Religionskritisches von Friedrich Engels

Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie  <Auszug> (1888)

von

Friedrich Engels


Herausgegeben von Alois Payer (payer@payer.de)


Zitierweise / cite as:

Engels, Friedrich <1820 - 1895>: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie  <Auszug>.  -- 1888. -- Fassung vom 2004-12-27. -- URL:  http://www.payer.de/religionskritik/engels03.htm 

Erstmals publiziert: 2004-12-27

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Dieser Text ist Teil der Abteilung Religionskritik  von Tüpfli's Global Village Library


Kritische Ausgabe:

Marx, Karl <1818 - 1883 >;  Engels, Friedrich <1820 - 1895>: Werke / herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. --  Berlin: Dietz-Verlag. -- Band 21, 5. --  1962. --  S. 283 - 291, 303 - 305


III


Abb.: Ludwig Feuerbach

|S. 283| Der wirkliche Idealismus Feuerbachs1 tritt zutage, sobald wir auf seine Religionsphilosophie und Ethik kommen. Er will die Religion keineswegs abschaffen, er will sie vollenden. Die Philosophie selbst soll aufgehn in Religion.

"Die Perioden der Menschheit unterscheiden sich nur durch religiöse Veränderungen. Nur da geht eine geschichtliche Bewegung auf den Grund ein, wo sie auf das Herz des Menschen eingeht. Das Herz ist nicht eine Form der Religion, so dass sie auch im Herzen sein sollte; es ist das Wesen der Religion." (Zitiert bei Starcke2, S. 168.)

Religion ist nach Feuerbach das Gefühlsverhältnis, das Herzensverhältnis zwischen Mensch und Mensch, das bisher in einem phantastischen Spiegelbild der Wirklichkeit in der Vermittlung durch einen oder viele Götter, phantastische Spiegelbilder menschlicher Eigenschaften — seine Wahrheit suchte, jetzt aber in der Liebe zwischen Ich und Du sie direkt und ohne Vermittlung findet. Und so wird bei Feuerbach schließlich die Geschlechtsliebe eine der höchsten, wenn nicht die höchste Form der Ausübung seiner neuen Religion.

Nun haben Gefühlsverhältnisse zwischen den Menschen, namentlich auch zwischen beiden Geschlechtern bestanden, solange es Menschen gibt. Die Geschlechtsliebe speziell hat in den letzten achthundert Jahren eine Ausbildung erhalten und eine Stellung erobert, die sie während dieser Zeit zum obligatorischen Drehzapfen aller Poesie gemacht hat. Die bestehenden positiven Religionen haben sich darauf beschränkt, der staatlichen Regelung der Geschlechtsliebe, d.h. der Ehegesetzgebung, die höhere Weihe zu geben, und können morgen sämtlich verschwinden, ohne dass an der Praxis von Liebe und Freundschaft das Geringste geändert wird. Wie die christliche Religion denn auch in Frankreich von 1793 bis 1798 faktisch so sehr verschwunden war, dass selbst Napoleon sie nicht ohne Widerstreben und Schwierigkeit wieder einführen konnte, ohne dass jedoch während des |S. 284| Zwischenraums das Bedürfnis nach einem Ersatz im Sinn Feuerbachs hervortrat.

Der Idealismus besteht hier bei Feuerbach darin, dass er die auf gegenseitiger Neigung beruhenden Verhältnisse der Menschen zueinander, Geschlechtsliebe, Freundschaft, Mitleid, Aufopferung usw., nicht einfach als das gelten lässt, was sie ohne Rückerinnerung an eine, auch für ihn der Vergangenheit angehörige, besondre Religion aus sich selbst sind, sondern behauptet, sie kämen erst zu ihrer vollen Geltung, sobald man ihnen eine höhere Weihe gibt durch den Namen Religion. Die Hauptsache für ihn ist nicht, dass diese rein menschlichen Beziehungen existieren, sondern dass sie als die neue, wahre Religion aufgefasst werden. Sie sollen für voll gelten, erst wenn sie religiös abgestempelt sind. Religion kommt her von religare und heißt ursprünglich Verbindung. Also ist jede Verbindung zweier Menschen eine Religion. Solche etymologische Kunststücke bilden das letzte Auskunftsmittel der idealistischen Philosophie. Nicht was das Wort nach der geschichtlichen Entwicklung seines wirklichen Gebrauchs bedeutet, sondern was es der Abstammung nach bedeuten sollte, das soll gelten. Und so wird die Geschlechtsliebe und die geschlechtliche Verbindung in eine "Religion" verhimmelt, damit nur ja nicht das der idealistischen Erinnerung teure Wort Religion aus der Sprache verschwinde. Grade so sprachen in den vierziger Jahren die Pariser Reformisten der Louis Blancschen3 Richtung, die sich ebenfalls einen Menschen ohne Religion nur als ein Monstrum vorstellen konnten und uns sagten: Donc, l'athéisme c'est votre religion!4 Wenn Feuerbach die wahre Religion auf Grundlage einer wesentlich materialistischen Naturanschauung herstellen will, so heißt das soviel, wie die moderne Chemie als die wahre Alchimie auffassen. Wenn die Religion ohne ihren Gott bestehen kann, dann auch die Alchimie ohne ihren Stein der Weisen. Es besteht übrigens ein sehr enges Band zwischen Alchimie und Religion. Der Stein der Weisen hat viele gottähnliche Eigenschaften, und die ägyptisch-griechischen Alchimisten der ersten beiden Jahrhunderte unserer Zeitrechnung haben bei der Ausbildung der christlichen Doktrin ihr Händchen mit im Spiel gehabt, wie die bei Kopp5 und Berthelot6 gegebenen Daten beweisen.

Entschieden falsch ist Feuerbachs Behauptung, dass die

"Perioden der Menschheit sich nur durch religiöse Veränderungen unterscheiden".

Große geschichtliche Wendepunkte sind von religiösen Veränderungen begleitet worden, nur soweit die drei Weltreligionen in Betracht kommen, die |S. 285| bisher bestanden haben: Buddhismus, Christentum, Islam. Die alten naturwüchsig entstandnen Stammes- und Nationalreligionen waren nicht propagandistisch und verloren alle Widerstandskraft, sobald die Selbständigkeit der Stämme und Völker gebrochen war; bei den Germanen genügte sogar die einfache Berührung mit dem verfallenden römischen Weltreich und der von ihm soeben aufgenommenen, seinem ökonomischen, politischen und ideellen Zustand angemessnen christlichen Weltreligion. Erst bei diesen mehr oder weniger künstlich entstandnen Weltreligionen, namentlich beim Christentum und Islam, finden wir, dass allgemeinere geschichtliche Bewegungen ein religiöses Gepräge annehmen, und selbst auf dem Gebiet des Christentums ist das religiöse Gepräge, für Revolutionen von wirklich universeller Bedeutung, beschränkt auf die ersten Stufen des Emanzipationskampfs der Bourgeoisie, vom dreizehnten bis zum siebzehnten Jahrhundert, und erklärt sich nicht, wie Feuerbach meint, aus dem Herzen des Menschen und seinem Religionsbedürfnis, sondern aus der ganzen mittelalterlichen Vorgeschichte, die keine andere Form der Ideologie kannte als eben die Religion und Theologie. Als aber die Bourgeoisie im 18. Jahrhundert hinreichend erstarkt war, um auch ihre eigne, ihrem Klassenstandpunkt angemessne Ideologie zu haben, da machte sie ihre große und endgültige Revolution, die französische, unter dem ausschließlichen Appell an juristische und politische Ideen durch und kümmerte sich um die Religion nur so weit, als diese ihr im Wege stand; es fiel ihr aber nicht ein, eine neue Religion an die Stelle der alten zu setzen; man weiß, wie Robespierre damit scheiterte.

Die Möglichkeit rein menschlicher Empfindung im Verkehr mit andern Menschen wird uns heutzutage schon genug verkümmert durch die auf Klassengegensatz und Klassenherrschaft gegründete Gesellschaft, in der wir uns bewegen müssen: Wir haben keinen Grund, sie uns selbst noch mehr zu verkümmern, indem wir diese Empfindungen in eine Religion verhimmeln. Und ebenso wird das Verständnis der geschichtlichen großen Klassenkämpfe von der landläufigen Geschichtschreibung, namentlich in Deutschland, schon hinreichend verdunkelt, auch ohne dass wir nötig hätten, es durch Verwandlung dieser Kampfesgeschichte in einen bloßen Anhang der Kirchengeschichte uns vollends unmöglich zu machen. Schon hier zeigt sich, wie weit wir uns heute von Feuerbach entfernt haben. Seine "schönsten Stellen", zur Feier dieser neuen Liebesreligion, sind heute gar nicht mehr lesbar.

Die einzige Religion, die Feuerbach ernstlich untersucht, ist das Christentum, die Weltreligion des Abendlands, die auf den Monotheismus gegründet ist. Er weist nach, dass der christliche Gott nur der phantastische |S. 286| Reflex, das Spiegelbild des Menschen ist. Nun aber ist dieser Gott selbst das Produkt eines langwierigen Abstraktionsprozesses, die konzentrierte Quintessenz der früheren vielen Stammes- und Nationalgötter. Und dementsprechend ist auch der Mensch, dessen Abbild jener Gott ist, nicht ein wirklicher Mensch, sondern ebenfalls die Quintessenz der vielen wirklichen Menschen, der abstrakte Mensch, also selbst wieder ein Gedankenbild. Derselbe Feuerbach, der auf jeder Seite Sinnlichkeit, Versenkung ins Konkrete, in die Wirklichkeit predigt, er wird durch und durch abstrakt, sowie er auf einen weiteren als den bloß geschlechtlichen Verkehr zwischen den Menschen zu sprechen kommt.

Dieser Verkehr bietet ihm nur eine Seite: die Moral. Und hier frappiert uns wieder die erstaunliche Armut Feuerbachs verglichen mit Hegel. Dessen Ethik oder Lehre von der Sittlichkeit ist die Rechtsphilosophie und umfasst:

  1. das abstrakte Recht,
  2. die Moralität,
  3. die Sittlichkeit, unter welcher wieder zusammengefasst sind: die Familie, die bürgerliche Gesellschaft, der Staat.

So idealistisch die Form, so realistisch ist hier der Inhalt. Das ganze Gebiet des Rechts, der Ökonomie, der Politik ist neben der Moral hier mit einbegriffen. Bei Feuerbach grade umgekehrt. Er ist der Form nach realistisch, er geht vom Menschen aus; aber von der Welt, worin dieser Mensch lebt, ist absolut nicht die Rede, und so bleibt dieser Mensch stets derselbe abstrakte Mensch, der in der Religionsphilosophie das Wort führte. Dieser Mensch ist eben nicht aus dem Mutterleib geboren, er hat sich aus dem Gott der monotheistischen Religionen entpuppt, er lebt daher auch nicht in einer wirklichen, geschichtlich entstandenen und geschichtlich bestimmten Welt; er verkehrt zwar mit andern Menschen, aber jeder andere ist ebenso abstrakt wie er selbst. In der Religionsphilosophie hatten wir doch noch Mann und Weib, aber in der Ethik verschwindet auch dieser letzte Unterschied. Allerdings kommen bei Feuerbach in weiten Zwischenräumen Sätze vor wie:

"In einem Palast denkt man anders als in einer Hütte. " — "Wo du vor Hunger, vor Elend keinen Stoff im Leibe hast, da hast du auch in deinem Kopfe, in deinem Sinne und Herzen keinen Stoff zur Moral." — "Die Politik muss unsere Religion werden" usw.

Aber mit diesen Sätzen weiß Feuerbach absolut nichts anzufangen, sie bleiben pure Redensarten, und selbst Starcke muss eingestehn, dass die Politik für Feuerbach eine unpassierbare Grenze war und die

"Gesellschaftslehre, die Soziologie für ihn eine terra incognita7".

|S. 287| Ebenso flach erscheint er gegenüber Hegel in der Behandlung des Gegensatzes von Gut und Böse.

"Man glaubt etwas sehr Großes zu sagen — heißt es bei Hegel — wenn man sagt: Der Mensch ist von Natur gut; aber man vergisst, dass man etwas weit Größeres sagt mit den Worten: Der Mensch ist von Natur böse."

Bei Hegel ist das Böse die Form, worin die Triebkraft der geschichtlichen Entwicklung sich darstellt. Und zwar liegt hierin der doppelte Sinn, dass einerseits jeder neue Fortschritt notwendig auftritt als Frevel gegen ein Heiliges, als Rebellion gegen die alten, absterbenden, aber durch die Gewohnheit geheiligten Zustände, und andrerseits, dass seit dem Aufkommen der Klassengegensätze es grade die schlechten Leidenschaften der Menschen sind, Habgier und Herrschsucht, die zu Hebeln der geschichtlichen Entwicklung werden, wovon z.B. die Geschichte des Feudalismus und der Bourgeoisie ein einziger fortlaufender Beweis ist. Aber die historische Rolle des moralisch Bösen zu untersuchen, fällt Feuerbach nicht ein. Die Geschichte ist ihm überhaupt ein ungemütliches, unheimliches Feld. Sogar sein Ausspruch:

"Der Mensch, der ursprünglich aus der Natur entsprang, war auch nur ein reines Naturwesen, kein Mensch. Der Mensch ist ein Produkt des Menschen, der Kultur, der Geschichte" —

selbst dieser Ausspruch bleibt bei ihm durchaus unfruchtbar.

Was uns Feuerbach über Moral mitteilt, kann hiernach nur äußerst mager sein. Der Glückseligkeitstrieb ist dem Menschen eingeboren und muss daher die Grundlage aller Moral bilden. Aber der Glückseligkeitstrieb erfährt eine doppelte Korrektur. Erstens durch die natürlichen Folgen unsrer Handlungen: Auf den Rausch folgt der Katzenjammer, auf den gewohnheitsmäßigen Exzess die Krankheit. Zweitens durch ihre gesellschaftlichen Folgen: Respektieren wir nicht den gleichen Glückseligkeitstrieb der andern, so wehren sie sich und stören unsern eignen Glückseligkeitstrieb. Hieraus folgt, dass wir, um unsern Trieb zu befriedigen, die Folgen unsrer Handlungen richtig abzuschätzen imstande sein und andrerseits die Gleichberechtigung des entsprechenden Triebs bei andern gelten lassen müssen. Rationelle Selbstbeschränkung in Beziehung auf uns selbst und Liebe — immer wieder Liebe! — im Verkehr mit andern sind also die Grundregeln der Feuerbachschen Moral, aus denen alle andern sich ableiten. Und weder die geistvollsten Ausführungen Feuerbachs noch die stärksten Lobsprüche Starckes können die Dünnheit und Plattheit dieser paar Sätze verdecken.

|S. 288| Der Glückseligkeitstrieb befriedigt sich nur sehr ausnahmsweise und keineswegs zu seinem und andrer Leute Vorteil durch die Beschäftigung eines Menschen mit ihm selbst. Sondern er erfordert Beschäftigung mit der Außenwelt, Mittel der Befriedigung, also Nahrung, ein Individuum des andern Geschlechts, Bücher, Unterhaltung, Debatte, Tätigkeit, Gegenstände der Vernutzung und Verarbeitung. Die Feuerbachsche Moral setzt entweder voraus, dass diese Mittel und Gegenstände der Befriedigung jedem Menschen ohne weiteres gegeben sind, oder aber sie gibt ihm nur unanwendbare gute Lehren, ist also keinen Schuss Pulver wert für die Leute, denen diese Mittel fehlen. Und das erklärt Feuerbach selbst in dürren Worten:

"In einem Palast denkt man anders als in einer Hütte." "Wo du vor Hunger, vor Elend keinen Stoff im Leibe hast, da hast du auch in deinem Kopfe, in deinem Sinne und Herzen keinen Stoff zur Moral."

Steht es etwa besser mit der Gleichberechtigung des Glückseligkeitstriebs andrer? Feuerbach stellt diese Forderung absolut hin, als gültig für alle Zeiten und Umstände. Aber seit wann gilt sie? War im Altertum zwischen Sklaven und Herren, im Mittelalter zwischen Leibeignen und Baronen je die Rede von Gleichberechtigung des Glückseligkeitstriebs? Wurde nicht der Glückseligkeitstrieb der unterdrückten Klasse rücksichtslos und "von Rechts wegen" dem der herrschenden zum Opfer gebracht? — Ja, das war auch unmoralisch, jetzt aber ist die Gleichberechtigung anerkannt. — Anerkannt in der Phrase, seitdem und sintemal die Bourgeoisie in ihrem Kampf gegen die Feudalität und in der Ausbildung der kapitalistischen Produktion gezwungen war, alle ständischen, d.h. persönlichen Privilegien abzuschaffen und zuerst die privatrechtliche, dann auch allmählich die staatsrechtliche, juristische Gleichberechtigung der Person einzuführen. Aber der Glückseligkeitstrieb lebt nur zum geringsten Teil von ideellen Rechten und zum allergrößten von materiellen Mitteln, und da sorgt die kapitalistische Produktion dafür, dass der großen Mehrzahl der gleichberechtigten Personen nur das zum knappen Leben Notwendige zufällt, respektiert also die Gleichberechtigung des Glückseligkeitstriebs der Mehrzahl kaum, wenn überhaupt, besser, als die Sklaverei oder die Leibeigenschaft dies tat. Und steht es besser in betreff der geistigen Mittel der Glückseligkeit, der Bildungsmittel? Ist nicht selbst "der Schulmeister von Sadowa"8 eine mythische Person?

Noch mehr. Nach der Feuerbachschen Moraltheorie ist die Fondsbörse der höchste Tempel der Sittlichkeit — vorausgesetzt nur, dass man stets richtig spekuliert. Wenn mein Glückseligkeitstrieb mich auf die Börse führt und ich dort die Folgen meiner Handlungen so richtig erwäge, dass sie mir |S. 289| nur Annehmlichkeit und keinen Nachteil bringen, d.h. dass ich stets gewinne, so ist Feuerbachs Vorschrift erfüllt. Auch greife ich dadurch nicht in den gleichen Glückseligkeitstrieb eines andern ein, denn der andre ist ebenso freiwillig an die Börse gegangen wie ich, ist beim Abschluss des Spekulationsgeschäfts mit mir ebensogut seinem Glückseligkeitstrieb gefolgt wie ich dem meinigen. Und verliert er sein Geld, so beweist sich eben dadurch seine Handlung, weil schlecht berechnet, als unsittlich, und indem ich an ihm die verdiente Strafe vollstrecke, kann ich mich sogar als moderner Rhadamanthus stolz in die Brust werfen. Auch die Liebe herrscht an der Börse, insoweit sie nicht bloß sentimentale Phrase ist, denn jeder findet im andern die Befriedigung seines Glückseligkeitstriebs, und das ist ja, was die Liebe leisten soll und worin sie praktisch sich betätigt. Und wenn ich da in richtiger Voraussicht der Folgen meiner Operationen, also mit Erfolg spiele, so erfülle ich alle die strengsten Forderungen der Feuerbachschen Moral und werde ein reicher Mann obendrein. Mit andern Worten, Feuerbachs Moral ist auf die heutige kapitalistische Gesellschaft zugeschnitten, so wenig er selbst das wollen oder ahnen mag.

Aber die Liebe! — Ja, die Liebe ist überall und immer der Zaubergott, der bei Feuerbach über alle Schwierigkeiten des praktischen Lebens hinweghelfen soll — und das in einer Gesellschaft, die in Klassen mit diametral entgegengesetzten Interessen gespalten ist. Damit ist denn der letzte Rest ihres revolutionären Charakters aus der Philosophie verschwunden, und es bleibt nur die alte Leier: Liebet euch untereinander, fallt euch in die Arme ohne Unterschied des Geschlechts und des Standes — allgemeiner Versöhnungsdusel!

Kurz und gut. Es geht der Feuerbachschen Moraltheorie wie allen ihren Vorgängerinnen. Sie ist auf alle Zeiten, alle Völker, alle Zustände zugeschnitten, und eben deswegen ist sie nie und nirgends anwendbar und bleibt der wirklichen Welt gegenüber ebenso ohnmächtig wie Kants kategorischer Imperativ. In Wirklichkeit hat jede Klasse, sogar jede Berufsart ihre eigne Moral und bricht auch diese, wo sie es ungestraft tun kann, und die Liebe, die alles einen soll, kommt zu Tag in Kriegen, Streitigkeiten, Prozessen, häuslichem Krakeel, Ehescheidung und möglichster Ausbeutung der einen durch die andern.

Wie aber war es möglich, dass der gewaltige, durch Feuerbach gegebene Anstoß für ihn selbst so unfruchtbar auslief? Einfach dadurch, dass Feuerbach aus dem ihm selbst tödlich verhassten Reich der Abstraktionen den Weg nicht finden kann zur lebendigen Wirklichkeit. Er klammert sich gewaltsam an die Natur und den Menschen; aber Natur und Mensch bleiben |S. 290| bei ihm bloß Worte. Weder von der wirklichen Natur noch von den wirklichen Menschen weiß er uns etwas Bestimmtes zu sagen. Vom Feuerbachschen abstrakten Menschen kommt man aber nur zu den wirklichen lebendigen Menschen, wenn man sie in der Geschichte handelnd betrachtet. Und dagegen sträubte sich Feuerbach, und daher bedeutete das Jahr 1848, das er nicht begriff, für ihn nur den endgültigen Bruch mit der wirklichen Welt, den Rückzug in die Einsamkeit. Die Schuld hieran tragen wiederum hauptsächlich die deutschen Verhältnisse, die ihn elend verkommen ließen.

Aber der Schritt, den Feuerbach nicht tat, musste dennoch getan werden; der Kultus des abstrakten Menschen, der den Kern der Feuerbachschen neuen Religion bildete, musste ersetzt werden durch die Wissenschaft von den wirklichen Menschen und ihrer geschichtlichen Entwicklung. Diese Fortentwicklung des Feuerbachschen Standpunkts über Feuerbach hinaus wurde eröffnet 1845 durch Marx in der "Heiligen Familie".

IV

...

|S. 303| Gehn wir indes nur noch kurz auf die Religion ein, weil diese dem materiellen Leben am fernsten steht und am fremdesten zu sein scheint. Die Religion ist entstanden zu einer sehr waldursprünglichen Zeit aus missverständlichen, waldursprünglichen Vorstellungen der Menschen über ihre eigne und die sie umgebende äußere Natur. Jede Ideologie entwickelt sich aber, sobald sie einmal vorhanden, im Anschluss an den gegebenen Vorstellungsstoff, bildet ihn weiter aus; sie wäre sonst keine Ideologie, d.h. Beschäftigung mit Gedanken als mit selbständigen, sich unabhängig entwickelnden, nur ihren eignen Gesetzen unterworfnen Wesenheiten. Dass die materiellen Lebensbedingungen der Menschen, in deren Köpfen dieser Gedankenprozess vor sich geht, den Verlauf dieses Prozesses schließlich bestimmen, bleibt diesen Menschen notwendig unbewusst, denn sonst wäre es mit der ganzen Ideologie am Ende. Diese ursprünglichen religiösen Vorstellungen also, die meist für jede verwandte Völkergruppe gemeinsam sind, entwickeln sich, nach der Trennung der Gruppe, bei jedem Volk eigentümlich, je nach den ihm beschiednen Lebensbedingungen, und dieser Prozess ist für eine Reihe von Völkergruppen, namentlich für die arische (sog. indoeuropäische) im einzelnen nachgewiesen durch die vergleichende Mythologie. Die so bei jedem Volk herausgearbeiteten Götter waren Nationalgötter, deren Reich nicht weiter ging als das von ihnen zu schützende nationale Gebiet, jenseits dessen Grenzen andre Götter unbestritten das große Wort führten. Sie konnten nur in der Vorstellung fortleben, solange die Nation bestand; sie fielen mit deren Untergang. Diesen Untergang der alten Nationalitäten brachte das römische Weltreich, dessen ökonomische Entstehungsbedingungen wir hier nicht zu untersuchen haben. Die alten Nationalgötter kamen in Verfall, selbst die römischen, die eben auch nur auf den engen Kreis der Stadt Rom zugeschnitten waren; das Bedürfnis, das Weltreich zu ergänzen durch eine Weltreligion, tritt klar hervor in den Versuchen, allen irgendwie respektablen fremden Göttern neben den einheimischen in Rom Anerkennung und Altäre zu schaffen. Aber eine neue Weltreligion macht sich nicht in dieser Art durch kaiserliche Dekrete. Die neue Weltreligion, das Christentum, war im stillen bereits entstanden aus einer Mischung verallgemeinerter orientalischer, namentlich jüdischer |S. 304| Theologie und vulgarisierter griechischer, namentlich stoischer Philosophie. Wie es ursprünglich aussah, müssen wir erst wieder mühsam erforschen, da seine uns überlieferte offizielle Gestalt nur diejenige ist, in der es Staatsreligion und diesem Zweck durch das Nicänische Konzil9 angepasst wurde. Genug, die Tatsache, dass es schon nach 250 Jahren Staatsreligion wurde, beweist, dass es die den Zeitumständen entsprechende Religion war. Im Mittelalter bildete es sich genau im Maß, wie der Feudalismus sich entwickelte, zu der diesem entsprechenden Religion aus, mit entsprechender feudaler Hierarchie. Und als das Bürgertum aufkam, entwickelte sich im Gegensatz zum feudalen Katholizismus die protestantische Ketzerei, zuerst in Südfrankreich bei den Albigensern, zur Zeit der höchsten Blüte der dortigen Städte. Das Mittelalter hatte alle übrigen Formen der Ideologie: Philosophie, Politik, Jurisprudenz, an die Theologie annektiert, zu Unterabteilungen der Theologie gemacht. Es zwang damit jede gesellschaftliche und politische Bewegung, eine theologische Form anzunehmen; den ausschließlich mit Religion gefütterten Gemütern der Massen mussten ihre eignen Interessen in religiöser Verkleidung vorgeführt werden, um einen großen Sturm zu erzeugen. Und wie das Bürgertum von Anfang an einen Anhang von besitzlosen, keinem anerkannten Stand angehörigen städtischen Plebejern, Tagelöhnern und Dienstleuten aller Art erzeugte, Vorläufern des spätem Proletariats, so teilt sich auch die Ketzerei schon früh in eine bürgerlich-gemäßigte und eine plebejisch-revolutionäre, auch von den bürgerlichen Ketzern verabscheute.

Die Unvertilgbarkeit der protestantischen Ketzerei entsprach der Unbesiegbarkeit des aufkommenden Bürgertums; als dies Bürgertum hinreichend erstarkt war, begann sein bisher vorwiegend lokaler Kampf mit dem Feudaladel nationale Dimensionen anzunehmen. Die erste große Aktion fand in Deutschland statt die sogenannte Reformation. Das Bürgertum war weder stark noch entwickelt genug, um die übrigen rebellischen Stände - die Plebejer der Städte, den niederen Adel und die Bauern auf dem Lande unter seiner Fahne vereinigen zu können. Der Adel wurde zuerst geschlagen; die Bauern erhoben sich zu einem Aufstand, der den Gipfelpunkt dieser ganzen revolutionären Bewegung bildet; die Städte ließen sie im Stich, und so erlag die Revolution den Heeren der Landesfürsten, die den ganzen Gewinn einstrichen. Von da an verschwindet Deutschland auf drei Jahrhunderte aus der Reihe der selbständig in die Geschichte eingreifenden Länder. Aber neben dem Deutschen Luther hatte der Franzose Calvin gestanden; mit echt französischer Schärfe stellte er den bürgerlichen Charakter der Reformation in den Vordergrund, republikanisierte und demokratisierte |S. 305|  die Kirche. Während die lutherische Reformation in Deutschland versumpfte und Deutschland zugrunde richtete, diente die calvinische den Republikanern in Genf, in Holland, in Schottland als Fahne, machte Holland von Spanien und vom Deutschen Reiche frei und lieferte das ideologische Kostüm zum zweiten Akt der bürgerlichen Revolution, der in England vor sich ging. Hier bewährte sich der Kalvinismus als die echte religiöse Verkleidung der Interessen des damaligen Bürgertums und kam deshalb auch nicht zu voller Anerkennung, als die Revolution 1689 durch einen Kompromiss eines Teils des Adels mit den Bürgern vollendet wurde. Die englische Staatskirche wurde wiederhergestellt, aber nicht in ihrer frühem Gestalt, als Katholizismus mit dem König zum Papst, sondern stark calvinisiert. Die alte Staatskirche hatte den lustigen katholischen Sonntag gefeiert und den langweiligen calvinistischen bekämpft, die neue verbürgerte führte diesen ein, und er verschönert England noch jetzt.

In Frankreich wurde die calvinistische Minorität 1685 unterdrückt, katholisiert oder weggejagt; aber was half's? Schon damals war der Freigeist Pierre Bayle10 mitten in der Arbeit, und 1694 wurde Voltaire11 geboren. Die Gewaltmaßregel Ludwigs XIV. erleichterte nur dem französischen Bürgertum, dass es seine Revolution in der, der entwickelten Bourgeoisie allein angemessenen irreligiösen, ausschließlich politischen Form machen konnte. Statt Protestanten saßen Freigeister in den Nationalversammlungen. Dadurch war das Christentum in sein letztes Stadium getreten. Es war unfähig geworden, irgendeiner progressiven Klasse fernerhin als ideologische Verkleidung ihrer Strebungen zu dienen; es wurde mehr und mehr Alleinbesitz der herrschenden Klassen, und diese wenden es an als bloßes Regierungsmittel, womit die untern Klassen in Schranken gehalten werden. Wobei dann jede der verschiednen Klassen ihre eigne entsprechende Religion benutzt: die grundbesitzenden Junker die katholische Jesuiterei oder protestantische Orthodoxie, die liberalen und radikalen Bourgeois den Rationalismus; und wobei es keinen Unterschied macht, ob die Herren an ihre respektiven Religionen selbst glauben oder auch nicht.

Wir sehn also: Die Religion, einmal gebildet, enthält stets einen überlieferten Stoff, wie denn auf allen ideologischen Gebieten die Tradition eine große konservative Macht ist. Aber die Veränderungen, die mit diesem Stoff vorgehn, entspringen aus den Klassenverhältnissen, also aus den ökonomischen Verhältnissen der Menschen, die diese Veränderungen vornehmen. Und das ist hier hinreichend.


Erläuterungen:

1 Ludwig Feuerbach

"Feuerbach, Ludwig, geb. 28. Juli 1804 in Landshut als Sohn des Kriminalisten Anselm von Feuerbach. 1823 studierte er in Heidelberg Theologie bei dem Hegelianer Daub, 1834 ging er nach Berlin, wo er besonders Hegel hörte, 1828 wurde er Privatdozent für Philosophie in Erlangen. Nachdem er sich öfter vergeblich (wegen seiner Schrift »Gedanken über Tod u. Unsterblichkeit«, 1830) um eine Professur beworben, verheiratete er sich mit Bertha Löwe und nahm (1836) seinen Wohnsitz im Dorfe Bruckberg (zwischen Ansbach und Nürnberg). Dezember 1848 bis März 1849 hielt er im Heidelberger Rathaussaal Vorlesungen. In sehr ungünstigen Verhältnissen lebend, übersiedelte er 1860 nach dem Rechenberg bei Nürnberg und starb dort 13. September 1872.

Feuerbach ist der Begründer des neueren Naturalismus und Anthropologismus, indem er an die Stelle der Verehrung übernatürlicher Wesenheiten die Natur in ihrer Unendlichkeit setzt. Ausgegangen von Hegel, tritt er in Gegensatz zum absoluten Idealismus, indem er als das Wirkliche nicht die Idee, nichts Abstraktes, Übersinnliches, sondern das konkrete Sein setzt, welches wir äußerlich und innerlich wahrnehmen. So vertritt Feuerbach einen Positivismus, Empirismus und Realismus. Insofern Feuerbach den Gegensatz von Spiritualismus und Materialismus durch Betonung des Einheitlichen im Menschen zu überwinden sucht, ist seine Lehre »Anthropologismus«. »Gott war mein erster Gedanke, die Vernunft mein zweiter, der Mensch mein dritter und letzter Gedanke.«

In der Schrift über »Tod und Unsterblichkeit« ist Feuerbach noch idealistischer Pantheist. Die Realität des Geistes ist das Ewige. Der Mensch als Individuum ist nicht unsterblich, sein Tod ist ein wahrhafter Tod, bedeutet die Auflösung im unendlichen Sein. Die Unsterblichkeit kommt nur dem allgemeinen Geist zu und dem Ganzen der Menschheit, in welchem wir als Erinnerung weiterleben.

Die Hauptbedeutung Feuerbachs liegt in seiner Religionsphilosophie, deren Methode die psychologisch-kritische ist. Scharf betont Feuerbach den Gegensatz zwischen Theologie und Wissenschaft; erstere hat den Willen, letztere die Idee zur Grundlage. In der Religion spielt die Phantasie, das Irrationale eine große Rolle; das Dogma als solches ist vernunftwidrig, der Glaube hat sein eigenes Prinzip. Es gilt, den Inhalt des religiösen Glaubens auf seine psychologische Wurzel zurückzuführen, zu zeigen, dass alle Theologie »Anthropologie« ist. Die Religion ist aber deshalb nicht eine wertlose Illusion. »Die Religion ist der Traum des menschlichen Geistes. Aber auch im Traume befinden wir uns nicht im Nichte oder im Himmel, sondern auf der Erde — im Reiche der Wirklichkeit, nur dass wir die wirklichen Dinge nicht im Lichte der Wirklichkeit und Notwendigkeit, sondern im entzückenden Scheine der Imagination und Willkür erblicken.« Die Religion ist »das Bewusstsein des Menschen von seinem, und zwar nicht endlichen, beschränkten, sondern unendlichen Wesen«. Der Mensch kann nicht über sein wahres Wiesen hinaus. Wie er denkt und gesinnt ist, so ist sein Gott. »Das Bewusstsein Gottes ist das Selbstbewusstsein des Menschen.« Das göttliche Wesen ist »das Wesen des Menschen, abgesondert von den Schranken des individuellen, d.h. wirklichen, leiblichen Menschen, vergegenständlicht, d.h. angeschaut und verehrt als ein anderes, von ihm unterschiedenes, eigenes Wesen«.

Gott ist »das vergötterte Wesen des Menschen«, das »offenbare Innere, das ausgesprochene Selbst des Maischen«. Die Götter sind Wunschwesen, »die als wirklich gedachten, die in wirkliche Wesen verwandelten Wünsche des Menschen«. In den Dogmen liegen lauter realisierte Wünsche vor. Die Abhängigkeit vom All, aus der die Religion entspringt, zeitigt diese als ein Mittel, unseren Glückseligkeitstrieb zu befriedigen. Gott ist die Liebe, die unsere Wünsche erfüllt; diese Liebe ist die hypostasierte Liebe des Menschen zu sich selbst. »Die Liebe ist die wahre Einheit von Gott und Mensch, von Geist und Natur.« Der Glaube ist das Bewusstsein dessen, was dem Menschen heilig ist und so ist Gott für den Menschen »das Kollektaneenbuch seiner höchsten Empfindungen und Gedanken«. »Gott ist das von aller Widerlichkeit befreite Selbstgefühl des Menschen.« »Die Grunddogmen des Christentums sind erfüllte Herzenswünsche — das Wesen des Christentums ist das Wesen des Gemüts.« »Christus ist die Allmacht der Subjektivität, das von allen Banden und Gesetzen der Natur erlöste Herz.« »Die Religion ist das Verhalten des Menschen zu seinem eigenen Wesen — darin liegt ihre Wahrheit und sittliche Heilkraft — , aber zu seinem Wesen nicht als dem seinigen, sondern als einem ändern, von ihm unterschiedenen, ja entgegengesetzten Wesen — darin liegt ihre Unwahrheit, ihre Schranke, ihr Widerspruch mit Vernunft und Sittlichkeit«. Der wertvolle Kern der Religion ist die Liebe zur Menschheit als Gattung, zum reinmenschlichen Wesen, In der Liebe ist Erlösung des Menschen gegeben. Jeder hat Religion, der »einen Zweck hat, einen Zweck, der an sich wahr und wesenhaft ist«. Endzweck ist »die Einheit von Natur und Geist im Menschen«. »Vernunft, Liebe, Willenskraft sind Vollkommenheiten, sind die höchsten Kräfte, sind das absolute Wesen des Menschen als Menschen und der Zweck seines Daseins.« Die Vollkommenheit und Unendlichkeit der Gattung ist das Göttliche im Menschen.

Feuerbach ist ein Gegner der »absoluten«, »immateriellen« Spekulation. »Ich brauche zum Denken die Sinne, vor allem die Augen, gründe meine Gedanken auf Materialien, die wir uns stets nur vermittelst der Sinnentätigkeit aneignen können, erzeuge nicht den Gegenstand aus dem Gedanken, sondern umgekehrt den Gedanken aus dem Gegenstande, aber Gegenstand ist nur, was außer dem Kopfe existiert.« »Ich bin Idealist nur auf dem Gebiete der praktischen Philosophie.« »Kurz, die Idee ist mir nur der Glaube an die geschichtliche Zukunft, an den Sieg der Wahrheit und Tugend.« Theoretisch aber gilt nur der Realismus und der (kritische, die Leistung des Denkens betonende) »Sensualismus«. Feuerbachs Philosophie macht zu ihrem Prinzip »das wahre ,Ens realissimum', den Menschen, also das positivste Realprinzip«. Mit dem Wirklichen, Bestimmten, Endlichen hat es die Philosophie zu tun, mit dem Sinnen-fälligen, dem Konkreten. »Die Philosophie ist die Erkenntnis dessen, was ist.« Das Wirkliche ist das »Sinnliche« (im weitesten Sinne: das in letzter Linie Anschauliche). Das Sinnliche ist die »wahre, nicht gedachte und gemachte, sondern existierende Einheit des Materiellen und Geistigen«. »Nur ein sinnliches Wesen ist ein wahres, ein wirkliches Wesen.« Auch das Ich ist ein sinnliches Wesen; der Leib in seiner Totalität ist mein Ich, mein Wesen selber. Geistiges und Körperliches sind nur zwei Seiten desselben Dinges, des Organismus. Sinnlich — d.h. für die Sinne des Naturforschers, für den Blick des Philosophen gegeben — ist auch die Natur als das Unendliche, von dem wir abhängig sind. Die menschlichen Empfindungen haben metaphysische Bedeutung, wir erfassen durch sie das physische Sein wie die psychischen Zustände unserer Mitmenschen. Unsere Empfindungen sind objektiv bedingt. Der Begriff des Objektes ist ursprünglich der Begriff eines anderen Ichs. Die Liebe ist der wahre Beweis vom Dasein äußerer Dinge. Raum und Zeit sind objektive Formen der Existenz der Dinge.

Die Wissenschaft ist »das Bewusstsein der Gattungen«. »Wahr ist, was mit dem Wesen der Gattung übereinstimmt, falsch, was ihr widerspricht. Ein anderes Gesetz der Wahrheit gibt es nicht.« Übereinstimmung mit den Nebenmenschen ist das erste Kennzeichen der Wahrheit, weil die Gattung das letzte Maß der Wahrheit ist. Die Wissenschaft ist »ein gemeinschaftlicher Akt der Menschheit«. Die Vernunft, ist ein Kulturprodukt, ein Produkt der menschlichen Gesellschaft. »Nur in der Rede, einem gemeinsamen Akte, entsteht die Vernunft. Fragen und Antworten sind die ersten Denkakte. Zum Denken gehören ursprünglich zwei.« — »Gemeinschaftliches Leben nur ist wahres, in sich befriedigtes, göttliches Leben.«

Die (altruistische) Moral kann nur aus der Verbindung von Ich und Du abgeleitet werden, aus der beide umfassenden Glückseligkeit. »Mein Recht ist mein gesetzlich anerkannter Glückseligkeitstrieb, meine Pflicht ist der mich zu seiner Anerkennung bestimmende Glückseligkeitstrieb des ändern« (Werke X, 66).

Von Feuerbach beeinflusst sind sein Bruder Friedrich Feuerbach (Grundzüge d. Religion d. Zukunft. 1843-45), K. Beyer. K. Grün, K. N. Starcke, L. Knapp, Moleschott, D. Fr. Strauß, K. Marx u. a., ferner W. Bolin, Fr. Jodl u. a."

[Quelle: Eisler, Rudolf <1873-1926>: Philosophen-Lexikon : Leben, Werke und Lehren der Denker. -- Berlin : Mittler, 1912. -- 889 S. -- S. 169ff.]

2 Starcke, Carl Nicolai <1858-1926>: Ludwig Feuerbach. -- Stuttgart : Enke, 1885. -- xvii, 288 p. 24 cm.

3 Louis Blanc

"Blanc, Louis, franz. Publizist und Historiker, geb. 29. Okt. 1811 in Madrid, wo sein Vater Generalinspektor der Finanzen unter Joseph Bonaparte war, gest. 6. Dez. 1882 in Cannes, kam von Korsika ins Collège zu Rhodez, studierte seit 1830 in Paris und ward Schreiber bei einem Advokaten, dann Hauslehrer in Arras.

Nachdem er seit 1834 in Paris für radikale Journale gearbeitet, redigierte er 1836-38 das Journal »Le bon sens«, arbeitete aber zugleich für andre Blätter. 1839 gründete er die »Revue du progrès«, und 1840 veröffentlichte er seine sozialistische Schrift »Organisation du travail« (deutsch von Prager, Berl. 1899). Als Krebsschäden bezeichnet er darin den Individualismus und die Konkurrenz, wodurch die Arbeitslöhne herabgedrückt würden; der Staat müsse die industrielle Arbeit an sich ziehen und jeden in gleicher Weise belohnen.

Als demokratischer Geschichtschreiber machte sich Blanc durch seine »Histoire de dix ans 1830-1840« (Par. 1841-44, 5 Bde.; 12. Aufl. 1877; deutsch von Fink, 2. Aufl., Leipz. 1847) einen Namen. Schonungslose Kritik der Politik Ludwig Philipps sowie der sozialen Verhältnisse, scharfe Charakterzeichnung und hinreißende Darstellung verschafften diesem Werke Verbreitung und Einfluß.

Blancs zweites großes Werk, die »Histoire de la révolution française« (1847-62, 12 Bde.; 1878, 10 Bde.; deutsch, Leipz. 1847-53, Bd. 1-3), hatte geringern Erfolg.

Nach dem Ausbruch der Februarrevolution von 1848 wurde Blanc Mitglied der provisorischen Regierung und setzte die Errichtung eines Regierungskomitees für die Arbeiter durch, wirkte dadurch wesentlich zur Aufregung des Arbeiterstandes mit, verlor aber durch sein Bemühen, die Ordnung aufrecht zu erhalten, die Sympathien der Arbeiter. Gleichwohl wurde er nach dem Attentat vom 15. Mai angeklagt und musste nach Belgien und von da nach England gehen. Im Auslande verfasste er mehrere Schriften zu seiner Verteidigung: »La révolution de février au Luxembourg« (1848); »Appel aux honnêtes gens« (1849); »Page d'histoire de la révolution de février« (1850; deutsch, Quedlinb. 1850). Auch gründete er die kurzlebige Zeitschrift »Le nouveau monde«, war dann Korrespondent für französische Zeitungen (eine Sammlung seiner Korrespondenz erschien u. d. T.: »Lettres sur l'Angleterre«, 1866-1867, 4 Bde., s. unten) und schrieb noch »Histoire de la révolution de 1848« (1870, 2 Bde.; 5. Aufl. 1880).

Blanc kehrte erst 8. Sept. 1870 nach Frankreich zurück und sprach während der Belagerung von Paris gegen jeden Versuch, die Regierung der nationalen Verteidigung zu stürzen. Am 8. Febr. 1871 in die Nationalversammlung gewählt, bekämpfte er die Auflehnung der Kommune gegen die Regierung von Versailles. Seit 1876 war er radikales Mitglied der Deputiertenkammer und gründete eine neue Zeitung: »L'Homme libre«, von der er sich aber bald wieder trennte. Er wurde auf Staatskosten zu Paris begraben.

Außer den genannten Schriften veröffentlichte er noch: »Questions d'aujourd'hui et de demain« (1873-84, 5 Bde., eine Sammlung seiner Artikel im »Rappel« und »L'Homme libre«); »Dix ans de l'histoire d'Angleterre« (1879-81, 10 Bde., von denen Bd. 1-3 ein Neudruck der »Lettres sur l'Angleterre« sind, Bd. 4-10 eine Sammlung seiner weitern Briefe an den »Temps«) und »Discours politiques, 1847 à 1881« (1882). Vgl. Warschauer, Geschichte des Sozialismus und Kommunismus im 19. Jahrh., Bd. 3: Louis Blanc (Berl. 1896)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

4  "Also der Atheismus ist eure Religion!"

5 Kopp, Hermann <1817-1892>: Beiträge zur Geschichte der Chemie. -- Braunschweig : Vieweg, 1869-75. 2 Bde. ;  24 cm.

6 Berthelot, M. (Marcellin) <1827-1907>: Les origines de l'alchimie. -- Paris : Steinheil, 1885. x, 445 S. ; 25 cm.

7 "ein unbekanntes Land"

8 Der preußische Feldmarschall Helmuth Karl Bernhard von Moltke (1800 - 1891) sagte inbezug auf die siegreiche Schlacht von Sadowa bei Koniggrätz (1866-06-03) im Reichstag 1874: "Der preußiche Schulmeister hat die Schlacht bei Sadowa gewonnen."

9 1. Konzil von Nicäa (325 n. Chr.)

"Nicänisches Glaubensbekenntnis (Symbolum Nicaenum) wurde auf dem ersten allgemeinen Konzil zu Nikäa (325) verfaßt und der Mehrheit der dort versammelten Bischöfe von einer kleinen Minderheit aufgedrungen, die bei Kaiser Konstantin politische Unterstützung fand. Erst nach einem halben Jahrhundert innerer Kämpfe (s. Arianischer Streit) konnte es in der Reichskirche durchgesetzt und von dem zweiten allgemeinen Konzil zu Konstantinopel (381) bestätigt werden. Im Laufe der nächsten Jahrzehnte erfuhr das Nicänische Glaubensbekenntnis auf nicht völlig aufgeklärte Weise eine Erweiterung, die unter den Schutz des zweiten allgemeinen Konzils gestellt wurde und als Nicänisch-konstantinopolitanisches Glaubens bekenntnis (Symbolum nicaeno-constantinopolitanum) die ältere Form verdrängte. Dieses erweiterte Symbol enthält die Lehre von der Trinität (s. d.) in der als wesentliches Kennzeichen christlicher Rechtgläubigkeit betrachteten Gestalt. Es ist das zweite der drei sogen. ökumenischen Symbole und noch heute das einzige Symbolum der orthodoxen anatolischen, sogen. griechischen Kirche, das Messsymbol der römischen Kirche, dessen Text auch dem musikalischen Credo zugrunde liegt, und das liturgische Bekenntnis der anglikanischen Kirche (Nicene Creed). Die übrigen protestantischen Gemeinschaften verwenden es im Gottesdienst nicht."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

10 Pierre Bayle

"Bayle, Pierre, geb. 1647 zu Carlat als Sohn eines reformierten Predigers, studierte bei den Jesuiten scholastische Philosophie, war Prof. d. Philos. in Sedan und Rotterdam, gest. 1760. In der 1737 (aus seinem Nachlaß) herausgegebenen Schrift: Système de la philosophie ist Bayle Kartesianer, sonst meist skeptisch, vor allem in dem für die Geschichte der Aufklärung sehr wichtigen Dictionnaire historique et critique, 1695-97, 1702, 1740, 1820; deutsch 1741-1744; 1797-98 (nur die philosophischen Artikel). Oeuvres diverses. 1727-1731, 1737.

Bayles Stärke liegt in seiner Kritik, wie er denn auch die Anschauung hat, dass die menschliche Vernunft nur in der Feststellung von Irrtümern stark sei. Wissen und Glauben stehen in schärfstem Gegensatze zueinander, wobei Bayle sich insofern schwankend verhält, als er zuerst für das Wissen, dann aber für die Rechte des Glaubens eintritt; der Gemütsbedürfnissen dient. Unglaube, erklärt er als Aufklärer, ist besser als Aberglaube; Toleranz ist zu üben, ein Staat von Atheisten ist durchaus möglich. Es gibt selbstgewisse Gesetze der Vernunft und des Willens, eine vom ursprünglichen Lichte (vgl. damit das »lumen naturale« Descartes') erleuchtete Einsicht. Die kirchlichen Dogmen widersprechen der Vernunft, sind aber zu glauben."

[Quelle: Eisler, Rudolf <1873-1926>: Philosophen-Lexikon : Leben, Werke und Lehren der Denker. -- Berlin : Mittler, 1912. -- 889 S. -- S. 50.]

11 Voltaire

"Voltaire (François Marie Arouet; Voltaire ist ein Anagramm aus Voltaire le jeune), der berühmte französische Aufklärer, Streiter für die Gerechtigkeit, Gegner der Kirche (»Ecrasez l'infâme«), geb. 1694 in Paris, gest. daselbst 1778, lebte eine Zeitlang (1726-29) in London, wo er von den Deisten (Tindal u.a.) und von der Newtonschen mechanistischen Naturauffassung beeinflusst wurde, die er in verschiedenen Schriften populär darstellte.

Voltaire ist kein systematischer Philosoph, sondern vor allem ein Vorkämpfer für eine freie Weltanschauung, welche Aberglauben, Wunderglauben, kurz allen Supranaturalismus ausschließt, ohne dass er aber Atheist ist (»Si Dieu n'existait pas, il faudrait l'inventer; mais toute la nature nous crie qu'il existe«). So skeptisch sich Voltaire in vielen Dingen äußert, so wenig er an die Möglichkeit einer Metaphysik glaubt, in bezug auf den Gottesbegriff ist er ein überzeugter Deist, der sich des kosmologischen, teleologischen und moralischen Gottesbeweises bedient (Traité de métaphys., ch. 2). Den Leibnizschen Optimismus freilich (den er selbst früher teilte) persifliert er schonungslos, ohne aber Pessimist zu sein, da er an einen Fortschritt glaubt. In seinen philosophischen Anschauungen ist sich Voltaire nicht immer gleich geblieben, dazu war er viel zu viel Skeptiker. So lässt er denn die Annahme einer Seelensubstanz (»toutes les vraisemblances sont contre elles«) und einer absoluten Willensfreiheit fallen und hält an der Annahme der Unsterblichkeit nur aus moralischen Gründen fest. Er nimmt den hypothetischen Gedanken Lockes (von dem er auch sonst beeinflusst ist) ernst, nämlich dass Gott der Materie die Fähigkeit des Empfindens ganz wohl habe verleihen können. Vermöge der ihm von Gott verliehenen Kraft (»principe d'action«) ist der lebende Mensch selbst das denkende Wesen (»l'être réel appelé homme comprend, imagine, se souvient, désire, veut, se meut;« »il y a pourtant un principe d'action dans l'homme. Oui; et il y a partout;« »nous sommes des machines produites... par l'éternel géomètre«).
Der Geist hat keine angeborenen Begriffe (»qu'il n'y a point d'idées innées dans l'homme«), sondern schöpft alles aus der Erfahrung und aus seinem Wesen. Unsere Vorstellungen entspringen aus den Empfindungen; alle Erkenntnis entspringt aus der Fähigkeit der Verbindung und Ordnung (»de composer et d'arranger«) unserer Vorstellungen (»l'expérience, appuyée du raisonnement«). Die Freiheit des Menschen ist nicht Freiheit des Willens, sondern des Handelns (»pouvoir d'agir«). Gott ist frei, sofern er alles denken und alles tun kann, was er will. Der Mensch hat die beschränkte Macht, nach der Vernunft und nach seinem Willen zu handeln, wobei die einen Menschen freier sind als die anderen. Der Wille ist durch die Ideen, die wir haben, insbesondere die Idee dessen, was uns gut erscheint, determiniert, wobei Wille und Verstand nur Abstraktionen sind. Mein Handeln ist frei, wenn es willensgemäß ist, mein Wollen aber ist notwendig (»Quand je peux faire ce que je veux, voilà ma liberté; mais je veux nécessaire ce que je veux«, Philos. ignor. XIII, 70; »nous suivons irrésistiblement notre dernière idée;« »tout ce qui se fait est absolument nécessaire«). Die Verantwortlichkeit bleibt deshalb doch bestehen.

Wie in der Natur eine universale Gesetzlichkeit besteht (Gravitation), so untersteht auch das menschliche Leben allgemeinen Bedingungen (Bedeutung des Milieu, Konstanz der menschlichen Natur verbunden mit Änderung ihrer Gewohnheiten). In der Geschichte (der Ausdruck »philosophie de l'histoire« stammt von Voltaire) wechseln Fortschritt und Rückschritt miteinander ab. Zu berücksichtigen sind die Anschauungen und Sitten der Völker (der »esprit des nations«). Ohne Eigenliebe kann keine Gesellschaft entstehen und bestehen, da sie auf wechselseitigen Bedürfnissen beruht (»c'est l'amour de nous-mêmes qui assiste l'amour des autres; c'est par nos besoins mutuels que nous sommes utiles au genre humain«). Die Menschen haben alle denselben Sittlichkeitskern (»le même fond de morale«), eine grobe Vorstellung von Recht und Unrecht, die ihnen notwendig, Bedingung jeder Gesellschaft ist. Die Idee des Rechten ist etwas Natürliches, etwas durch Gefühl und Vernunft allgemein Erworbenes (»L'idée de justice me paraît tellement une vérité du premier ordre, à laquelle tout l'univers donne son assentiment«). Allgemeingültig wie die Gravitation ist auch die Moral; die Natur bleibt sich stets gleich, wie Newton sagt, ihre Gesetze (die Gesetze des göttlichen Mathematikers) sind unveränderlich (»lois invariables«)."

[Quelle: Eisler, Rudolf <1873-1926>: Philosophen-Lexikon : Leben, Werke und Lehren der Denker. -- Berlin : Mittler, 1912. -- 889 S. -- S. 769ff.]


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