Religionskritisches von Oskar Panizza

Die Wallfahrt nach Andechs (1894)

von

Oskar Panizza


Herausgegeben von Alois Payer (payer@payer.de)


Zitierweise / cite as:

Panizza, Oskar <1853 - 1921 >: Die Wallfahrt nach Andechs.  -- 1894. -- Fassung vom 2005-01-07. -- URL:  http://www.payer.de/religionskritik/panizza01.htm 

Erstmals publiziert: 2004-12-30

Überarbeitungen: 2005-01-07 [Ergänzungen]

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Dieser Text ist Teil der Abteilung Religionskritik  von Tüpfli's Global Village Library


Ursprünglich erschienen in:

Der Zuschauer : Monatsschrift für Kunst, Litteratur und Kritik. -- Hamburg : Verl. d. Zuschauer. --  2 (1894), Nr. 23 (1894-12-01)  ; Nr. 25 (1894-12-15)

Wieder abgedruckt in:

Panizza, Oskar <1853 - 1921 >: Mama Venus : Texte zu Religion, Sexus und Wahn / Oskar Panizza. Hrsg. von Michael Bauer. -- Hamburg ; Zürich : Luchterhand-Literaturverl., 1992.  -- 254 S. ; 18 cm. -- (Sammlung Luchterhand ; 1025). -- ISBN 3-630-71025-5. -- S. 117 - 152

Da Panizzas eigenwillige Orthographie in keinerlei Erkenntnisfortschritt bringt, habe ich sie — unter Wahrung des Lautbestandes — durch die moderne Orthographie ersetzt.



Abb.: Umschlagtitel "Das Liebeskonzil"

"Panizza, Oskar, geb. 1853 in Bad Kissingen, gest. 1921 in der Nervenheilanstalt »Herzogshöhe« bei Bayreuth. Einer der merkwürdigsten, bedeutendsten und durch tragische Schicksalsverkettung unbekanntesten Dichter der neueren deutschen Literatur. Sein Lebenslauf, bezüglich dessen man die Schrift »In memoriam Oskar Panizza« (München, 1926) heranziehen möge, kann hier nur kurz skizziert werden. Von Beruf Arzt, wandte er sich frühzeitig der Literatur zu, begrüßt als »genialer Phantast der Moderne«. Schon früh, 1891, gerät er mit dem Staatsanwalt in Konflikt wegen des Aufsatzes »Das Verbrechen in Tavistock Square«, einer Verhöhnung der englischen Prüderie in sexuellen Dingen. Diese Konflikte dauern an, er wird höheren Ortes wegen seiner antikatholischen Einstellung und seines freien Standpunktes in sexualibus missliebig; als 1896 das »Liebeskonzil«, sein Hauptwerk, erscheint (Zürich, Schabelitz), wird die Anklage in München gegen ihn erhoben. Von einer aus oberbayrischen Bauern zusammengesetzten Geschworenenbank wird er wegen Vergehens wider die Religion zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Der Prozess erregte seinerzeit großes Aufsehen. Obwohl angesehene Persönlichkeiten für Panizza eintraten, wurde er noch im Gerichtssaal verhaftet und musste die volle Strafe im Gefängnis zu Amberg verbüßen. Panizza verließ das Gefängnis als gebrochener Mann. Spuren von Geisteszerrüttung machen sich immer mehr bemerkbar, zunächst in Zürich, wohin sich der Dichter nach Verbüßung der Strafe gewandt hatte und wo er die »Züricher Diskussionen«, wohl die interessanteste Zeitschrift der Moderne, herausgab, dann in Paris, endlich in München, wohin er zurückgekehrt war. 1907 war seine endgültige Aufnahme in eine geschlossene Anstalt notwendig; er hat sie bis zu seinem 1921 erfolgten Tod nicht mehr verlassen. Sein Hauptwerk, das Theaterstück »Liebeskonzil«, schildert, wie der Himmel, empört über die Sittenlosigkeit der Menschenwelt, besonders über das Treiben am Hofe des Papstes Alexander VI., die Menschheit mit der zu diesem Zweck erzeugten Syphilis bestraft. Unter dem hier in Betracht kommenden Gesichtspunkt interessieren weiterhin zahlreiche Abhandlungen aus den »Züricher Diskussionen« (1897-1900), deren Beiträge großenteils von Panizza selbst stammen, dann die Erzählungen des Bandes »Visionen« (1893), die »Dialoge um Geiste Huttens« (1897), das »Haberfeldtreiben im bayrischen Gebirge« (1897), die mit einer staunenswerten Vorwegnahme heutiger Ergebnisse dem Sexualforscher reichstes Material bringen. Es existieren von Panizza umfangreiche, ungedruckte Tagebücher und Briefe und ein starkes Manuskript »Imperjalja«. Seine Schriften sind vergriffen und schwer zu erhalten; von dem »Liebeskonzil« veranstaltete 1913 die »Gesellschaft Münchener Bibliophilen« eine Neuausgabe in 50 Stücken für ihre Mitglieder mit Strichätzungen von Kubin. Zeitumstände und familiäre Rücksichten haben es bisher unmöglich gemacht, an eine Neuausgabe des wichtigen Werkes von Panizza heranzugehen."

[Quelle: Bilderlexikon der Erotik : Universallexikon der Sittengeschichte und Sexualwissenschaft / Institut für Sexualforschung. -- 
Wien, 1928-1932. -- CD- ROM-Ausgabe: Berlin : Directmedia, 1999. -- (Digitale Bibliothek ; 19). -- ISBN 3932544242. -- S. 7301ff. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie diese CD-ROM  bei amazon.de bestellen}]


Die Wallfahrt nach Andechs1

Ein oberbairisches Sittenbild

„Popery: a System to operate upon men's weaknesses and passions and thereby to pickt heir pockets." Sterne2.


Abb.: Lage von Herrsching, Dießen, Andechs (©MS Encarta)

Es war an einem der letzten regnerischen Apriltage dieses Jahres, als ich, auf der Suche nach einem gastlichen Frühlings-Unterkommen in den bairischen Bergen, von Hersching am Ammersee in einem Kahne nach Dießen fuhr. Der See war ruhig; aber es rieselte in feinen Fäden fortwährend herunter. Schnur-Regen, glaube ich, nennt man das. Und bald musste mein Führer, der, um besser ausgreifen zu können, den Rock ausgezogen hatte, diesen wieder anlegen. Es war einer jener flachsigen Männer, mit Augen wie Lapislazuli, von denen man das Alter so schwer taxieren kann, weil man nie weiß, ob es die Jugend- oder Alters-Fahle ist, die ihnen um die Stirn flattert.


Abb.: "Augen wie Lapislazuli"

Er zitterte bei jedem Ruderschlag, wenn er die langen Stangen aus dem Wasser hob, und die Haut lag runzlig wie bei Schildkröten um die Handknochen. Und fortwährend pritschelte es auf die nackten Hautteile herunter und durchweichte schließlich den Mann vollständig. Sechzig Pfennig für die Stunde —dachte ich mir —; mehr hatte der Mann nicht verlangt; und diese Hunde-Arbeit! Wir befinden uns oft mit unserem Mitleid auf ganz falscher Fährte, weil wir etwas bewundern oder anstaunen, was unserem eigenen Können oder unserem Naturell so fern liegt. Die rauhe Arbeit, die er eben verrichtete, während ein Anderer faul und meditierend im Kahne saß, war ihm vielleicht das Einfachste und Selbstverständlichste, was er tun konnte. Ich betrachtete mir den Mann genau; es war ein wunderschöner Rundkopf, ein Brachy-Zefale3, der Kopf kurz in den Schultern angewachsen; in den Augen und Augenbögen der eventuelle Trotz, wenn man ihm unrecht kommt; im Übrigen die Herzensgüte selbst; die hellen, bleichen Haare in die Stirne hängend; ein krauser, heller Schnurrbart, der wirr die dicken, gutmütigen Lippen bedeckte; und wenn er lachte, und auch bei der Anstrengung, der viereckige, kindliche, dalkete4 Mund mit den festen, biderben5 Zähnen. Ich wusste schon längst, schon als ich den Fischer aus seiner Behausung holte, dass genau der gleiche Typus, der Abklatsch von ihm, in München lebte, den ich sehr gut kannte, und mit dessen Charakter ich vollständig vertraut war. Es war ein Musikprofessor, der im Norden wie im Süden durch sein seelenvolles, markiges Spiel berühmt ist. Jetzt kam mir der Gedanke: wenn man unsern Fischer in das Münchener Museum-Konzert schickte, und zeigte ihm sein Ebenbild auf einem Flügel von Blüthner6 die gewagtesten Kapriolen schlagen, und sagte ihm nach einer Stunde, der Mann bekomme fünfhundert Mark, ich glaube, er ginge stöhnend vor Mitleid von dannen, und erklärte, lieber um sechzig Pfennig über den Ammersee zu fahren und aller schwarzen Fräcke und weißen Krawatten überhoben zu sein. — Wie alt sind Sie? frug ich, und erwartete etwas zwischen sechzig und siebzig. — „Vierzig Jahr'." — Jetzt erkannte ich am Gesicht, wie sehr ich mich durch die hellen Flachshaare hatte anführen lassen. Denn das Gesicht war, obwohl abgearbeitet, kräftig und jung. —

Wir waren jetzt auf der Mitte des Sees, und der Regen, der oft in ein schwadiges, dampfiges Nebelreißen überging, zitterte noch immer dünnschnurig hernieder. Ich war daher nicht wenig erstaunt, plötzlich in der Ferne, bei diesem Wetter, an einem Werktag, eine Reihe von großen, schwarzen Kähnen auftauchen zu sehen, die wie Riesen-Särge stumm und lautlos über die Wasserfläche, wie über den Acheron7, glitten, und in direkter, querer Richtung dem andern Ufer zustrebten. Es saßen wohl Lebende drin: sie hatten die Schirme aufgespannt und saßen ruhig und unbeweglich. Jetzt kamen noch mehr; fünf! sechs! Bald ein ganzes Dutzend. Es waren große Trajekt-Boote8 mit zwei Ruderern, die zwischen 12 und 15 Personen fassten. Und es mochten zwischen 150 bis 200 Menschen sein, die da hinüber schwammen. Ich avertierte9 meinen Fährsmann, der ihnen den Rücken kehrte, da sie von Dießen herüber kamen. Er schaute kurz um und sagte dann: „Des sin Wallfahrer. Die geh'n 'nüber nach Andechs. Jetzt gehts an, um Georgi10, und dauert den ganzen Sommer bis Micheli11." — Und schmunzelnd fügte er hinzu: „Unsereins kümmert sich nix um die Stach. Des is die Weiber ihr Vergnügen." — Und nach einer Pause meinte er: „No, 's is auch wieder gut für 'was; verdienen die Fischer wenigstens a bisl a Geld." — Ich hatte mich gehütet, durch irgend eine Bemerkung die Ansichten meines Fährmanns zu dämpfen oder zu fördern. Aber die Sache war mir doch durch den Kopf gefahren. Wie wir die Sitten und profanen Anschauungen eines Volkes, unter dem wir leben, als die unverrückbare Basis der Lebensgewohnheiten auch der Bürger und Städter in höheren Kreisen gelten lassen müssen, so sind die religiösen Gebräuche einer Bevölkerung der unvermeidliche Ausgangspunkt jeder geistigen und transzendentalen Spekulation. Eine Bevölkerung, die weiß, dass sie gegen Geld oder ein paar abgelaufene Schuhsohlen vom schwersten Verbrechen, auch von einem solchen, das der weltliche Richter gar nicht eruiert hat, Verzeihung erlangen kann, muss auch in ihren hervorragenden Köpfen, die Minister und Räte werden, eine andere geistige Spezies erzeugen, als eine Bevölkerung, die weiß, dass es für eine verfluchte Tat keine Rettung gibt — außer dem seelischen Prozess. —Ich beschloss also, eine dieser Wallfahrten mir genau anzusehen.

Etwa vierzehn Tage später, am Pfingstsonntag, saß ich, schon seit mehreren Tagen installiert, in der großen, geräumigen Klosterbrauerei, dem ehemaligen Augustiner-Kloster, auf der Höhe von Dießen prachtvoll gelegen, und weithin auf See und Gebirge Aussicht gewährend. Man riet mir, wenn ich die Vorgänge beim „Bittgang" oder der Wallfahrt genau kennen lernen wolle, mich gleich an die Wallfahrer anzuschließen; zumal kein Schiff so rechtzeitig ging, um mich an das andere Ufer, auf dessen Höhe Andechs lag, zu einem Zeitpunkt hinüberzubringen, dass ich gleichzeitig mit den Bittgängern auf der Klosterhöhe eingetroffen wäre. Dieser Gedanke gefiel mir gleich. Auf die religiöse Walze! dachte ich. Und: man soll nichts beschreiben, was man nicht ganz genau kennt. Den folgenden Tag „gingen" die Dießener; später kamen die Landsberger (Landsberg am Lech) und noch fünf oder sechs kleinere Gemeinden aus der Umgegend. Es „kamen" also, wie man sich ausdrückt, „sechs bis sieben Kreuze zusammen".


Abb.: Unter dem Kreuz nach Andechs. -- 2003 [Bildquelle: http://www.isargau.de/federfuchser/photoalbum/wallfahrt_andechs_2003.html. -- Zugriff am 2004-12-30]

„Kreuz" ist jene meist aus einer Gemeinde stammende Zahl von Bittgängern, die sich unter einer Fahne oder Kreuz unter Begleitung oder Führung eines Geistlichen versammelt. Es konnte also ein reges Treiben für diesen Pfingst-Montag auf dem „heiligen Berg" oder mons sanctus von Andechs, wie er offiziell heißt, erwartet werden. Pfingstmontag ist noch immer ein „guter Tag"; und der Ablass recht wirksam. Aber lange nicht so gut, wie die drei Tage um Himmelfahrt. An diesen drei Tagen kann von jedem Altar der Klosterkirche gegen M[ark] l.— eine Seele aus dem Fegefeuer erlöst werden. Man lässt eine Messe lesen, und die Seele „steigt unverzüglich" — wie es auf einer Altarschrift in St. Peter in Rom heißt — aus dem Fegefeuer. Dieses wertvolle Privilegium in Andechs datiert aus dem Jahre 1772 und vom Papst Clemens XIV. (Chronik von Andechs von P. M. Sattler 0. S. B. Donauwörth 1877. pag. 638f.12) Natürlich drängt und drückt sich das Volk zu diesen transzendentalen Feuerlösch-Anstalten. Allein an diesen drei Tagen kommen 106 Gemeinden aus der entferntesten Umgegend; bis von Augsburg und München, — insgesamt kommen während des Sommers regelmäßig und unter Einhaltung ihrer bestimmten Tage, vom 23. April (Georgi) bis 29. September (Micheli) 170 Gemeinden oder „Kreuze". (Das Büchlein vom heiligen Berge Andechs. Auszug aus der Chronik des P. M. Sattler. Donauwörth 1894 p. 99-100.13) Ich bitte nur dringend, hier die Gedanken nicht lang in falsche Fährten zu leiten. Man rechne nur minimum auf jede Gemeinde 300 Köpfe — aus München und Augsburg kommen Tausende; aus den Landgemeinden gehen fast 70% mit — und rechne auf den Kopf an Ausgaben für Opferstock, Heiligenbilder, Rosenkränze, heilige Schnitzereien, Drucksachen sowie für Speise und Getränke nur M[ark] 1.— so erhalten wir aus diesen 170 Gemeinden M[ark] 51,000, wovon, bei einem Netto-Gewinn von minimum 50 %, M. 25,000 als sommerliches Fixum für das mit 3 bis 4 Patres und einigen Laienbrüdern besetzte und selbst reich dotierte Kloster; ohne das Fegefeuer-Geld, welches gänzlich unberechenbar ist, und, abgesehen von dem Abwägen der Messgeräte und dem Aufzehren der Hostie, voll und ganz in die Klosterkasse fließt. Vor der Säkularisation im Jahr 1803 (Ludwig I. stellte 1850 das Kloster wieder her) betrug gar die Zahl der wallfahrenden Gemeinden 328. (Chronik von Andechs p. 806) Und nun mag man ermessen, was hier für Summen dem Volke seit Jahrhunderten entzogen wurden, und mag begreifen, dass der Klosterschatz 76 silberne Monstranzen, 28 silberne Büsten und für die Hauptreliquie — drei heilige Hostien — ein 20 Pfund schweres silbernes Gehäuse besaß und heute noch besitzt. (Chronik von Andechs. p. 772) Und nun nehme man hinzu, dass alle diese Gemeinden zu Hause ihre volle seelsorgerische Pflege besitzen; und dass alle diese Fegfeuer-Spaziergänge eigentlich nur Luxus-Wanderungen sind, unternommen, weit entfernt aus transzendentalen Absichten, vielmehr wie wir bald sehen werden, aus höchst irdischen Rücksichten. Und erwäge, dass es eine Masse solcher montes sancti14, solcher feuerspeiender Berge, in Baiern und im übrigen Deutschland gibt. Und versuche zu eruieren, was aus diesen Feuer-Essen an geschmolzenem Metall über die Alpen nach Rom wandert, denn solche Privilegien für Eine-Mark-pro-Seele-Altäre lässt sich der heilige Vater — o grundgütige Barmherzigkeit! — teuer bezahlen. Und dann komme man zum Schluss, dass die Drei-Einigkeit der katholischen Kirche heißt: Geld, Geld, Geld. Und diese Drei sind allerdings Eins.


Abb.: Der heilige Berg Andechs. -- 1602

Ich stand am Pfingstmontag um vier Uhr auf. Der Pfarrhof mit seiner stolzen Kirche liegt nur wenige Schritte von mir entfernt, faktisch angebaut an mein Gebäude, das ehemalige Augustiner-Kloster, wo, wie ehedem geistliches, jetzt profanes Bier gebraut wird. Der Glockenturm, der, wie ein italienischer Campanile, fast frei neben der Kirche steht, ließ seinen Lockruf erschallen. Und bald kamen von allen Seiten die ungekämmten, ungewaschenen, knapp dem Bett entkrochenen Gestalten, Männlein und Weiblein, das Gebet-Holz15 in der Hand, in der Rechten den Regenschirm, herbei, um sich zu mustern, sich vor der Kirche aufzustellen, und auf den Eintritt zu harren. Ich eilte, mein Frühstück einzunehmen. Ich weiß nicht, ob der Bittgang nüchtern angetreten wird. Aber jedenfalls wird er nicht nüchtern beendet; sondern meist schwer betrunken; und vielfach im Straßengraben. Die Zeremonie des Fahne-Abholens, des Einsegnens und des An-die-Spitze-Tretens des Kaplans, als Vorbeters, muss ziemlich kurz gedauert haben, denn als ich heraustrat, bemerkte mir der treffliche Bräumeister des Klosterbräus, der Zug passiere bereits die untere Markt-Kirche, wo soeben „eingeläutet" werde, und wies mir den nächsten Weg, um ihn einzuholen. Noch einige Weiber mit breitspuriger, wilder Gangart kamen hinter mir, die sich auch verspätet hatten. Die Direktion des Zuges war um die Südspize des Sees herum, durch den Ort Fischen und dann durch den Wald auf die Höhe des Klosters. Es war der erste schöne Tag nach langen Regengüssen. Der Boden aber kotig und schmierig. Schon aus der Ferne, als ich eben Dießen hinter mir, aber noch lange nicht den Zug erreicht hatte, hörte ich das bleierne, dumpf klappernde plärrende Geräusch des Uni-sono-Betens. Und als ich noch näher kam, vernahm ich die eigentümliche Betonung, wie sie Ortssprache und ökonomische Behandlung des Bet-Materials mit sich bringen: "..... bitt für uns arme Sün-därr, jätzt und in darr Stunde des Absterbens, Amen." Die Massen- und Repetier-Gebete in der katholischen Kirche nehmen zu der Sprache der übrigen gottesdienstlichen Handlungen dieselbe Stelle ein wie der Dialekt zur Schriftsprache; d.h. sie entwickeln sich lautlich nach dem Gesetz des geringsten Widerstandes; und Rhythmik und Betonung des bekannten „Gä-grüßt saist du Marea, du best voller Gnaden........" ist schließlich das Resultat einer Kiefer-Ökonomik mit Rücksicht auf Massenbewältigung. Die Leute marschierten in zwei Reihen, rechts und links von der Straße; der Zug, den ich jetzt eben im Begriffe war einzuholen, bestand nur aus Weibern; und während die eine Seite immer ihr „Gä-grüßt........" intonierte, respondierte die andere mit „Hailige Marea........"bis zum Schluss „Stunde des Absterbens, Amen!" unaufhörlich, gurgelnd, wie ein rauschender Wasserfall, den man zuletzt nicht mehr hört.


Abb.: Rosenkranz, Produkt von http://www.marienfiguren.de/. -- Zugriff am 2004-12-30
 

Ich muss hier mit Rücksicht auf Ihre vielen protestantischen Leser, und selbst auf die Gefahr hin, Bekanntes zu wiederholen, einige Worte über das Gebetholz sagen: Der Rosenkranz wurde im Jahre 1206 durch den heiligen Dominikus auf Grund einer besonderen Offenbarung der allerseligsten Jungfrau eingeführt, und soll „unzählige Bekehrungen von Sündern und die wunderbarsten Triumphe über die ketzerischen Albigenser" (die sämtlich auf Anordnung des Papstes totgeschlagen wurden) erreicht haben. (P. A. Maurel, Priester der Gesellschaft Jesu, Die Ablässe und ihr Gebrauch. 5. Aufl. 1884. Paderborn. F. Schöningh. Mit Genehmigung der geistlichen Obrigkeit. 5. Abschnitt, pag. 22816 ) „Führe den Rosenkranz ein", hatte ihm die allerseligste Jungfrau gesagt — und er wird das Mittel für so viele Übel sein. (a.a.O. — Wir bitten hier Landwirte, und auch Börsenmänner, die mit Einführung der neuen Börsensteuer so große Schwierigkeiten gefunden haben, um ihre gespannteste Aufmerksamkeit.) Dieses Gebetholz besteht für die Meisten (die nur den kleinen Rosenkranz haben) aus fünf sogenannten Dekaden oder Gesetzen zu 10 Perlen; und jede Perle ist ein Ave-Maria; der ganze Kranz besteht also aus 50 bis auf die letzten Worte völlig gleichlautenden Gebeten, die mit möglichster Geschicklichkeit und Geschwindigkeit gesprochen werden sollen. Denn da die Jungfrau Maria schon bei der zweiten Perle hört, dass es sich um dieselbe Sache handelt, so ist es ihr ebenfalls um Massen-Wiederholung zu tun. Nach jeder Dekade kommt aber noch ein Vaterunser, und außerdem befindet sich am Anfang, oder am Schluss der Schnur noch eine Berloke17 mit drei Perlen, die eine kurze Sentenz über Glaube, Liebe und Hoffnung o Glaube, Liebe und Hoffnung! — enthalten, und erst wenn dies Alles komplett durchgebetet ist, ist ein Rosenkranz vollendet. Damit aber haben diese Leute noch schrecklich wenig erreicht. Denn ein Rosenkranz ist unendlich wenig in der Wert-Schätzung der katholischen Kirche, und in seinem psychischen Äquivalent in Fegfeuerstrafen. Der große Rosenkranz — wie ihn Professions-Beter tragen, Mönche, Klosterschwestern — hat 15 Dekaden, also 150 Perlen oder „Gägrüßt saist du Marea!"17a ohne die Vaterunser und Anhängsel; mit ihnen kommt Einer vielleicht bis nach Andechs; aber noch entfernt nicht in den Himmel. Vielleicht finde ich später einmal Zeit, eine kleine Studie: über den Unterschied zwischen den indischen und chinesischen Gebetsmaschinen und dem katholischen Betholz, zu schreiben; und namentlich auch dabei die Frage über die autohypnotische Wirkung dieser Instrumente zu beleuchten.

Entschieden glaube ich jetzt schon aussprechen zu können, dass in Bezug auf diese auto-suggestive Wirkung durch die rhythmische, gleichförmige, monotone Bewegung der Finger, Kiefer, Kaumuskel und Betonung des Silben-Materials das katholische Gebetholz vor den buddhistischen Maschinen den Vorzug verdient.



Abb.: Tooropsche-Wellenlinien: Jan (Johannes Theodor) Toorop (1858 - 1928): Rekleme für Delftsches Salatöl. -- 1894

Während ich so zwischen den Weibern auf der schmutzigen Straße dahinwandelte, eingelullt durch die Ketten öliger Ave Marias, die wie Toorop'sche Wellen-Linien mir das Ohr umbrausten, kam ich, die eigentliche Psyche nicht abgelenkt sondern angeregt findend, zu eigentümlichen Betrachtungen. Die Weiber hatten alle die Röcke hochgeschürzt und den Blick, der frommen Situation angemessen, zu Boden geheftet, und so sah ich nichts wie Menschen-Endigungen und Extremitäten. Und ich kam wieder auf meine alte Liebhaberei, die wir Deutsche so gern betreiben, auf die Einteilung der Menschen. Und da ich nicht nach vorderen Qualitäten einteilen konnte, so teilte ich nach hinteren und unteren ein: da war das geringelte, zebra-gestreifte, braun- und grün-gefärbte, wie eine Säule endigende Kindsfuß- oder Hebammen-Bein, in Scheuleder-dicken Fußkacheln dahin wandelnd, wie eine Straßen-Walze Alles zerknirschend und breitdrückend. Dort ging der kielförmig gebaute, dünnknöchelige, in unentwegt weißen Strümpfen steckende, schmutzbesprizte Wäscherinnen-Fuß, von dünnlederigen Schlappen hatschend gefolgt. Hier das zaunsteckendürre, weder Kiel noch Buchten aufweisende, mit logischer Gleichheit nach oben strebende, selten gezeigte, bräunlich überzogene Alt-Jungfern-Bein. Und dort drüben — eine rara avis19 auf dieser Straße — das zierliche, schlank sich hebende, in allen Dimensionen maßvolle, schwarzbekleidete Ballfüßchen, von dünnen, ausgeschnittenen Lederpantöffelchen bekleidet, und wohl im Besitz des Lehrertöchterleins oder einer frommen, besseren Verwandten aus der Stadt. — Und nun erst die Röcke, besser gesagt die Unterröcke: hier der längsgestreifte, dort der gewellte, hier der getüpfelte, dort der aschgraue, da der wollenbesetzte, dort der schmählich endende, der zerfranste, der geflickte, der gestückte, der gesäumte, der undefinierbare........aber dort vorn, weithin leuchtend, der wollige, oft mit einer schwarzen Borte eingelassene, über Alle obsiegende, der scharlachrote, der König der Unterröcke, das Herrscher Gebiet des roten Königs. Und zu diesen Menschen-Endigungen, Röcken und Füßen die dazugehörigen Seelen zu konstruieren, kann für den, der einige Erfahrungen in der Beurteilung solcher Bruchstücke besitzt, nicht mehr allzu schwer fallen. —

Ein neues, merkwürdiges Geräusch schreckte mich aus meinen Betrachtungen auf. Der Weg machte hier eine Biegung: und die Spitze des Zuges passierte eben ein kleines Gehöft, von dessen ersten Häusern das helle Skandieren der vordersten Bet-Kolonne rekorschierte und zu uns herüberdrang. Es klang, als wenn man in einem zinnernen Kessel mit einem Eisenbesen Eiweiß zu Schnee schlägt, so bitzelnd, klirrend, kichernd und helllärmend kam's herüber; und gemischt mit den dunkeln Asphalt-Tönen unserer Arriere-Garde20 gab es einen merkwürdigen Effekt. Ich konnte jetzt den ganzen Zug übersehen. Zuvorderst ein Trupp Weiber, dann mit einer Distanz von zehn Schritt ein Trupp Männer, der aber doppelt so groß war und in dessen Mitte der Kaplan und der Fahnenträger marschierten; und zum Schluss, wieder getrennt, ein Trupp Weiber, an dessen Ende ich, noch immer als Zuspät-Gekommener geltend, marschierte, vollbeschäftigt mit Gedanken, und der Situation Rechnung tragend, chapeau bas, mit abgenommenem Hut. Ich benutzte die Gelegenheit, den Zug zu zählen. Die Hälfte der einen Seite der Männer: ca. 40; die ganze eine Seite 80; die sämtlichen Männer 160; die zwei Weiber-Kolonnen zusammen vielleicht um die Hälfte mehr als die Männer, also 240; alles zusammen ca. 400. Ich hörte aber später, dass es über 500 waren. Dazu kommen noch etwa 3 bis 400, die es vorgezogen, im Laufe des Tages den bequemeren und direkteren Weg über den See per Dampfschiff oder Trajekt-Boot zu nehmen. Das wären also zusammen etwa 850 allein aus Dießen. Dießen hat 1700 Einwohner. Dies gibt gleichzeitig einen Begriff von der Beteiligung hiesiger Gemeinden; wobei nur in Betracht kommt, dass dieser Ort bei seinem reicheren Verkehr mit der Hauptstadt und mit den Fremden aufgeklärtere Elemente birgt, die diesen Veranstaltungen fernbleiben.

Zwei Velocipedisten21 holten uns ein. Sie fuhren bis dicht an das Ende des Zugs. Dann überlegten sie einen Moment. Die Mitte der Straße, die ihnen allein übrig blieb, war mit Steinen aufgeschottert. Und dann war es eine gewagte Sache mit einem so profanen Vehikel, kopfbedeckt, durch diese Reihen der Beter zu fahren. Sie stiegen also ab und schoben mit entblößtem Kopf ihre Räder weiter. —

Ich dachte nun auch daran, vorwärts zu kommen und mich zu den Männern zu gesellen; schon um keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen; und dann ein wenig zu erfahren, was da vorne vorgehe. Ich passierte also auf der Mitte der Straße den ganzen Weiberzug. Ein ganzes Orchester schlug an mein Ohr. Von der feinen jugendlichen Flöte bis zur ranzigen Bass-Klarinette. Gegen den kolossalen, tausendjährigen Rhythmus kam auch meine Seele nicht auf. Ich lief geknebelt, gebunden, wie ein dummes Schaf, durch die riesigen Käuer hindurch. Es war rein der akustische, rhythmische Effekt, der mich erstickte. Ich erinnerte mich an die Zeit meines Einjährig-Freiwilligentums, wo ich, innerlich angeekelt, auch jenem Moment mit Heftigkeit widerstrebte, der mich, nachdem ich beschimpft und gestoßen worden, auf billige Weise zu versöhnen gedachte, der Militärmusik. Aber ich unterlag. Dort wie hier. Und so lange die Militärmusik spielte, war ich nolens22 ein guter Soldat. — Oft wandte sich eines der Weiber, um zu sehen, wer hinter ihr auf den knirschenden Steinen dreintappe, nach mir um, und brüllte mir ihr „. . .Sündärr . . .", oder „. . . jetzt und in darr Stunde . . ." mit zorniger Sicherheit entgegen. Es lag ein gewisses Eschoffment23, eine gesteigerte, fieberhafte Hitze in diesen Kehlen und auf diesen Gesichtern; eine Erregung, wie sie die hundert- und aber hundertfache Wiederholung derselben Formel mit sich bringt, wobei die Sinne taub werden, das gesprochene Wort nur mehr einen mechanischen Wert erhält und die Rhythmik nicht länger im Gang bleibt, als der Speichel vorhält, ein Zustand, den die Derwische24 bei ihren Gebetsübungen mit voller Absichtlichkeit und bis zur Erschöpfung herbeiführen; den aber unsere abendländischen Beter, ohne anderes zu beabsichtigen, nur bis zu einer gewissen Steigerung erreichen. Aber ich bin sicher, dass, wenn in einem solchen Moment ein unkluges ketzerisches Wort fallen, ein unvorsichtiges Kommando gegeben würde, diese Weiber blindlings sich auf ein supponiertes25 Angriffs-Objekt stürzten.

Ich hatte jetzt den hintern Zug fast vollständig passiert; und war froh, wieder in etwas freiere Atmosphäre zu kommen. Vor lauter „Frucht Deines Leibes", „unter den Weibern", Jungfrau-empfangen hast", „Jungfrau-getragen hast", „Jungfrau-geboren hast"26, und dies, wie durch einen hundertfach fassetierten Reflex-Spiegel, in's Unendliche wiederholt, war ich ganz tappig geworden, und ein unangenehmer Geschmack war in meinem Mund. Die alten Gebär-Haus-Gerüche stiegen in mir wieder auf und ich kam mir vor, wie Einer, der aus einer Hebammen-Schule tritt. Wie voller Sexualität — sagte ich zu mir selbst — steckt doch diese Religion! Und wie begreiflich, dass die Weiber so zäh an ihr halten! Hier handelt es sich um ihre eigene Sach. Und hier können sie ihre geheimen Bettgeschichten und backofenwarm gehaltenen Windel-Gedanken offen auf der Landstraße laut herausplärren. — „Gebenedeiet unter den Weibern!" — Ja, da denkt jede zunächst an sich selbst! — Und wie begreiflich andrerseits, wenn die Männer von dieser weiblichen Religion sich bald abkehrten. Kann man, da gerade dieses sexuelle Gebet, das Ave-Maria, fast das einzige Gebet der katholischen Kirche ist, um das sich Alles Andere dreht, einem gesunden Mann zumuten, ein und dieselbe geschlechtliche Phrase hundert und tausendmal im Tage zu repetieren?!

Ich war jetzt dicht an die Männer herangekommen, und hatte sonach die kleine Distanz, die die Spitze der Weiberkolonne von dem Schluss der Männerabteilung trennte, ebenfalls eingeholt. Ich gedachte hier zu bleiben. Denn von hier konnte ich die Vorgänge in beiden Zügen beobachten. Vorne marschierte, mir jetzt sichtbar, der Kaplan, und der Fahnenträger, dessen mühsame Aufgabe darin bestand, den hochgesteckten, roten Wimpel unter allen Baumzweigen glücklich hindurchzubringen, und der von Zeit zu Zeit abgelöst wurde. Das Aufeinanderplatzen zweier Rezitations-Chöre an der Stelle, wo ich mich befand, erregte wieder meine ganz besondere Aufmerksamkeit: Derjenige, der zuerst den Vergleich des schnurrenden, plärrenden Wallfahrts-Gebetes mit Frosch-Gequake machte, war ein schlechter Musikant. Denn Erstens quaken die Frösche nicht sechs Stunden hindurch. Zweitens ist es unrichtig, zu behaupten, dass die Frösche bei ihrem Quaken nichts dächten. Drittens, und hier komm' ich auf das musikalische Gebiet, quaken die Frösche stets, harmonisch gesprochen, in Sekonden27, oder gleich in Oktaven. Hier aber hörte ich, besonders in dem Weiberzug, deutliche Terzen, reine und verminderte, und besonders tadellose Quinten, jenes uralte, asketische Interwall der mittelalterlichen Kirche. Aber auch die Reihe der Ober- und Unter-Töne ist hier viel reicher; das muss man der menschlichen Stimme lassen. Und gar bei den Männern drüben hörte ich auf Augenblicke manchen prächtigen Quint-Sext-Akord28. Mit dem Froschcharakter stimmte nur insofern überein, als auch hier ein lungenkräftigeres Fröschchen sein „riddeldididdeldidi" ganz erfreut und solo-sicher forterklingen ließ, während die bassstimmigen, ranzigen „röddeldöröddeldö röddeldö" der Hebammen und ungeschlachtigeren Chor-Weiber einen Moment aussetzten, um die Klarinette auszublasen.

Nun aber, Leser, mache Dich gefasst, Neues und Unerhörtes zu vernehmen, und setze Dich in Positur, damit Du nicht vom Stuhle fällst. Ich erwachte plötzlich aus meinen Träumereien und Erwägungen. Was war geschehen? Ich schaute um mich. Ich lauschte. Es war Alles still. Zum Aufschreien still. Der Rosenkranz war aus. Das Gebet zu Ende. Der Müller erwachte, als das rauschende Mühlrad stand. Ganz hinten zwar hörte ich ein blechernes Stimmchen sein „ribdeldiriddeldi" noch einen Moment fortspinnen; aber es schnitt plötzlich ab; bekam sozusagen Eine aufs Maul; merkte doch, dass es hier nichts mehr zu sagen hatte. Und nun ging's hinter mir an: „Ah, Frau Nachbarn, sie ist aa da?" „Jessas d' Kramerin, hab mer scho alleweil denkt, wo s' san" — „Grüeß Gott! — Grüeß Gott!" — „Wo isch denn d' Wabern?" — „I weiß itta! (Ich weiß nicht)" (In Dießen stoßen die beiden Dialekte des Alt-Bairischen und Schwäbischen zusammen. Der Altbaier sagt „net" für „nicht"; der Schwabe „itta". „I bin kei Zimmermann itta!" sagte mir diesen Morgen ein Mann, den ich bat, eine Bank zu reparieren, Aussicht" wird „nit", um aber auf dem „t" genügend lang verweilen zu können, braucht er, zum Abgehen, ein Schluss-„a"; also „nitta"; nun ist aber das „n" ganz überflüssig geworden; also „itta".) „Ah de schläft no im Bett; de isch a Fauln." — In diesem Moment huschte etwas links von der Straße über die Wiese her. Eine Dirn schürzte ihre Kleider, wagte den Sprung — ein großer, hoher Graben trennte sie von der Straße — und landete glücklich auf dem äußersten Rand der Schoßee29. Sie trug blendend weiße Strümpfe und Zeugstiefel. Es war das schönste Bein im ganzen Zug. „Jesses, d' Zensl kimmt aa no! — „„Sauber!"" sagte das Mädchen, und reihte sich lachend im Zug ein. Und nun begann das Weibergeschwätz und Kaffeebaserei, breitmäulig, seichtdumm, wie es die ganze Welt kennt. — Vorne, die Männer, waren noch nicht mit ihren Dekaden fertig; sie beteten ruhig weiter. Auf einmal hörte ich hinter mir das zornig gegebene Kommando „Beten! Beten! — Schamts Enk!" — Und die gleiche Stimme, ein altes, giftiges Weib, zeterte mit einer gewissen Verbissenheit: „Gägrüßt saist Du Marea — Du best voller Gnaden — der Harr ist mit Dir — Du best gebenedaiet unter den Waibern — und gebenedaiet ist die Frucht........" — aber es ging nicht; die andern folgten nicht. Die Kiefern waren lahm; es fehlte der Speichel; die Muskel waren ausgedörrt. Die Alte blieb allein; und gab es bald auf. Aber zu meinem größten Erstaunen hörte ich nach kurzer Pause von der selben Stimme die scharf prononcierten Worte: „Gilt für Eins!" — in welches einige Andere etwas zu spät kommend, sogleich einfielen. Dann wieder Pause. Eine Viertel Minute. Und nun unisono fünf, sechs Stimmen: „Gilt für Eins!" Ich war starr. Offenbar wollte die kleine Gruppe die Zeit nicht unbenutzt verstreichen lassen, maß in Gedanken die Zeit für ein „Ave-Maria" ab, und gab dann mit dem rechnerischen Advertissement der allerseligsten Jungfrau einen Wink mit dem Zaunpfahl. — „Gilt für Eins!" — traf es jetzt wieder mit der Sicherheit einer Wecker-Uhr zusammen. Mein Gott — rief ich — wie müssen die Leute ihre Göttin sich eigentlich vorstellen? — Nun mischen sich auch einzelne „Bitt für uns!" darunter. Aber immer unisono. Als war ein Zeichen mit dem Regenschirm gegeben worden. Immer eindringlicher, immer intensiver, und immer zahlreicher, und wie eine Aufforderung klang es durcheinandergemischt „Bitt für uns!" — Nochmals eine Pause. — Und nun brach der ganze Chor, wieder frisch restauriert, unisono, mit mächtiger Sicherheit, „Tritt gefasst", möchte ich sagen, wieder mit dem ganzen Gebet los: „Gägrüßt seist Du Marea........" Und die Walze lief nun ruhig und tadellos weiter. Die Alte hatte doch Recht behalten. Die zähe Energie siegt immer.

Inzwischen hatte man aber bei den Männern zu beten aufgehört. Jetzt waren die mit ihren Dekaden fertig. Alle bedeckten sich. Dies war hier das deutliche Zeichen der Pause. Und die Ratscherei begann nun hier. Man plauderte über Alles Mögliche. Verlachte die hinten plärrenden Weiber: „Hört's jetzt no net auf?!" Man guckte nach hinten. Man guckte nach vorne. Einige liefen in die Wiese; stellten sich an Bäume, oder verschwanden hinter einem Heuschober. Einige Weiber benutzten auch die Gelegenheit. Mit einem „.......Stunde des Abstärbens......" sprang die Eine über den Graben und suchte sich einen Weidenbusch. Andere rannten auch hinter den Heuschober; platzten zurück, als sie dort Männer in bestimmter Beschäftigung trafen; einige blieben dort. Das Gebet der Weiber wurde solchermaßen ziemlich gestört. Man hörte Schimpfen, Entrüstungen. Und schließlich hörte man auch hier zu beten auf.

Der Vortrapp war jetzt in Fischen angekommen. Die Kirchenglocke begrüßte die Durchziehenden mit feierlichen Klängen. Vor dem Dorf machte man kurz Halt und ordnete sich zusammen. Der fremden Gemeinde wollte man sich in seiner ganzen Gebets-Geschicklichkeit zeigen. Die richtigen Abstände wurden genommen. Voraus die Weiber. Dann nach zehn Schritten der große Trupp Männer. Schließlich noch eine Kohorte Weiber. Ich behielt meinen Platz. Nun ging's vorwärts. Alles begann jetzt wieder mit vollem Brustton das Gebet an die „vierte Person der Drei-Einigkeit", wie sie genannt wird, an die Jungfrau Maria: „Gägrüßt saist Du Marea... " Es ist ja sonst nichts zum Beten — da. In Fischen guckten die verschlafenen Jungens und blonden Mädchen aus den blinden Fensterscheiben heraus. Es war erst halb 7 Uhr. Der Wirt stund in weißer Schürze mit seiner Frau unter der Türe, und machte ein grimmiges Gesicht. Das sind schlechte Katholiken, bei denen nicht eingekehrt wird. Später, in Erling, welches dicht am Fuß von Andechs liegt, und wo Hunderte und Tausende von Hektoliter Bier während des Sommers verzapft werden, werden wir auf bessere Katholiken stoßen. Die Sonnenstrahlen machten sich jetzt geltend. Vielen troff der Schweiß von der Stirne. Und Mancher, wie der Schreiber dieses, hielt nicht nur des Gebets wegen den Hut in der Hand. Einige stürzten zum Brunnen und pumpten sich, unter dem Gelächter der Anderen, einige Mund voll Wasser. Wasser galt nicht gerade für infam. Aber doch nicht für schicklich. Einige Gruppen aus Fischen gesellten sich zu uns. Besonders ein Trupp junger Leute, von denen wir bald Näheres hören werden. Diese schlossen sich in meiner Nähe an. Ich selbst blieb am Schluss des Männer-Zugs, um nach beiden Seiten hin alles übersehen zu können. Kaum hatten wir Fischen passiert, und hatten uns, da hier die Seespitze erreicht war, nach Links, der Hügelgruppe zugewandt, in deren Richtung Andechs lag, so löste sich alle Disziplin. Das Beten wurde lau; man hatte sich bloß den Fischenern zeigen wollen; und einer der zuletzt gekommenen jungen Leute benützte die Gelegenheit, um durch komische Situationen den etwa noch vorhandenen Ernst sozusagen zu erschlagen. Mitten drin brüllte er plötzlich: „... Weibern...", als wäre er an der Stelle „... bist gebenedeit unter den Weibern... "; und als ihm natürlich höllisches Gelächter antwortete, tat er sehr überrascht, und beschwerte sich, dass man ihm allein das Beten überlasse u. dgl. Nachdem sich ähnliche Intermezzi wiederholt hatten, setzten die Männer ihre Hüte auf und ließen das Beten sein. Und hinten bei den Weibern wurde es ebenfalls still. Es ging jetzt bergauf. Man ließ sich etwas gehen; ging herüber und hinüber, tauschte die Plätze, und ein ungezwungener Diskurs begann.

In solchen Zwischenpausen, „Gewehr auf linke Schulter!", wurden auch die Distanzen nicht mehr eingehalten. Die Weiber, die während des Rezitierens einen genauen und geschlossenen Zwischenraum innehielten, näherten sich jetzt. Die Männer schauten zurück. Und es begann nun eine Unterhaltung zwischen vorn und hinten. Offiziell war dieses Verhalten nicht. Es sollten vielmehr die nach Geschlechtern getrennten Züge die Separierung in den Kirchenstühlen, wo die Männer rechts und die Weiber links sitzen, hier auf der Landstraße wiederholen. Denn was anderes, als eine auf die Schoßee29 geführte Kirche, und eine in Bewegung umgesetzte Frömmigkeit, war denn dieser Bittgang? Es war also Lumperei, was hier geschah. Und Lumperei folgte. Eine der Weiber, eine gutmütige Alte, war, den anderen vielleicht um einen Schritt voraus, bereits in die Reihe der Männer getreten, ohne ersichtlichen Grund. „Bleibst hinten, Alte, — sagte einer der jungen Leute — gelt, du bischt 'em Kaplan die sei'!" — und zu seinen Kameraden gewandt- „weischt, die schmeckt 'en wie d' Kuah, drum will s' alleweil vor." — (Der Kaplan ging vorne im Männerzug.) Heiteres Gelächter in den Reihen derer, die es hören konnten, war die Antwort. Die Weiber machten natürlich „Husch!" Schienen es aber nicht schwer zu nehmen. Hörten es vermutlich gerne.

Der Witz war nicht der, dass er dem Kaplan ein Weib zumutete. Über eine selbverständliche Sache kann man keinen Witz machen. Der Wiz war der, dass er ihm eine so alte zumutete. Die feststehende, unverrückbare Basis, auf der das Landvolk diese Frage behandelt, ist die, dass ihr Pfarrer nicht heiraten kann. Alles was folgt und folgen kann: Enthaltsamkeit, Fettsucht, Verblödung, Masturbation, Hurerei, Konkubinat, unehelicher Nachwuchs, Kindsmord, Meineid, Verführung schulpflichtiger Mädchen, Versetzung, Suspendierung, Zuchthaus etc. etc. werden als selbstverständliche Erscheinungen für sich betrachtet, wie, dass, wenn es regnet, es nass wird. Die Frage, was einträte, wenn der katholische Pfarrer heiratete, ist als Überlegung, als psychische Funktion, als Einführung einer neuen Größe in die Rechenaufgabe, für einen Katholiken, und wäre er der gebildetste, und wäre er der Kultusminister, unmöglich. Denn der katholische Pfarrer kann ja nicht heiraten. So ist katholisches Denken seit Jahrhunderten festgelegt. — Und auf wessen Autorität ist dieses Denken so festgelegt, war es, und wird es bleiben? — Auf die Autorität eines Italieners, eines Kardinals, der in Rom eine bestimmte Mütze aufhat. —

Wir, — und ich darf hier wohl im Plural sprechen — haben nichts dagegen, wenn, um einmal moralisch zu reden, oder zu konstruieren, oder aufs Naturrecht zurückzugehen, oder wie Sie's nehmen wollen, wenn ein katholischer Pfarrer, oder ein anderer Mensch, der nicht ehelich sein will, oder kann, oder darf, sich der freien Liebe ergibt. Aber, dass er es unter einer himmlischen Devise tut, damit er, wie die Kirche sich ausdrückt, den „Leib der Hure", und den „Leib Christi" nicht gleichzeitig berühre, — um sie dann beide erst recht zu berühren — dagegen sträubt sich das moderne Bewusstsein. —

Eine ekelhafte, zum Brechen geneigte Stimmung hatte mich anfangs erfasst. Es war mir jetzt wieder wohler. Wir waren im Wald und marschierten gegen Osten. Es ging leise bergan. Die Sonne brach durch das frische Frühlingsgrün. Nach den Regengüssen der letzten Tage stand Alles im üppigsten Flor. Bittgänge für Regen, wie sie Jahrs vorher in Masse abgehalten worden, und nichts genützt hatten, waren dies Jahr nicht nötig. Der Weg war feucht, die Luft frisch und erquickend. Und doch fühlte man, dass die größere Hitze noch kommen werde, dass der Kampf noch bevorstand. Es ging jetzt auf acht. Bergauf da erlahmte auch der gelenkigste Gebets-Eifer. Wie Zugtiere schleppten wir uns hinauf. Glücklich, Sauerstoff, geschweige „Ave-Maria"-Dekaden, zu erhaschen. —

Und doch haben es die Leute, wie ich später erfuhr, selbst die Saumseligsten unter ihnen, auf 11 Rosenkränze gebracht; d.i. auf 11 mal 5 mal 10 „Ave-Marias", ohne das Beiwerk, die ,Vaterunser", die „Ehre sei dem Vater", einige später zu erwähnende Spezial-Gebete, wie das dreimal „Heilig", und, was die „drei Perlen der Berloke17" enthalten. Da nun das „dreimal Heilig" 100 Tage Ablass30 einbringt, ( Maurel, A., P. Priester der Gesellschaft Jesu, Die Ablässe und ihr Gebrauch. Paderborn 1884. 8. Auflage, p. 103) das „Ehre sei dem Vater", welches in jedem Rosenkranz 5mal, in 11 also 55mal, jedesmal 100 Tage einbringt, zusammen also 5500 Tage, (Maurel, a.a.O., p.105) jedes ,Vaterunser" im Rosenkranz, welches daselbst 5mal vorkommt, in 11 also 55mal, jedesmal 100 Tage vergütet, zusammen also 5500 Tage, (Maurel, a.a.O., p.229) und letztlich jedes „Gegrüßt seist du Maria", welches im Rosenkranz 50mal, in 11 also 550 mal erscheint, jedesmal nach dem Breve „Sanctissimus" Papst Benedikts XIII., vom 14. April 1726, 100 Tage einbringt, also zusammen 55 000 Tage, (Maurel, a.a.O., p. 229) die vier Posten addiert 66100 Tage, so hat jeder, auch der Saumseligste, im Bittgang vom Pfingstdienstag 181 Jahre Sündenstrafen-Nachlass errungen, also Straf-Freiheit für hier oder im Fegfeuer auf 6 Menschenalter, d.h., wenn er das so Gewonnene für sich benützen will, und beispielsweise 40 Jahre alt ist, auf 30 Jahre im voraus (wenn er, sagen wir, 70 Jahre alt wird); d.h. er braucht die dazu gehörigen Sünden nur noch zu begehen. Ungerechnet den „vollkommenen Ablass", den er nach einem Indulgenz-Brief des 14. Benedikt vom Jahre 1750 (der weiter unten noch zur Sprache kommen wird) durch den Besuch der Wallfahrtskirche Andechs selbst erringt. Und ungerechnet die Zahl der Seelen, die er, je nach seinen Mitteln, eine Mark pro Seele, auf dem Wallfahrtsberg selbst aus dem Fegefeuer erlösen will.

Ein Gedanke schoss mir hier durch den Kopf, als ich diese müden, abgearbeiteten, krummen, buckligen Bauern sich ächzend den schmierig-gewordenen Weg hinauf arbeiten sah: „Um diese Ablässe zu gewinnen — schreibt Maurel — muss man einen Rosenkranz haben, der von den Vätern Dominikanern, oder von einem hierzu von ihrem General bevollmächtigten Priester eingesegnet ist." (Maurel, a.a.O., p.230.) Nun nehme man an, so ein abgerackerter Bauer, so ein armer Teufel, benützt aus Unachtsamkeit, oder Vergesslichkeit, oder Versehen, einen ungeweihten Rosenkranz, und betet sich an den Sonntagen und in den freien Stunden seines Lebens seine 2000 Jahre Sünden-Strafen-Nachlass zusammen (dies ist bei einigem Fleiß und als Mitglied einiger Bet-Bruderschaften leicht zu erreichen; hat doch ein Jesuit eo ipso31 Anteil an sämtlichen auf der ganzen Welt verliehenen Indulgenzen und Ablässen, ohne den kleinen Finger oder Zahnluke zu rühren) und kommt nun im Jenseits an, in der Hoffnung, den mühselig errungenen Lohn für sich und seine Familie einzustreichen — vielleicht hatte er ein paar gottlose Rangen und eine kiefernkranke Schwiegermutter, für die er zu sorgen hatte — und muss nun hören: Lieber Freund, deine ganze Arbeit war umsonst; du hast mit einem ungeweihten Rosenkranz gebetet! — Die Situation für diesen armen Teufel, in der Auffassung eines überzeugten Katholiken, ist einfach grässlich! —

Wir waren jetzt mitten im großen, schönen, grünen, deutschen Wald. Die Vögel jubilierten, und die Maiglocken dufteten aus dem Dämmerlicht heraus. Stämme, gegen die wir wie Zwerge erscheinen mochten, schossen kerzengerade in die Höhe, und reichten sich hoch über unseren Häuptern die grünbefiederten Arme. Die eine oder andere Eiche mochte dabei gewesen sein, die noch den alten heidnischen Natur-Dienst der alten Germanen an derselben Stelle miterlebt hatte. Was musste sie denken, als sie dieses zählende, rechnende, mit ihrem Gott um ein Vaterunser feilschende Geschlecht — „Gilt für eins!" Jetzt hast du eins gut. — „Morgen betrüg ich beim Pferdehandel." — Jetzt hab ich Eins gut. — unter sich hinwinseln sah? Ein Glück, dass die Sonne hell am Himmel stand. Wäre Thonar32 über die Wipfel hingefahren, er hätte seinen schweren Hammer auf diese Ablass-Köpfe fallen lassen, und ihnen den Weihrauch aus der Nase getrieben.

Es wurde Halt gemacht. Die Höhe war erreicht. Die Passhöhe. Die Wasserscheide. Vielleicht war es dies Wort, welches Manche anregte. Viele, Männlein und Fräulein, sprangen aus und verschwanden hinter den Büschen. Andere aber, die orts- und wegkundig waren, verschwanden hier auf Nimmerwiedersehen. Sie kannten kürzere Pfade, um Andechs zu erreichen. Und ihnen war es nicht um die „Dekaden", um den „vollkommenen Ablass", noch um die 181 Jahre Nachlass zeitlicher Sünden-Strafen zu tun. Sie wollten wissen, wie das Kloster-Sommerbier dies Jahr geraten sei. Sie wussten, dass, wenn sie heute im Rausch ihren Kameraden mit dem Messer zwischen die Rippen figelieren, sie eingelocht werden, und der Amtsrichter nichts weniger wie geneigt ist, das Strafmaß an den erplapperten Jahren zeitlichen Sünden-Strafen-Nachlasses in Abzug zu bringen. Und gegen die transzendentale Abrechnung hatten sie ein tiefgegründetes Misstrauen. Hier klafft die Wunde der katholischen Kirche. Dass die weltliche Gerichtsbarkeit die Sünden-Hotel-Rechnungen der Geistlichen nicht mehr respektiert. Und dass — o Jammer! — die Geistlichen selbst die frühere Immunität von dem weltlichen Richter verloren haben, und wie Bauern, nicht wie „Götter", wie sie sich früher nannten, vor den Schranken des deutschen Reichs-Straf-Gesetz-Buches erscheinen müssen.

Doch der Schäflein waren noch viele. Und neuerdings ging es mit frischem Mut und neugeölten Kiefern mit „Gägrüßt saist du, Marea ..." vielhundertstimmig den Kamm entlang. Bald kam man wieder ins Freie. Der Weg senkte sich ins Tal. Man ging zwischen reich bestandenen Feldern, die in der Morgensonne glitzerten. Und in der Ferne erschienen die Kirchtürme von Erling, welches am Fuß des Klosterberges selbst liegt. Die Stimmung wurde jetzt immer gehobener. Der Kaplan ging in der Mitte der Straße mit „Kurz getreten", und ließ so die ganze Prozession rechts und links an sich vorbei. Dies hatte wohl die Bedeutung einer Okular-Inspektion, um die Leute zu vergewissern, dass sie gesehen werden. Später kam er wieder nach vorne. Während einer der folgenden Pausen kam ein Mann, der auch im Zuge war, und mich längere Zeit beobachtet hatte, ohne dass es auffiel, neben mich und sagte: „No, was denkt der Herr über's Wetter?" — Ich denke, dass es schön bleibt, sagte ich. — „Ja, — meinte er, und beäugelte mit großem Ernst den Himmel — mer kann no nix saage; heut' bleibt's; aber für morge, 's sie no z'viel Nebel da, kann mer nix saage." Dann nach einer Pause — „Der Herr is wohl nit aus Dießen!" Nein, — sagte ich — ich bin nur zufällig in Dießen; und habe die Gelegenheit benützt, um den Bittgang mitzumachen. — „No, und wie g'fallt's Ihna?" — Sehr schön, sehr schön! — „Ah, das ischt an andere Wallfahrt!" —und nochmals mit großem Nachdruck — „Ah, das ischt an andere Wallfahrt!" — Er meinte, eine schönere könnte ich wohl nicht leicht sehen. — Er benützte dann eine Gelegenheit, und entfernte sich wieder in unauffälliger Weise. —

Wir kamen jetzt nach Erling. — Es musste vorne ein Zeichen gegeben worden sein: Jetzt, nach drei Stunden, kam ein neues Gebet, das Schlussgebet zum Hinaufziehen den Berg. „Heilig — heilig — heilig — ist der Herr Gott Zebaot!" Es wirkte, nach dem stundenlangen Winsel- und Jungfraugebet wahrhaft erquickend. Die Kirchenglocken von Erling begrüßten uns, wie in Fischen. Alles schaute aus den Fenstern. Viele in festlicher Kleidung. Es war schon bald Zeit zum Früh-Amt. Die Wirte mit Frau und Kellnerinnen, alle in weißen Schürzen, stunden unter ihren Türen und betrachteten uns. Sie machten fröhliche Gesichter. Jeder Zug ist für sie ein Ausschank von etwa hundert Hektoliter. Es waren brave, tüchtige Katholiken. Einige junge Leute stürzten aus dem Wirtshaus auf uns zu mit dem Ruf: „Jetzt wolle mer aber fescht bette!" Brüllend mischten sie sich in den Zug. Es ging den Berg hinauf. Oben wurde eine weiße Gestalt sichtbar. Es war der Kaplan, oder ein Geistlicher von Andechs, der uns entgegenkam, und Alle mit Weihwasser bespritzte. Auf Bänken, Mauern, Linden, erhöhten Grasflächen, Bastionen stand alles Kopf an Kopf, um uns einziehen zu sehen. Man ging einen mit schweren Kieseln bepflasterten engen Burgweg hinauf. „Die Dießener! — Die Dießener!" rief es von allen Seiten. Die Kirche von Andechs mit ihrem hohen Turm, und dem schlossartig emporragenden Klostergebäude wurde dicht über unseren Köpfen sichtbar. Eine geschäftige Eile bemächtigte sich jetzt Aller. Noch immer klang es „Heilig — heilig — heilig!" Eine Kellnerin mit schäumend gefüllten Maßkrügen in jeder Hand passierte blitzschnell den Weg. Ein kleines Mädchen mit ellenlang aus ihrem Körbchen hervorstarrenden Brotlaiben befand sich plötzlich mitten im Zug. Es schien sie nicht weiter zu genieren. Eine Frau kam aber rasch und holte sie heraus.


Abb.: Kloster Andechs. -- 1907

[Bildquelle: Sattler, Magnus <1827 -1901>: Das Büchlein vom heiligen Berge Andechs : Auszug aus d. Chronik d. P. Magnus Sattler O. S. B. / Mit e. neuen Verz. d. Reliquien u. Erg. zur Chronik vers. von Augustin Engl. -- 13. unveränd. Aufl.. -- Kloster Andechs : Wallfahrtsverl., 1930. -- 120 S. : Mit 36 Holzschn. ; kl. 8 + 4 Autotypiebeil. -- Nach S. 104]

Jetzt war man oben. Schnurstracks ging's zum Kirchenportal. Und da hinein. Hinter uns senkten sich zwei rote Fahnen, und gingen uns nach, Niemand außerhalb des Zuges passieren lassend. Noch einen kurzen, schmalen Gang. Und jetzt war man in der Wallfahrtskirche von Andechs.


Abb.: Erinnerungsbildchen "Die Wallfahrtskirche auf dem heil. Berg zu Andechs"

Ich müsste lügen, und meinem mir selbst gegebenen Versprechen, nur einige Sensationen, und diese ganz, wiederzugeben, untreu werden, wollte ich verschweigen, dass der erste Eindruck ein überwältigender war. Eine Summe von Farbe, Pracht, kühnen und reizenden Formen, das Ernste und Tiefsinnige von der heitersten, ausgelassensten Seite aufgefasst, überall hervorsprudelnd und quirlend, und alles überflutet von dem Sonntagsgewand der Sonne, so stürmte es auf die Seele des Neulings. Es war wie in Richard Wagner's „Liebesmal der Apostel"33, wo nach stundenlangem ertötenden Vokalsatz der Männerstimmen das Ungewitter plötzlich bei den Violinen beginnt und nun fegend und rasend ein Orkan von Empfindungen uns das Herz stürmt. Es war nichts Religiöses, oder Ernstes, oder Feierliches, was uns überkam, sondern das helle Entzücken; der reine Affekt, zunächst noch inhaltleer; das Blut schäumte. Welcher Unterschied — sagte ich mir — zwischen jenen erstarrten, schottischen Mönchen, die im 6. und 7. Jahrhundert die neue Entsagungs-Lehre mit der Düsterkeit und den Nebelzügen ihres Klimas mischten, und, in wörtlicher Befolgung des Bibeltextes, ohne Unterlass beteten und sich nicht mehr zu rühren wagten, so dass man sie in das sonnige Italien abführen musste, — und diesen Jubel- und Farben-Exzessen, diesem Geflirr und Gefunkel, diesen Trompeten-Fanfaren in der Messe und — ich sage kein Wort zu viel — dem Cancan-Tanz der göttlichen Familie auf den Balustraden. Es war ein Rokoko-Interieur in der üppigsten Ausgelassenheit.


Abb.: Gnadenbild am untern Altar

[Bildquelle: Sattler, Magnus <1827 -1901>: Das Büchlein vom heiligen Berge Andechs : Auszug aus d. Chronik d. P. Magnus Sattler O. S. B. / Mit e. neuen Verz. d. Reliquien u. Erg. zur Chronik vers. von Augustin Engl. -- 13. unveränd. Aufl.. -- Kloster Andechs : Wallfahrtsverl., 1930. -- 120 S. : Mit 36 Holzschn. ; kl. 8 + 4 Autotypiebeil. -- Nach S. 80]

Auf dem Hochaltar thronte, längst die Person der Drei-Einigkeit verdrängt habend, in wuchtigen Schnitzformen die Maria.


Abb.: Hochaltar, Klosterkirche Andechs [Bildquelle: http://www.andechs.de/kloster/kirche/kirchenfuehrung_erdgeschoss.html. -- Zugriff am 2004-12-30]

In der ersten Etage, wo eine zierliche, mit reizenden Flachreliefs geschmückte Galerie herumlief- Bel-Etage konnte man sie mit Recht nennen — thronte auf dem Hauptaltar wiederum die — Maria.


Abb.: Gnadenbild am obern Altar

[Bildquelle: Sattler, Magnus <1827 -1901>: Das Büchlein vom heiligen Berge Andechs : Auszug aus d. Chronik d. P. Magnus Sattler O. S. B. / Mit e. neuen Verz. d. Reliquien u. Erg. zur Chronik vers. von Augustin Engl. -- 13. unveränd. Aufl.. -- Kloster Andechs : Wallfahrtsverl., 1930. -- 120 S. : Mit 36 Holzschn. ; kl. 8 + 4 Autotypiebeil. -- Nach S. 88]

Und hoch, hoch oben erkannte man erst in gipserner Zierlichkeit Gott Vater und Christus, aber nicht missmutig über die Deplatzierung, sondern hocherfreut und mit eleganten Turnerkünsten beschäftigt. Zwischen Beiden, wie ein weißangestrichener Joot-ball, schwebte die Weltkugel. Und Gott Vater, von seinem Ballustradensitz sich weit vorbeugend, schien zu seinem Sohn, auf die Weltkugel deutend, hinüberzurufen: „Regardez, mon fils, ce monde; c'est moi qui l'a fait!34" — Und Christus mit freudigem Herüberneigen, die beiden Hände entgegenstreckend, schien zu antworten« „Ah, vraiment, mon cher pére, c'est bien charmant, vous-etes un artiste!"35 Ich kann den Eindruck gar nicht anders wiedergeben. — Rechts und links, mit dem äußersten gipsernen Poderchen auf dem vergoldeten Gebälk aufsitzend, wiegten sich in luftigen Kleidchen, die nackten Beinchen herausstreckend, zwei Engel, und schienen mit zu den Lippen geführten Händchen, wie zwei Artisten-Kinder, den Beifall der zahlreich versammelten Menge zu erwarten. Die Dell'Era36 hätte eine Freude gehabt an diesem himmlischen Ballett-Chor.

Und so war der Schmuck und die Auskleidung ringsum; stellenweise mit architektonischen Details, wie vergoldeten Erkerchen u. dgl. in der Galerie-Höhe, in entzückender Weise ausgeschmückt. Auf der Galerie-Außenseite, wo unter anderem das Wort Mons sanctus37 in großen Goldbuchstaben zu lesen war, lief ein Zyklus die Hauptmomente der Klostergeschichte illustrierender Öl-Bilder von etwas hartem und rohem Gepräge. Dagegen sind die im Stil an die Gebrüder Asam38 des vorigen Jahrhunderts erinnernden Wand- und Decken-Fresken stellenweise von feiner künstlerischer Empfindung. Die derzeitige Anlage des Kirchen-Inneren stammt aus den Jahren 1751 bis 1754, aus der Regierungszeit des Abts Bernhard Schütz. Erwägt man, dass in diesen farbenüberfüllten, lichten Räumen im vorigen Jahrhundert Passionsspiele auf eigens konstruierter Bühne unter dem Zulauf von Tausenden stattfanden, dann begreift man, wie die von jesuitischen Architekten, Künstlern und Schauspielern geleitete gegen-reformatorische Bewegung das blöde Volk in den Banden der katholischen Kirche, der seit der deutschen Reformation der ethische Gehalt geschwunden war, festhalten konnte; an Gips, Farbe, Prunk ersetzend, was an wirklicher Herzensbildung verloren gegangen war.

Reich ist die Zahl der Reliquien und wundertätigen Bilder, deren sich Andechs rühmt.


Abb.: Monstranz mit den heiligen drei Hostien, Andechs

[Bildquelle: Sattler, Magnus <1827 -1901>: Das Büchlein vom heiligen Berge Andechs : Auszug aus d. Chronik d. P. Magnus Sattler O. S. B. / Mit e. neuen Verz. d. Reliquien u. Erg. zur Chronik vers. von Augustin Engl. -- 13. unveränd. Aufl.. -- Kloster Andechs : Wallfahrtsverl., 1930. -- 120 S. : Mit 36 Holzschn. ; kl. 8 + 4 Autotypiebeil. -- Nach S. 24]

Obenan stehen „die wunderbaren heiligen drei Hostien" in einer 20 Pfund schweren, silbernen Monstranz; ehemals in Bamberg; eine dieser Hostien ist diejenige, die Papst Gregor der Große im 6. Jahrhundert in wirkliches Fleisch verwandelte. Eine römische Matrone hatte nämlich gelacht, als ihr der Papst die Hostie reichte. Der Papst frug, warum sie lache. Sie sagte: ich hab das Brot selbst gebacken; ich bin die Bäckerin. Darauf zeigte ihr der Papst die Hostie als Fleisch. — Tableau. —

Ferner sind bemerkenswerte Gegenstände:

im Ganzen 132 Nummern! (Chronik von Andechs, p. 772-788.)


Abb.: Reliquien der Dornenkrone und des Spottszepters Christi

[Bildquelle: Sattler, Magnus <1827 -1901>: Das Büchlein vom heiligen Berge Andechs : Auszug aus d. Chronik d. P. Magnus Sattler O. S. B. / Mit e. neuen Verz. d. Reliquien u. Erg. zur Chronik vers. von Augustin Engl. -- 13. unveränd. Aufl.. -- Kloster Andechs : Wallfahrtsverl., 1930. -- 120 S. : Mit 36 Holzschn. ; kl. 8 + 4 Autotypiebeil. -- S. 55]

„Überhaupt — sagte der vorzeigende Pater — ist von Christus und seinem Kreuzestod überall etwas vorhanden, von der Beschneidung angefangen bis zur Dornenkrone". —

In der dickleibigen „Chronik" blätternd finde ich aufs Gratewohl folgende Dinge:

„Auf dem von Rothenfeld östlich gelegenen Anger zeigte sich (1748) eine Anzahl von Würmern von furchtbarer Gestalt und Dicke, aus dem Boden herauskriechend. Der Abt wendet sich an das Kloster Füssen und erbat sich den Stab des heil. Magnus, mit dem ein Bittgang durch die Felder veranstaltet wurde" (p. 572).

 „Eine drohende Viehseuche — Lungenbrand — veranlasste (1748) die Erlinger zu länger andauernden öffentlichen Gebeten bei den heiligen Hostien" (p. 572).

 „Ein anderes Übel, welches um diese Zeit (1749) in Baiern großen Schaden anrichtete, war eine Heuschreckengattung, etwas größer als die einheimischen, welche in solchen Maßen sich bemerkbar machten, dass sie manchmal die Sonne zu verfinstern schienen. Das Geläute der Glocken bewirkte, dass sie sich nicht auf den Boden niederließen" (p. 572).

„Dr. Braunschober, ein reicher Arzt von München, seines vorgerückten Alters wegen des Stadtlebens überdrüssig, zog (1747) in das Canonicat zu Dießen. Ihm verdankten die Chorherren besonders das Geheimmittel zur Herstellung des später so berühmt gewordenen Dießener Balsams, welches ihnen Tausende von Gulden eintrug" (p. 570).

 „Der Briefwechsel mit den Klosterfrauen auf dem Lilienberge wurde (1747) untersagt" (p. 568).

 „Der Abt Bernhard Schütz überließ (1748) einen Teil der Kinnlade des heil. Vitus der Pfarrkirche Erling" (p. 571).

 „Der Abt erhielt (1749) durch ein besonderes Schreiben des Bischofs Joseph die Fakultät39, auf 5 Jahre von der Häresie, jedoch nicht von dem Rückfalle in dieselbe, zu absolvieren" (p.571).

„Als die Wallfahrer von Erling (1749) beim Übergang über den Bach über einen Steg schritten, fiel der 15jährige Stiefsohn des Amtsdieners ins Wasser und kam in große Gefahr; man sah ihn bloß noch seine Hände aus dem stark strömenden Wasser emporstrecken, so dass alle Anwesenden ihn verloren gaben. P. Meinrad, der als Pfarrer die Wallfahrer begleitete, machte ein Gelübde zur Ehre der Mutter Gottes in Andechs, (Dies ist ein hölzernes Bild; da außerdem eine Mutter Gottes in Andechs nicht bekannt ist.) und sofort trieb die Strömung den Jüngling auf festen Boden, von dem er mit klarem Bewusstsein sich bald erheben konnte" (p. 573).

„Ein Klosterrichter aus der Umgegend hatte dem Kloster 1000 Gulden geliehen; kurz vor seinem Tode (1759) schenkte er die Summe dem Kloster gegen das Versprechen, dass für ihn 1000 Seelenmessen gelesen werden" (p. 597).

„Im Jahre 1755 wurden während einer Feierlichkeit in fünf Tagen 60000 Hostien gebacken und verabreicht: die Zahl der Wallfahrer während dieser Zeit betrug 80 000. Franziskaner von München halfen dabei aus: „Einer von diesen fühlte sich eines Nachmittags unwiderstehlich vom Schlafe gequält. Nachdem ein Bauer sein Bekenntnis abgelegt hatte, sagte er zu ihm ,Mein Lieber! Ihr verdient zwar keine große Buße, aber ich habe eine dringende Bitte an euch; da ich schon fünf bis sechs Tage beständig Beicht höre und keine Zeit zum Schlafen finde, so bin ich gerade schrecklich vom Schlafe geplagt; seid so gut und betet hier im Beichtstuhl einen Rosenkranz, damit ich einige Minuten dem Schlaf mich überlassen kann; wenn ihr fertig seid, so wecket mich; ich werde euch von Herzen danken." Es geschah nach seinem Wunsche und der Pater wurde wieder fähig, sein Geschäft fortzusetzen" (p. 584-585).

U.a.m.

Das „Amt"40, welches für die Dießener gehalten wurde, war vorbei. Die singenden Jungens auf dem Chor hatten sich soweit gut gehalten. Diese Landmessen sind bei der entschiedenen musikalischen Begabung der Bevölkerung recht gut zum Anhören. A capella-Singen trifft man sehr häufig. Trompeten und sonstiges Blech zetert oft ungebührlich hinein. Die Leute verliefen sich. Die Einen liefen zum Reliquien-Besuch. Andere beguckten die Votiv-Bilder, die, auf mehrere Jahrhunderte zurückgehend, in zahlloser Menge an Wänden und auf Stiegen herumhängen. Diese verdienten wegen ihrer Originalität — könnte man sie jetzt schon wie etwas Historisches besprechen! — ein eigenes Kapitel. Da fährt z. B. auf dem einen Bild ein eleganter Reisewagen über den Wiesenplan; Stil: 7jähriger Krieg; zwei elegante Kavaliere mit gepuderten Perücken und Spitzhut sitzen drin; vier Goldfuchsen, deren Hälse die unglaublichsten Verkrümmungen machen, sind im Durchgehen begriffen. Hinter dem Wagen rennt ein Pater in schwarzem Habit mit beschwichtigenden Händen drein. Oben in den Wolken die Jungfrau mit dem Kind, Szepter, Krone, Krönungsmantel, schaut in impassibler, zeremonieller Haltung der Szene zu. Auch hier „hat die Mutter Gottes von Andechs geholfen." Oder etwas Ländliches: Ein Bauer und eine Bäuerin knieen im Profil, die Hände gefaltet, sich gegenseitig anschauend, auf einer Wiese. Zwischen ihnen 12 wohlgezählte Wickelkinder, gleich groß und nummeriert, aufrechtstehend wie hingesetzte Eier, in einer Front herausschauend; rechts der Bauer, links die Bäuerin, oben die Mutter Gottes. Man weiß nicht, verloben die Zwei sich gegen das Dreizehnte, und führen das erste Duzend als Beweismaterial vor; oder bitten sie mit den Kleinen um besseren Graswuchs für die Kühe. —

Oben auf der Galerie drängt sich die Menge an dem Altar-Bild der Mutter Gottes vorbei. Jeder wirft ein Stück Geld auf eine große, mit Münzen fast gefüllte Schüssel, und berührt dann mit der Hand ein wundertätiges Sakramenthäuschen. Auf dem Altar selbst wird eine Feiermesse nach der anderen gelesen. Zur Zeit ist dies nur an zweien Altären möglich. Aber an den drei Himmelfahrtstagen kann von jedem der sechs Altäre der Kirche aus je eine Seele auf einmal, aber beliebig viele nach einander, aus dem Fegfeuer gezogen werden: Aber nur durch Spezial-Erlaubnis des Papstes — die viel Geld kostet — ist diese Transaktion möglich. Es ist dogmatisch nicht sichergestellt, ob die Leitung ins Jenseits von Andechs über Rom, oder direkt von Andechs ausgeht. —

Wir verlassen dies Schauspiel der zahlenden Menge, des lispelnden Priesters, und wenden uns dem Ausgang zu. Rechts, noch vorher, starren uns aus einem dunklen Verließ die mannsdicken, aufrechtstehenden Wachskerzen der bairischen Kurfürsten an, mit verflossenen Mienen, mit erstarrten Grimmmaßen, wie Repräsentanten aus einem Wachsfigurenkabinett. Über dem Ausgang prangt, dem Eintretenden zuerst sichtbar, in großen goldenen Lettern die Inschrift: „Indulgentiae plenariae. Vollkommener Ablass." Und neben an der Wand hängt eine Kopie und Übersetzung des Indulgenz-Briefes Benediktes XIV. vom Jahr 1755, wonach „Ihro Päpstliche Heiligkeit allen und jeden Christgläubigen Wahlfahrteren, an was immer für einen Tag des Jahres sie den Heiligen Berg Andechs besuchen, alle Jahr einmal vollkomnen Ablass verleihen und Nachlassung aller Sünden-Strafen." —

Draußen herrscht lauter Jubel und ein buntes Treiben. Die Verkaufsbuden schließen dicht an die Kirchenwand an, und sind belagert von einer neugierigen Menge. Alles nur Denkbare, was mit dem Wallfahrtsort in Bezug gebracht werden kann, Bilder, Kerzen, Bücher, Figuren, Schnitzereien, Votivgegenstände werden hier feilgeboten. Und oben, das Innere der Buden geradezu verfinsternd, hängen schnurartig die unendlichen Reihen der Rosenkränze.



Abb.: Andechser Kloster-Boutique™ [Bildquelle: http://www.andechs.de/download/klosterboutiqe-broschuere.pdf. -- Zugriff am 2004-12-30]

Das Kloster hat eine eigene Verkaufsstelle im Innern seiner Räumlichkeiten, wo allein drei Fratres alle Hände voll zu tun haben. Das Geschäft geht enorm. Ich sah junge Bauernmädchen Bilder u. dgl. dutzendweise erwerben, da alle zu Hause Gebliebenen bedacht werden sollen. Neue Züge Pilger, entfernter wohnende Gemeinden, kommen an und werden in die Kirche geleitet. Auf dem Plateau des Berges, der kugelförmig ansteigt und ringsum gänzlich abgeschlossen ist — es war früher die befestigte Burg der Grafen von Andechs — entwickelt sich immer regeres Treiben. Die Zahl der Einzel-Besucher ist fast so groß wie die der geschlossenen Züge. Man lagert am Rasenboden, den Abhang hinunter. Die Bänke auf der Südseite, wo man eine schöne Aussicht gegen den Starnberger-See zu genießt, sind schon dicht besetzt mit einer schwatzenden, lärmenden, sich lustierenden Menge.


Abb.: Emailschild "Kloster-Brauerei Andechs" [Bildquelle: http://www.andechs.de/download/klosterboutiqe-broschuere.pdf. -- Zugriff am 2004-12-28]

Hinter uns, gegen Erling zu, das mächtige Bräuhaus und die Wirtschaftslokalitäten. Die eigentlichen Pilger haben vielfach Mundvorrat mitgebracht. Aber auf das Klosterbier sind alle angewiesen. Ganze Züge, die keinen Platz mehr finden, gehen in das dicht am Fuß gelegene Erling, welches heute, wie in früherer Zeit, ganz vom Kloster abhängt. Und die Leute vertilgten hier ganz unglaubliche Quantitäten. Es war einer jener Heuschrecken-Züge, von denen oben in der „Chronik" die Rede war, die alles auffraßen, und wobei die Glocken geläutet werden. Aber diese Heuschrecken-Züge bezahlen. Auf dem Nach-Hause-Wege soll es noch toller zugehen, wie mir ein Dießener berichtete. Viele traten schon mit heißem Kopf den Rückweg an. Kommen dann lechzend und schweißgebadet nach Fischen. Stürzen dort in die Wirtshäuser. Wie es geht; wenn einmal auf dem Marsch getrunken wird, muss immer neu nachgegossen werden. Bis sie herauskommen, ist die Spitze der solideren Beter längst voraus. Fluchend, schimpfend und betend eilen sie hinterdrein. Und für Duzende endigt dann die Wallfahrt im Straßengraben.



Abb.: Andechser Bier

........vertilgten hier ganz unglaubliche Quantitäten — sagte ich oben. — Wenn nur die Herzensangelegenheit in Ordnung ist, dann geht das übrige Leben in seiner kolossalen Brutalität weiter. Wenn du nur die Indulgenz30 in der Tasche hast, dann bist du gepanzert und gesichert gegen alle Fährlichkeiten; dann lass deinen Begierden ihren Lauf, sei Bestie oder Schlange, Hund oder Schakal. Hast du genug, dann gehst du wieder wallfahrten, gebrauchst das katholische Laxiermittel41, und deine Schakal-Seele wird wieder unsterblich. — Überlegt man das barbarische Rezept, die rosskurartige Behandlung der Psyche, so muss man sagen: für die Zeiten, da diese Geschlechter selbst nicht viel besser wie Tiere waren, in den früheren Jahrhunderten, da diese Menschen wie Wilde in ihren ungerodeten Wäldern saßen, die Adeligen und Freien Viehtreiber waren, und selbst die Geistlichen, wie zu Bonifaz'42 Zeiten, nicht wussten, ob es „in nomine" oder „in homine domini Jesu Christi"43 hieß, war diese Dreschflegel-Religion, welche die Menschen einmal im Jahr an den Altar hinzwang, um für's Jahr absolviert zu werden, eine vortreffliche Sache und ein Fortschritt für ihre Psyche. Aber heute, für unsere mimosenhafte Seele, für die durch tausendfache Kultureinflüsse so empfindliche Reaktion unseres Geistigen, wie sie auch die mittleren, ja die niederen Stände, erfasst haben, ist diese „Geh-mer-fort-und-kauf-mer-was"-Methode in der Religion eine unsägliche Rohheit. Hieran wird die katholische Kirche, die sich nicht mehr ändern kann, zu Grunde gehen. An diesem harten Formelwesen, welches einer höheren Auffassung unfähig, wird sie wie ein Stück altes Eisen, welches die Biegung nicht mehr mitmachen kann, zerbrechen. Hier steckt ein Stück des Böoziertums44 der Süddeutschen; selbst bei den Gebildetsten. In diesem starren Formelwesen, welches aus dem 10. Jahrhundert stammt, und welches auch ihren Geist in Fesseln schlägt. Ja, selbst bei den Gebildetsten. Sei du Minister! Und gehe du in der Fronleichnamsprozession mit Geklingel und Geblase hinter dem gestickten Bischof drein; und dann sieh du zu, wessen — minister45 du bist! Um das Credo46 kümmern sie sich zwar nicht. Und beichten, auch nur einmal im Jahr, — fällt ihnen, den gebildeten Klassen, nicht im Traume ein. Aber das Schema dieses psycho-somatischen Austauschs, das haben sie alle in sich. Und die Knabenjahre im Beichtstuhl, die haben sie nicht vergessen. Das Schema: für eine Handvoll Pfeffernüsse krieg' ich was Psychisches, und für eine abgelaufene Schuhsole bekomme ich mein vertrocknetes, ledernes Herze rekonstruiert, das ist ihnen allen geläufig, und das durchdringt ihr ganzes Leben in materieller wie geistiger Beziehung. Der große Descartes47 hatte ein solches Grauen vor dieser Vermischung von Geistigem und Materiellem, dass er in seinem System eine Transaktion von dem einen zum andern für eine bare Unmöglichkeit erklärte. Dachte er an den katholischen Ablass, als er seine zwei berühmten „Substanzen" schuf, die des Gedachten und die des Ausgedehnten, das Reich der „Geister" und das der „Körper", die nie in einander übergehen können? —


Abb.: Andechser Bierkrug  [Bildquelle: http://www.andechs.de/download/klosterboutiqe-broschuere.pdf. -- Zugriff am 2004-12-28]


........fraßen und soffen ganz unglaubliche Quantitäten — sagte ich oben. Wir sind noch auf dem Berg ...........und scherzten und zotteten wie auf einer Kirchweih' — könnte ich hinzufügen. Kirchweih'! Da haben wir's ja schon wieder. ,Weihe einer Kirche' ist im katholischen Volksleben identisch mit dem brutalsten Ausleben der Volksgelüste geworden. Ich musste, als ich diese Riesenfressereien und diesen Riesenspektakel mitansah, an die Homerischen Schilderungen der Mahlzeiten der Achäischen48 Helden vor Troja denken, wo auch die Größe und Menge der in Fett eingewickelten Ochsenkeulen und Lammsrücken unser gerechtes Erstaunen erwecken. Aber sie kamen aus der Schlacht, und waren physische, muskulär arbeitende Menschen. Und diese hier, woher kamen die? — Nun, eine große Arbeit hatten sie allerdings auch vollbracht. 11 Rosenkränze, 55 Vaterunser, 550 Ave-Marias, einige 50 „Ehre sei Gott etc", einige 30 „Heilig!", ohne die kleinen Zutaten und ohne das spezielle für den Besuch von Andechs vorgeschriebene Ablassgebet: das mechanische Äquivalent von 66 000 Straftagen im Jenseits. Eine wahre Kiefernschlacht49! —

„Als den Belustigten jetzt der finstere Abend herankam, Gingen sie auszuruhen, zur eigenen Wohnung ein Jeder."50

Das taten unsere Helden von Andechs auch. Die Dießener waren schon fortgegangen. Und auch die vielen Einzel-Passanten, meist Münchener, die per Eisenbahn, zu Fuß, oder selbst auf dem Veloziped sich die Indulgenz30 geholt hatten, waren nun längst auf dem Rückweg. Aber die vielen entfernteren Gemeinden, die heute auf Grund langer Gewohnheiten kamen, und zum Teil erst Nachmittags eingetroffen waren, wie Landsberg, Stadl, Türckheim, Pflugdorf, Hagenheim, Amberg, u. a. mussten übernachten. Der Abend war günstig. Was sich nicht in den Wirtshäusern und Massenquartieren von Erling unterbringen ließ, blieb auf dem heiligen Berg und Umgebung im Freien. Die Sonne war untergegangen. Und die Mondsichel zeigte sich im fernen Osten.

Abb.: "Hierbei schau'n sich innig an Pilgerin und Pilgersmann." (Wilhelm Busch: Die Fromme Helene)

„Endlich nach des Tages Schwüle Naht die sanfte Abendkühle.
Ach, da schau'n sich schmelzend an Pilgerin und Pilgersmann." (W. Busch.)51

Als ich spät den Weg in's Tal hinabging, hörte ich überall im Laube flüstern. Ich glaubte, Eidechsen schlüpften durchs junge Gras. Es waren aber lüstige Pilgersleute, die sich hier goutierten. Sie trieben "Unbefleckte Empfängnis" im Sinne der katholischen Kirche. — Es gilt als Regel unter den Wallfahrern, dass das, was in der Bannmeile des Klosters und nach erhaltener Indulgenz30 geschieht, an geschlechtlicher Vermischung geschieht, nicht als Sünde zu betrachten sei, sondern noch in die erhaltene Indulgenz mit hineinfalle. — Der ganze Wald seufzte und girrte. Ich weiß nicht, wie weit die Zauberwirkung dieses sexuellen Mont Salvage31 ging. Je weiter ich hinunterkam, desto dunkler wurde es. — Plötzlich stieß ich an Etwas, wie feste Mehlsäcke, die dicht am Weg lagen, und machte mir mit einem „Sakrament!" Luft. Aber im Nu kam's zurück: „No, Sie damischer Hanswurst, Sie, Sie kunten auch sehn, dass Sie net alloan sin!" — Das war reines Altbayrisch, das war nicht die Dießener Mischung. Ich wusste sehr wohl, dass sie nicht allein, sondern zu Zweit waren. Auch sie trieben Unbefleckte Empfängnis. — So geht es, dacht ich mir. Stört man diese Leute in ihren heiligsten Beziehungen, dann wird man noch geschimpft. — „Hanswurst!" — Der Mann hatte nicht Unrecht. Man wird hier zum Narren, wenn man über diese Dinge nachdenkt.

Ich kroch eilig die kleinen, engen Stufen, die vom Klosterberg ins Kien-Tal führen, hinab, und eilte nach Hause zu kommen. Es war Zeit; ich hatte noch eine halbe Stunde zum See. Voll Ekel im Herzen verließ ich diesen Sünden-Vergebungsberg. —

In Hersching traf ich den flachsblonden Fischer, den der Leser schon aus dem Beginn dieses Aufsatzes kennt. Er führte mich wieder über den See. — Und nicht los werden konnte ich den Gedanken, wie es möglich war, dass dieses rundköpfige, ehrliche, germanische Geschlecht von dieser wälschen, hosentaschen-ausleerenden Religions-Maxime so angesteckt, so infiziert, so grundverdorben werden konnte.


Erläuterungen:

1 Andechs: auch Hl. Berg genannt, seit ca. 1100 Stammburg der Grafen von Andechs (bis 1248). Zur Verehrung der sog. Andechserer Heiltümer (Kreuze, Reliquien, bes. 3 hl. Hostien, wiedergefunden 1388) entwickelte sich die älteste Wallfahrt Süddeutschlands. 1438 Chorherrenstift, 1455 in ein Benediktinerkloster umgewandelt, 1803 aufgehoben; die Kirche wurde im Barock 1669 und Rokoko 1751 umgestaltet. Ludwig I. übergab Andechs 1846 der Abtei St. Bonifaz OSB in München als Priorat und Landgut.

2 Ich konnte das Zitat nicht verifizieren

3  Brachykephalie (griech., Kurzköpfigkeit): eine unverhältnismäßige Breite des menschlichen Schädels im Verhältnis zu seiner Länge

4 dalkert (dalket ) adj: dumm, ungeschickt; widrig, unangenehm; verwünscht.

5 biderb: gerade, derb

6 Blüthner: 1853 gegründete Klavierfabrik in Leipzig

7 Acheron: nach der griechischen Mythologie Hauptfluss, der die Unterwelt umgrenzt

8 Trajekt-Boote: Fährboote

9 avertieren (französisch): von etwas vorher in Kenntnis setzen; benachrichtigen, einen Wink geben.

10 Georgi: Fest des Heiligen Georg: 23. April

11 Micheli (Michaeli): Fest des Erzengels Michael: 29. September

12 Sattler, Magnus <1827 -1901>: Chronik von Andechs.  -- Donauwörth : Selbstverlag d. Verf., 1877. -- IV, 871 S.  ; 36 Holzschnitte, 1 gefaltete Stammtafel. --


Abb.: P. Magnus Sattler OSB

[Bildquelle: Sattler, Magnus <1827 -1901>: Das Büchlein vom heiligen Berge Andechs : Auszug aus d. Chronik d. P. Magnus Sattler O. S. B. / Mit e. neuen Verz. d. Reliquien u. Erg. zur Chronik vers. von Augustin Engl. -- 13. unveränd. Aufl.. -- Kloster Andechs : Wallfahrtsverl., 1930. -- 120 S. : Mit 36 Holzschn. ; kl. 8 + 4 Autotypiebeil. -- Vortitelblatt]

13 Sattler, Magnus <1827 -1901>: Das Büchlein vom heiligen Berge Andechs : Auszug aus der Chronik des Magnus Sattler. -- Donauwörth : Selbstverlag d. Verf., 1894. - 112 S. : Ill.


Abb.: Einbandtitel der 13. Auflage, 1930

14 montes sancti (lateinisch): heilige Berge

15 Rosenkranz

16 Maurel, Antonin: Die Ablässe. Ihr Wesen u. Gebrauch : ein Handbuch für Geistliche und Laien.  -- Paderborn Schöningh, 1884. 788 S. ; Kl.8°. -- Originaltitel: Le chrétien éclairé sur la nature et l'usage des indulgences

17 Berlocke (frz.): Zieranhänger an einer Uhr- oder Halskette.

17a

Gegrüßet seist Du, Maria, voll der Gnade.
Der Herr ist mit Dir.
Du bist gebenedeit unter den Weibern
und gebenedeit ist die Frucht Deines Leibes, Jesus.

Heilige Maria, Mutter Gottes,
bitte für uns Sünder,
jetzt und in der Stunde unseres Absterbens.

Amen

18 gemeint ist der Malstil des niederländischen Malers Jan (Johannes Theodor) Toorop (1858 - 1928)

19 rara avis (lateinisch): seltener Vogel

20 Arrieregarde (franz. arrière-garde): Nachtrab, Nachhut)

21 Radfahrer

22 nolens (lateinisch): ohne es zu wollen

23 Eschoffment (franzosisch: échauffement): Erhitzung

24 Derwische: Mitglieder eines muslimischen Ordens, vollziehen exstatische Übungen

25 supponieren (lat.): unterschieben, unterstellen.

26 Es handelt sich um die Dekaden (Gesetze) des freudenreichen Rosenkranzes

27 Sekunde: in der Musik zweite Stufe in diatonischer Folge

28 Quintsextakkord: Abkürzung für Terzaquimsextakkord, d. h. Zusammenklang der Terz, Quinte und Sexte mit dem Grundtone

29 Schoßee =  Chaussee: eine Straße, deren Fahrbahn mit kleingeschlagenen Steinen oder Kies hergestellt ist

30 Ablass

"Ablass (Indulgenz), ursprünglich Nachlass einer von der Kirche auferlegten Bußleistung. Der Ablass ist hervorgegangen aus der Bußdisziplin der alten Kirche und bezieht sich ursprünglich auf die von der Kirche als Genugtuungen verhängten Strafen der Sünde. Als an deren Stelle auch andre gute Werke, Almosen, Fasten, Gebete, Wallfahrten etc., als Genugtuung in Anschlag gebracht wurden, kam es unter dem gemeinsamen Einfluss der germanischen Rechtsgewohnheit der Kompensation des Verbrechens durch Geld (Wergeld) und des kirchlichen Glaubens an die Existenz und Übertragbarkeit überverdienstlicher Leistungen dahin, dass alle Kirchenstrafen durch Geld abgekauft werden konnten. Bald wurde der ursprüngliche Geltungsbereich des Ablasses dahin erweitert, dass er sich auf den Erlass auch der von Gott auf die Sünde gesetzten zeitlichen Strafen bezog. Besondern Aufschwung nahm das Ablasswesen durch die Kreuzzüge. Die Teilnahme an ihnen als ein die Kirche besonders förderndes Werk wurde als Ersatz aller Genugtuungen angesehen. Es entwickelte sich die Theorie von der Befugnis des Papstes, einen allgemeinen (vollkommenen) blass (indulgentiae plenariae) an die Verrichtung eines bestimmten religiösen Werkes zu knüpfen. Die aus der Praxis hervorgegangene Gewohnheit wurde dann dogmatisch begründet durch Alexander von Hales (s. d.). Unter den Plenarablässen nimmt seit 1300 die erste Stelle ein der von Bonifacius VIII. eingeführte Jubiläumsablass, der ursprünglich nur alle 100 Jahre wiederkehren sollte, bald aber in jedem vom Papst bestimmten Jubeljahr (s. d.) gespendet wurde. Bekanntlich gab der durch Tetzel (s. d.) und andre schamlos geübte Ablasskram den äußern Anlass zur Reformation. Den Angriffen der Reformatoren gegenüber belegt das Tridentinum mit dem Anathema jeden, der leugnet, dass der Kirche mit der Schlüsselgewalt das Gericht über die Sünden und damit die Gewalt verliehen sei, dieselben zu erlassen. Da die Reinigung im Fegfeuer zu den zeitlichen Strafen der Sünde gerechnet wird, so hat die Kirche, nicht ohne den Widerspruch auch neuerer Kirchenlehrer, ihren Ablass auch auf das Fegfeuer ausgedehnt. Aber Ablass ist seither nicht mehr zum Verkauf ausgeboten worden. Dagegen ist der Ablass hergebracht geblieben für bestimmte kirchliche Handlungen, besonders als Privilegium für bestimmte Orden, Kirchen, Altäre und Festzeiten. Sehr leicht wird es denen, die Rom besuchen, gemacht, überflüssigen Ablass zu verdienen. Der Ablass ist vollkommen oder unvollkommen, auf Zeit oder dauernd. Seine Wirkung ist, wenigstens in der Theorie, auch geknüpft an die Disposition, d.h. die gläubige und bußfertige Gesinnung, in der Praxis vor allem an die Leistung der vorgeschriebenen Werke. Vgl. Beringer, Die Ablässe, ihr Wesen und Gebrauch (12. Aufl., Paderb. 1900); Brieger, Das Wesen des Ablasses am Ausgang des Mittelalters (Leipz. 1897)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

31 eo ipso (lateinisch): eben dadurch

32 Thonar: Donar (althochd.) oder Thunar (altsächs.): der Donnergott der alten Deutschen

33 Richard Wagner (1813 - 1883): Das Liebesmahl der Apostel (Eine biblische Szene). -- Chorwerk für Männerchor und Orchester. -- WWV 69. -- 1843

34 französisch: "Schau, mein Sohn, ich habe diese Welt gemacht!"

35 französisch: "Oh, mein lieber Vater, sie ist sehr lieblich, du bist ein Künstler!"

36 Antonietta dell’Era, italienische Prima Ballerina am Staatsballett Berlin

37 mons sanctus (lateinisch): Heiliger Berg

38 Gebrüder Asam

"Asam, bayr. Künstlerfamilie des 17. u. 18. Jahrh., deren Haupt, Hans Georg Asam (gest. 1696), Wandmalereien in der Stiftskirche zu Hall und in der Kirche zu Benediktbeuern ausgeführt hat und als Lehrer der Baukunst in Prag tätig war. Seine Söhne, der Maler Cosmas Damian Asam (1680-1742) und der Bildhauer und Stukkateur Egid Quirin Asam (gest. nach 1746), hatten in Rom studiert und ließen sich 1715 in München nieder, von wo aus sie zahlreiche Kirchen und Klöster mit malerischem und plastischem Schmuck im üppigen Stile des römischen Barock versahen. Sie arbeiteten im Dom zu Freising, in den Klöstern Maria-Einsiedeln und zu Metten, in der Stiftskirche St. Emmeran zu Regensburg, in der Kirche auf dem Weißen Berge zu Prag u.a. O. Ihre selbständigen Hauptwerke sind die Johanneskirche und ihr eignes Haus in München und der Kongregationssaal in Ingolstadt."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

39 Befugnis

40 Amt = Hochamt (feierliche Hl. Messe mit Musik)

41 Abführmittel

42 Heiliger Bonifatius (Winfried) (672/75-754), Bekehrer der Deutschen zum Christentum

43  in nomine "im Namen" oder „in homine" "im Menschen" "domini Jesu Christi" "des Herrn Jesus Christus"

44  Die Böotier galten im Altertum, besonders in Athen, für derb, schwerfällig (wie auch ihr Dialekt), geistig stumpf und unempfänglich für das Schöne

45 minister (lateinisch): Diener

46 Credo: Glaubensbekenntnis

47 René Descartes (1596 - 1650), berühmter französischer Philosoph, nach ihm gibt es zwei Arten von Substanzen: Geist und Körper (Dualismus), die einander schroff gegenüberstehen und völlig verschiedene Eigenschaften haben. (»Substantia corporea« - »substantia cogitans«, »mens«).

48 Achäer: einer der vier Hauptstämme des hellenischen Volkes,Sie waren den Äoliern nahe verwandt und saßen an verschiedenen Stellen der griechischen Küste, so in Phthiotis, wo Peleus und Achilleus herrschten. Von da breiteten sie sich zuerst in Argolis und dann über einen großen Teil des Peloponnes aus, so daß, da in der Heroenzeit das achäische Königshaus der Atriden in ganz Griechenland von vorwiegendem Einfluss war, bei Homer der Name Achäer auch zur Bezeichnung der Griechen insgesamt gebraucht wurde.

49 Schlacht mit den (Gesichts)kiefern

50 Homer: Odyssee, 1. Gesang: "Und belustigten sich, bis ihnen der Abend herabsank.Als den Lustigen nun der dunkle Abend herabsank, Gingen sie alle heim, der süßen Ruhe zu pflegen."

51 Der Text bei Busch lautet richtig:

Hierbei schau'n sich innig an
Pilgerin und Pilgersmann.
Endlich nach des Tages Schwüle
Naht die sanfte Abendkühle.
In dem gold'nen Mondenscheine
Geht Helene froh und heiter,
Sozusagen, ganz alleine,
Denn ihr einziger Begleiter,
Stillverklärt im Mondesglanz,
Ist der heil'ge Vetter Franz.
Traulich zieh'n sie heim zu zweit
Als zwei gute Pilgersleut.

52 Berg der Rettung

53 wälsch: fremdländisch, insbesonders italienisch oder französisch


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