Religionskritisches von Maximilian Harden

Der Heilige Rock (1891)

von Maximilian Harden


herausgegeben von Alois Payer (payer@payer.de)


Zitierweise / cite as:

Harden, Maximilian <1861 - 1927>:  Der Heilige Rock. --  1891. -- Fassung vom 2004-11-29. -- URL:  http://www.payer.de/religionskritik/harden01.htm   

Erstmals publiziert: 2004-11-29

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Dieser Text ist Teil der Abteilung Religionskritik  von Tüpfli's Global Village Library


Ursprünglich erschienen in:

Die Gegenwart : Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben. --  Berlin: Stilke. -- 1891-09-18

Wieder abgedruckt in:

Harden, Maximilian <1861 - 1927>: Kaiserpanorama : literarische und politische Publizistik / Maximilian Harden. Hrsg. und mit e. Nachw. von Ruth Greuner. -- Berlin : Buchverlag Der Morgen, 1983. -- 382 S. : Ill. ; 21 cm. -- S. 79 - 83



Abb.: Maximilian Harden [Bildquelle: Harden, Maximilian <1861 - 1927>: Kaiserpanorama : literarische und politische Publizistik / Maximilian Harden. Hrsg. und mit e. Nachw. von Ruth Greuner. -- Berlin : Buchverlag Der Morgen, 1983. -- Vortitelblatt]

"Harden, Maximilian, auch: Apostata, Kent, eigentl.: M. Felix Ernst Witkowski, * 20. 10. 1861 Berlin, † 30. 10. 1927 Montana-Vermala/Schweiz. - Theaterkritiker, Essayist und Publizist.

Der Sohn eines jüdischen Seidenhändlers polnischer Abstammung verließ 14jährig Elternhaus und Schule, wurde Wanderschauspieler und schrieb von 1888 an für deutsche und ausländische Zeitungen, u. a. für das »Berliner Tageblatt« und unter dem Pseudonym Apostata in der »Gegenwart«.

1892 gründete er seine eigene Wochenzeitschrift »Die Zukunft«, deren Herausgeber und Hauptautor er bis 1922 war (Microfiches Mchn. 1985). Die »Zukunft« entwickelte sich rasch zur einflussreichsten Zeitschrift des wilhelmin. Deutschland. Die Bedeutung und umstrittene Stellung, die Harden noch in der Weimarer Republik innehatte, kennzeichnen zwei Nachrufe: Kurt Tucholsky erkannte, dass mit Harden »ein Typus dahingegangen« sei, »der für die nächsten fünfzig Jahre kaum wiederkehren« werde; Joseph Goebbels schrieb am 7. 11. 1927 im »Angriff«: Das »ist der Typ der jüdischen Literaturbestie [...], wir bedauern am Tode dieses Mannes nur, dass er uns die Möglichkeit genommen hat, auf unsere Art mit Witkowski abzurechnen«.

Diese Art der Abrechnung hatten bereits am 3. 7. 1922 völkische Attentäter versucht, die Harden so schwer verletzten, dass er seine aufgrund der Nachkriegswirren und der beginnenden Inflation in wirtschaftl. Schwierigkeiten geratene »Zukunft« - ihre Abonnentenzahl war von 23000 (1908) auf knapp 350 gefallen - einstellen und sich aus dem publizistischen Leben zurückziehen musste.

Hardens Aufstieg als Theaterkritiker fällt mit dem Beginn des literarischen Naturalismus in Deutschland zusammen. 1889 hatte er den für die Berliner Theaterentwicklung wichtigen Verein »Freie Bühne« mitbegründet; er beteiligte sich an der Errichtung des »Deutschen Theaters« und beriet Max Reinhardt in allen künstlerischen Belangen; Tolstoj, Dostojewskij, Strindberg, Ibsen und Maeterlinck hat Harden in Deutschland durchgesetzt. Dagegen polemisierte er gegen Gerhart Hauptmann, Max Halbe und Hermann Sudermann, da er den konsequenten Naturalismus für eine ästhetische und bühnentechnische Unmöglichkeit hielt.

Vom literaturkritischen Essay gelangte Harden zur tages- und weltpolitischen Polemik. Der Anhänger Bismarcks, der vom gestürzten Reichskanzler nach Friedrichsruh eingeladen wurde, bekämpfte dessen Nachfolger Caprivi und die Politik Wilhelms II., was ihm wiederholt Anklagen wegen Majestätsbeleidigung und Festungshaft eintrug. Seine sachlich immer unangreifbaren Artikel erschwerten dabei regelmäßig seine Verurteilung. Politisch außerordentlich folgenreich waren die aufsehenerregenden Prozesse 1907 gegen Harden wegen Verleumdungen des kaiserlichen Freundes Philipp zu Eulenburg. Harden hatte den einflussreichen Berater des Kaisers der Homosexualität bezichtigt, um ihn - aus politischen Gründen - aus seiner Stellung zu verdrängen. Diese Verquickung von Politik und Sexualität wurde Gegenstand einer heftigen Fehde zwischen Harden und Karl Kraus, der mit seiner »Fackel« von nun an in Konkurrenz zur »Zukunft« trat.

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs teilte Harden zunächst die allgemeine Kriegsbegeisterung, doch von 1916 an forderte er den sofortigen Friedensschluss, was einen Rückgang der Abonnentenzahl und mehrere Verbote der »Zukunft« bewirkte. Die Weimarer Republik bekämpfte Harden noch entschiedener als den Wilhelminismus, erreichte aber bei weitem nicht mehr die Wirkung der Vorkriegszeit. Als er kurz vor seinem Tod als Zeuge im Prozess gegen seine Attentäter deren milde Verurteilung erlebte, schwor er mit großer Geste seinem Deutschtum ab. Hardens eigenwilliger Stil, seine altertümelnden Formulierungen, die extreme Wortwahl, das heute kaum noch zu genießende Pathos - bereits von Karl Kraus karikiert, der eine Übersetzung aus dem Harden anbot und ein Harden-Lexikon (Wiederabdruck in: Literatur und Lüge. Wien 1929) - erschweren heute das Wiederlesen der »Zukunft« erheblich. Der »Giftmolch aus dem Pfuhl der Hölle, Schandfleck an unserem Volk« (Wilhelm II. über Harden) und seine »bis zum Revolutionarismus aufgeklärte konservative« Zeitschrift (Franz Mehring) waren Produkte des Wilhelminismus.

[Quelle: Nicolai Riedel. -- In: Literaturlexikon : Autoren und Werke deutscher Sprache / [hrsg. von] Walter Killy. -- Berlin : Directmedia Publ., 2000. -- 1 CD-ROM  -- (Digitale Bibliothek ; 9). -- Lizenz des Bertelsmann-Lexikon-Verl., Gütersloh. -- ISBN 3-89853-109-0. -- s.v.]


DER HEILIGE ROCK

Fahrpreisermäßigungen im Personenverkehr werden nur für die Berliner Vororte eingeführt; in der Straße spielen die Kinder Eisenbahnunfall; der Semmelumfang schwindet in entsetzender Progression: Das ist nicht sehr ermutigend für einen, der gern reisen möchte, und am wenigsten, wenn der eine nicht ein notleidender Landwirt, sondern nur ein Hungerkandidat ist. Aber am Ende ist es auch besser so; denn die satirische Blitzkraft und die wilde Grazie des unermesslichen Heinrich Heine müsste besitzen, wer dem Wintermärchen2 des radikalen Aristokraten nach siebenundzwanzig Jahren ein Pendant schaffen wollte: Deutschland. Ein Sommermärchen.

Nicht von Aachen nach Hamburg brauchte der neueste Aristophanes3 sich zu bemühen; sein Vaterland würde größer, seine Wegstrecke bedeutend kürzer sein. Auf der großen Rheintour könnte er, wenn er einen jener höllisch verschmitzten Zuschlagkupons löst, für die unsere Kombinationsregierung allweislich gesorgt hat, bequem Frankfurt und Trier besuchen, die beiden Wunderstädte dieses feuchten Sommers. Zwischen beiden liegen neunzehn Jahrhunderte, eine hübsche Spanne Zeit. Denn in der bischöflichen Residenzstadt des Herrn Korum4 wird der ungenähte Rock Christi ausgestellt, während die Geburtsstadt der beiden deutschen Dichter Wolfgang Goethe und Ludwig Fulda5 der elektrischen Kraft einen leuchtenden Palast6 erbaut hat. Hier eine Massenanhäufung von maschinellen Betrieben, von Motoren und Batterien, von Akkumulatoren und Dynamos, dort im kunstvollen Spiegelschrein auf weißer Seide der heilige Rock; hier das modernste Prinzip der Kraftübertragung und Kraftverteilung, dort in mystischem Weihrauchgewölk der einfältig frumbe Reliquiendienst. Da ließe sich denn wohl mancherlei Nachdenkliches und Betrachtsames aufzeichnen, und nicht zuletzt gäbe der Erfolg zu sinnen und zu schmunzeln, der Erfolg, der so deutlich für Trier spricht. Die Frankfurter mögen auf die Zahl ihrer Ausstellungsbesucher mit Fug stolz sein; gegen die 600 000 Pilger kommen sie doch nicht auf, die lange vor der Eröffnung schon für die Trierer Ausstellung sich angemeldet hatten. Bischof Korum siegt über Edison7, der Internationalismus der Naturwissenschaft wird geschlagen durch den internationalen Katholizismus. Und das geschieht im aufgeklärten Staate der Lessing8 und Friedrich9 und Nicolai10, an der Neige des wissenschaftlichen Jahrhunderts. Mag die hochmütige Modernität sich damit abfinden.


Abb.: Internationale Elektrotechnische Ausstellung, Frankfurt 1891 [Bildquelle: http://www.altfrankfurt.com/NeueStadt/Kaiserstrasse/Ele.htm. -- Zugriff am 2004-11-29]
 

Wenn ich die Wahl hätte, ich ginge auch nach Trier. Von der elektrischen Ausstellung kann man lesen: das Fortwirken der Legende lässt nur an Ort und Stelle sich erlauschen, aus Miene und Blick und Ton der Gläubigen. Was verschlägt es, ob Sybel11 und seine Nachtreter die Unechtheit des Trierer Gewandes erwiesen haben, ob irgendein Papst irgendeinmal für den angeblich noch ungenähteren Rock von Argenteuil12 entschieden hat: Den 600 000 Pilgern ist der Rock echt, den ihnen Herr Korum zeigt, sie glauben an ihn, sie betasten ihn mit ehrfürchtigem Finger und brünstiger Lippe, und auf Wunder werden sie nicht lange zu warten haben. Denn das Wunder ist das Glaubens liebstes Kind, hat ein Frankfurter gesagt. Weil an die Botschaft ihm der Glaube fehlt, grüßt Faust in mondbeglänzter Osternacht die einzige Phiole13; weil sie in jedem mephistophelischen Hokuspokus ein Wunder sehen, ist den platten Burschen in Auerbachs Keller so kannibalisch wohl gleich wie fünfhundert14 - Pilgern.

Einerlei, woran der Glaube sich klammert. Der Dragoman15, der mir die Herrlichkeiten von Kairo in sein ohne Erwiderung geliebtes Französisch übersetzte, litt an grässlichem Zahnschmerz, den auch die reichlich gespendeten Kyriazi-Zigaretten16 nicht zu bannen vermochten. Trotzdem sagte der braune Kerl tapfer sein erklärendes Sprüchlein auf, und er suchte es sogar durch beinahe ketzerische Scherzchen zu würzen. Als wir aber in die von der Zitadelle umschlossene neue Moschee gelangt waren, vorbei an der vereisten Nüchternheit der englischen Besatzung mit ihren starr glotzenden Shilling-Gesichtern, da winselte der flinke Araber um Urlaub. Während ich die Alabasterwände besah und von den wundervoll schlanken Minaretts auf die weißlich glühende Stadt Mohammed Tewfik Paschas17 herniederschaüte, hatte mein Freund Mustapha sich auf den Teppich gesetzt und mit vielen Gestikulationen, mit Kopfbeugungen und verzückten Blicken seine Koransprüche abgehaspelt. »Very good à présent, les dents«18 sagte er mir, als wir am Ausgang die Strohschuhe und das Bakschisch abgaben, und ich glaubte seiner grinsenden Versicherung. Er hatte sich eben auf seine ganz besondere Weise in Ekstase versetzt, und die bleibt noch immer das einzig wirksame Mittel gegen Zahnweh. Und jedenfalls ist der Aufenthalt in dem kühlen Wunderbau des Propheten einem Wartestündchen beim Zahnarzt vorzuziehen; auf einem orientalischen Teppich sitzt es sich behaglicher als in dem Schreckenstuhl mit dem Kopfklemmer; religiöse Schwärmerei wirkt nachhaltiger noch und sicherer als das beste Chloroform19, und die Folgen beider Heilmethoden pflegen die gleichen zu sein: Befreiung vom stechenden Schmerz und süßlich-fade Umnebelung der geistigen Kräfte.

Nicht verspotten, beneiden sollte man die nach Trier Wallfahrenden, denen für einen kleinen oder lieber noch großen Beitrag zu den Domreparaturkosten und zur besseren Ernährung des armen vatikanischen Gefangenen ein ihrer zahlungsfähigen Wohltätigkeit entsprechender Ablass oder auch ein eigens für sie bestelltes Wunder beheißen wird. Selbst der Geschäftskatholizismus, der da in Gesuchen um Schankkonzessionen, in Reklamebildern und Messlustbarkeiten zum Vorschein kommt, ist in seinen Wirkungen auf den Geldumlauf gar nicht so fürchterlich. Und was den Glauben angeht, so scheint mir der Standpunkt von Anzengrubers Steinklopferhanns20 der richtigste. Als man den frohen Pantheisten um seine drei Kreuze für eine Zustimmungsadresse an Döllinger21 und für den Protest gegen das Unfehlbarkeitsdogma bedrängt, da weigert er seine Unterschrift und meint zum Großbauern: »Hast du bisher 's ganze Pfund 'glaubt, werd'n dich die paar Lot Zuwag a nit umbringen.« Das ist keine Straßenweisheit: Wer die sämtlichen Propheten, Evangelisten und Psalmisten buchstabengläubig verdaut hat, der kann auch noch ein bisschen Unfehlbarkeit und etliche ungenähte Röcke mit in den Kauf nehmen. Wo ist denn die Grenze? Den Stöcker22 und Korum sind die Döllinger und Harnack23 und Egidy24 für Zeit und Ewigkeit verdammte Ketzer, und zugleich trifft von der vorgeschrittenen Erkenntnis sie der Vorwurf der Halbheit. Gerade diese Entschlossenheit, alles, auch das Unglaublichste, gläubig hinzunehmen, gibt dem Katholizismus heute noch seine Weltmacht und erklärt den Trierer Erfolg.

Und wenn wir einmal ganz aufrichtig sein wollen: Glauben wir etwa nicht an heilige Röcke, wir Nationalisten und Protestanten und Atheisten? Das ist ein wunderlich Kapitel. Einem Kanadier möchte am Ende, was wir monarchisches Gefühl nennen, nicht weniger seltsam erscheinen als uns die blinde Andacht der Rockfahrer von Trier und Argenteuil. Dass von Gottes Gnaden einem sterblichen Menschen, und sei er noch so jung und unerfahren, die hohe Einsicht verliehen ist, weise über die Geschicke von Millionen zu entscheiden und - selbst in Verfassungsstaaten — zu bestimmen, ob Krieg sein soll oder Frieden: Das zu glauben, heute noch, nach vieltausendjähriger Erfahrung, nach Nero25 und den Ludwigen von Frankreich und Bayern26, heischt ganz gewiss auch ein gerütteltes Maß von ehrfürchtiger Religion. Auch sonst gibt es noch allerlei heilige Röcke, zivile und militärische, denen man, sind sie nur von einer hohen Obrigkeit oder von den nicht immer getreuen Ministranten der Presse amtlich abgestempelt, ehrerbietigen Gruß und scheue Andacht niemals versagt. Was unter den sakrosankten Rock steckt, danach wird nicht erst lange gefragt: Hier ist ein Wunder, glaubet nur! Und wer am hellen Tage mit Pilatus27 ist und mit den Radikalen, der schleicht manchmal bei nächtlicher Weile wie jener berüchtigte Nicodemus28 zum Meister und lässt sich »inspirieren«. Die Frommen von Trier haben mindestens den Mut ihres Aberglaubens: Christi reine Lehre bekümmert sie nicht, von seinem verschlissenen Gewand aber erhoffen sie Heilung, gute Geschäfte und billige Kartoffelpreise.

Weil im Falle Jesus die hohe Obrigkeit den Amtsstempel versagte, galt der Rock erst, als der Gottmensch am Kreuze hing. »Die Kriegsknechte aber, da sie Jesum gekreuzigt hatten, nahmen sie seine Kleider und machten vier Teile, einem jedlichen Kriegsknecht einen Teil, dazu auch den Rock. Der Rock aber war ungenähet, von oben an gewirket durch und durch. Da sprachen sie untereinander: Lasst uns den nicht zerteilen, sondern darum losen, wes er sein soll ... Solches taten die Kriegsknechte.«29 So schloss, Johannes und seine christlich-sozialistischen Genossen berichten es uns, der erste Kreuzzug gegen Pharisäer und Bankiers mit einer Kreuzigung nicht nur, sondern obendrein auch noch mit einer regelrechten Lotterie ab, konzessioniert und wohlgefällig betrachtet von der Regierung Sr. Königlichen Hoheit des Herrn Landpflegers. Man braucht nur an die bevorstehende Ausspielung der beiden Nyanza-Dampfer30, bekannt unter dem glücklichen Titel »Deutsche Antisklaverei-Geld-Lotterie«31, zu denken, um der Kulturerrungenschaften von neunzehn Jahrhunderten stolz sich bewusst zu werden. Die Krämer und Geldwechsler haben längst wieder ihren Einzug in die Tempel gehalten, Pharisäer und Schriftgelehrte geben den Ton an, aber wir haben den Zwischenhandel erfunden und die Anteilscheine, bis zum Vierundsechzigstel hinab, wir haben die Kollekteure, den Totalisator, das Inserat. Lauter vortreffliche und höchst moderne Dinge, von denen die begrenzte Einfalt der jerusalemitischen Kriegsknechte sich nichts träumen ließ.

Der Hauptgewinn aus jener ersten bibelhistorischen Lotterie wird jetzt ausgestellt, und Herr Korum macht für dich die Honneurs, »der du die Welt erlösen gewollt, du Narr, du Menschheitsretter«.

Noch einmal dürfte, wenn er die elektrische Zeit erlebt hätte, Heinrich Heine seinen armen Vetter beklagen, den man an das Kreuz schlug und von dessen Hinterlassenschaft jetzt eine stattliche Klerisei es sich wohl sein lässt. Einen melancholisch bitteren Brief dürfte er schreiben und zum knausernden Freund Campe32 sprechen: »In meinen gesammelten Werken lasse ich Dir einen heiligen Rock, aber warte gefälligst mit dem Honorar nicht, bis ich ganz tot bin.« Und vielleicht, himmlisch charakterlos, wie er war, brächte er es fertig, aus der Matratzengruft33 sich bis nach Trier zu schleppen und um ein Kevlaar-Wunder34 zu beten mit den Einfältigen, die der Glaube so selig macht, wie es kein Akkumulator und kein Kinematograph vermag.

Erläuterungen:

1 Heiliger Rock

"Heiliger Rock, eine von den angeblichen Reliquien Christi (Joh. 19,23), wird in mehreren Exemplaren, z. B. in Argenteuil, in der Laterankirche zu Rom und anderen Orten, aufbewahrt. Am bekanntesten ist der im Dom zu Trier aufbewahrte, zuerst auf Bitten Kaiser Maximilians 1512 zur Verehrung der Gläubigen ausgestellte heilige Rock geworden, der bald von Helena, der Mutter Konstantins, aus dem Heiligen Lande gebracht und ihrer Vaterstadt Trier geschenkt, bald von Orendel, dem Sohne des Königs Eygel in Trier, der auf dem Zug nach Palästina Schiffbruch gelitten, nach Trier gebracht worden sein soll. Die vom Bischof Arnoldi 1844 verfügte Ausstellung rief die Bewegung des Deutschkatholizismus hervor. 1891 ließ Bischof Korum die Reliquie von neuem ausstellen; 1,925,130 Pilger zogen nach Trier, von denen nach dem Zeugnis des Bischofs 11 geheilt, 27 mit »Gnadenerweisen« bedacht wurden."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

2 Heinrich Heine (1797-1856):  Deutschland. Ein Wintermärchen. -- Erstdruck in: Neue Gedichte. -- Hamburg: Hoffmann und Campe, 1844.

3 Aristophanes: griechischer Lustspieldichter (um 450-385 v. Chr.)

4 Michael Felix Korum: 1881-1921 Bischof von Trier

"Korum, Felix, Bischof von Trier, geb. 1840 zu Wickerschweier im Oberelsass, studierte 1860-65 in Innsbruck Theologie, wurde 1866 Professor der Philosophie am kleinen, 1869 Professor der Theologie am großen Seminar in Straßburg, französischer Kanzelredner am Münster sowie wirklicher Domherr und Erzpriester. Als die preußische Regierung 1881 die erledigten Bistümer wieder besetzte, kam Korum auf Empfehlung des Statthalters v. Manteuffel nach Trier. 1891 veranstaltete Korum eine neue Ausstellung des heiligen Rockes in Trier und schrieb darüber: »Wunder und göttliche Gnadenerweise, die sich bei der letzten Ausstellung des heiligen Rockes 1891 zugetragen haben« (Trier 1894). 1896 ward er zum päpstlichen Hausprälaten und Thronassistenten ernannt. Im Frühjahr 1903 erregte sein gegen die staatliche höhere Töchterschule in Trier gerichteter Angriff Aufsehen, doch erreichte er im wesentlichen sein Ziel."

[gestorben 1921]

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

5 Ludwig Fulda Fulda (Anton Salomon) (* 15. 7. 1862  Frankfurt/M., † 30. 3. 1939 Berlin): Dramatiker, Erzähler, Essayist, Lyriker, Epigrammatiker, Übersetzer

6 Internationale Elektrotechnische Ausstellung, Frankfurt 1891

7 Thomas Alva Edison (1847 -1931): US-amerikanischer Erfinder, besonders auf dem Gebiet der Elektrizität

Lessing8 und Friedrich9 und Nicolai10

8 Gotthold Ephraim Lessing (1729 - 1781): wichtigster deutscher Dichter der Aufklärung.

9 Friedrich II., genannt Friedrich der Große, König von Preußen (1712 - 1786), aufgeklärt absolutistischer Herrscher

10  Christoph Friedrich Nicolai (1733-1811): bekannte Berliner Aufklärer

11 Gildemeister, Johann <1812 - 1890> ; Sybel, Heinrich von <1817 - 1895>: Der Heilige Rock zu Trier und die zwanzig andern heiligen ungenähten Röcke : eine historische Untersuchung. --  Düsseldorf : Buddeus, 1844. --  XXVI, 115 S.

12  Argenteuil, Ort bei Paris, an der Seine, mit einer romanischen Kirche, die in einem Reliquienkästchen einen sogen. heiligen Rock Christi bewahrt

13 Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832): Faust I (1808), Szene in der Nacht:

"Ich grüße dich, du einzige Phiole,
Die ich mit Andacht nun herunterhole!"

14  Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832): Faust I (1808), Szene in Auerbachs Keller

Uns ist ganz kannibalisch wohl,
Als wie fünfhundert Säuen!

15 Dragoman (arabisch, eigentlich Terdschumân): Dolmetsch

16 Kyriazi Freres: Zigarettenfabrik in Hamburg

17 Mohammed Tewfik Pascha  (eigentlich Taufik)  (1852- 1892): seit 1879 Chedive [= Vizekönig] von Ägypten

18 "sehr gut, momentan, die Zähne" (englisch-französisches Kauderwelsch)

19  Chloroform (Formyltrichlorid, Trichlormethan) CHCl3: wurde als als »anästhetisches Mittel« (Betäubungsmittel) verwendet, indem man vor chirurgischen Operationen die Dämpfe einatmen  ließ.

20 Der Steinklopferhanns: Figur in: Ludwig Anzengruber (1839-1889): Die Kreuzelschreiber (Drama) (1872):

STEINKLOPFERHANNS. Geht mich ja alles nix an! - War a kein Frag, daß d' uns nit dazu brauchst. Was harbst dich denn nachhert so und verschimpfierst uns? - Sixt, wann ich so auf der Straß bei dö Steinhaufen hock, da schleichen dir 'n Tag über a Menge Leut vorbei, dö ausschaun wie 'n Tod seine Spion und dö fast neidig auf mich rüberschaun, wann ich so lustig draufklopf und sing, 's sein Tagwerker und Kleinhäusler, die sich so in Elend mit Weib und Kind fortfretten; schau, Großbauer, wann d' macherst, daß d' Straß, soweit durchs Land geht, a freundlich Gsicht krieget, wann d' a Gschrift brächtst, wo drein stund: dö Großen solln nit mehr jed neu Steuerzuschlag von ihnerer Achsel abschupfen dürfen, daß er den arm Leuten ins Mehlladel, in Eierkorb und ins Schmalzhäfen fallt, sondern sie sollen ihn, wie er ihnen vermeint is, die's haben, auch alleinig tragn - ah ja, Großbauer, da setz ich dir schon meine drei Kreuzel drunter; das verstund ich dir schon - aber was du heut fürbracht hast, das mag recht gut gmeint sein, doch mich fecht's nix an, und hast du bisher 's ganze Pfund glaubt, werdn dich die paar Lot Zuwag a nit umbringen! - Willst uns aber dö Straßen säubriger machen, da sein wir dann schon dabei ... [1. Akt, 6. Szene]

21 Johann Joseph Ignaz von Döllinger (1799 - 1890), einer der Hauptgegner des Ersten Vatikanischen Konzils (1870/71).

22 Adolf Stöcker (1835 - 1909): Theologe und Sozialpolitiker, seit 1874 Hof- und Domprediger in Berlin. Seit 1877 trat er in öffentlichen Versammlungen gegen die Führer der Sozialdemokratie auf und suchte durch Gründung einer christlich- sozialen Partei die Arbeiter für christliche und patriotische Anschauungen wiederzugewinnen, zugleich aber ihre Forderungen des Schutzes gegen die Ausbeutung des Kapitals und einer Verbesserung ihrer Lage zu unterstützen

23 Adolf von Harnack (1851 - 1930): evangelischer Theologe, Professor für Kirchengeschichte in Leipzig, Gießen, Marburg und Berlin. Maßgeblicher Repräsentanten des sog. Kulturprotestantismus der Kaiserzeit: nach seiner Meinung war das dogmenfreie Zeitalter des Christentums angebrochen. In kirchlichen Kreisen erlebte er zeitweise massive Anfeindungen (Berufungsstreit 1888, Apostolikumsstreit 1892/93, Streit um Das Wesen des Christentums 1900ff.)

24 Christoph Moritz von Egidy (1847 - 1898): Offizier, 1889 Oberstleutnant. Seine Schriften: »Ernste Gedanken« (Leipz. 1890), »Weiteres zu den Ernsten Gedanken« (Berl. 1890), »Das einige Christentum« (das. 1891), »Ernstes Wollen« (das. 1891), stellen einen auf praktischrationales Christentum gerichteten Versuch einer Reformation von Dogma und Kirchenglauben dar, der dem Verfasser sofortige Verabschiedung und zahllose Angriffe literarischer Art eintrug.

25 Nero:  römischer Kaiser von 54-68 n. Chr., besonders blutrünstiger Herrscher

und den Ludwigen von Frankreich und Bayern26

26 Ludwig XIV., (1638  - 1715): seit 1643 König von Frankreich, genannt der "Sonnenkönig" (französisch Roi Soleil), verfolgte ab 1685 grausam die Hugenotten (französischen Protestanten); Ludwig II. von Bayern (1845 - 1886), König von Bayern (1864 - 1886): wurde von harden wegen seiner homosexuellen Neigungen attackiert.

27 Matthäusevangelium 27, 24: "Da aber Pilatus sah, dass er nichts schaffte, sondern dass ein viel größer Getümmel ward, nahm er Wasser und wusch die Hände vor dem Volk und sprach: Ich bin unschuldig an dem Blut dieses Gerechten, sehet ihr zu!"

28 Johannesvangelium 3,1ff.: "Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern mit Namen Nikodemus, ein Oberster unter den Juden. Der kam zu Jesu bei der Nacht und sprach zu ihm: Meister, wir wissen, dass du bist ein Lehrer von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm."

29 Johannesevangelium 19,23f.

30 Nyanza (Njansa): Bezeichnung für See in Zentralafrika

31 Deutsche Antisklaverei-Geld-Lotterie: dazu konnte ich keine näheren Angaben finden.

32  Verlag Hoffmann u. Campe, Verleger Heines.

33 Heinrich Heine (1797-1856) war durch sein Rückenmarkleiden seit dem Frühling 1848 bis zu seinem Tod an das Krankenlager - die »Matratzengruft«, wie er es nannte - gefesselt

34 Anspielung auf Heinrich Heines (1797-1856) Gedicht "Die Wallfahrt nach Kevlaar" (1824/1826)


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