geschöpfe. Immer dann, wenn in der Welt das Unrecht die Oberhand zu gewinnen droht, inkarniert er, um die wahre Lehre wieder herzustellen. Wenn alle bisherigen Argumente nichts genützt haben, so müßte Arjuna jetzt wenigstens der göttlichen Autorität vertrauen und glauben. Genau diesen Glaube und die vertrauensvolle Hingabe an ihn, an Gott, preist deshalb Gott Krshna nun an. Denn Glaube führt zu Läuterung und Erkenntnis, Erkenntnis zur Erlösung. Erlösung heißt Loslösung von der Fesselung durch die Taten an gute oder schlechte Wiedergeburten. Der Erlöste ist frei, zu handeln: so kann auch Arjuna kämpfen.


Krshna preist sich als den alleinigen Gott an, dem allein es zu vertrauen gilt und der in allem immanent ist, weil er allem gegenüber als Herr absolut transzendent ist.

<Auch diese metaphysische Anschauung hat eine Wurzel -- neben anderen -- in veränderten Wachbewußtzuständen, wie sie z.B. in der Meditation erfahren werden, und die man als ozeanische Selbstentgrenzung bezeichnen könnte <Es kam mir vor, als seien meine Umwelt und ich eins>.

Bei einem solchen ausschließlichen Anspruchwie ihn Krshna nun erhebt, stellt sich nun sofort die Frage, was ist aber mit den vielen anderen religiösen Versuchen der Menschen? Krshna verdammt diese nicht einfach als nichtig: nein auch die, die anderen Göttern oder Wesen dienen, erlangen was sie wollen; dies aber nicht, weil diese anderen Götter irgend eine Macht hätten; nein, der einzig wahre Gott erfüllt all diesen Menschen ihre Wünsche und bestärkt sie so sogar in ihrem irrigen Glauben. Leute, die anderen Wegen folgen, die andere Gottheiten verehren, verehren also in Wirklichkeit nur den einzigen, wahren Gott, aber sie wissen es nicht. Man könnte das Wort des katholischen Theologen Karl Rahner vom anonymen Christen umwandeln und sagen: alle Menschen sind anonyme Visnuiten (Visnu ist der Name Gottes, der als Krshna inkarnierte).


Für dich Arjuna ist es besonders wichtig, immer nur an mich, an Gott zu denken. Du weißt ja -- wie es in Indien allgemein bekannt ist -- , daß man in seiner nächsten Existenz zu dem geht, an was man in seinem Todesaugenblick denkt. Denk also immer an mich und kämpfe. Wenn du im Kampfe fällst, kommst du so nicht nur wie jeder Krieger in einen vergänglichen Himmel, nein du kommst dann zur ewigen seligen Vereinigung mit mir, mit Gott.


Beachten Sie, daß Krshna bis jetzt allein mit dem Wort auskam. Er verwendete keinerlei Wunderspektakel, um Arjuna zum Glauben zu bringen. Und trotzdem glaubt ihm Arjuna voll und ganz. Als Gläubiger bittet er Krshna, ob dieser sich ihm nun auch erfahrbar offenbaren kann. Krshna kann und will und bietet nun dem Arjuna ein grandioses Spektakel, bei dem er sich unter seinen verschiedensten Erscheinungen und Aspekten zeigt, und bei dem er vor allem zeigt, daß alles in Gott ist, weil dieser als absolut transzendenter in allem immanent ist. Insbesondere zeigt sich Gott auch in seinem schrecklichen Aspekt, der die feindlichen Krieger schon alle vernichtet hat:

"Auch ohne dich werden alle in den gegnerischen Heeren aufgestellten Krieger zu existieren aufhören. Darum erhebe dich und erringe Ruhm. Besiege deine Feinde und genieße ein blühendes Königtum. Sie sind bereitsvon mir geschlagen. Sei du nur mehr der Anlaß. Erschlage die großen Krieger, die bereits von mir geschlagen sind. Habe keine Furcht! Kämpfe!"

Arjuna ist nun völlig überwältigt von Gott.


Krshna führt nun seine Lehre gegenüber dem gläubigen Arjuna noch weiter aus. Für uns am wichtigsten ist, daß Krshna die indische Lehre von den spezifischen sozialen Pflichten, indie man in der Ständeordnung hineingeboren ist, voll bestätigt: man muß seine eigenen ständischen Pflichten erfüllen, darf sich nicht die Aufgaben anderer anmaßen. Ja

"es ist besser, seine eigenen Pflichten unvollkommen, als die Pflichten eines anderen vollkommen zu erfüllen. Wenn man die durch die eigene Natur gesetzte Pflicht erfüllt zieht man sich keine Sünde zu."

Wir können das gleich anwenden: General Arjuna gehört seiner Natur nach zum Kriegerstand, also ....


Eine letzte Aufforderung:

"Mein gedenkend wirst du durch meine Gnade alle Schwierigkeiten überwinden. Du wirst hingegen zugrundegehen, wenn du aus Selbstdünkel nicht auf mich hören willst. Wenn du, deinem Eigendünkel folgend denkst: Ich will nicht kämpfen, so ist dieser dein Entschluß vergeblich. Die Natur wird dich zwingen" <s.das oben zur Auflösung der normalen Ichfunktionen gesagte>, denn du bist dazu determiniert.

Arjuna ist überzeugt:

"Ich werde nach deinem Wort handeln"

und beginnt seine feindlichen Verwandten niederzumetzeln.


Wenn Sie selbst schon einmal die Bhagavadgîtâ gelesen haben, sind sie jetzt vielleicht entsetzt, wie man dieses herrliche Werk mit so vielen erbaulichen Sprüchen so darstellen kann, daß es ein Pamphlet des Bundesverteidigungsministeriums gegen Null-Bock-Mentalität sein könnte. Ich empfehle Ihnen dann, die Gîtâ einmal unter meinem Gesichtspunkt zu lesen und ich bin überzeugt, daß sie dann meine Interpretation gar nicht so falsch finden werden.


Aber: Die Gîtâ ist doch die Bibel Gandhis! Gandhis. der in Wort und Tat lehrte, daß man dem Übel mit Gewaltlosigkeit zu widerstehen hat! Wie kann eine solche Schrift die Bibel Gandhis sein? Doch nur, indem Gandhi die Gîtâ eben anders gelesen hat als ich. Wie? Am besten hören wir, was Gandhi selbst in der Einleitung zu seiner Auslegung der Gîtâ sagt (nach der englischen Übersetzung):

"Der Gegenstand der Gîtâ ist schlicht die Verwirklichung Brahmans <des Absoluten> und die Mittel hierzu. Die Schlacht ist nur der Anlaß für die Lehre der Gîtâ. Man kann sagen, daß der Dichter (der Gîtâ) (die Schlacht) als Anlaß für die Gîtâ benutzte, weil er Krieg nicht als etwas moralisch falsches anschaute. Als ich das Mahâbhârata las, hatte ich einen ganz anderen Eindruck: Der Autor des Mahâbhârata schrieb dieses wunderschöne Epos um die Unnützigkeit des Krieges darzustellen. Was brachte die Niederlage der Kaurava und der Sieg der Pandava? Wieviele Sieger überlebten? Was war deren Schicksal? ... Was blieb ... heute davon übrig? Da der Gegenstand der Gîtâ nicht die Beschreibung der Schlacht ist und auch nicht die Rechtfertigung von Gewalt, ist es völlig falsch diesen viel Bedeutung zu geben. Wenn es auch schwierig ist, einige der Verse mit der Idee zu vereinbaren, daß die Gîtâ Gewaltlosigkeit befürwortet, dann ist es noch viel schwieriger die Lehre des Werkes als ganzes mit Befürwortung von Gewalt zu vereinbaren.... Daß die Lehre der Gîtâ nicht Gewalt sondern Gewaltlosigkeit ist, wird klar aus dem Argument, das in Kapitel 2 beginnt und in Kapitel 18 aufhört. Die Kapitel dazwischen haben dasselbe Thema. Gewalt ist schlichtweg nicht möglich, wenn jemand nicht angetrieben ist von Aversion, von unwissender Liebe und von Haß. Die Gîtâ aber will, daß wir der Aversion unfähig werden. ... Aber hatte Arjunas beharrliche Weigerung zu kämpfen irgendetwas mit der Gewaltlosigkeit zu tun? Er hatte tatsächlich oft genug in der Vergangenheit gekämpft. Beim gegenwärtigen Anlaß war sein Verstand plötzlich umnebelt von unwissender Anhaftung. Er wollte seine Verwandten nicht töten. Er sagte nicht, daß er niemand töten will, selbst wenn er glaubte, daß diese Person böse sei. Krishna ist der HERR, der in jedermanns Herzen wohnt. Er versteht die momentane Verdunkelung von Arjunas Verstand, deswegen sagt er zu ihm: `Du hast schon Gewalt begangen, wenn Du jetzt wie ein weiser Mann sprichst, wirst Du Gewaltlosigkeit nicht lernen. Nachdem Du auf dieser Bahn angefangen hast, mußt Du sie auch zu Ende gehen.' Wenn jemand in einem Zug fährt, der mit 60 Stundenkilometer dahin braust, plötzlich eine Abneigung gegen Reisen empfindet und aus dem Zug springt, dann wird er nichts anderes erreichen, als sich selbst umzubringen. Er hat nicht in Wahrheit die Nutzlosigkeit des Reisens als solches oder des Bahnreisens realisiert. Arjuna war in einer ähnlichen Verfassung. Krishna, der an Gewaltlosigkeit glaubte, konnte Arjuna keinen anderen Rat geben, als er tat. Wenn man aber daraus schließt, daß die Gîtâ Gewalt lehrt oder den Krieg rechtfertigt, dann ist das genauso unbegründet, wie wenn man argumentieren würde, daß der Dharma nur in der Gewalt liegt, da Gewalt in irgendeiner Form unumgänglich ist, um seinen Körper zu erhalten. Jemand, der die Gabe der Unterscheidung besitzt, lehrt die Pflicht nach der Erlösung von diesem Leib zu streben, der durch Gewalt existiert.... Aber wer ist (es folgt die Aufzählung der wichtigsten Figuren des Mahâbhârata)? Waren es historische Persönlichkeiten? Berichtet die Gîtâ ihre Taten? Ist es wahrscheinlich, daß Arjuna plötzlich ohne Vorwarnung eine Frage stellen sollte, wenn die Schlacht gerade am Beginnen ist? und daß Krishna in dieser Situation als Antwort die ganze Gîtâ rezitieren sollte? ... Persönlich glaube ich, daß Duryodhana und seine Partei für die satanischen Antriebe in uns stehen und daß Arjuna und andere für die auf Gott gerichteten Impulse stehen. Das Schlachtfeld ist unser Körper. "


Sie sehen, man kann denselben Text gegensätzlich interpretieren. Aber: Ist es denn nicht wichtiger für die Wirkung eines Textes, wie er tatsächlich verstanden wird und nicht wie er historisch vielleicht zu verstehen ist? Richtig. Allerdings sind viele der Gedanken der Gîtâ, so wie ich sie verstanden habe als Rechtfertigung des gerechten Krieges, ebenfalls wirksam geworden, teils durch andere Texte und andere Traditionen. Wir haben also den Idealfall, daß unser Text gleichzeitig zur Rechtfertigung gerechter kriegerischer Gewalt dient, als auch zur Ablehnung derselben.


Ich möchte diese Betrachtungen zur Bhagavadgîta abschließen mit einem Text von Mahâtma Gandhi:

"Ich glaube, daß ich da, wo nur die Wahl bliebe zwischen Feigheit und Gewalt, zur Gewalt raten würde... Dagegen glaube ich, daß Nicht-Gewalt der Gewalt unendlich überlegen ist. Vergeben ist männlicher als Bestrafen. Vergeben ehrt den Krieger. Selbstüberwindung aber ist Vergeben nur da, wo die Macht zu strafen vorhanden ist. Vergeben ist bedeutungslos, wo es von einem wehrlosen Wesen scheinbar gewährt wird. Bei einer Maus kann man schwerlich sagen, sie vergebe der Katze, wenn sie zuläßt, daß sie in Stücke zerrissen wird."
M. Gandhi, Young India 25.8.1920. Zit in: Vom Geist des Mahatma : Ein Gandhi-Brevier / Hrsgg. von Fritz Kraus. -- BadenBaden: Holle, 1957. -- S. 279.


5. Das Kastensystem


Bei der Behandlung der der Bhagavadgîta hörten wir, daß es besser ist, seine eigenen Pflichten unvollkommen, als die Pflichten anderer vollkommen zu erfüllen. Dies ist ein zentraler Gedanke des indischen Kastensystems, dem wir uns nun zuwenden wollen. Ich muß sie dafür um einige Geduld bitten: ich werde eine ausgewogene Darstellung versuchen, die darum aber auch nicht ganz einfach ist.


Begriffsbestimmung


Es gibt viele Versuche, Kaste so zu definieren, daß die Definition die mit "Kaste" bezeichneten sozialen Phänomene bes. in Südasien abdeckt. Die entsprechende indische Bezeichnung ist Jâti (Jât), nicht Varna. Varna ist die Bezeichnung für die vier Kategorien Brahmane, Kshatriya, Vaishya, Shûdra, die oft fälschlich als Kasten bezeichnet werden. Es sind Grobkategorien einer Hierarchie, denen in gewisser Weise die eigentlichen Kasten zugeordnet werden können, wozu die unter den Shûdras stehenden Kasten kommen, zu denen verschiedene Kasten von Unberührbaren (heute Harijan: "Kinder Gottes" genannt) gehören, welche wegen der Verwechslung von Jati und Varna oft irrtümlich Kastenlose genannt werden.

Die klarste Definition läßt sich im Anschluß an Max Weber geben. Weber grenzt Kaste von sozialen Phänomenen insbes. des Abendlandes ab: Kaste unterscheidet sich von Stamm, da sie kein Territorium hat und ökonomisch spezialisiert ist: sie ist ein Stand; von Berufsstand oder Lebensführungsstand unterscheidet sie sich durch erblichen Zugang: sie ist ein Geburtsstand; vom rechtlichen Geburtsstand unterscheidet sie sich, da die Abschließung gegen außen religiös abgesichert ist. W. Schluchter im Sinne Weberss:

"Kaste ist eine durch rituelle Kommensalitäts- und Konnubialschranken nach außen abgegrenzte, durch positive oder negative Privilegierung und durch ökonomische Sondergebarung nach innen zusammengeschlossene erbliche Gemeinschaft innerhalb eines sozialen Gesamtverbandes."

Damit ist "Kaste" als religionssoziologischer Begriff bestimmt.

Er erfaßt nicht die jüdischen, muslimischen, christlichen und auch die hinduistischen indischen Kasten, in denen die Schranken untereinander nicht "ritueller" Art sind: auf sie könnte man den Kastenbegriff nur insofern anwenden, als sie von außen als Kasten gesehen werden, nicht aber in ihrem Selbstbild. Faßt man den Begriff Kaste so, daß er den allgemeinen Sprachgebrauch wiedergibt und "Jati" entspricht, wird man kaum einen allgemeingültigen Begriff bilden können. Es empfiehlt sich, Kaste nicht isoliert zu beschreiben, sondern das Kasten"system".


Merkmale des Kastensystems in Südasien


Man kann verallgemeinernd das Kastensystem durch folgendeMerkmale kennzeichnen:

  1. Kasten scheiden die Gesellschaft in geschlossene, relativ autonome Gruppen, in die der Einzelne hineingeboren wird.
  2. Kasten bilden ein wesentlich auf Reinheitsvorstellungen beruhendes hierarchisches System, in dem jede Kaste auf lokaler bzw.mikroregionaler Ebene ihren festen, angestammten Platz innehat, über dessen rangmäßige Einordnung weitgehend Übereinstimmung herrscht. Obwohl Kasten überregional verstreut sein können, gibt es überregional nur in groben Zügen eine gemeinsame Rangordnung der Kasten, die in Einzelheiten beträchtliche Unterschiede aufweist.
  3. Dieser hierarchischen Struktur entsprechen unterschiedliche religiöse und soziale und, weil ein großer Teil der Kasten ein Berufsmonopol für bestimmte Tätigkeiten innehat, auch wirtschaftliche Gebote, Verbote und Privilegien, die den unterschiedlichen Status der Kaste weiter festlegen.
  4. Damit ist jeder Einzelne bereits mit seiner Geburt gesellschaftich festgelegt, indem ihm eindeutige Verhaltensmuster der Ein- und Unterordnung vorgeschrieben sind (dharma). Man muß die Verhaltensmuster der eigenen Kaste voll erfüllen, und nicht die einer anderen (weitgehendes Fehlen einer kastenübergreifenden speziellen Ethik), ja es ist besser, die Pflichten der eigenen Kaste schlecht zu erfüllen, als die einer fremden hervorragend.
  5. Durch Verhaltensregeln sind die sozialen Kontakte von Mitgliedern verschiedener Kasten sehr eingeschränkt und reglementiert. Viele Beziehungen sozialer Art sind nur zwischen Mitgliedern derselben Kaste erlaubt. Dazu dienen ausdrückliche Normen und Gebote, wie die der Endogamie (Zwang zur Heirat innerhalb der Kaste) oder -- in seltenen Fällen -- Hypergamie (Erlaubnis der Heirat einer Frau aus einer niedrigeren Kaste), der Speisevorschriften (Gemeinschaft beim Essen, Annahme von Wasser und Speisen, Vegetarismus u.ä.), der Reinheitsvorschriften (Berührungsverbote, Dauer der Unreinheit nach Todesfällen usw., Reinigungsriten u.ä.) usw.
  6. Zu diesen Verhaltensnormen, gehört auch, daß man den der Kaste eigenen Beruf ergreift, wobei freie Berufswahl oder Berufswechsel weitgehend ausgeschlossen ist. Das Kastensystem bedingt mit seiner Zuweisung beruflicher Pflicht und seinen Berufsverboten eine oft sehr differenzierte Arbeitsteilung.
  7. In seinen wirtschaftlichen Beziehungen ist der Einzelne frei im Rahmen der gegebenen Kastenordnung. Die wirtschaftlichen Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen sind aber so offen, daß es innerhalb ein und derselben Kaste oft sehr große Unterschiede in den wirtschaftlichen Verhältnissen gibt.
  8. Die Kastenzugehörigkeit prägt, da durch sie soziale Beziehungen und Berufsstruktur bestimmt sind, die Siedlungsstruktur von Dörfern (Herausbildung von Weilern und Vierteln, Zuordnung zu verschiedenen Brunnen u.ä.) und ursprünglich auch Städten.
  9. Die Kaste stellt eine Primärgruppe dar mit einer unabhängigen und gerade bei den tiefer rangierenden Kasten straffen Organisation mit einer Führungsspitze. Die Überwachung der Bräuche, Vorschriften und Privilegien, d.h. die Beachtung des dharma innerhalb der Kaste und ihre Wahrung nach außen gegenüber den anderen Kasten fällt in die Zuständigkeit des Kastenrates (Kastenpanchayat), der über eine eigene Gerichtsbarkeit mit umfassender Kompetenz verfügt (bei schweren Verstößen bis zur Ächtung). Der Einzelne ist damit der Institution "Kaste" völlig unterworfen, er steht durch Geburt in einer unlösbaren kollektiven Bindung. Eine solche Kastenorganisation umfaßt in der Regel mehrere benachbarte Siedlungen.
  10. Das Funktionieren dieses Systems beruht für die in der Sanskrittradition stehenden höheren Kasten sowie für die "sanskritisierten" Kasten vor allem auf zwei Prinzipien der Hindureligionen (einschließlich Buddhismus und Jainismus) als religiös-sozialen Systemen (für die Kasten von Nichthindus kann ein allen gemeinsames ideologisches Fundament nicht angegeben werden):
    1. der Glaube an die Karmagesetzlichkeit d.h. naturgesetzliche Bestimmung der Art des gegenwärtigen Daseins durch Taten vorhergegangener Existenzen;
    2. die Erfüllung der bürgerlichen und religiösen Pflichten (dharma).

    Diese beiden Prinzipien, als feststehende moralische Weltordnung akzeptiert, neutralisieren individuelle Aufstiegsmotivationen für dieses Leben. Ein sozialer Aufstieg im Lauf der Wiedergeburten ist hingegen eine wesentliche Motivation für die gute Erfüllung des auch kastenspezifischen Dharma: ein solches Leben ist Voraussetzung für einen höheren Status in zukünftigen Geburten.

    In den einzelnen Hindureligionen ist die Einstellung zum Verhältnis Kastenzugehörigkeit -- Möglichkeit der Erlösung in diesem Leben unterschiedlich: neben der Ansicht, daß die Kastenzugehörigkeit für die Erlösung irrelevant ist, gibt es Anschauungen, daß bestimmte niedere Kasten von der Erlösung noch in dieser Existenz ausgeschlossen sind. Dies berührt aber nicht die Einstellung zur Rolle der Kastenordnung im Lauf der Wiedergeburten: obwohl zB. für die Theravadabuddhisten Sri Lankas die Kastenzugehörigkeit bezgl. der Erlösung gleichgültig ist, ist es Lehre des Theravadabuddhismus, daß ein Buddha jeweils in der sozial höchststehenden Gruppe geboren werden muß, da dies aus dem großen Verdienst, das man angesammelt haben muß, um ein Buddha werden zu können, notwendig folgt.

  11. Wird jemand aus der Kaste auf Zeit oder Dauer ausgeschlossen, erhält er seinen Platz an unterster Stelle der Gesellschaft. Das Individuum kann durch Weltentsagung (Sannyasa) aus der Kastenordnung aussteigen. Dadurch erhält er einen i.a. angesehenen Status ohne Rücksicht auf Kastenherkunft und ohne kastenähnliche Struktur.
  12. Die Kasten selbst sind wiederum unterteilt in endogame und exogame Untergruppen: in endogame Unterkasten (subcaste, division) und diese wiederum in exogame Clans (gotra). Die Aufgliederung der Kasten ist häufig berufs- oder stammesbedingt. Wohnen in einem Dorf mehrere Unterkasten zusammen, so grenzen diese sich häufig besonders scharf voneinander ab. Jede von ihnen besitzt ihr eigenes Berufsmonopol, vor allem aber beanspruchen sie unterschiedlichen sozialen Rang, der peinlich genau eingehalten und durch Gebote bzw. Verbote (Endogamie, Verbot der Speiseannahme usw.) erhalten wird.
  13. Während die sozialen aber auch die rituellen Beziehungen weitgehend innerhalb derselben Kaste bzw. Subkaste bestehen, spielen sich die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen tieferstehenden Handwerks- und Dienstleistungskasten und höherstehenden landbesitzenden Kasten im Rahmen des sogenannten Jajmanisystems ab, einem System erblicher Arbeitsbeziehungen, in dem jede Familie für jede besondere Aufgabe eine Familie von Spezialisten hat, der gegenüber man dauernde Verpflichtungen hat. ähnliches gilt bezüglich religiöser Spezialisten. Handwerks- und Dienstleistungskasten tauschen untereinander Produkte und Dienste aus. Die niedrigsten Kasten haben, da sie von den Mitgliedern der meisten höheren Kasten nicht bedient werden, ihr eigenes Dienstleistungssystem in der Weise aufgebaut, daß die Funktion des Priesters, Barbiers usw. zumeist von Unterkasten wahrgenommen werden.
  14. Trotz der statischen Elemente änderten sich Kasten im Lauf der Geschichte ständig. Das Kastensystem diente u.a. dazu, Neuerungen und Opposition zB. durch Bildung neuer Kasten und Unterkasten gesellschaftlich zu integrieren. Heute ist eine Auflösung der sozialen Stabilität des Kastensystems zu beobachten, die durch Modernisierung (zB. Herausbildung neuer Berufe), ideologische und rechtliche Momente, und vor allem auch die regionale Mobilität (zB. Landflucht) bedingt ist.

Die negative Diskriminierung niederer Kasten ist heute gesetzlich verboten (z.B. Öffnung der Tempel für die niederen Kasten), benachteiligte niedere Kasten (scheduled casts and tribes) werden gesetzlich privilegiert (zB. Quoten im Bildungswesen, bei Stellenbewerbungen usw.).


6. Weiterführende Ressourcen



ENDE