Religionskritisches von Robert Prutz

Theologie oder Politik? Staat oder Kirche? (1847)

von

Robert Prutz


Herausgegeben von Alois Payer (payer@payer.de)


Zitierweise / cite as:

Prutz, Robert <1816 - 1872>: Theologie oder Politik? Staat oder Kirche?.  -- 1847. -- Fassung vom 2005-02-17. -- URL:  http://www.payer.de/religionskritik/prutz01.htm    

Erstmals publiziert: 2005-02-17

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Dieser Text ist Teil der Abteilung Religionskritik  von Tüpfli's Global Village Library


Veröffentlicht in:

Prutz, Robert <1816 - 1872>: Kleine Schriften zur Politik und Literatur. -- Merseburg : Garcke, 1847. -- 2 Bde. -- Bd. 2. -- S. 3- 51

Wieder abgedruckt in:

Prutz, Robert <1816 - 1872>: Zwischen Vaterland und Freiheit : eine Werkauswahl / hrsg. u. kommentiert von Hartmut Kircher. Mit einem Geleitwort von Gustav W. Heinemann. -- Köln : Informationspresse Leske; Frankfurt/M., Köln : Europäische Verlagsanstalt, 1975. -- 439 S. : Ill. ; 22 cm. -- (iLv-Leske-Republik ; Bd. 4). -- ISBN: 3-434-00263-4. -- S. 128 - 149 [Hier nach diesem Nachdruck wiedergegeben]


"Prutz, Robert Eduard, Dichter und Literarhistoriker, geb. 30. Mai 1816 in Stettin, gest. daselbst 21. Juni 1872, studierte in Berlin, Breslau und Halle Philologie und Geschichte, trat in letzterer Stadt mit A. Ruge und den von ihm gegründeten »Halleschen (später Deutschen) Jahrbüchern« in Verbindung, wodurch er in die liberale Bewegung hineingezogen wurde, und ließ sich 1841 in Jena nieder. Damals erschien seine erste größere Arbeit, die Monographie »Der Göttinger Dichterbund« (Leipz. 1841). Seine Hoffnung, an der Universität Jena eine Professur zu erhalten, erfüllte sich nicht, und auch in Halle, wohin er 1843 zurückkehrte, ward ihm die Habilitation an der Universität nicht gestattet. Er begann hier die Herausgabe des »Literarhistorischen Taschenbuches« (Leipz. 1843-44 u. Hannov. 1845-48, 6 Bde.), das er mit eignen Beiträgen zur Literaturgeschichte ausstattete, von denen später ein Teil in den »Kleinen Schriften zur Politik und Literatur« (Merseb. 1847, 2 Bde.) gesammelt erschien. Als Frucht seiner historischen Studien erschien zunächst die leider nie vollendete »Geschichte des deutschen Journalismus« (Hannov. 1845, Bd. 1). Daneben trat in seinen Dichtungen die politische Tendenz immer entschiedener hervor. Auf eine Sammlung lyrischer, zum großen Teil erotischer »Gedichte« (Leipz. 1841, 4. Aufl. 1857) folgten bald einzeln gedruckte politische Gedichte, wie: »Der Rhein« (das. 1840), »Ein Märchen« (das. 1841) etc., und die »Gedichte, neue Sammlung« (Zür. 1842; 3. Aufl., Mannh. 1846), dann die Komödie »Die politische Wochenstube« (Zür. 1843, 3. Aufl. 1845) sowie mehrere historische Dramen (»Karl von Bourbon«, »Moritz von Sachsen«, »Erich der Bauernkönig« u. a.) ohne Bedeutung (gesammelt in den »Dramatischen Werken«, Leipz. 1847-49, 4 Bde.). Die »Politische Wochenstube« zog dem Dichter eine Anklage auf Majestätsbeleidigung zu, die aber höchsten Orts niedergeschlagen wurde. Prutz erhielt sogar 1846, als er nach Berlin gezogen war, die Erlaubnis zu literarhistorischen Vorlesungen, doch wurden ihm solche über die neueste Literatur nach der ersten Vorlesung in Berlin polizeilich verboten. Prutz übernahm darauf (1847) auf kurze Zeit die dramaturgische Leitung des Hamburger Stadttheaters, wandte sich dann nach Dresden, wo er nach dem Ausbruch der Februarrevolution ungemein besuchte Vorträge über die neuesten Zeitereignisse hielt, und im März 1848 nach Berlin, wo er in der demokratisch-konstitutionellen Partei eine hervorragende Rolle spielte. Nach der Novemberkatastrophe lebte er in Stettin, bis er Ostern 1849 vom Minister v. Ladenberg als außerordentlicher Professor der Literaturgeschichte nach Halle berufen ward. Diese Stellung bekleidete er bis 1859, legte dann seine Professur freiwillig nieder und kehrte nach seiner Vaterstadt Stettin zurück, wo er fortan wohnen blieb. Von Prutz erschienen ferner: »Dramaturgische Blätter« (Hamb. 1846), »Vorlesungen über die Geschichte des deutschen Theaters« (Berl. 1847) und »Vorlesungen über die deutsche Literatur der Gegenwart« (Leipz. 1847), das unvollendet gebliebene Werk »Zehn Jahre. 1840-1850. Geschichte der neuesten Zeit« (das. 1850-57, 2 Bde.), »Neue Schriften. Zur deutschen Literatur- und Kulturgeschichte« (Halle 1854, 2 Bde.) u. a. folgten. Mit Wolfsohn hatte er 1851 die Wochenschrift »Deutsches Museum« gegründet, die von ihm bis 1866 redigiert wurde (fortgesetzt von K. Frenzel). Als Lyriker trat er noch mit den Sammlungen: »Aus der Heimat« (Leipz. 1858), »Aus goldenen Tagen« (Prag 1861), »Herbstrosen« (Münch. 1864, 6. Aufl. 1879) und dem »Buch der Liebe« (Leipz. 1869, 5. Aufl. 1883) hervor, und gerade diese spätern Sammlungen brachten noch eine Reihe innig und kräftig empfundener Gedichte. Seine Laufbahn als politischer Poet schloss Prutz mit den Gedichten: »Mai 1866« und »Juli 1866«, von denen das erstere ihm einen Prozess wegen Majestätsbeleidigung zuzog, während das zweite gewissermaßen als Symbol des großen, inzwischen durch die preußischen Siege in Böhmen herbeigeführten Umschwungs der öffentlichen Meinung gelten durfte. Mit dem Roman »Das Engelchen« (Leipz. 1851, 3 Bde.) hatte sich Prutz erfolgreich auch der erzählenden Dichtung zugewandt, erhob sich aber in seinen spätern Romanen (»Felix«, 1851; »Der Musikantenturm«, 1855; »Oberndorf«, 1862, u. a.) nur in einzelnen Szenen und Stellen über die Tagesschriftstellerei. Weit erfreulicher war seine literarhistorische und kritische Tätigkeit während des letzten Jahrzehnts seines Lebens, aus der die Werke: »Die deutsche Literatur der Gegenwart« (Leipz. 1859, 2 Bde.; 2. Aufl. 1860), »Ludwig Holberg, sein Leben und seine Schriften« (Stuttg. 1857), »Menschen und Bücher, biographische Beiträge zur deutschen Literatur- und Sittengeschichte des 18. Jahrhunderts« (Leipz. 1862) sowie seine Übertragung von »Holbergs ausgewählten Komödien« (Hildburgh. 1868, 4 Bde.) hervorgingen."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]


THEOLOGIE ODER POLITIK? STAAT ODER KIRCHE?

Der verfluchte Fafe weist selbst nicht was er wil, hol ihn der Deuffel.
[= Der verfluchte Pfaffe weiß selbst nicht was er will, hol ihn der Teufel]
Friedrich der Große

Kaum ein seltsamerer Anblick lässt sich denken, als den die Geschichte unserer letzten fünf, sechs Jahre dem nüchternen Beobachter gewährt. War es möglich, alle die einzelnen Gestalten, welche sie in dieser Zeit angenommen, die Verwandlungen, welche sie durchgemacht, die Interessen, die durchaus widerspruchsvollen, für welche sie sich nacheinander begeistert hat, der Nation selbst in einem Spiegelbilde gleichsam auf einmal vors Auge zu rücken: was gilt die Wette?! wir würden erschrecken über uns selbst und uns kopfschüttelnd abwenden von unserm eigenen Bildnis. Auf den Schlummer, in welchem wir so lange gelegen, ist ein unruhvolles, fieberhaftes Erwachen, auf die Interesselosigkeit, deren wir selbst uns so lange angeklagt, vielmehr ein Überfluss, auf die verrufene Dürre unsers öffentlichen Lebens eine überwuchernde Fülle gefolgt: nur dass dasselbe allerwege mehr ins Kraut geschossen ist als in den Samen.

Werfen wir nur einen Blick rückwärts, was alles in diesen letzten Jahren, seit dem Anfang etwa des gegenwärtigen Dezenniums, unsre Geister in Spannung erhalten, unsere Herzen in Flammen gesetzt, vor allem unsre Märkte mit dem Geräusch der Debatte — oder um völlig ohne Gleichnis, in klarer, nackter Prosa zu sprechen: unsre Zeitungen mit Berichten und Berichtigungen, mit Gerüchten, Widerlegungen, Widerlegung der Widerlegung, Widerlegung der widerlegten Widerlegung — und so fort in unendlicher Reihe, angefüllt hat!

Die freie Rheinbegeisterung von Anno vierzig1 — aber in der Tat, es wird uns unbehaglich, davon sprechen zu hören, er macht uns verlegen, dieser Bastard-Patriotismus, den wir da so voreilig in die Welt gesetzt, und dürfen uns dabei nicht einmal trösten, wie Kent im Lear den alten Gloster tröstet: »Ich kann den Fehltritt nicht ungeschehen wünschen, da der Erfolg davon so anmutig ist«2. Der Kölner-Dom-Enthusiasmus3 — aber er ist verraucht und verschollen, so weit sogar, dass nicht einmal mehr eine Opposition dagegen stattfindet und die Hand voll Arbeiter, welche noch mühsam besoldet wird, ruhig daran fortarbeiten kann unter dem Schleier der Vergessenheit. Der philosophische Radikalismus, der nicht bloß aus nichts eine neue, bessere Welt erschaffen — dies könnte man sich gefallen lassen — nein: der auch die alte, vorhandene umstoßen wollte mit nichts — aber es ist ja längst bei allen eine ausgemachte Sache, dass die Epoche der Theorie einstweilen vorüber und dass, was das wahre Bedürfnis der Zeit angeht, ein einziges Dutzend hungrige Garnspinner4 schwerer ins Gewicht fallen, als alle gegenwärtigen Philosophen und noch einige von den zukünftigen dazu. Die politische Lyrik — aber sprechen nicht die Dichter selbst schon mit Achselzucken davon? ja kommen nicht sogar schon die Regierungen allmählich zu der Einsicht, dass es nichts Ungefährlicheres gibt, als diese Königsmörder in Versen, diese Brutusse5 in Reimen?! Die oppositionellen Bestrebungen in einigen süddeutschen Kammern — aber wie wohlgemeint, wie ehrenwert sie seien, beschleicht uns nicht, noch während wir diese flammenden Reden, diese geharnischten Angriffe lesen, das unbehagliche Gefühl, dass all diese Streiche doch endlich nur in die Luft gehen und dass es dem, der behaglich in der warmen Stube sitzt, durchaus nicht schadet, wenn der Regen ein bisschen an die Fenster klappert?! Die preußische Verfassungsfrage6, diese allgemeine privilegierte Zeitungsente, diese veritable »große Seeschlange« unsrer Korrespondenten, dieser ewige Jude7 unsrer hoffnungsreichen Presse — aber es sieht sich ja kein Mensch mehr um, wenn sie geplätschert kommt! aber wir wissen ja alle, dass es keine große Seeschlange, keinen ewigen Juden gibt! und wenn es deren gäbe: tant pis pour eux8, so kümmern sie uns nicht! —

Denn dies ist das eigentlich Charakteristische, dies zugleich das Bedenkliche, das wahrhaft Gefährliche unsrer gegenwärtigen Epoche, dass die Interessen bei uns, so rasch sie sich entzünden, ebenso rasch auslöschen und verschwinden; wie lebhaft sie sind, so flüchtig, wie zahlreich, so unfruchtbar. War es früher deutsche Sitte, sich fischblütig zu zeigen, wo allen übrigen das Blut in den Adern kochte, und die gewaltigsten Ereignisse der Geschichte von sich abprallen zu lassen, wie der Stein den Regen, der ihn wäscht: so scheint es jetzt vielmehr deutsche Mode, sich zu enthusiasmieren, — gleichviel für was. Alle Mode aber ist ihrer Natur nach frivol9; auch der Enthusiasmus, den wir hie und da, an allen Ecken Deutschlands, bei jeder kleinsten Gelegenheit, sofort auflodern sehen, ist mit Frivolität gemischt: nicht bloß deshalb, weil er es, wie gesagt, verschmäht, die Gegenstände zu prüfen, an denen er sich entzündet: sondern frivol hauptsächlich deshalb, weil wir selbst bereits den Glauben an unsre eigene Begeisterung verloren haben, weil wir bereits wissen, dass es nur eine hohle, abstrakte, unfruchtbare Begeisterung ist, weil wir unsern eignen Helden regelmäßig den Hanswurst nicht bloß nach-, nein: sogar voraufsenden und, verwegener als jene Soldaten Cäsars, Spottlieder10 singen, nicht bloß wenn wir triumphieren, nein: auch wenn wir geschlagen sind. Wir haben so oft jene alte Fabel von dem Hirten mit dem Wolf11 gespielt, wir haben so oft zum bloßen Scherz gerufen: hierher! es brennt! dass nicht allein unsre Nachbarn, nein: dass wir uns selber nicht mehr glauben.

Aber wir wollen nicht zu hart sein gegen uns selbst: wo ein Quell hervorbrechen will, was Wunder, dass es da zuerst Blasen treibt?! Es ist dies ein krankhafter Zustand, in dem wir uns befinden, ohne Frage: aber vielleicht ist diese Krankheit nötig, damit aus ihr die volle frische Gesundheit sich entwickle; sie ist vielleicht nötig, diese allgemeine, prickelnde Gärung aller Säfte, wenn der Baum blühen, die Frucht reifen soll; es bedarf vielleicht dieser unruhig stürmenden, wogenden Brandung, um die Perle unsrer Zukunft an den Strand zu spülen. Gestehen wir den einzelnen Individuen ihre Entwicklungsstadien, ihre kritischen Epochen, ihre (wenn dieser Ausdruck, auf eine große und ehrenwerte Nation angewendet, nicht zu plump ins Ohr fällt) Tölpel- und Flegeljahre zu: warum nicht auch ganzen Völkern? Dies unbestimmte Sehnen und Drängen, dies rasche Ergreifen, raschere Fallenlassen, diese Unbeständigkeit, Unsicherheit, Unklarheit, die wir bei heranwachsenden jungen Leuten wahrzunehmen pflegen — sollten die Völker in ihrer historischen Entwicklung nicht vielleicht ähnlichen Krisen unterworfen sein? Ja wie diese Erscheinungen bei Jünglingen und Mädchen mit ziemlicher Sicherheit den Eintritt der Mannbarkeit, die beginnende Geschlechtsreife zu bezeichnen pflegen: sollte diese gegenwärtige Krisis unsrer Zustände nicht vielleicht gleicherweise ein Vorbote sein, dass unser Volk — ein spätreifer Jüngling, fürwahr! endlich im Begriffe steht, mannbar zu werden und die Kinderschuhe, in denen es so lange gutmütig geschlendert, nunmehr von sich zu werfen? Diese krampfhaften Zuckungen, die gegenwärtig den Leib unsrer Nation erschüttern, wären sie vielleicht nichts anderes als jene ängstlichen Windungen, jene Krämpfe und Qualen der Puppe, in dem Augenblick, da der Schmetterling sich aus ihr erheben will?!

Aber zugestanden, dass es so sein könne, sogar sein werde, sein müsse: so haben wir, dünkt uns, eben deswegen nur eine um so größere Aufmerksamkeit auf diejenigen Erscheinungen zu richten, welche, mitten in diesem allgemeinen Wechsel der Interessen, dieser Flut von Neigung und Abneigung, sich in der Tat dauernd auf dem Schauplatz zu behaupten wissen.

Und eine solche Erscheinung wenigstens gibt es, ein Interesse zum mindesten, wie viel andere auch über Nacht auftauchen und verschwinden, stirbt nicht aus, eine Angelegenheit, wie vielspaltig der deutsche Sinn im übrigen auch sei und wie oft auch, was in dieser Landschaft, dieser Stadt die Gemüter in die mächtigste Aufregung versetzt, schon in der nächsten nur zur Unterhaltung spießbürgerlicher Neugier dient — eine Angelegenheit wenigstens scheint mit sympathetischer Gewalt alle Herzen, alle Geister zu bewegen, eine Frage gibt es, welche, von allen Seiten, in allen Ständen, in allen Gegenden des Vaterlandes diskutiert, sich in der Tat wie eine National-, eine wahre Volksfrage anlässt —

Welche ist es? Die Verfassungsfrage? Aber wir sind ja noch gar nicht einmal so weit, von der Verfassungsfrage sprechen zu können, wir haben höchstens Verfassungsfragen: hannoversche, preußische, Reuß-Schleiz-Greiz-Lobensteinische, von einer deutschen Verfassungsfrage ist noch überall keine Rede, ja nur an sie zu denken würde in einigen wohlpolizierten Staaten bereits zur Untersuchung wegen entfernten Verdachtes entfernter Hinneigung zu entferntem Hochverrate qualifizieren.

Also etwa die deutschen Handelsangelegenheiten? Denn gemeiniglich, was im übrigen himmelweit auseinandergeht, das pflegt doch wenigstens der gemeinsame Vorteil zusammenzuführen; widerspenstige Köpfe, uneinige Herzen — der Magen zum wenigsten, dieser mächtigste Dämon der Erde, pflegt sie zu vereinigen. Die Lage aber des deutschen Handels, der Zustand unsers Gewerblebens, wer könnte die Gefahr verkennen, die ihm droht? die Bedrängnis leugnen, in der es sich befindet? Hier also, wenn irgendwo, täte gemeinschaftliches Überlegen, gemeinschaftliches Handeln not; Wölfe sieht man zu Menschen, in die Mitte bewohnter Städte flüchten, vom grimmigen Zahn des Hungers gestachelt — und die Aushungerung deutschen Gewerbfleißes, die uns von England her bedroht, die Verarmung des deutschen Handels, welche, allen Aktien-Schwindelgeschäften und allem Kornwucher zum Trotz, ja gerade durch ihre Vermittlung nur noch um so schleuniger, mit unentrinnbaren Schritten, gegen uns anrückt — sollte sie nicht mächtig genug sein, unsre partikularen, egoistischen Interessen wenigstens auf Augenblicke zu vereinigen? sollte nicht der gewaltige, der Hammerschlag der Not, uns wenigstens auf Augenblicke zusammenschweißen zu dem, was wir selbst so gern werden möchten, ja was wir auf so mannigfache, so widersprechende Weise zu werden suchen: eine Nation, eine starke, einige, selbstgewisse? — Aber die Naturforscher versammeln sich und die Philologen und die Landwirte und die Baumeister und neulich sogar hatten einige Schriftsteller den sublimen Einfall, sich auch versammeln zu wollen: von einem allgemeinen deutschen Handelskongress aber, einer Beratung deutscher Fabrikanten und Kaufleute ist überall noch nicht das mindeste verlautbart. Im Gegenteil, wir haben es erleben müssen, dass, als einige Gewerbtreibende über gewisse staatliche Maßregeln, welche aufs allergenaueste in ihr Interesse eingreifen, ihre bescheidentliche Meinung abgeben wollten, ein Finanzminister (denn wir regardieren12 ja auf den Handel nur, inwiefern er unsre Finanzen bereichert: und darum haben wir auch keine Handels-, sondern nur Finanzminister) sie als unbefugte, unverständige Schreier unsanft zurechtwies.

Vielleicht denn die deutsche Einheit, die Nationalität in abstracto? Freilich wohl: die deutsche Einheit (oder was man so nennt) ist legitim geworden, wir dürfen Toaste ausbringen auf Hermann den Cherusker13, ohne eine polizeiliche Untersuchung befürchten zu müssen, sogar wir dürfen: Was ist des Deutschen Vaterland14? singen, ohne Köpenick oder Spielberg15 zu riskieren. Auch an Adressen, in denen wir erklären, wir wären eine einige, große, heldenkühne Nation, eine Nation, vor der die Legionen des Varus in Staub gesunken, welche Luther hervorgebracht, vor der sogar Napoleon die Flucht ergriffen — auch an Adressen diesen und ähnlichen Inhaltes ist viel mehr Überfluss als Mangel und sie dürfen auch gedruckt werden, wenn auch nicht überall, so doch an einigen Orten, wenn auch nicht ganz vollständig, so doch mit Auslassungen und loyalen Varianten. Aber es kann sich einer wohl vornehmen, Kapaune16 mit Luft zu mästen, — nur sie werden nicht fett davon; es kann sich eine Nation wohl täuschen, als ob sie dadurch schon frei, stark, einig wird, dass sie es zu sein behauptet oder als ob Adressen, Ständchen, Zweckessen wirklich schon politische Akte, Akte des Nationalwillens und der Nationaleinheit wären — nur die Täuschung hält nicht gegen und das Interesse, das sich hieran anknüpft, muss erkalten, weil das Feuer, an dem es sich wärmen will, ein Strohfeuer ist — oder ist es gar nur ein gemaltes?

Oder endlich die Literatur? Allerdings, die Literatur hat lange Zeit das deutsche Leben beherrscht, noch mehr: sie hat es selbst gebildet und dargestellt; wir haben uns lange Zeit damit getröstet, in der Literatur wenigstens eine ideale Einheit, ein ideales Vaterland zu haben, da es mit dem realen, dem sechsunddreißigzipfligen17 Bundes-Vaterland allerdings in einigen wenigen Stücken noch haperte. Aber diese Zeit, diese unselige, revolutionäre, die schon so viele Kronen angetastet, so viele Throne erschüttert hat — auch dieser papiernen Königin, der Literatur, fangt sie an den Gehorsam zu verweigern, auch gegen sie beginnt sie sich aufzulehnen, auch ihre Allberechtigung macht sie, die skeptische! Miene in Zweifel zu ziehen. Man ist allmählich dahinter gekommen, dass ihre Macht sich lange nicht so weit erstreckt, als man bis dahin meinte; ganz neue Provinzen, neue Sphären des Lebens, neue Schichten der Gesellschaft sind entdeckt, welche die Literatur weder bisher berührt hat, noch, wie die Dinge liegen, zu berühren weiß; neue Geschwüre sind aufgebrochen, welche kein kühlender Umschlag von Broschüren heilen wird; neue Sphinxe legen die breite, blutgierige Tatze auf den Leib unsers Volkes, gegen welche der Ödipus18 vom Leipziger Büchermarkt19 vergebens seine Keule — das heißt, seine Feder schwingt. — Und was Königen sonst nicht zu passieren pflegt: die Literatur selbst ist ihrer Herrschaft überdrüssig geworden, sie möchte abdanken — nicht zwar, wie Diokletian20, um ein Gärtner, oder wie Karl der Fünfte21, um ein Mönch zu werden: nein, ein Soldat möchte sie werden, den Harnisch möchte sie umschnallen und die Feder vertauschen mit dem Schwerte; nicht bloß häuten möchte sie sich wie eine Schlange: nein, sich selbst aufgeben, sich wieder gebären möchte sie in andrer neuer Gestalt — Praxis möchte sie sein statt Theorie, Leben statt Literatur.

Also nichts von diesem allen ist es, was wir meinen! Weder Politik noch Literatur, weder Gewerbe noch Kunst heißt die Gottheit, der unsre Gegenwart opfert, der Mittelpunkt, um den ihre wilden, regellosen Kreise sich ordnen: der Deutsche ist aus zarterm Stoffe, er verachtet diesen gemeinen Materialismus irdischer Interessen, er wendet sein Auge aufwärts zum Himmel, er quittiert das Diesseits, um sich nur beizeiten einen sichern, bequemen Platz im Jenseits zu belegen: Theologie — siehe da die wahre große Angelegenheit des Tages! das Zentrum des deutschen Lebens! die Losung der Parteien! Was England und Frankreich? Wir haben Uhlich22 und Hengstenberg23! Was Russland und die polnische Grenzsperre? Wir haben Ronge24 und den Bischof Arnoldi25 von Trier! Was spanische Heirat26 und englischer Zolltarif27? Wir haben Lichtfreunde28 und Deutschkatholiken29! Deutsche Verfassungsfrage? Wir beschicken die Synode. Handelskongresse? Wir gehen nach Köthen30. Interessen der Kunst und der Literatur? Wir disputieren über die Dreieinigkeit, erörtern die Glaubhaftigkeit des Evangelisten Lukas, und schreiben dicke Bücher darüber, ob der Weg in den Himmel links geht oder rechts, ob man zu Pferde oder zu Esel sichrer dahin gelangt, und ob die Hölle eine Treppe tief liegt oder zwei. Da haben wir in Summa die Nationalinteressen des deutschen Volkes von Anno vierzig bis sechsundvierzig: der rote Faden, der sich durch das Gewirre dieser Jahre hinzieht, er ist aus geistlicher Wolle gezupft, die Dogmatik ist unser contrat social31, Geistliche sind unsre Volkshelden, theologische Streitfragen die Fragen der Gegenwart, die Fragen der Nation! —

Wer kennte nicht, und war es auch nur aus Goethe, das alte gute Histörchen von dem Engländer, welchen »das Liedchen Marlbrough« verfolgte:

»Einst von Paris nach Livorn, dann von Livorno nach
Rom, Weiter nach Napel hinunter; und war' er nach Smyrna gesegelt,
Marlbrough! empfing ihn auch dort, Marlbrough! im Hafen das Lied«32.

So auch, wohin einer jetzt in Deutschland fliehen möchte, von Königsberg bis Konstanz, von Breslau bis Kleve, überall, aus allen Gesellschaften, allen Wirtshäusern, allen Dampfwagen tönt ihm die kirchliche Melodie unsrer Tage entgegen; überall geht Marlborough nicht zwar in den Krieg, aber doch in die Kirche; du kannst keine Zeitung in die Hand nehmen: das erste, worauf dein Auge fällt, ist eine theologische Kontroverse, — kein Beefsteak essen: dein Nachbar unterhält dich von Uhlich22 und fragt, ob dir Ronge24 oder Czerski33 besser gefällt — keine Zigarre anzünden: man reicht dir einen Fidibus aus der »Evangelischen Kirchenzeitung«34.

Und nicht ist es etwa bloß das sogenannte Publikum, nicht die unorganische, unberechtigte Menge als solche, welche auf diese Weise das theologische Interesse für alle anderen stellt und für nichts mehr zu leben, für nichts mehr vorhanden zu sein scheint, es sei denn für religiöse Streitigkeiten, kirchliche Zerwürfnisse, dogmatische Kontroversen: auch ansehnliche, einflussreiche Körperschaften, auch öffentliche Behörden, ja, die Staatsregierungen selbst sehen wir von demselben Zuge unwiderstehlich gefasst; auch aus den Ratsstuben der Städte, den Kabinetten der Minister, sogar aus den Palästen der Könige, überall tönt dieselbe Losung uns entgegen. Eine große deutsche Regierung, berufen vor allen andern, der allgemeine Verfechter Deutschlands zu sein und seine Stellung nach außen nachdrücklich zu vertreten, zugleich im Innern selbst durch eine Masse der verwickeltsten, dringendsten Fragen aufs äußerste beschäftigt — was, in dem Augenblick, da die entente cordiale35 zwischen England und Frankreich sich zu lösen und damit die ganze Gestalt der Welt eine andere zu werden droht, da der blutige Schatten Polens sich mahnender denn je, drohend, verhängnisvoll, an das heitere Licht des Tages drängt, da durch alle Provinzen, alle Gegenden des eignen Landes vulkanische Zuckungen gehen — was tut sie? was stellt sie selbst in den Vordergrund ihrer Bestrebungen? worin legt sie den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit? Sie beruft eine allgemeine Landessynode, sie drückt den theologischen Kontroversen den Stempel ihres Ansehens auf, durch das heilige Öl (so scheint es) eines gereinigten, wiederhergestellten Glaubens will sie diese Flut besänftigen, welche das Staatsschiff umwogt.

Und der Gesandte36 eben dieser Regierung auf dem bedeutendsten Terrain, wo überhaupt ein Gesandter sich befinden kann, an dem wahren Areopag37 der Welt, in London, in dem Augenblicke, da ein langerwarteter, langerstrebter Ministerwechsel den Parteien des Landes eine ganz neue Stellung, der englischen Regierung selbst eine ganz neue Färbung verleiht, da ferner durch Peels38 letzte Maßregeln der englische Handel, diese wichtigste Triebfeder der gegenwärtigen Politik, eine völlig neue Grundlage anzunehmen und damit zugleich unsern eignen Handelsverhältnissen eine noch völlig unberechenbare Wendung zu geben verspricht — Es kommt uns nicht von weitem in den Sinn zu behaupten, dass der sehr ehrenwerte Gesandte diese seine eigentlichen und wichtigsten Obliegenheiten vergessen oder auch nur im allermindesten verabsäumt habe: aber überraschend ist es uns allerdings gewesen, dass inmitten dieser politischen wie gewerblichen Krisis, unter den zahlreichen und (wie man meinen sollte) unausgesetzten Anforderungen seines Amtes, der sehr ehrenwerte Gesandte nichtsdestoweniger Zeit und Stimmung gefunden hat, ein dickleibiges Buch über unsre kirchlichen Angelegenheiten abzufassen und in England selbst Korrespondenzen anzuknüpfen und Untersuchungen anzustellen — über den Kornhandel? die Manufakturdistrikte? das mögliche Ergebnis einer bevorstehenden Parlamentsauflösung? — Vielleicht auch, wir wissen es nicht: aber theologische Korrespondenzen, kirchliche Gutachten liegen gedruckt vor uns.

Ja und damit es diesem verhängnisvollen Schauspiel an keiner, auch an der gefährlichsten Steigerung nicht fehle: haben wir nicht in diesen jüngsten Tagen gesehen, wiederholentlich gesehen, wie sogar das Oberhaupt39 des Staates selbst, ein geistreicher, großsinniger Fürst, ein Fürst, von dessen wohlwollenden und edlen Absichten er selbst uns täglich die bündigsten Versicherungen gibt — haben wir, ich frage! nicht auch dies Oberhaupt des Staates selbst zu wiederholten Malen in persönlichen Konflikt geraten sehen mit den Magistraten und bürgerlichen Behörden der ältesten, edelsten, einflussreichsten Städte der Monarchie — weshalb? wegen streitiger städtischer Gerechtsame, wegen Abgaben und Steuern oder anderer politischer Fragen? Nicht im geringsten! sondern auch hier wieder ist es die kirchliche Frage, welche, sich an den Thron selbst drängend, in ihrem unseligen Gefolge auch diese höchst bedauerlichen Konflikte herbeigeführt hat; auch jene königlichen Schreiben und Ansprachen an die Magistrate in Berlin, Breslau, Königsberg, Magdeburg usw., die überall einen so tiefen und schmerzlichen Eindruck hervorgebracht haben, sind ein überaus charakteristisches Zeichen von der bedenklichen Höhe, welche die Flut der theologischen Interessen bei uns erreicht hat. —

Allein schon höre ich, was der Leser hier einwendet. Zugestanden, sagt man, dass es so ist, wie du es darstellst und zum Teil noch schlimmer: beweist es nicht vielmehr gegen als für dich? Zugestanden, dass Deutschland in diesem Augenblicke nur noch einem großen kirchlichen Konzile gleicht und dass wir alles andere verlernt zu haben scheinen, Politik, Literatur, bis allein auf unsre theologischen Kenntnisse: was, wenn es so ist, lässt sich dagegen einwenden? Liefert nicht diese Tatsache selbst den Beweis, dass diese Gestaltung der Dinge eine natürliche, notwendige gewesen? Diese beredte Schilderung selbst, die du von der gegenwärtigen Alleinherrschaft der theologischen Interessen entwirfst, hast du nicht mit ihr alle Einwendungen, die du gegen diese Herrschaft erheben willst, zum voraus entkräftet? Wären es einzelne, wohl, so möcht es Laune, war es vorübergehend, so möcht es Mode oder Zufall sein: aber du sagst selbst, dass die ganze Nation, die gesamte Zeit diese kirchliche Farbe trage — noch einmal: was lässt sich dagegen einwenden? Eine solche allgemeine Stimmung, muss sie nicht in Wahrheit eine berechtigte — ein so dauerndes, so allverbreitetes Interesse, muss es nicht in der Tat ein notwendiges, ein wahrhaft historisches sein?

Und wenn es nun so ist (fahren sie fort) und wenn nun wirklich hinter diesen theologischen Streitigkeiten, diesen kirchlichen Zerwürfnissen das Bedürfnis und der Beginn eines neuen, erhöhten religiösen Lebens liegt, wenn der Zug der Geschichte nun wirklich wieder rückwärts oder besser gesagt, heimwärts geht zu ihren himmlischen Urquellen: warum, da du doch in allen andern Richtungen die unbedingte Macht, das unbedingte Recht der Geschichte anerkennst — warum nur in diesem Falle diesem Zuge willst du deine Anerkennung versagen? »Unsre Zeit unser Gott!« Wie oft nicht haben wir diesen Ausspruch aus eurem Munde vernommen, mit wie glänzenden Lettern habt ihr ihn nicht eingestickt in die Banner eurer Partei? Und wie nun? Wollt ihr der Zeit nur huldigen, wenn sie euch schmeichelt? ihr Recht nur anerkennen, wenn es in Übereinstimmung ist mit euren persönlichen Neigungen und Abneigungen?

Und wie dann steht es mit diesem Aufsatze? Machst du, indem du die treibende Macht der Zeit, statt dich ihr willig, dienstbar hinzugeben, vielmehr kritisch zersetzest und zergliederst, dich nicht derselben Halbheit, derselben Begeisterungslosigkeit schuldig, welche du selbst in diesem Aufsatze so hart getadelt? Ja dieser leichtfertige, scherzende Ton, mit dem du von den heiligsten Dingen, von dem Erwachen eines neuen Glaubens, eines neuen religiösen Lebens sprichst, — wie weit ist er noch entfernt von jener Frivolität9, deren du selbst die Zeit anklagst — anklagst, um sofort, auf frischer Tat, denselben Irrtum zu begehen?!

Unterwerfen wir diese Anklagen eine nach der andern einer nähern Prüfung; vielleicht dass wir nicht ganz so schuldig sind, wie die Ankläger meinen.

Zwar was das erste Bedenken angeht, ob nicht die gegenwärtige theologische Richtung der Zeit eine völlig berechtigte, darum schon, weil sie eben die allgemeine Richtung der Zeit, so müssen wir die Beantwortung derselben noch verschieben, bis wir dieser Richtung selbst erst ein wenig näher ins Auge gesehen. Denn vielleicht, wer weiß? sie scheint vielleicht allgemeiner als sie ist? sie ist vielleicht gar nicht so theologisch, als sie scheint?

Was dagegen den zweiten Punkt betrifft, das Erwachen eines neuen religiösen Lebens, einer neuen erhöhten Gläubigkeit, zu welcher die Zeit angeblich hinarbeitet, so erlaube man uns einfach die Frage, wer es denn eigentlich gewesen, der diese ganze Angelegenheit zuerst in Gang gebracht, wer es ferner ist, der sie gegenwärtig am meisten in Gang erhält, wer das meiste Leben, die meiste Tätigkeit zeigt, ja wer recht eigentlich Seele und Kern dieser ganzen Bewegung ist: die Gläubigen oder die Ungläubigen? die Kirchlichen oder die Unkirchlichen? die Frommen oder die Ketzer? Wir wollen noch gar nicht fragen: wer bildet die Mehrzahl? auf welcher Seite sind die rüstigeren Streiter? Wir beschränken uns, wie gesagt, noch einfach auf die Frage: bei wem nahm diese Bewegung überhaupt ihren Ursprung? durch wen gewann sie ihre große Verbreitung? von wem wird sie noch jetzt vornehmlich unterhalten?

Es liegt nicht in der Absicht dieses Aufsatzes, der ja die in Rede stehende Frage überhaupt nicht erschöpfen, der nur über einige Punkte derselben den Leser zu Aufmerksamkeit und Nachdenken anregen will — es liegt, sage ich, nicht in der Absicht noch auch in der Aufgabe dieses Aufsatzes, Ursprung und Entstehung dieser Bewegungen ausführlich zu erzählen und eine Chronik zu liefern von diesem Kampfe, der um das neue Ilium40 der Kirche geführt wird. Daher auch nur mit zwei Worten sei hier an die Tatsache erinnert, dass diese Fragen, die gegenwärtig unser deutsches Volk so tief zu erschüttern scheinen, von der Wissenschaft schon seit Jahren diskutiert worden sind: bis endlich einige Bücher erschienen, welche, die bisherigen vereinzelten Resultate auf eine glänzende Weise kombinierend und tiefer begründend, durch das Aufsehen, das sie innerhalb der Wissenschaft selbst machten, auch über deren Gebiet hinaus zuerst die Neugier, dann die Teilnahme, bald die Begeisterung des Publikums erregten.

Und welcher Art nun waren diese Bücher? Waren es fromme Bekenntnisschriften, Stützen der Kirche, Bollwerke des Glaubens? Waren sie geschrieben, um die Zweifelnden zu belehren, die Irrenden zu bekehren, die Gläubigen in ihrem Glauben zu stärken?

Vielmehr im Gegenteil, wir haben es gerade umgekehrt im Gedächtnis: es waren sehr aufgeklärte, sehr freisinnige Schriften41: Schriften, welche mit unerbittlicher Strenge die Konsequenzen der Wissenschaft zogen und die vom Alter geheiligten Überlieferungen einem scharfen, ja grausamen Messer unterwarfen.

Und gerade diese Bücher gefielen, gerade diese Schärfe war es, welche imponierte, gerade diese wissenschaftlichen Waffen, welche sie dem Unglauben darboten, diese geistige Berechtigung, mit welcher sie den Zweifel verklärten, gerade diese waren der Ursprung ihrer Popularität.

Bei wem? Ei nun natürlich, nur bei den Gleichgesinnten. Und deren Zahl, siehe da, war viel größer, als sie selbst vielleicht gedacht hatten. Eine außerordentliche Anzahl von Menschen, die bis dahin teils in Unwissenheit, teils in Gleichgültigkeit ruhig dahingelebt hatten — jetzt, da das Joch der Überlieferung einmal gebrochen, da der Zweifel einmal zu offenem Bekenntnis gekommen war, fühlten sie erst, wie wenig im Grunde ihnen seit langem schon die Überlieferung gewesen und wie tief, ohne sich selbst klar darüber zu sein, sie bereits angesteckt waren vom Zweifel. Wie man sonst vom Basilisken42 erzählt, dass sein eigener Anblick ihn töte, so im Gegenteil hier schien es, als ob der Zweifel am Zweifel, die Kritik an der Kritik, der Unglaube am Unglauben lebendig würde.

Allerdings blieb auch die Gegenwirkung nicht aus. Vielmehr je schneller die Schar der Freisinnigen zunahm, je rascher ihre Stichworte übergingen in das Gespräch des Tages, in das laute Gewühl des Marktes, um so lebhafter erhob das kleine Häuflein der Rechtgläubigen gleichfalls seine Stimme: konnten sie nicht überreden, wohlan, so drohten — konnten sie nicht überzeugen, so schimpften sie: und damit war die Schlacht denn allerdings begonnen.

Hiernach stellt sich zweierlei heraus, was für die oben angeregten Bedenklichkeiten von Wichtigkeit ist: erstens dass das (wie man es so gern nennt) »religiöse Leben der Gegenwart« gar nicht so tief aus der Mitte des Volks hervorgewachsen, gar kein solch ursprüngliches, autochthonisches43 Element unsers Volkslebens ist, wie man uns wohl überreden möchte. Vielmehr es ist erst von außen hineingetragen worden, erst die Wissenschaft hat (um einen sehr unedlen, aber auch sehr bezeichnenden Ausdruck zu gebrauchen) das Volk mit der Nase darauf gedrückt; erst nachdem die Gelehrten sich satt und müde daran gesprochen, hat der große Haufe die aufgefangene Losung weitergetragen. Nichts also von Vertiefung des Lebens — nur Ausbreitung und Verflachung der Wissenschaft! Nichts von neuerwachten, tiefliegenden innerlichen Bedürfnissen — nur Folge äußerlichen Anstoßes, nur Nachahmung fremder Muster, nur trivialisierender Nachhall längst ausgesprochener, längst bekannter Wahrheiten!

Zweitens aber stellt sich dabei auch heraus, dass es gar nicht der Glaube, vielmehr der Unglaube, gar nicht die Frommen, vielmehr die Ketzer, welche diese religiöse Bewegung veranlasst haben; nicht in majorem, vielmehr in minorem ecclesiae gloriam44 ist der Kampf entbrannt, nicht den Glauben schützen will man — nein, man möchte gern des bisschen, das man noch etwa hat, sich mit guter Manier völlig entledigen. Mit einem Worte: die Bewegung ist nicht eine positive, vielmehr eine negative, nicht eine aufbauende, vielmehr eine zerstörende.

Und da ist es nun ein wunderlicher, von vielen vielleicht beklagter, aber doch von niemand wegzuleugnender Trieb der menschlichen Natur, dass ihr das Zerstören überall viel größere Freude macht als das Erhalten, das Einreißen viel größere als das Aufbauen: von dem Kinde an, welches das kaum erhaltene Spielwerk damit einweiht, dass es dasselbe zerbricht, zerpflückt, zerfetzt, bis zu dem Greise, der, am Schluss eines reichen, vielbewegten Lebens, mit einem vernichtenden: »Alles ist eitel« allen Blütenschmuck der Erde abstreift, alle Illusionen behaglich zerstört. Jedes Vernichten freilich ist auch nur der Anfang eines neuen Seins, ein neues Werden: und so scheint es in der Tat eine dunkle Ahnung des Neuen, des Werdenden zu sein, was den Menschen im allgemeinen dem Zerstören so viel geneigter macht als dem Erhalten. Bei dem Alten, Stabilen, was kann da noch herauskommen? Die Rechnung ist gleichsam geschlossen, niemand hat mehr etwas zu erwarten, die Entwicklung ist zu Ende. Dagegen wo eingerissen wird, da wird eben dadurch auch zugleich gebaut; mitten aus dem Graus der Zerstörung, unter Schutt und Trümmern keimt ein neues Leben hoffnungsreich hervor — und dem Neuen gehört die Welt!

Dies, wie gesagt, wird von manchem vielleicht beklagt, aber doch von niemand geleugnet werden: und ebenso wird mancher vielleicht beklagen, aber gleichfalls niemand leugnen, dass auch in diesen religiösen Bewegungen der letzten Jahre die Partei der »Negativen«, der »Destruktiven«, die Partei der Aufklärung und der Kritik, der Ungläubigen und Ketzer bei weitem das größere Terrain, die größere Popularität gewonnen haben.

Man beachte unseren Ausdruck wohl, wir haben ihn mit Vorsicht gewählt: nicht von intensiver — wir sprechen nur von extensiver Bedeutung, nicht von der Macht — nur von der Masse, nicht von Einfluss und Wirkung — nur von Geltung und Meinung. Die positive, die reale Wirksamkeit, das tatsächliche Übergewicht in Staat und Kirche — wer wäre blind, wer einfältig genug, es den Strenggläubigen, den Positiven, den Frommen abzusprechen? Beati possidentes45: und die Frommen besitzen allerdings alles: Amt und Einfluss, Rang und Ehre, Gehalte und Titel ...

Aber mit Verlaub, eines doch nicht: sie besitzen keine Popularität! Im Gegenteil, ihre Macht steht mit ihrem Ruf in umgekehrtem Verhältnis: je mehr jene zunimmt, je mehr schwindet dieser, je mehr jene steigt, je mehr sinkt ihr Ruf; was sie oben, bei Fürsten und Königen gewinnen, das büßen sie in doppeltem, dreifachem Maße unten beim Volke ein.

Es ist ganz richtig, dass diese Einbuße nur eine scheinbare, dieser Verlust nur ein illusorischer ist: wer die realen, positiven Früchte des Lebens in Händen hat, was braucht der nach den gemalten, den Schattenbildern der öffentlichen Meinung zu fragen? wer im goldnen Wagen behaglich die Gasse daherrollt, was kümmert es ihn, was die Fußgänger, die er mit Kot bespritzt, hinter ihm drein murmeln? — Auch dass sie in der Minderzahl sind, ist es wohl wirklich ein Nachteil für die Frommen? Sogar man braucht nur mit den allerersten Grundsätzen der Gesellschaftsrechnung vertraut zu sein, um zu wissen, dass es vielmehr ein Gewinn, ein Vorteil für sie ist: vier gibt allemal einen größern Quotienten, als wenn ich dieselbe Zahl mit vierzig oder vierhundert oder viertausend dividiere, nicht wahr?

Und dann steht ferner nicht zu leugnen: wie geschickt die Frommen auch übrigens in allen Dingen sind, welche wahrhaft beneidenswerten Talente sie unter sich zählen und welche Muster von Energie, Gewandtheit, Tätigkeit sie in Wahrheit auch allen Parteien geben: das Talent, die Massen zu packen, die Gabe, die Welt mit Geräusch und Lärmen zu erfüllen, gebricht ihnen dennoch. Sie heißen nicht umsonst die »Stillen im Lande«; laute Demonstrationen, große öffentliche Versammlungen, Debatten und Disputationen sind ihre Sache nicht, zum wenigsten nicht in Deutschland, wo es, wenn auch nicht an Hirzel46 und Siegwart-Müllers47, so doch jedenfalls an dem Pöbel fehlen würde, den sie kommandieren könnten. Auch soll den Frommen daraus kein Vorwurf gemacht werden: einem kann nicht alles gegeben sein; wer als Sappeur48, als Minierer, als unterirdischer Arbeiter so vortreffliche Talente entwickelt, wer im Ernst wollte von ihm verlangen, dass er auch Tirailleurdienste49 leisten und als Husar50 ein munteres Vorpostengefecht führen soll?

Dies vielmehr ist die Sache der Negativen, der Freidenker, der Ketzer. Wer hat die großen Volksversammlungen in Köthen30 etc. zustande gebracht: Volksversammlungen im echten Sinne des Wortes, gegen welche die frommen Konventikel51 von Trieglaff52, Barby53 usw. höchst kläglich abstechen? Wer verfasst Adressen, Proteste, Erklärungen? Wer isst Zweck, bringt Toaste aus, schreibt Korrespondenzen und Berichte? — Wir wollen gar nicht behaupten, als ob mit all diesen Dingen, diesen Versammlungen und Vereinen nun auch wirklich etwas getan, etwas ausgerichtet und gewonnen sei und als ob die Gläubigen wirklich etwas daran verlieren, dass sie dieser geräuschvollen Tätigkeit, dieser Öffentlichkeit der Volksversammlungen und Festschmäuse entbehren. Im Gegenteil, wir haben es gesehen, wie zwei ganz schweigsame, ganz phlegmatische Gendarmen eine ganze große »Volksversammlung« ohne die geringsten Umstände auseinanderkomplimentierten. Daher, solange die Frommen nur der Polizei noch sicher sind, solange die ecclesia militans54 nur noch Militär zur Verfügung hat, solange kann sie den Gegnern dies eitle Vergnügen der größeren Öffentlichkeit, den kurzen, inhaltleeren Rausch der Popularität immerhin schon gönnen. —

Um also diese beiden Tatsachen noch einmal festzustellen: nicht aus der Tiefe eines positiven Volkslebens hat die gegenwärtige Krisis unsrer religiösen Verhältnisse sich entwickelt, sondern es ist der Niederschlag wissenschaftlicher Kritik, nicht dem gläubigen, sondern dem ungläubigen, nicht dem aufbauenden, sondern dem niederreißenden Elemente verdankt sie ihre Verbreitung und ihre Popularität: Bischof Arnoldi25 hätte seinen heiligen Rock55 lange ausstellen, wenn nicht Ronge24-Hengstenberg23, ein anderer Jupiter tonans56, seine kalten Schläge immerhin versenden können, es hätte nicht Hund noch Hahn danach gekräht, wenn nicht Wislicenus57, Uhlich22, König58 gekommen wären.

Wohlan nun: mit der Heiligkeit, der weltgeschichtlichen Bedeutung dieser Bewegungen, ja nur mit ihrem religiösen — ich sage nicht theologischen, nein: ihrem religiösen Charakter, wie steht es?!

Aber, sagt man, es sei so, es verhalte sich wirklich so, dass die Gläubigkeit in diesem Kampfe im ganzen mehr Terrain verloren als gewonnen, die ganze Bewegung mehr eine antikirchliche, als kirchliche: ist nicht zum wenigsten das Herausarbeiten aus der falschen Religion, schon an sich selbst und in dieser bloß negativen Haltung sogar, ein religiöser Akt? bleibt nicht unter allen Umständen schon der Freimut, die Ehrlichkeit, die Wahrheitsliebe zu schätzen, mit der man zum wenigsten seinen Unglauben bekennt? ist es nicht etwas Großes und verspricht es nicht unserm gesamten Leben eine nachhaltige sittliche Erhebung, dass man zum wenigsten aufräumt in seinem Gewissen und statt eines gedankenlos unwahren Confiteor59 ein dezidiertes, ehrliches Nego60 spricht? Ja dieser Kampf der Geister überhaupt, dies Herauswachsen aus Traditionen und Überlieferungen, dies kecke Abschütteln der Unwahrheit, der Lüge und Gedankenschwäche, ist es nicht an sich schon eine Religion, ein Gottesdienst, der höchste, edelste sogar, den es gibt: ein Gottesdienst der Freiheit? und mithin diese Negativen, diese Ungläubigen, sind sie nicht in anderm, großartigerm Sinne vielmehr die wahrhaft Positiven, wahrhaft Gläubigen?

Ganz ohne Zweifel: wenn irgend etwas versöhnen könnte mit diesen theologischen Trivialitäten, die uns von allen Seiten her in die Ohren schwirren, so wäre es die gute Absicht, der edle Freimut, die Überzeugungstreue, die sich dabei kundgibt: — wobei wir gar nicht so parteiisch sein wollen, all diese vortrefflichen Eigenschaften nur auf Seiten der sogenannten Freigesinnten zu suchen und die Möglichkeit zu leugnen, dass nicht ein Pietist61, ein Orthodoxer62 gleichfalls in diesem seinen Bekenntnis sehr wohlmeinend, sehr freimütig, sehr gewissenhaft sein könne —: vorausgesetzt, dass es mit diesem guten Willen, dieser Unerschrockenheit, diesem Wahrheitsbekenntnis nur überall so sehr weit her wäre.

Allein wie steht es? Bei den einen, den Strenggläubigen, wer wagt es, das Senkblei auszuwerfen und abzumessen, wie tief hier der Glaube, die Gemütlichkeit, das innere Bedürfnis reicht — und wo der Sumpf der Heuchelei, des Eigennutzes, der weltlichen Schlauheit beginnt?

Und bei den andern? Nun, wir wollen niemand etwas Böses nachsagen: aber das behaupten wir dreist: wenn das die volle Tageshelle der Aufklärung, die äußerste Grenze der Freiheit überhaupt sein soll, was unsre Lichtfreunde28, unsre Deutschkatholiken29, unsre Freien63 zum besten geben — fürwahr, so verlohnt es sich überhaupt nicht, aufgeklärt und freisinnig zu sein. Die halbe Nacht oder die ganze, ist der Unterschied wirklich so groß?! »Wollt Ihr Euch als Poeten geben«, sagt Goethe, »so kommandiert die Poesie!«64 Wollt ihr einmal als Freidenker gelten, rufe ich euch zu, so habt die Courage, wirklich und völlig frei zu denken! Wollt ihr Ketzer sein, so seid es auch ordentlich! Wollt ihr eine neue, wahrhaft freie, vernunftgemäße Kirche schaffen, so unterhandelt nicht erst lange mit der alten! so gesteht nicht auf der einen Seite zu, was ihr auf der andern erst geleugnet! so gebt nicht mit der Linken zurück, was ihr soeben erst mit der Rechten genommen! Die Welt ist schon viel heidnischer gewesen, als ihr sie machen wollt, ja sie ist es in diesem Augenblick noch: Uhlich22 und Wislicenus57, Ronge24 und Czerski33 — presst sie aus, miteinander, destilliert sie in eins und schüttet noch alle Lügen, alle Verdrehungen, alle Entstellungen dazu, welche die Hengstenberg23 und Gerlach65, die Phillips66 und Ritter67 über sie ausgegossen: Ihr kriegt doch aus der ganzen Gesellschaft noch nicht den zehnten, nicht den hundertsten, den tausendsten Teil heraus von dem Freimut, der Aufklärung, der (wenn es doch einmal so heißen soll) »freien Religion«, welche seit hundert Jahren alle größten Geister unsres Volkes, einen Kant und Fichte, einen Lessing und Schiller erfüllt haben! Euer bisschen revidierter Katechismus, eure abgeschafften Symbole, eure Priesterröcke ohne Beffchen68 — was wollen sie sagen gegen das natürliche, gesunde, naive Heidentum des einen Goethe?! Eure homöopathische Freisinnigkeit, eure Ketzereien in Milliontel zerlegt, eure Aufklärung im Domino69, was wollen sie bedeuten gegen diesen Strom von Aufklärung, von Freisinnigkeit und Ketzerei, der seit hundert Jahren unsre Literatur, unsre Kunst, siegreich, zeugend, durchrauscht?! — Wahrlich, die großen Männer des achtzehnten Jahrhunderts, die Dichter und Denker, denen unsre Literatur ihren Glanz, unsre Nation ihre Bildung verdankt — im Grabe müssten sie sich ja umdrehen, wenn sie vernehmen könnten, um was heut, in der Mitte des neunzehnten, fünfzig und sechzig Jahre nach ihrem Tode, ihre Enkel noch erst streiten und disputieren und denken wunder was Großes sie damit tun! Die Ohren verstopfen möchte sich, wer irgend jemals den Lehren unsrer Weisen, den Rhythmen unsrer Dichter gelauscht hat und muss nun die Trivialitäten, die Nichtigkeiten und Halbheiten dieser neuen Aufklärer mit anhören — Pygmäen, die mit ihren kleinen, winzigen Kräften nachbauen wollen, was Giganten vor ihnen schon längst gegründet! Blindgeborene, die Mirakel schreien über den ersten schwachen Lichtstrahl, der ihnen in die blöden Augen dringt, nicht ahnend das gewaltige, unermessliche Meer von Licht, das ringsum, seit Jahrtausenden, die Welt durchfließt!

Aber ihr zwinkert mit den Augen und zischelt und gebt zu verstehen, das wäre auch erst nur so der Anfang, ihr wäret gar nicht so dumm, wie ihr euch stellt, ihr wäret sogar noch viel, viel freisinniger als ihr tätet, ihr glaubtet selbst nicht die Hälfte, nicht das Viertel von dem, was ihr noch zu glauben vorgäbet...

Nun denn, Wort gegen Wort: so rühmt euch wenigstens nicht eurer Wahrhaftigkeit, so tut wenigstens nicht groß mit eurem Freimut, so spielt nicht die Märtyrer und seid stolz auf eure Verfolgungen und Absetzungen! Trivial oder unwahr, furchtsam oder borniert — ihr habt die Wahl! —

Was aber endlich die Entschuldigung angeht, es werde dieser Kampf, wie er auch sei, doch immerhin zugunsten der Glaubens-, der Gewissensfreiheit geführt: so wahrlich, wenn dies des Pudels Kern sein soll, so hat es des vielen Lärmens darum nicht bedurft. Glaubensfreiheit? Aber der Glaube ist immer frei! aber das Gewissen, die innerliche Überzeugung, die Wahrheit gegen sich selbst kann gar nicht gebeugt, kann gar nicht geknechtet werden, es sei denn, sie beugte sich freiwillig und fiele ab von sich selbst! Von der Glaubensfreiheit also, wenn man nichts weiter will, ist gar kein solches Aufheben zu machen: sie existiert immer und überall — »Gedanken«, sagt das Sprichwort, »sind zollfrei«: zu denken, was ihr wollt, zu glauben, was ihr mögt — versucht es nur: kein Alba70 kann es euch verwehren, und ob ihm in jedem Augenblick Millionen Henker zu Gebote stünden!

Ja: aber dies bloße abstrakte Glauben ist euch nicht genug; ihr wollt auch Macht und Freiheit haben, euren Glauben auch äußerlich zu gestalten und kundzugeben; ihr seid nicht zufrieden mit einer bloßen innerlichen Kirche, einer bloßen unsichtbaren Gemeinschaft der Heiligen: ihr wollt eurer Überzeugung auch äußerlich, in einem Kirchen-, einem Gemeindewesen, eine fass- und greifbare Gestalt, einen Leib, einen Körper geben.

Und da wären wir denn endlich angelangt, wohin wir wollten! Der Glaube, das Gewissen, die Religion an sich (haben wir gesagt) sind immer frei, sie brauchen gar nicht erst verteidigt zu werden, weil sie nämlich niemals angegriffen werden können. Rein religiöse Angelegenheiten in diesem Sinne gibt es also gar nicht — oder vielmehr es gibt ihrer wohl: aber ein jeder macht sie mit sich selber ab, sie drängen sich niemals in den Lärm des Marktes, sie geben niemals Anlass zu Zwist und Streit, es sei denn zu geistigen Kämpfen, zu inneren Krisen des Individuums selber.

Aber was wir schon öfter erinnert haben: die Faust im Sack ist keine, der abstrakte Geist, die bloße Innerlichkeit an sich ist nichts; erst wo sie aus sich selbst heraustritt, wo der Geist sich verkörpert, wo die Idee als plastisches Gebilde, lebendig, in die Welt schreitet, da erst ist sie wirklich vorhanden, da erst kommt sie in Betracht, da erst zwingt sie uns, auf sie zu achten.

Diese Welt des Wirklichen nun aber, diese allgemeine Verkörperung der Idee, dies (um es recht eigentlich zu bezeichnen) Reich Gottes auf der Erde ist nun eben — der Staat! die bürgerliche Welt, die Welt des Rechtes, als der verwirklichten Freiheit! Alles daher, was aus der abstrakten Idee heraus in die Wirklichkeit gleichsam einwachsen, was wirklich werden, wirklich sein will, verfällt eben dadurch auch der staatlichen Sphäre oder der Sphäre des Politischen; es gibt, im Bereich des Menschen, keine andere wahrhafte Existenz als allein die Existenz im Staate, es gibt kein anderes lebendiges Dasein als allein politisches Dasein. Was nicht im Staate zu existieren weiß, existiert überhaupt nicht; was sich nicht politisches Dasein verschafft, ist überhaupt nicht da.

Sehen wir einen Augenblick zu, wohin eigentlich das Streben all dieser verschiedenen religiösen Parteien geht und worin, als in einem allgemeinen Zentrum, einem allgemeinen Ziel- und Mittelpunkt aller Bestrebungen, alle zusammentreffen. Von den Altlutheranern bis zu den Neukatholiken, von den Pietisten61 zu den Lichtfreunden28, allesamt stimmen sie darin zusammen, dass sie freie Religionsübung haben, dass sie unabhängige religiöse Körperschaften, mit einem Worte: dass sie freie, selbstberechtigte Gemeinden bilden wollen. Die Gemeinde aber ist eben die politische Form, in welcher die innerliche, religiöse Gemeinschaft sich äußerlich konstituiert: die religiöse in Gestalt der bürgerlichen Gemeinschaft. Mithin, indem diese verschiedenen Parteien Gemeinderechte in Anspruch nehmen, indem sie Unabhängigkeit und Selbstgouvernement der Gemeinden verlangen, verlangen sie in der Tat nicht etwa religiöse Rechte: in der Religion ist das Moment des Rechtes gar nicht vorhanden: sondern vielmehr politische Rechte sind es, um was der Streit sich dreht.

Und ferner: sollte es wohl wirklich nur abstrakter religiöser Fanatismus, wirklich nur eine ideale Besorgnis um das Seelenheil der Andersdenkenden sein, was diesen erbitterten Kampf der Gläubigen gegen die Ungläubigen, der Freidenker gegen die Pietisten61 entzündet hat? Und wenn wir auch wirklich von diesen, den Pietisten, so schlimm (oder auch so gut) denken wollen — ihr, Aufgeklärte, Lichtfreunde28, Freie63! so werdet doch wenigstens ihr von diesem Fanatismus euch frei erhalten haben? so werdet doch ihr wenigstens euren Mitmenschen nicht darum bekämpfen, weil er das Unglück hat, nicht so klug, so aufgeklärt, so weise zu sein wie ihr? so werdet doch ihr wenigstens nicht das Reich der Freiheit ausbreiten wollen auf dem Wege der Tyrannei?!

Gewiss nicht, versichert ihr: denke und glaube ein jeder, was er mag und will, und auch so fromm sei er, wie sein Herz ihn treibt, ja nicht bloß dass ein Esel71 — er glaube, dass zehn gesprochen haben, wenn nämlich dieser Glaube ihn glücklich macht: aber nur diese vertrackte Art, sein Denken kundzugeben, nur diese perfide Weise, seinen Glauben fühlbar zu machen, nur diese Denunziationen, diese Prozesse, diese Absetzungen, nur dies Ausschließen aller Andersgläubigen aus allen Ämtern und Stellen, dies Einschmuggeln seiner Kreaturen, dies Ansichreißen aller politischen Gewalt und alles öffentlichen Einflusses — Politische Gewalt, öffentlicher Einfluss — da haben wir's! Ihren Glauben wollt ihr ihnen schon lassen: nur hier außen, auf dem politischen Kampfplatz, auf der Walstatt der praktischen, bürgerlichen Verhältnisse, da nur, verlangt ihr (und verlangt es mit Recht), sollen Wind und Sonne gleich geteilt sein.

Und ebenso die Gegenpartei hätte gewiss nicht das mindeste dagegen, dass wir zur Hölle fahren von wegen unsrer Gottlosigkeit: nur Amt und Brot haben, Wirksamkeit, Einfluss, politische Stellung haben — das sollen wir nicht! Ketzer (man erlaubt es uns) mögen wir sein: nur nicht Professoren, nicht Prediger, Räte, Minister! Ja Sekten dürfen wir bilden: aber nur keine Gemeinden, das heißt keine vom Staate anerkannten, politisch berechtigten Körperschaften!

Um also mit kurzen Worten frei auszusprechen, was wir vorhin noch in der Schwebe ließen: diese vermeintliche religiöse Bewegung der Gegenwart ist gar keine religiöse, sie ist eine politische Bewegung. Es sind Wölfe im Schafskleide, es ist der Harnisch unter der Kutte: Pietisten61 und Lichtfreunde28, Orthodoxe62 und Deutschkatholiken29, Hengstenberg23 und Uhlich22, Arnoldi25 und Ronge24 — siehe da unsre Tories und Whigs72, unsre Konservativen und Liberalen, unsre Peels38 und Russels73, unsre Guizots74 und Thiers75! Es ist umgekehrt wie im Sprichwort76: man schlägt den Esel und den Sack meint man; nach dem Himmel zielt man und die Erde will man treffen. —

Niemand hat dies rascher und richtiger erkannt, als die zunächst dabei interessiert waren, unsre Regierungen. Man hört wohl in neuerer Zeit hie und da die Meinung äußern, teils bedauernd, teils auch mit Schadenfreude, dass es von den Regierungen, denen es um Erhaltung des politischen Status quo zu tun, in der Tat ein unverzeihlicher Fehlgriff gewesen, den religiösen Bewegungen hemmend in den Weg zu treten. Welchen besseren Ableitungskanal für die Neuerungssucht, die Unruhe, die reformatorischen Gelüste, die unsrer Zeit nun einmal innewohnen, sich erdenken lasse als dieser? welche Debatten ungefährlicher als theologische? welche Zusammenkünfte unschädlicher als diese, in denen man über das Mysterium der Dreieinigkeit, über Symbole77 und Wunder, über Bibel- und Katechismenstellen mit aufrichtigem, ungeheucheltem Eifer verhandele? Dieses Ventil verschlossen, sei allerdings Gefahr vorhanden, dass die eingepressten Dämpfe die Staatsmaschine unsanft erschüttern. Also frisch die theologische Sicherheitsklappe wiederaufgezogen — und die gefährliche Kraft braust unschädlich, ziellos ins Blaue!

Die Regierungen, wie gesagt, haben besser gesehen; sie haben sich durch die theologischen Stichworte nicht darüber irremachen lassen, dass es in der Tat politische Agitationen, politische Tendenzen sind, welche, vielen vielleicht, ja den meisten bewusstlos, nichtsdestoweniger all diesen Erscheinungen zugrunde liegen. Sie haben getan, was sie unter diesen Umständen sich selber schuldig waren: sie haben verboten und unterdrückt — ein Tor, der ihnen daraus einen Vorwurf macht!

Aber wenn es auch allerdings viele, wenn es auch die meisten sein mögen, die sich in diesen Kampf eingelassen, ohne die eigentliche Bedeutung desselben zu durchschauen: alle — dies wissen wir aus persönlicher Erfahrung — alle wenigstens sind es nicht. Vielmehr unter den theologischen Kämpfern gibt es allerdings einige, die sich als Demagogen, als politische Parteiführer in der Tat fühlen und wissen. Aber auch von diesen sind die Mehrzahl nur allzu geneigt, diese mönchische Maskerade, dieses theologische Inkognito unsrer politischen Entwicklung zu entschuldigen, wohl gar zu verteidigen, indem sie verschiedene Vorteile davon anzuführen wissen.

Erstlich, sagen sie, sei dies diejenige Form, welche dem deutschen Charakter am entsprechendsten; das deutsche Volk sei nun einmal ein spekulatives, ein theologisches Volk, erst von der Theologie aus müsse man es zur Politik gewissermaßen erziehen, gewöhnen, erst durch den Himmel ihm den Weg bahnen auf die Erde.

Aber dieser Grund, mit Verlaub zu sagen, ist gar keiner. Ein Volk ist allemal ein politisches Volk, ja es wird erst dadurch zum Volk, dass es sich irgendwie politisch konsolidiert. Gesetzt also, diese weichherzig vorsichtigen Schutzredner hätten recht, was folgte daraus? Nichts anderes, dächt ich, als dass wir überhaupt noch kein Volk sind — und das freilich wäre möglich. Aber auch in diesem Falle wäre diese theologische Kur, diese Heilung durch die Bibel und den Katechismus, die man uns da empfehlen will, eine sehr unglückliche, sehr vergebliche Kur: mir tut der Magen weh — und ihr kuriert mich am Bein! ich will schwimmen lernen — und ihr lehrt mich Seiltanzen!

Zum zweiten sagt man, diese theologischen Diskussionen, nötig oder unnötig, wertvoll oder wertlos, gleichviel, so geben sie doch unter allen Umständen Veranlassung zu größeren Versammlungen, sie brechen den Unterschied der Stände, sie führen das Volk unter sich zusammen, sie bieten eine Schule gleichsam zu parlamentarischen Übungen, wir lernen darin reden, uns aussprechen, unsre Meinung aufstellen und verfechten.

Dieser Grund hat etwas, das ihn empfiehlt. Ohne Zweifel ist das Assoziationselement eines der wichtigsten, vielleicht schlechthin das wichtigste, weil das verheißungsreichste, unsrer Tage; ohne Zweifel, bei unsrer politischen Unbehilflichkeit, wird uns auch eine derartige Vorschule von äußerstem Nutzen sein. Aber treten wir nun selbst in diese Versammlungen, freie wie unfreie, aufgeklärte und verfinsterte — und sehen wir, wie auch hier die Mehrzahl blindlings mitläuft, ohne zu wissen wo und wie, bloß weil die Mode es will — und geben wir acht, wer zumeist in diesen Zusammenkünften spricht: Professoren nämlich, Geistliche, Lehrer, allenfalls noch Advokaten, lauter Leute also, die ohnedies ans Sprechen bereits gewöhnt sind, die eigentliche Masse aber bleibt stumm, und wo ja einer einmal den Mund öffnet, da, zehn gegen eins zu wetten! stockt er und stammelt und gerät ins Faseln: oder auch er überstürzt die Sache und haut ins Blaue und schadet, durch grelle Übertreibungen, sich und seinen Freunden — ja endlich hören wir gar, was gesprochen wird: nämlich in der Regel das trivialste, langweiligste, allgemeinste Zeug, in jener Breite, jener Ausführlichkeit und Farblosigkeit, die ein durchgängiges Merkmal pastoraler Beredsamkeit ist — wahrlich es gehört eine gute Dosis Hoffnung, eine gute Dosis Mut dazu, um alsdann von diesen Versammlungen noch irgendeine Frucht für unsre politische Bildung zu erwarten!

Wieder andere meinen, es sei gleichviel, wo das Werk der Befreiung begonnen wird, vorausgesetzt, dass es nur überhaupt begonnen wird; der freie Staat sei allerdings ein ganz wünschenswerter Gegenstand: aber so wolle man einstweilen vorliebnehmen mit der freien Kirche, einer O'Connell-schen78 Abschlagszahlung gleichsam, der das übrige mit der Zeit schon nachfolgen werde.

Diese aber, nach unserm Dafürhalten, wollen Wasser schöpfen in Gefäßen ohne Boden; sie wollen ein Haus bauen und, statt beim Grunde, fangen sie beim Dachstuhl an. Von der freien Kirche zum freien Staate gibt es keinen Weg — warum nicht? Weil der unfreie Staat die freie Kirche gar nicht dulden, weil die freie Kirche im unfreien Staat gar nicht zum Dasein gelangen kann. Denn was ist die freie Kirche? Wir haben es oben beantwortet: die freie Kirche ist die freie Gemeinde, es ist die freie religiöse Gemeinschaft als freie politische — und nun geht hin und sucht nach in euren unfreien, bevormundeten, unselbständigen Staaten, geht hin und sucht nach dem Fleckchen Erde, eure freie Kirche darauf zu bauen: und brauchtet ihr nicht mehr Raum dazu als ein Schwalbennest — es ist vergeblich, ihr findet es nicht! — Umgekehrt in demselben Moment, wo der freie Staat zur Erscheinung kommt, ist unmittelbar mit ihm auch die freie Gemeinde gegeben. In der Knechtschaft ist kein Platz für die Freiheit, keiner, unter keinem Vorwande, keinem Titel — noch in der Freiheit ein Platz für die Knechtschaft; alles oder nichts, ganz oder gar nicht: Handel wird hier nicht getrieben! —

Einige zwar bestätigen dies; sie gestehen zu, dass ein positives Resultat, ein wirklicher praktischer Vorteil, eine wirkliche Eroberung im Namen der Freiheit hier allerdings nicht gemacht werde: aber wenigstens, indem man das Publikum in dem abstrakten Gebiete der Religion an Freiheit und liberale, tapfere Gesinnung gewöhne, so bereite man es überhaupt zum Liberalismus vor und streue im allgemeinen den Samen des Mutes, der Tapferkeit, der männlichen Gesinnung aus.

Den Samen der Poltronnerie79, der Renommisterei, des hohlen, leeren Maulheldentums, diesen freilich, o ja. Nichts ist, es sei denn, dass man gerade Kandidat oder Pfarrer auf einer jener Hunger stellen, deren wir im lieben »theologischen« Deutschland noch so viele haben — nichts, sage ich, ist leichter, nichts gefahrloser, als den Liberalen zu spielen in religiösen Dingen. Ja wagen wir es und sprechen die Ketzerei aus: gerade diese Leichtigkeit, mit der man hier in den Ruf eines liberalen, aufgeklärten Kopfes, eines freigesinnten, tapfern Mannes gelangen kann, gerade diese Leichtigkeit erklärt zum guten Teil die außerordentliche Teilnahme, das übertriebene, karikierte Interesse, das an diesen Dingen genommen wird. Sich vor dem Teufel nicht fürchten — welche Courage! nicht glauben, dass die Schlange im Paradiese gesprochen80 — welche Tapferkeit! die Geschichte von den fünf Broten, die fünftausend Mann gespeist haben81, für ein Märchen, eine Übertreibung erklären — welch ein verwegener Scharfsinn! Da werden Adressen unterschrieben, da werden Proteste eingelegt, da wirft man sich in die Brust und wird zum Stimmführer, zum Häuptling, man weiß nicht wie! — Und nun, bitt ich, geht hin und fordert diese nämlichen Menschen auf, an einer politischen Demonstration Anteil zu nehmen, fordert sie auf, beim Könige oder dem Minister oder dem Herrn Geheimen Rat, ich weiß nicht worüber, sich zu beschweren, auch mit den allerbesten, allerdringendsten Gründen, ja fordert sie auf, etwa bei der nächsten Bürgermeisterwahl, dem nächsten Nachtwächterposten, der besetzt werden soll, ihre Stimme in liberalem Sinne zu geben — und gebt acht, wie dieser Liberalismus Farbe halten wird!

Es sind nicht leere Beschuldigungen, die wir hier aussprechen: experto crede Ruperto82! Wir haben es erfahren und sehen es täglich vor unsern Augen sich wiederholen. — — —

Aber was hilft (entgegnet man uns endlich) alles Jammern und Klagen, alles Tadeln und Schelten? Diese theologische Kontroverse ist doch nun einmal das einzige, was uns übrigbleibt, die Teilnahme am Staat ist nun doch einmal verboten, wir dürfen nun doch einmal keine politischen Versammlungen halten, die Gelegenheit zu politischer Bildung ist genommen —

Ist sie es? Wirklich? Und wir haben keine geselligen Zusammenkünfte, keine Gemeindeversammlungen, keine Ratsstuben, keine Stadtverordneten, keine Landtage, keine Kammern? Und wir haben keine Schulen, keine Familie, keinen Herd, der mit heiligem Schleier das Wort des Vaters zum Sohne, des Gatten zur Gattin, des Bruders zum Bruder umhüllt? Wir haben keine Literatur, keine Bücher, keine Zeitungen? Nur wer frei werden will, wird es; alle geknechtetsten Völker, sobald der Funke des Mutes, das Feuer der Tatkraft in ihnen aufloderte, die Holländer unter einem Alba70, die Spanier unter einem Ferdinand dem Siebenten83, die Griechen unter einem Ali Pascha84 wurden es! Wir — wir haben keinen Alba, keinen Ferdinand, keinen Ali Pascha — und dennoch, wir werden es nicht?! Wahrlich, wäre die Hälfte, das Viertel, das Zehntel nur der Mühe und der Anstrengung, welche man sich gegenwärtig gibt, das Volk theologisch zu verwirren, vielmehr dazu angewendet worden, es politisch aufzuklären und zu belehren; wäre von der Energie, dem Fleiß, der Schlauheit, welche man auf kirchlichem Gebiete, zu theologischen Zwecken wahrhaft vergeudet hat, nur ein weniges gespart worden für unsre politischen Angelegenheiten; hätte dieselbe Unermüdlichkeit, dieselbe Sorglosigkeit, dem Publikum zum tausendsten Male vorzusetzen, was es neunhundertundneunundneunzig Male schon genossen hat, die unsre theologischen Tagesschriftsteller charakterisiert, auch unseren politischen Pamphletisten zur Seite gestanden; hätte, mit einem Worte, die Erde, der Staat, das bürgerliche Gemeinderecht nur halb soviel Advokaten gefunden als der Himmel, der, wenn er wirklich der Himmel ist, diese Verteidiger ja gar nicht einmal nötig hat —: wahrlich, es stände anders mit uns in Deutschland und wir brauchten Aufsätze wie den gegenwärtigen nicht zu schreiben.

Freilich wissen wir, dass die Stimmung des Publikums sich nicht auf einmal, willkürlich, lenken und umlenken lässt und dass man keinen Mohren weiß wäscht, am wenigsten mit Tinte. Aber wenigstens der Versuch, glaubten wir, müsse gewagt, ausgesprochen wenigstens müsse werden, was es in Wahrheit mit dieser gegenwärtigen Bewegung auf sich hat und welche unschätzbaren Güter wir im Begriffe stehen zu verlieren, indem wir, zwar nicht gieriger, aber doch einfältiger als der Hund der Fabel85, nicht einmal dem Schatten unsers Glückes, nein, nur einem Schatten überhaupt nachjagen. Wir haben in Deutschland nicht so viel Kräfte übrig, dass wir die vorhandenen so leichtfertig verwenden, das Kapital unsrer Tapferkeit, unsers Freimutes, unsers öffentlichen Interesses ist nicht so groß, dass wir es so unfruchtbar anlegen dürften: der Himmel ist hoch — und der Zar ist — nahe!

Man pflegt (mit welchem Recht, bleibe hier ununtersucht) die deutsche Nation vor allen übrigen als die eigentlich wahrhafte, ehrliche, treue Nation zu rühmen. Suchen wir denn auch in diesem wichtigsten Punkte diesem unserm nationalen Ruhme zu entsprechen! Machen wir dieser theologischen Maskerade, diesem furchtsamen Gaukelspiel, das wir mit Erd' und Himmel, Staat und Kirche treiben, ein Ende! Kommen muss der Tag doch einmal, wo Abrechnung gehalten wird: warum nicht beizeiten, in nüchterner, überlegter Stimmung, mit Ordnung und Ruhe freiwillig tun, was späterhin vielleicht der Drang des Augenblicks uns tumultuarisch abnötigt?! Praktische Motive sind es nun einmal, welche diesem Kampfe zugrunde liegen, praktische Zwecke, die wir dabei verfolgen: warum ihn nicht auch praktisch führen? Politik treiben wir, auch indem wir lichtfreundliche und pietistische und deutschkatholische Versammlungen halten: warum nicht auch die Politik treiben als Politik? warum nicht die theologische Kapuze abwerfen und den Fragen der Zeit frei, mit offener Stirn, ins Auge schauen?!

Und wenn nichts anderes hilft und, wenn alle Appellationen an den gesunden Sinn, an den Mut, die Würde, das Wahrheits-, ja das Ehrgefühl der Nation vergebens sein, wenn selbst die Mahnungen der eignen Not uns nicht aus unserer Verkehrtheit aufschütteln sollen: wohlan, das deutsche Volk ist zwar kein theologisches, aber doch ein gebildetes, ein geschmackvolles, ein poetisches Volk: so wend ich mich an euch, ihr poetischen, ihr geschmackvollen, ihr zarten Seelen: endet, endet diesen theologischen Wirrwarr! schließet zu die Schleusen eurer priesterlichen Beredsamkeit: sat prata bibere86 . lasst Friede, lasst wenigstens Stillstand werden unter Frommen und Unfrommen, Aufgeklärten und Unaufgeklärten, wie ja auch die Sonne friedlich scheint über Gerechte und Ungerechte! führt eure Kriege wenigstens im stillen, beschränkt euch, wie es geschrieben steht, auf euer Kämmerlein, tragt euren innerlichen Wirrwarr nicht auf Gassen und Märkte, pumpt eure kleinen quakenden theologischen Frösche nicht auf zu Riesen —: wenn nicht um der Freiheit, nicht um des Vaterlandes, nicht um eures eigenen Vorteils — o so wenigstens um des guten Geschmackes willen!! —

Denn sonst verschlingt diese theologische Barbarei uns alle.


Erläuterungen:

1 Vgl. Das Lied von 1840: "Der deutsche Rhein" von Nikolaus Becker (1809 - 1845) mit der Melodie von Robert Schumann (1810 - 1856)

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1. Sie sollen ihn nicht haben,
Den freien deutschen Rhein,
Ob sie wie gierige Raben,
Sich heiser danach schrein,
Solang er ruhig wallend
Sein grünes Kleid noch trägt,
Solang ein Ruder schallend
In seine Wogen schlägt.
Sie sollen ihn nicht haben,
Den freien deutschen Rhein,
Sie sollen ihn nicht haben,
Den freien deutschen Rhein. 

2. Sie sollen ihn nicht haben,
Den freien deutschen Rhein,
Solang sich Herzen laben
An seiner Geuerwein,
Solang in seinem Strome
Noch fest die Felsen stehn,
Solang sich hohe Dome
In seinem Spiegel sehn.
Sie sollen ihn nicht haben,
Den freien deutschen Rhein,
Sie sollen ihn nicht haben,
Den freien deutschen Rhein.

3. Sie sollen ihn nicht haben,
Den freien deutschen Rhein,
Solang noch kühne Knaben
Um schlanke Dirnen frein,
Solang die Flosse hebet
Ein Fisch auf seinem Grund,
Solang ein Lied noch lebet
In seiner Sänger Mund.
Sie sollen ihn nicht haben,
Den freien deutschen Rhein,
Bis seine Flut begraben
Des letzten Manns Gebein!

2 Shakespeare: "König Lear", 1. Akt, 1. Szene:

KENT
Ist das nicht Euer Sohn, Mylord?

GLOSTER
Seine Erziehung ist mir zur Last gefallen; ich mußte so oft erröten, ihn anzuerkennen, daß ich nun dagegen gestählt bin.

KENT
Ich kann Euch nicht verstehen.

GLOSTER
Dieses jungen Burschen Mutter konnte es, worauf sie einen runden Leib bekam und freilich früher einen Sohn für ihre Wiege als einen Mann für ihr Bett hatte. Merkt Ihr was von einem Fehltritt?

KENT
Ich kann den Fehltritt nicht ungeschehen wünschen, da der Erfolg davon so ansehnlich ist.

3 Kölner-Dom-Enthusiasmus

"Vom Hauptbau des eigentlichen Kirchenschiffs [des Doms zu Köln] war 1388 ein Teil so weit vorgeschritten, dass derselbe mit Altären versehen und für den Gottesdienst eingerichtet werden konnte; der Fortbau wurde aber mit immer schwächern Kräften betrieben.

Am Ende des 15. Jahrh. gab man jede Hoffnung auf, die Kirche nach dem ursprünglichen Plan vollenden zu können; Langschiff und Seitenhallen wurden durch ein provisorisches Dach geschlossen.

1796 ward der Dom von den Franzosen zu einem Frucht- und Furagemagazin erniedrigt; das Gebäude geriet immer mehr in Verfall und drohte völligen Einsturz.

Da gelang es Sulpice Boisserée und Joseph v. Görres, den Kronprinzen von Preußen, spätern König Friedrich Wilhelm IV., und das deutsche Volk für den Plan einer Restauration des Domes zu begeistern. Auf Betreiben des Kronprinzen beauftragte Friedrich Wilhelm III. den Oberbaurat Schinkel, den baulichen Zustand des Doms zu untersuchen, und auf Grund von dessen Gutachten befahl der König, dass »das Vorhandene erhalten werden solle«. Aber erst 1823 wurden die Restaurationsarbeiten unter Leitung des Bauinspektors Ahlert begonnen. Nach Ahlerts Tod wurde 1833 der Landbaumeister Zwirner mit der Leitung der Domarbeiten betraut. Es gelang ihm, eine Bauhütte zu gründen, die sich bald des besten Rufes erfreute, und in der Kräfte gebildet wurden, die, wie V. Statz, Fr. Schmidt und Fr. Schmitz, zu den gefeiertsten Meistern der gotischen Baukunst gehören. Zwirner schwang sich zuerst zu dem Gedanken auf, den Dom ganz auszubauen.

In Köln wurde 1840 der Gedanke angeregt, durch Gründung eines Dombauvereins der allgemeinen Begeisterung für die große Sache einen kräftigen Halt zu geben, und 8. Dez. 1841 wurde das Statut dieses Vereins von Friedrich Wilhelm IV. genehmigt. Am 4. Sept. 1842 wurde der Grundstein zum Fortbau gelegt und nun jährlich eine Summe von etwa 300,000 Mark auf denselben verwendet. Reichlichere Mittel verschaffte seit 1863 die wiederholt erneuerte Dombaulotterie. Im Jahr 1862 starb Zwirner, und seinem Nachfolger Voigtel war es vergönnt, den Bau glücklich zu Ende zu führen. Schon im Herbst 1863 konnten Schiff und Chor miteinander vereinigt werden, und der Bau der beiden Türme wurde so beschleunigt, dass 15. Okt. 1880 in Gegenwart des Kaisers Wilhelm und aller deutschen Fürsten die Vollendung des großen Werkes mit außergewöhnlichem Glanz begangen werden konnte.

Die seit Wiederaufnahme der Arbeiten (1823) aufgewandten Mittel belaufen sich auf 22 Mill. Mk."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. -- 2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]


4 Garnspinner: bezieht sich auf den schlesischen Weberaufstand vom 4. Juni bis 6. Juni 1844

5 Brutusse

"Marcus Junius Brutus, der letzte Kämpfer für die römische Republik, geb. 85 v. Chr., gest. im Herbst 42, Sohn des Marcus Junius Brutus und der Servilia, einer Stiefschwester des Cato Uticensis, plebejischen Geschlechts und mit dem Gründer der Republik nicht verwandt. Obgleich Pompejus seinen Vater, der sich 78 dem Lepidus angeschlossen, besiegt und getötet hatte, wandte er sich doch, wie sein Oheim, der von ihm verehrte Cato, dessen Partei zu, als er sich zum Verteidiger der Republik aufwarf, focht mit diesem bei Pharsalus, ergab sich aber darauf (48) dem Cäsar, der ihn gnädig aufnahm. Dessenungeachtet ließ er sich durch das Zureden des Gajus Cassius und durch Mahnungen, die an ihn als den Träger des Namens des Befreiers Roms ergingen, zur Teilnahme an der Verschwörung bewegen, der Cäsar 15. Mär.; 44 erlag (s. Cäsar), verhinderte aber die von den andern Verschwornen verlangte gleichzeitige Ermordung des M. Antonius, der bei der öffentlichen Leichenfeier zu Ehren Cäsars das Volk gegen die Verschwornen so sehr aufreizte, dass sie Rom verlassen mussten. Nach mehrmonatiger Unentschlossenheit ging Brutus endlich in die ihm noch von Cäsar zugesprochene Provinz Makedonien, gewann dort die Truppen für sich und vereinigte sich zum Kriege gegen die Triumvirn in Kleinasien mit Cassius. Als dann Antonius und Oktavian gegen die unterdes vom Senat geächteten Republikaner im Osten auszogen, kehrten beide nach Makedonien zurück und sammelten ihr Heer, 80,000 Mann Fußvolk und 12,000 Reiter, in der Ebene von Philippi, wo auch die Triumvirn im Herbst 42 eintrafen. Brutus stand auf der linken Seite in einem abgesonderten Lager dem Oktavian, Cassius auf der rechten dem Antonius gegenüber, beide in günstigen Stellungen. Während Brutus den Oktavian besiegte, wurde Cassius von Antonius geschlagen und tötete sich selbst, da er alles für verloren hielt. Etwa 20 Tage später zwang Antonius den Brutus, der die Truppen des Cassius an sich gezogen hatte, zu einer zweiten Schlacht und schlug ihn; Brutus floh und stürzte sich in das Schwert seines Vertrauten Strato. Während der Kaiserzeit wurde Brutus in den Rhetorenschulen über Gebühr als Republikaner gefeiert und mit Tugenden ausgestattet, die ihm die neueste Forschung zum Teil abgesprochen hat. Brutus schrieb philosophische Schriften, die aber nicht erhalten sind; dafür besitzen wir einen Teil seines Briefwechsels mit Cicero (2 Bücher), dessen Echtheit mit Unrecht angefochten worden ist, und außerdem einige in den Sammlungen von Ciceros Briefen. Von den zahlreichen Büsten, die seinen Namen tragen, ist echt nur die des Kapitolinischen Museums in Rom."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. -- 2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

6 preußische Verfassungsfrage

"Als Friedrich Wilhelm III. das preußische Volk zum zweitenmal zum Kampf gegen Napoleon ausrief, erließ er vom Wiener Kongress aus auf Steins und Hardenbergs Rat 22. Mai 1815 eine Verordnung, in der er ihm als Pfand seines Vertrauens eine Repräsentativverfassung versprach. Eine Kommission begann 1. Sept. die Bearbeitung einer Verfassungsurkunde; auch setzte die preußische Diplomatie die Aufnahme des Artikels 13 in die deutsche Bundesakte durch, der allen deutschen Bundesstaaten ständische Verfassungen verhieß. Aber selbst die Anhänger der Verfassung, wie Stein, Humboldt, Gneisenau u. a., waren sich über die Grundzüge einer solchen nicht einig und hatte eine Menge Gegner. Manche fürchteten in aufrichtiger Fürsorge für das Wohl des Staates von der Sondersucht und den fremdartigen politischen Anschauungen der Abgeordneten aus den neuen Provinzen die bedenklichsten Folgen für die Einheit Preußens; andre, wie Wittgenstein, Knesebeck, Bülow, waren, in Standesinteressen befangen, grundsätzlich jeder Neuerung feind.

Friedrich Wilhelm III. beugte sich diesen Einwirkungen um so lieber, als er selbst dem konstitutionellen Wesen, hinsichtlich dessen Gestalt sich die Vertreter der liberalen Forderungen nicht im mindesten klar waren, abhold, seine absolute Gewalt zwar durch selbst gegebene Gesetze, aber nicht durch eine öffentliche Versammlung beschränkt wissen wollte. Er hatte allerdings sein Wort verpfändet, sich aber zu keinem Termin verpflichtet, und das ihm lästige Drängen Hardenbergs trieb ihn erst recht in die Arme der Reaktionäre, die im Januar 1816 die Unterdrückung von Görres' »Rheinischem Merkur« und die Aufhebung des Tugendbundes durchsetzten, während Kundgebungen der politisch fortschrittlich gesinnten Jugend, wie das Wartburgfest 1817, und Ausschreitungen, wie die Ermordung Kotzebues (s. Sand) und Lönings Attentat auf Ibell (s. d.) 1819, gegen politische Zugeständnisse sprachen. Die Demagogenverfolgung (s. Demagog) wurde nun im Verein mit Österreich ins Werk gesetzt, Männer wie Jahn, Arndt und Welcker verhaftet, Gneisenau und Schleiermacher von Spionen umgeben, jede Äußerung einer konstitutionellen Gesinnung als Majestätsverbrechen mit Strafe bedroht und die Karlsbader Beschlüsse (s. d.) 18. Okt. 1819 verkündet. Boyen, Grolman, Humboldt und Beyme nahmen ihren Abschied; die Gemeindeordnung, die bereits vollendet war, wurde zurückgenommen; von einer konstitutionellen Verfassung war keine Rede mehr; statt ihrer wurden durch Gesetz vom 5. Juni 1823 Provinzialstände eingeführt. Kleinliche Polizeimaßregeln machten die Regierung verhasst; die Masse des Volkes, besonders in den östlichen Provinzen, wurde zwar von diesen Vorgängen wenig berührt, da sie durch die Sorge für ihren materiellen Wohlstand in Anspruch genommen war, aber um so mehr waren die gebildeten Stände verletzt und erbittert. Die Anerkennung und Liebe, die sich Preußen durch seine Opfer und Taten bei der Befreiung des deutschen Volkes allgemein erworben hatte, verloren sich infolge des Verhaltens der Regierung."

"Aber des Königs [Friedrich Wilhelm IV:] politisches Ideal war ein Staat, der sich auf die neuen Berufsstände stützen und durch Vereinigung der Provinziallandtage eine Repräsentativverfassung erlangen sollte. Dafür fehlte den Liberalen jedes Verständnis, und die Aufrichtigkeit der entsprechenden königlichen Äußerungen wurde allgemein bezweifelt. In der deutschen Frage träumte der König von der Möglichkeit, Österreich würde sich mit ehrwürdigen ererbten Kaisernamen begnügen und Preußen die eigentliche Leitung Deutschlands überlassen. Das entschiedene Verlangen einer Verfassung, das in Flugschriften wie der Schöns: »Woher und Wohin?« und Jacobys »Vier Fragen« ausgesprochen ward, und dem sich mehrere Provinziallandtage anschlossen, wies er als verfrüht zurück. Streng kirchlich gesinnt, berief er den strenggläubigen Eichhorn (s. d. 2) an die Spitze des Unterrichtsministeriums. Die Mission in China, die Errichtung eines evangelischen Bistums in Jerusalem, endlich das Schicksal Neuenburgs, das durch den Sonderbundskrieg berührt wurde, nahmen ihn in Anspruch, und mit Ausnahme der Pietisten und Ultramontanen waren bald alle Schichten der Bevölkerung von der neuen Regierung enttäuscht.

Unbekümmert um die öffentliche Meinung berief der König seiner eignen Idee getreu, trotz Russlands und Österreichs Abmahnungen durch Patent vom 3. Febr. 1847 den Vereinigten Landtag, der das Petitionsrecht erhielt, einen Beirat bei der Gesetzgebung darstellte und Steuern und Anleihen bewilligen sollte. Die Zusammensetzung der zwei Kurien (Herren- und Ständekurie) war allerdings rein ständisch, wie die der Provinziallandtage, und gab dem Adel nicht bloß in der ersten, sondern auch in der zweiten Kurie das Übergewicht, In des die Hauptsache war, dass endlich eine Instanz geschaffen wurde, welche die öffentlichen Angelegenheiten frei besprechen konnte. Eine gesetzliche Entwickelung des Vereinigten Landtags zu einer wirklichen Volksvertretung wäre wohl möglich gewesen, wenn der König und die Freunde einer konstitutionellen Verfassung einander entgegengekommen wären. Der König aber enttäuschte die öffentliche Meinung durch die Rede, mit der er 11. April 1847 den Vereinigten Landtag eröffnete, und worin er erklärte, er werde nicht dulden, dass sich zwischen ihn und das Land ein beschriebenes Blatt Papier ein dränge. Demgegenüber forderte die Ständekurie den Zusammentritt des Landtags künftig aller zwei Jahre und genauere Feststellung des Bewilligungsrechts für Anleihen und Steuern. Doch diese Forderungen blieben im Landtagsabschied, der nach Schluss der Sitzungen (26. Juni) 24. Juli 1847 veröffentlicht wurde, unberücksichtigt. Die vereinigten Ausschüsse des Landtags waren noch 17. Jan. bis 6. März 1848 zur Beratung eines neuen Strafgesetzbuches versammelt.

Die allgemeine Missstimmung steigerte noch die durch Missernten (1847) verursachte materielle Not, besonders in Oberschlesien, und infolge der Pariser Februarrevolution 1848 kam sie zum Ausbruch."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. -- 2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v. "Preußen"]

7 ewige Jude

"Ewiger Jude, nach einer Legende der Schuhmacher Ahasverus von Jerusalem, der, als Christus auf dem Wege nach Golgatha vor seinem Haus ruhen wollte, ihn mit Scheltworten forttrieb, und zu dem Jesus sprach: »Ich werde ruhen, du aber sollst gehen!« Seitdem wandert Ahasverus, ohne sterben zu können, ruhelos durch die Welt. Diese Erzählung findet sich zuerst in einem anonymen deutschen Druck von 1602. Der Verfasser beruft sich auf das mündliche Zeugnis des Paulus von Eitzen, Bischofs von Schleswig, der als Student 1542 die auffällige Gestalt in einer Kirche zu Hamburg barfuss der Kanzel gegenüber habe stehen sehen und alsdann auf sein Befragen von Ahasverus selbst jene Mitteilungen erhalten habe. Als wesentliche Quelle hat der Schrift aber augenscheinlich die im 16. Jahrh. gedruckte, gegen 1250 verfasste Chronik des Matthäus Parisiensis gedient, die ihrerseits wiederum eine Nachricht des Chronisten Roger von Wendower zum Jahre 1228, die älteste, die wir kennen, mit einigen Zusätzen wiedergegeben hat. Danach soll ein damals in England weilender armenischer Bischof auf die Frage nach einem Augenzeugen des Leidens Christi, der dem Gerüchte nach noch im Orient lebe, erzählt haben, er kenne diesen Mann sehr wohl; er heiße Kartaphilos, habe als Türhüter des Pilatus den Heiland auf dem Wege zur Kreuzigung mit einem Faustschlag und höhnischen Worten zu schnellerm Gehen angetrieben und müsse dafür auf Christi Gebot bis zu dessen dereinstiger Wiederkunft rastlos wandern; alle hundert Jahre verjünge er sich wieder. Auch Philipp Mouskes, der Verfasser einer flandrischen Reimchronik (um 1243), berichtet die Legende. In Italien wurde der Ewige Jude nach dem Bericht des Astrologen Guido Bonatti, der im 13. Jahrh. lebte, 1267 zu Forli und im 14. Jahrh. nach der Mitteilung des Chronisten Tizio zu Siena gesehen. Er wird dort Buttadeus (Buttadio, »Schlagegott«) genannt, ein Name, unter dem er noch heute in Italien bekannt ist, und der von dort auch in die Bretagne drang (Boudedeo). Den Keim der Sage bildet wohl das Wort Christi, Matth. 16,28, dass einige den Tod nicht schmecken würden bis zu seiner Wiederkunft. Ihre maßgebende Gestalt und ihre außerordentliche Verbreitung hat sie erst durch den erwähnten Druck von 1602 erhalten, in dem der Ewige Jude auch zuerst Ahasverus genannt wird. Das Büchlein wurde oft aufgelegt und erweitert (erneuert in Simrocks »Deutschen Volksbüchern«) sowie auch ins Lateinische, Französische und Holländische übersetzt. Seitdem ist die Gestalt des Ahasver in die Volkssage und Volkspoesie der verschiedenen Nationen übergegangen, z. B. in den Niederlanden unter dem Namen Isaak Laquedem, in Spanien unter dem Namen Juan Espera-en-Dios (»Hoff' auf Gott«); dort soll er eine schwarze Binde auf der Stirn tragen, mit der er ein flammendes Kreuz bedeckt, das sein Gehirn ebenso schnell, wie es wächst, wiederverzehrt; mehrfach wurde die Sage durch die Überlieferungen vom wilden Jäger beeinflusst. Seit dem 18. Jahrh. trat sie auch ihre Wanderung durch das Reich der Kunstdichtung an, wo sie, im Gegensatz zur Faustsage, bis auf die neueste Zeit in steter Wandlung und Fortbildung begriffen ist. Denn während durch die verschiedenen Faustdichtungen stets derselbe Grundgedanke geht, erscheint in den poetischen Bearbeitungen der Sage vom Ahasver der ursprüngliche Gedanke mannigfach gedeutet, nach verschiedenen, oft großartigen Gesichtspunkten erweitert und mit andern Ideen und Personen verknüpft. Wir erinnern zunächst an das Fragment von Goethe (1774), der ihn zum Helden eines Epos machen wollte, an die Schilderung Chr. D. Schubarts in dessen bekannter Rhapsodie, an die Gedichte von A. W. Schlegel (»Die Warnung«), Alois Schreiber, Ed. v. Schenk, G. Pfizer, Wilhelm Müller, N. Lenau, Zedlitz (»Die Wanderungen des Ahasverus«, Fragment) u. a., die den Ewigen Juden zum Gegenstand haben. Eine großartige Behandlung findet die Sage in J. Mosens epischem Gedicht »Ahasver« (1838), worin der Ewige Jude in schroffen Gegensatz zum Christentum tritt. Nicht also, vielmehr für die »Religion der Liebe« eintretend erscheint die Sagengestalt in dem Roman von Eugen Sue (1845), der dem Ewigen Juden auch eine ewige Jüdin beigesellt. Schon früher hatte Edgar Quinet ein merkwürdiges Mysterium: »Ahasvère« (1833), geschrieben, das er als eine »Geschichte der Welt, Gottes in der Welt und des Zweifels in der Welt« hinstellt. In andrer Weise macht den Ewigen Juden L. Köhler in dem Gedicht »Der neue Ahasver« (1841) zum Propheten der Freiheit. Levin Schücking führte ihn in der Episode »Die drei Freier« seines Romans »Der Bauernfürst« (1851) vor. Nach einer ziemlich unbedeutenden Novelle von Franz Horn dichtete Klingemann sein Trauerspiel »Ahasver« (1827), dessen Titelrolle L. Devrient mit Vorliebe spielte. Voll erhabener Gedanken ist das betreffende Gedicht des Dänen Andersen, der den Juden zum »Engel des Zweifels« und zugleich zum Vertreter des starren Jehovaglaubens macht, eine Auffassung, der auch S. Heller in seiner Dichtung »Ahasverus« (1866) und A. Herrig in seinem Drama »Jerusalem« (1874) beitritt, während R. Hamerlings Epos »Ahasver in Rom« (1866) den Ewigen Juden als den ewigen, d. h. qualvoll immer lebenden, strebenden und ringenden Menschen hinstellt. Auch Robert Giseke hat ein Epos: »Ahasverus, der Ewige Jude« (1864), veröffentlicht, Carmen Sylva eine dichterische Behandlung der Sage (»Jehova«, 1882), worin Ahasverus wieder als Typus des Zweifels geschildert wird, endlich Max Haushofer eine dramatische Dichtung: »Der ewige Jude« (1886)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. -- 2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

8 (französisch:) Um so schlimmer für sie.

9 frivol: nichtig, leichtfertig, des sittlichen Gehalts ermangelnd

10 Beim triumpus, dem "nach einem wichtigen Siege dem Feldherrn u. seinen Soldaten vom Senate zugestandene feierliche Einzug in Rom, der Siegeszug, Triumph, wobei der Feldherr auf einem mit weißen Pferden bespannten Wagen saß und in eine toga picta u. tunica palmata gekleidet war, einen Lorbeerkranz auf dem Haupte u. einen elfenbeinernen Stab od. Szepter in der Hand trug, während vor dem Wagen die Gefangenen u. die gemachte Beute aufgeführt wurden u. ihm seine siegreichen Soldaten folgten. So wurde er in feierlichem Aufzuge vom Senate eingeholt u. auf das Kapitol geleitet, wobei die Soldaten abwechselnd den Ausruf io triumphe (s. Hor. carm. 4, 2, 49 sq.; epod. 9, 21 u. 23) u. lustige Lieder, namentlich Lob- od. Spottlieder auf den Feldherrn selbst (s. Liv. 45, 38, 12. Suet. Caes. 49, 4 u. 51) erschallen ließen." [Georges: »Ausführliche lateinisch-deutsche Handwörterbuch, 81913, s.v. triumphus]

11 Äsops Fabel: "Der Hirt und der Wolf":

"Der Hirt und der Wolf

Ein Hirte, der einen erst kurz geworfenen jungen Wolf gefunden hatte, nahm ihn mit sich und zog ihn mit seinen Hunden auf. Als derselbe herangewachsen war, verfolgte er, sooft ein Wolf ein Schaf raubte, diesen auch zugleich mit den Hunden. Da aber die Hunde den Wolf zuweilen nicht einholen konnten und deshalb wieder umkehrten, so verfolgte ihn jener allein und nahm, wenn er ihn erreicht hatte, als Wolf ebenfalls teil an der Beute; hierauf kehrte er zurück. Wenn jedoch kein fremder Wolf ein Schaf raubte, so brachte er selbst heimlich eines um und verzehrte es gemeinschaftlich mit den Hunden, bis der Hirte, nach langem Hin- und Herraten das Geschehene inneward, ihn an einen Baum aufhängte und tötete.

Die Fabel lehrt, daß die schlimme Natur keine gute Gemütsart aufkommen lässt. "

[Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/aesop/hirtwolf.htm. -- Zugriff am 2005-02-17]


12 regardieren (französisch regarder): ansehen, betrachten, berücksichtigen

13 Richtig: Armin, der Cheruskerfürst (18 oder 16 v.Chr. bis 19 oder 20 n.Chr.), besiegte 9 n. Chr. im Teutoburger Wald ein römisches Heer unter Quintilius Varus.

14 Ernst Moritz Arndt (1769-1860): Des Deutschen Vaterland. -- 1813

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Quelle der midi-Datei: http://ingeb.org/Lieder/wasistde.html. -- Zugriff am 2005-02-17

Was ist des Deutschen Vaterland?
Ist's Preußenland, ist's Schwabenland?
Ist's, wo am Rhein die Rebe blüht?
Ist's, wo am Belt die Möwe zieht?
O nein! nein! nein!
Sein Vaterland muss größer sein.

Was ist des Deutschen Vaterland?
Ist's Bayerland, ist's Steierland?
Ist's, wo des Marsen Rind sich streckt?
Ist's, wo der Märker Eisen reckt?
O nein! nein! nein!
Sein Vaterland muss größer sein.

Was ist des Deutschen Vaterland?
Ist's Pommerland, Westfalenland?
Ist's, wo der Sand der Dünen weht?
Ist's, wo die Donau brausend geht?
O nein! nein! nein!
Sein Vaterland muss größer sein.

Was ist des Deutschen Vaterland?
So nenne mir das große Land!
Ist's Land der Schweizer? Ist's Tirol?
Das Land und Volk gefiel mir wohl:
Doch nein! nein! nein!
Sein Vaterland muss größer sein.

Was ist des Deutschen Vaterland?
So nenne mir das große Land!
Gewiss es ist das Österreich,
An Ehren und an Siegen reich?
O nein! nein! nein!
Sein Vaterland muss größer sein.

Was ist des Deutschen Vaterland?
So nenne mir das große Land!
So weit die deutsche Zunge klingt
Und Gott im Himmel Lieder singt,
Das soll es sein!
Das, wackrer Deutscher, nenne dein!

Das ist des Deutschen Vaterland,
Wo Eide schwört der Druck der Hand,
Wo Treue hell vom Auge blitzt
Und Liebe warm im Herzen sitzt -
Das soll es sein!
Das, wackrer Deutscher, nenne dein!

Das ist des Deutschen Vaterland,
Wo Zorn vertilgt den welschen Tand,
Wo jeder Franzmann heißet Feind,
Wo jeder Deutsche heißet Freund -
Das soll es sein!
Das ganze Deutschland soll es sein!

Das ganze Deutschland soll es sein!
O Gott vom Himmel sieh darein
Und gib uns rechten deutschen Mut,
Dass wir es lieben treu und gut.
Das soll es sein!
Das ganze Deutschland soll es sein!

15 Köpenick: das Gefängnis im Berliner Stadtteil Köpenick, Freiheit Nr. 16 (heute Bezirksamt für Jugendförderung); Burg Spielberg bei Brünn: das am meisten gefürchtete Gefängnis der österreichischen Monarchie, der  "Kerker der Völker"

16  Kapaun: kastrierter Haushahn

17 sechsunddreißigzipfligen: der Deutsche Bund hatte anfangs (1815) 41, am Schluss (1860) noch 33 Mitgliedstaaten

18 Ödipus

"Ödipus, König von Theben, Sohn des Laïos und der Jokaste (Epikaste). Laïos lässt infolge des Orakels, sein Sohn werde ihn töten, den Neugebornen mit durchstochenen Fußgelenken auf dem Kithäron aussetzen. Ein Hirt des Polybos von Korinth findet das Kind und bringt es seinem Herrn. Der kinderlose König und seine Gattin Periböa ziehen den Knaben, den sie wegen der geschwollenen Füße Ödipus (»Schwellfuß«) nennen, an Sohnes Statt auf. Zum Jüngling herangewachsen, erhält Ödipus in Delphi das Orakel, er werde seinen Vater töten und seine Mutter heiraten, und beschließt, nicht mehr nach Korinth zurückzukehren. Unterwegs erschlägt er seinen Vater, ohne ihn zu kennen. Nach Theben gelangt, löst er das Rätsel der Sphinx (s. d.) und erhält zum Lohn die Herrschaft und die Hand der Königin, seiner Mutter, mit der er den Eteokles und Polyneikes, die Antigone und Ismene zeugt. Als später Theben eine Pest heimsucht, befiehlt das Orakel in Delphi, den Mörder des Laïos aus Theben zu entfernen. Die Nachforschungen nach diesem bringen die schreckliche Wahrheit an den Tag, worauf Jokaste sich erhängt, Ödipus sich blendet. Bei Homer herrscht Ödipus bis an sein Ende weiter; nach späterer Sage entsetzen ihn die Söhne und kerkern ihn ein oder vertreiben ihn, der mit dem Fluch von dannen zieht, dass sie das Erbe mit dem Schwerte teilen sollten. Nach athenischer Sage wurden seine Gebeine von Theben nach Athen geholt, oder er stirbt im attischen Gau Kolonos und findet dort die Grabesruhe an unbekannter Stätte im Hain des Poseidon und der Eumeniden. Seine Gebeine galten als Schutz des Landes gegen feindliche Einfälle."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. -- 2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

19 Leipziger Büchermarkt: von 1632 bis 1945 fand in Leipzig die wichtigste Buchmesse statt (an Zahl der ausgestellten Bücher der Frankfurter Buchmesse überlegen). Leipzig war die Bücherstadt

20 Diokletian (geb. 239, römischer Kaiser 284 - 305). Nachdem Diokletian freiwillig abgedankt und sich nach Dalmatien zurückgezogen hatte, wurde er von Maximianus aufgefordert, den Thron von neuem zu besteigen. Er aber antwortete: "Könntest du den Kohl sehen, den ich in meinem Garten habe, so würdest du mich mit einem derartigen Angebot verschonen!”

21 Kaiser Karl V. (1500 - 1588) gab 1555/1556 seine Macht ab und lebte seit 1557 in stiller Beschaulichkeit in der Nähe des Klosters San Yuste in Estremadura.

22 Uhlich

"Uhlich, Leberecht, freigemeindlicher Theolog, geb. 27. Febr. 1799 in Köthen, gest. 23. März 1872 in Magdeburg, ward 1824 Prediger in Diebzig bei Aken, 1827 in Pömmelte bei Schönebeck und 1845 an der Katharinengemeinde in Magdeburg. Er gab die Veranlassung zu den Versammlungen der »protestantischen Freunde« (s. Freie Gemeinden) seit 1841 und ward, da er das apostolische Symbol bei der Taufe nicht nach Vorschrift der Agende anwendete, 1847 suspendiert, worauf er aus der Landeskirche trat und Pfarrer der Freien Gemeinde in Magdeburg wurde. Als solcher hat er fortwährend in Konflikt mit den Behörden und oft als Angeklagter vor Gericht gestanden. 1848 war er Mitglied der preußischen Nationalversammlung. Sein Hauptorgan war das »Sonntagsblatt«; von seinen Schriften nennen wir: »Bekenntnisse« (4. Aufl., Leipz. 1846); »Sendschreiben an das deutsche Volk« (Dess. 1845); »Die Throne im Himmel und auf Erden« (das. 1845); »Das Büchlein vom Reiche Gottes« (ein Katechismus, Magdeb. 1845 u. ö.); »Sonntagsbuch« (Gotha 1858); »Handbüchlein der freien Religion« (7. Aufl., Berl. 1889). Sein Leben hat er selbst beschrieben (Gera 1872)."

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23 Hengstenberg

"Hengstenberg, Ernst Wilhelm, Theolog, geb. 20. Okt. 1802 zu Fröndenberg in der Grafschaft Mark, gest. 28. Mai 1868 in Berlin, der einflußreichste Vorkämpfer der neulutherischen Orthodoxie des 19. Jahrh., widmete sich in Bonn philosophischen und orientalischen Studien und veröffentlichte schon in seinem 22. Jahr eine Übersetzung der »Metaphysik« des Aristoteles (Bonn 1824, Bd. 1) und eine Bearbeitung der »Moallakah« des Amrilkaïs (das. 1823). Während seines akademischen Lebens beteiligte er sich lebhaft an den damaligen burschenschaftlichen Bestrebungen. In Basel, wo er 1823-24 als Hauslehrer lebte, vollzog sich in ihm eine religiöse Wandlung nach der Seite der strengen Orthodoxie. Sofort habilitierte er sich 1824 an der philosophischen und 1825 (jetzt schon als ausgesprochener Gegner des Rationalismus und Hegelianismus) an der theologischen Fakultät zu Berlin, wo er 1826 außerordentlicher, 1828 ordentlicher Professor der Theologie wurde. Unter seinen wissenschaftlichen Arbeiten, die indessen vollständig im Dienste der dogmatischen Tendenz stehen, nennen wir: »Christologie des Alten Testaments« (Berl. 1829-35, 3 Bde.; 2. Aufl. 1854-58); »Beiträge zur Einleitung ins Alte Testament« (das. 1831-39, 3 Bde.); »Kommentar über die Psalmen« (das. 1842-47, 4 Bde.; 2. Aufl. 1849-52); »Das Hohelied Salomonis« (das. 1853); »Das Evangelium Johannis« (das. 1861-64, 3 Bde.; 2. Aufl. 1869-71, 2 Bde.); »Die Offenbarung Johannis« (das. 1849-1851, 2 Bde.; 2. Aufl. 1862); »Die Weissagungen des Propheten Ezechiel« (das. 1867-68, 2 Bde.). Den weitgreifendsten Einfluss hat Hengstenberg durch seine 1827 gegründete »Evangelische Kirchenzeitung« ausgeübt, ein Parteiorgan der rücksichtslosesten Unduldsamkeit. "

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24 Ronge

"Ronge, Johannes, Urheber der deutsch-katholischen Bewegung (s. Deutschkatholiken), geb. 16. Okt. 1813 zu Bischofswalde in Schlesien, gest. 26. Okt. 1887 at Wien, wurde 1840 Kaplan in Grottkau. Wegen eines in den »Sächsischen Vaterlandsblättern« erschienenen Artikels (»Rom und das Breslauer Domkapitel«) im Januar 1843 suspendiert, übernahm er zu Laurahütte in Oberschlesien den Unterricht der Kinder dortiger Beamter. Die Ausstellung des heiligen Rockes zu Trier im Oktober 1844 veranlasste ihn, einen vom 1. Okt. 1844 datierten »Offenen Brief« an den Bischof Arnoldi zu Trier in den »Sächsischen Vaterlandsblättern« (15. Okt.) zu veröffentlichen, der ungemeines Aufsehen machte. Hierauf wurde Ronge 4. Dez. förmlich degradiert und exkommuniziert. Seit 1845 Pfarrer der deutsch-katholischen Gemeinde in Breslau, wirkte er fortan in Schriften und auf Rundreisen für den Deutschkatholizismus, nahm an den politischen Kämpfen teil, war Mitglied des Vorparlaments, flüchtete aber, infolge eines offenen Briefes an Friedrich Wilhelm IV. steckbrieflich verfolgt, 1849 nach London. Nach der Amnestie kehrte er 1861 nach Breslau zurück, gründete im Oktober 1863 in Frankfurt a. M. den Religiösen Reformverein und lebte seit 1873 in Darmstadt, wo er die »Neue religiöse Reform« herausgab, später in Wien."

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25 Arnoldi

"Arnoldi, Wilhelm, Bischof von Trier, geb. 4. Jan. 1798 in Badem bei Bitburg in der Eifel, gest. 7. Jan. 1864, besuchte das Priesterseminar in Trier, empfing 1821 die Priesterweihe und erhielt bald darauf eine Professur am Priesterseminar zu Trier, die er jedoch 1826 mit der Pfarrei zu Laufeld in der Eifel vertauschte, von wo er 1831 als Stadtpfarrer nach Wittlich, 1834 als Domprediger und Domkapitular nach Trier berufen wurde. Seiner Wahl zum Bischof 1839 verweigerte die Regierung die Bestätigung, weil Arnoldi die Vereinbarungen seines Vorgängers mit der Regierung über die Mischehen bekämpfte. Doch verschaffte der Thronwechsel in Preußen einer zweiten Wahl Arnoldis die königliche Bestätigung (1842). Arnoldi zeigte sich streng kirchlich und begünstigte die Stiftung von Klöstern. Großes Aufsehen erregte die von ihm in gutem Glauben und bester Absicht 1844 veranstaltete Ausstellung des ungenähten Rockes Christi, die weithin die schärfste Erbitterung hervorrief und den Anlass zur deutsch-katholischen Bewegung gab. Für kirchliche Kunst zeigte er hohes Interesse. "

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26 spanische Heirat

"Isabella II. Maria Luise, geb. 10. Okt. 1830, gest. 9. April 1904 in Paris, Tochter des Königs Ferdinand VII. und dessen vierter Gemahlin, Maria Christine, folgte 29. Sept. 1833 ihrem Vater, der am 29. März 1830 durch Aufhebung des sogen. Salischen Gesetzes die alte kastilische Erbfolge wiederhergestellt hatte, unter Vormundschaft ihrer Mutter auf dem Thron. Gegen die Empörung der Anhänger des Don Carlos sicherte sich die Königin-Mutter durch ihre Verbindung mit den liberalen Parteien; mußte sie auch selbst 1840 Spanien verlassen, so blieb unter der Regentschaft Esparteros doch I. Königin von Spanien; sie wurde 8. Nov. 1843 durch Beschluß der Cortes für majorenn erklärt.

Die Frage ihrer Verheiratung war eine europäische Angelegenheit, weil Ludwig Philipp von Frankreich es so einzurichten wünschte, daß seine Dynastie in Spanien zur Herrschaft gelange, während England dagegen Einspruch erhob. Isabella vermählte sich 10. Okt. 1846 mit ihrem Vetter Franz d'Assisi Maria Ferdinand, dem Sohne des Infanten Franz de Paula. Zugleich ward die Vermählung ihrer Schwester mit dem Sohne Ludwig Philipps, dem Herzog von Montpensier, beschlossen. Da man aus der königlichen Ehe keine Kinder erwartete, schien die französische Absicht erreicht.

Wider Erwarten aber gebar I. eine Anzahl Kinder: Maria I. Franziska, geb. 20. Dez. 1851, seit 1871 Witwe des Grafen von Girgenti; Alfons Franz, Prinz von Asturien, geb. 28. Nov. 1857, gest. 1885 als König Alfons XII. von Spanien (s. Alfons 21); Maria Berenguela, geb. 4. Juli 1861, gest. 5. Aug. 1879; Maria della Paz, geb. 23. Juni 1862, seit 1883 Gemahlin des Prinzen Ludwig Ferdinand von Bayern; Eulalia, geb. 12. Febr. 1864, seit 1886 Gemahlin des Prinzen Anton von Montpensier.

Die Königin, äußerst bigott und beschränkten Geistes, lebte Werken der kirchlichen Frömmigkeit und zugleich sinnlichen Genüssen hingegeben. In der Regierung ihres Landes war sie von ihrer Umgebung abhängig, in der zuletzt die Nonne Patrocino und der Intendant Marfori den meisten Einfluß besaßen. Wiederholte Aufstände änderten wohl die Ministerien, brachten aber keine Besserung der Regierung. Endlich machte im September 1868 eine Erhebung, zu der sich die verschiedensten Parteiführer verbündet hatten, ihrer Herrschaft ein Ende.

Der Krone entsagte sie 25. Juni 1870 zugunsten ihres Sohnes Alfons (XII.), der 1875 den Thron bestieg. Hierauf kehrte I. nach Spanien zurück. lebte aber meist in Paris."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. -- 2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

27 englischer Zolltarif

"Anti-Cornlaw-League (engl., spr. ännti- kórnlao-lig, Antikornzollliga), Verein in England, der die Abschaffung der Getreidezölle wie überhaupt die Durchführung des Freihandels erstrebte. Diese bereits im 17. Jahrh. eingeführten Zölle waren 1815 dahin geändert worden, dass die Einfuhr überhaupt verboten, wenn der Preis unter 80 Schilling für 1 Quarter stand, dass sie zollfrei sein sollte, sobald der Preis diesen Satz überschritten hatte 1828 trat an Stelle dieses Systems eine bewegliche Zollskala (sliding scale), deren Sätze bei steigenden Preisen sich erniedrigten und umgekehrt. Im Oktober 1831 zu Manchester durch Cobden (s. d.), mehrere Fabrikanten und Kaufleute gestiftet, gewann die A. erst 1838 größern Einfluss, der 1839 unter der Führung von Cobden, Bright, Bowring, Prentice, Thompson, Ashworth u.a. durch Gründung von Zweigvereinen, Bildung größerer Fonds, Abhaltung von Versammlungen, Ausgabe von Agitationszeitungen (»Anti-cornlaw Circular«, »Anti-bread-tax Circular«) etc. über das ganze Land ausgebreitet wurde. Nachdem Villiers' Antrag auf Aufhebung der Getreidegesetze 1839 im Unterhaus durchgefallen war, gelang es 1841, Cobden und einige Gleichgesinnte ins Parlament zu bringen, wo der schon stehend gewordene Antrag Villiers' bereits 40 Stimmen zählte. Nach dem Rücktritte des Whigkabinetts und der Einsetzung des Toryministeriums im Sommer 1841 traten die gesamte dissertierende Geistlichkeit, die irische Partei sowie ein Teil der dem Freihandel zuneigenden Whigs der League bei, während letztere von der Grundaristokratie und dem Chartismus (s. d.) leidenschaftlich bekämpft wurde. Als 1842 die Getreidezölle mit nur geringen Ermäßigungen modifiziert wurden, betrieb man die Agitation mit noch größerer Energie. In der Parlamentssitzung von 1844/45 erhielt Villiers' Antrag schon 122, ein andrer von Cobden auf Prüfung der Korngesetze lautender 221 Stimmen. Die League spannte hierauf ihre äußersten Kräfte an, um im Parlament sich die Majorität zu sichern. Endlich brachte Peel im Januar 1846 seinen berühmten Antrag vor das Unterhaus, wonach die Einfuhr aller Lebensmittel freigegeben und nur vorläufig noch auf 3 Jahre eine (allerdings während dieser Zeit wegen der irischen Hungersnot suspendierte) niedrige gleitende Skala für die Getreideeinfuhr beibehalten werden sollte. Die Bill ging im Unterhaus und im Oberhaus durch und ward Gesetz. Damit war der Zweck der League erreicht; sie löste sich 1849 auf, als der nachher vollständig aufgehobene Zoll bereits auf 1 Schilling für 1 Quarter herabgemindert war."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. -- 2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

28 Lichtfreunde

"Lichtfreunde

1. Lichtfreunde ist der volkstümlich-spöttische Name für die »protestantischen Freunde«. Sie sind eine Nachblüte des Rationalismus (: II) und gelangten zu kirchengeschichtlicher Bedeutung nicht durch das Gewicht ihrer Überzeugungen, sondern durch den späten Zeitpunkt ihrer Entstehung, der sie in Konflikt mit der heraufziehenden und sich staatskirchlich verfestigenden Erweckungsbewegung brachte, vor allem durch deren Bündnis mit der antiliberalen Reaktion, namentlich im Königreich Preußen, bes. der Provinz Sachsen.

2. Als 1840 der Pfarrer W. F. Sintenis in der »Magdeburger Zeitung« das Gebet zu Jesus Christus als Aberglauben bezeichnete und dafür durch die Kirchenregierung nur einen Verweis erhielt, wurde dies der Anlass für eine weitgreifende Erregung in altgläubigen und erweckten Kreisen, zumal ihm der zuständige geistliche Kirchenführer, der Magdeburger Bischof Dräseke, die Eignung für das Pfarramt bei solchen Ansichten abgesprochen hatte. Die Rationalisten fühlten sich zur Verteidigung ihrer Grundsätze und ihres kirchlichen Heimatrechts aufgerufen und gründeten unter dem Pfarrer Leberecht Uhlich (aus Pömmelte b. Magdeburg) 1841 in Gnadau den Verein der »protestantischen Freunde«, der halbjährlich zusammentrat und bes. durch die Teilnahme von Volksschullehrern sehr bald zu einer Volksbewegung anschwoll mit dem Ziel, die geistigen Errungenschaften der Aufklärung auf dem Boden des volkskirchlichen Christentums zu verteidigen. Literarisches Organ wurden die »Blätter für christliche Erbauung« mit dem Beiblatt »Mitteilungen für protestantische Freunde«.

3. Auf der 7. allgemeinen Versammlung der protestantischen Freunde in Köthen am 29.5.1844 protestierte der Pfarrer Gustav Adolf Wislicenus (1803-75) aus Halle in einem Vortrag »Ob Schrift, ob Geist? « gegen ein ev. Papsttum des Bibelbuchstabens und proklamierte den im menschlichen Bewusstsein gegebenen »Geist« als christliche Norm. Dies führte zu einem Disziplinarverfahren vor dem Magdeburger Konsistorium, das mit Amtsentlassung endete (23.4.1846). Sein Buch »Die Bibel im Lichte der Bildung unserer Zeit« (1853) trug Wislicenus eine 2jährige Gefängnisstrafe ein, der er durch Auswanderung nach Nordamerika entging. 1856 kehrte er zurück und siedelte sich in Zürich-Fluntern an. In den Schriften »Die Bibel für denkende Leser betrachtet« ([1863] 18662) und »Entweder-Oder: Glaube oder Wissenschaft, Schrift oder Geist« (1868) wiederholte er seine Auffassungen. Die hier offen zutage tretende spiritualistische Richtung des Rationalismus zeigte sich auch beim Königsberger Militärpfarrer Dr. Julius Rupp. Dieser suchte nach seiner Amtsentlassung (wegen eines Angriffs auf das Athanasianum) 1845 und der Gründung einer freien (lichtfreundlichen) Gemeinde den Gustav-Adolf- Verein zur »wahrhaft allgemeinen Kirche (wenn Kirche hier noch das rechte Wort ist) allein im Geist zu erbauen... in vollkommener Verschmelzung des Christentums mit der allgemeinen Wissenschaft und Erkenntnis« (Zitat aus Schelling, Die Weltalter, Bruchstück, [1811/15] 1861). Der Gustav-Adolf-Verein schloss Rupp aus und nahm den Fall, der für ihn die stärkste Krise seiner Geschichte bedeutete, zum Anlass für eine grundsätzliche Aussprache über den Kirchenbegriff (Darmstadt 1847).

4. Mit Rupp in Königsberg begann die neue Entwicklungsphase der protestantischen Freunde, der Fortschritt zur Bildung eigener Gemeinden. Sie wurde wesentlich gefördert durch die Amtsentlassung oder die durch staatskirchenbehördliche Schikanen erzwungene Amtsniederlegung (mit nachfolgendem Austritt aus der Landeskirche) von führenden Vertretern (Uhlich 1847 in Magdeburg, Ed. Baltzer in Delitzsch 1847, Adolf Timotheus Wislicenus in Breda b. Merseburg 1846). Die Forderung Aug. Hahns ( Leipziger Disputation) auf Ausscheiden der Rationalisten aus der Kirche war 20 Jahre später erfüllt. Freie Gemeinden lichtfreundlichen Charakters bildeten sich in Neumarkt (Schlesien), Halle, Nordhausen, Halberstadt, Magdeburg (das mit Uhlich an der Spitze immer mehr zum Zentrum wurde) und Marburg. Die Revolution 1848/49 brachte eine vorübergehende äußere Blüte der Bewegung, die plötzlich alle demokratischen Freiheiten genoss (neue Gemeindebildung in Nord- und Mitteldeutschland, bes. Provinz und Königreich Sachsen, Thüringen, Nassau, Hessen-Darmstadt). Seitdem erfolgte vielerorts ein Zusammenwachsen und Zusammenschluss mit dem freireligiösen Deutschkatholizismus. Das führte zu einer fortschreitenden Auflösung des christlichen Gehalts zugunsten eines platten Rationalismus und Moralismus, nicht selten mit atheistischen Tendenzen, und zog den Niedergang der protestantischen Freunde nach sich. Die Reaktion nach 1850 erschwerte ihnen vor allem in Preußen und im neupreußischen Kurhessen das Leben, bis ihnen die Regentschaft Wilhelms I. seit 1858 Bewegungsfreiheit gewährte. Seitdem vollzog sich unter äußerer Freiheit ein innerer Auszehrungsprozess - das stille Sterben des Rationalismus.

5. An Wirkungen und Beurteilungen sind der Abschied Dräsekes vom Bischofsamt (1843), der (damit vorwiegend begründete) Weggang des Führers der sächsischen Erweckungsbewegung A. G. Rudelbach aus Glauchau nach Dänemark (1845) und die Kennzeichnung der protestantischen Freunde als Gipfel des schwärmerischen Subjektivismus durch Hundeshagen bemerkenswert.

[Quelle: Martin Schmidt (1909 - 1982). -- In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG3). -- Bd. 4. -- 1960. -- Sp. 359 f.]

29 Deutschkatholiken

"Deutschkatholiken, die Mitglieder der Religionsgesellschaft, die sich 1814 aus Anlass der Ausstellung des heil. Rockes in Trier von der römisch-katholischen Kirche trennte. Schon ehe Ronge (s.d.) an den Bischof Arnoldi von Trier sein Rundschreiben erließ, war der Kaplan Czerski (s.d.) in Schneidemühl aus der römischen Kirche ausgetreten und begründete 19. Okt. eine christlich-apostolisch-katholische Gemeinde. Diese verwarf die spezifisch römischen Lehren als unbiblisch, erklärte die Heilige Schrift für »die einzig sichere Quelle des christlichen Glaubens«, behielt aber das nicäische Glaubensbekenntnis und die sieben Sakramente bei. Czerski, mehr noch Ronge, waren bald die Helden des Tages. Unter Ronges Einfluss und der regen Teilnahme des Professors des kanonischen Rechts Regenbrecht kam es im Februar 1845 zur Gründung einer »Deutsch-katholischen« Gemeinde in Breslau, deren Seelsorger Ronge wurde, und die bald 1200 Mitglieder zählte. Ihr Glaubensbekenntnis forderte als wesentlich nur den Glauben »an Gott den Vater, der durch sein allmächtiges Wort die Welt geschaffen und sie in Weisheit, Gerechtigkeit und Liebe regiert, an Jesum Christum, unsern Heiland, der uns durch seine Lehre, sein Leben und seinen Tod von der Knechtschaft der Sünde erlöst, und an das Walten des Heiligen Geistes auf Erden, eine heilige, allgemeine christliche Kirche, Vergebung der Sünden und ein ewiges Leben.« Nur Taufe und Abendmahl galten als Sakramente, das letztere als Erinnerungsmahl in beiden Gestalten zu empfangen. Anrufung der Heiligen, Verehrung der Bilder und Reliquien, Ablass und Wallfahrt wurden verworfen. In zahlreichen andern bedeutenden Städten fand die Bewegung rasch wachsenden Anhang, wobei nur wenige Gemeinden, wie die Berliner, sich auf die Seite des konservativen Schneidemühler Bekenntnisses stellten, während die meisten dem Breslauer zustimmten. Ronges Lehrmeinung gewann auch auf dem ersten, vom 23.-26. März 1845 in Leipzig abgehaltenen Konzil überwiegende Zustimmung. Nach den hier beschlossenen »allgemeinen Grundsätzen und Bestimmungen der deutsch-katholischen Kirche« soll der Gottesdienst wesentlich aus Belehrung und Erbauung bestehen, seine äußere Form sich nach Zeit und Ort richten. Der Gebrauch der lateinischen Sprache wurde abgeschafft, die Gemeindeverfassung auf demokratischer Grundlage errichtet. Nach diesen Leipziger Beschlüssen bildeten sich jetzt in allen preußischen Provinzen deutschkatholische Gemeinden, trotz der ablehnenden Haltung der Regierung, die (Reskript vom 17. Mai 1845) den Deutschkatholiken den Mitgebrauch evangelischer Kirchen weigerte, ihre Prediger nicht für Geistliche achtete und ihren Amtshandlungen keine bürgerliche Gültigkeit zuerkannte. In Schlesien berechnete man die Zahl der Deutschkatholiken schon im Juni 1845 auf 40-50,000. Besondere Verbreitung fand die Bewegung auch im Königreich Sachsen. Aber auch in den meisten andern deutschen Bundesstaaten entstanden Gemeinden. In Bayern unterdrückte die Regierung den in Neustadt a. d. Hardt gemachten Versuch. Hier wie in Österreich blieb der Name Deutschkatholiken auch später amtlich verboten und mit dem von Dissidenten vertauscht. Ende August 1845 bestanden im ganzen 173 Gemeinden; davon kamen auf Preußen 118, auf Sachsen 22, beide Hessen 15, Mecklenburg 7, Baden und freie Städte je 3, Nassau und Württemberg je 2, Braunschweig 1.
Weit mehr Eintrag als hemmende Regierungsmaßregeln und Angriffe der römischen Partei taten der Bewegung die im eignen Schoß immer mehr hervortretenden Differenzen. Schon auf dem zweiten Konzil, das 70 Abgeordnete von 142 Gemeinden im Mai 1847 zu Berlin abhielten, kam es zur Absonderung der strenger Gläubigen von der neuen Kirche. Die politische Bewegung von 1848 schien für den Deutschkatholizismus eine neue Blütezeit herbeizuführen. Aber die neu erstarkende Reaktion wendete sich auch gegen ihn, und die demokratischen Wühlereien Ronges entfremdeten ihm viele der religiös gestimmten Anhänger. An manchen Orten lösten sich die Gemeinden auf, in andern erfolgten Rücktritte zur katholischen oder, wie in Dresden, Übertritte zur protestantischen Kirche. Die meisten der fortbestehenden Gemeinden gaben ihre Sympathien mit den seit 1848 zahlreicher gewordenen, aus der protestantischen Kirche hervorgegangenen »Freien Gemeinden« (s.d.) immer deutlicher kund. Am 16. und 17. Juni 1859 wurde zu Gotha die förmliche Vereinigung mit diesen als »Bund freireligiöser (seit 1862: freier religiöser) Gemeinden« beschlossen. Einen Deutschkatholizismus als besondere Organisation gibt es zurzeit nur noch im Königreich Sachsen in drei größern (Dresden, Leipzig, Chemnitz) und einigen kleinern Gemeinden mit etwa 2200 Mitgliedern. Die nichtsächsischen Deutschkatholiken gehören dem »Bund« an, und ihre numerische Abgrenzung ist dadurch erschwert, dass sie größtenteils die Bezeichnung »freireligiös« nebenher führen (s. das Nähere unter Freie Gemeinden). 1899 fanden sich unter den 50 zum »Bunde« gehörigen Gemeinden 14, die in irgend einer Form dem Gedanken der Katholizität in ihrer Selbstbezeichnung Ausdruck gaben. Der Bezeichnung deutschkatholisch bedienen sich vorzugsweise die Gemeinden im westlichen und südlichen Deutschland (Hauptgemeinden in Offenbach, Frankfurt, Mainz, diese drei als staatlich anerkannte mit Korporationsrechten, Wiesbaden, Rüdesheim etc.)."

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30 Köthen (in Anhalt): 1844 und 1845 Versammlungsort der "Lichtfreunde".

31  Contrat social (französisch): Gesellschaftsvertrag. Nach Jean Jacques Rousseau führt die Unmöglichkeit der Erhaltung des Naturzustandes zu einem (stillschweigenden, fiktiven) Gesellschaftsvertraget, durch welchen die Gesamtheit der Wollenden ihre Freiheit auf einen Gesamtwillen (»volonté générale«) überträgt. Die persönliche Freiheit ordnet sich so der Gemeinschaft unter (einem »corps moral et collectif«), dem Staate als dem Organe des Volkswillens, der allen gleiche Rechte gewähren muss. Das Wohl der Individuen ist der Zweck der Gesellschaft: Freiheit und Gleichheit sind der Zweck staatlicher Gesetzgebung. Die Souveränität, die legislative Gewalt gehört dem Volke, welches der Regierung die exekutive Gewalt verleiht.

32 Johann Wolfgang Goethe (1749-1832): Römische Elegien. -- 1827:

Ehret, wen ihr auch wollt! Nun bin ich endlich geborgen!
Schöne Damen und ihr, Herren der feineren Welt,
Fraget nach Oheim und Vetter und alten Muhmen und Tanten;
Und dem gebundnen Gespräch folge das traurige Spiel.
Auch ihr übrigen fahret mir wohl, in großen und kleinen
Zirkeln, die ihr mich oft nah der Verzweiflung gebracht.
Wiederholet, politisch und zwecklos, jegliche Meinung,
Die den Wandrer mit Wut über Europa verfolgt.
So verfolgte das Liedchen »Malbrough« den reisenden Briten
Einst von Paris nach Livorn, dann von Livorno nach Rom,
Weiter nach Napel hinunter; und wär er nach Smyrna gesegelt,
»Malbrough!« empfing ihn auch dort, »Malbrough!« im Hafen das Lied.
Und so musst ich bis jetzt auf allen Tritten und Schritten
Schelten hören das Volk, schelten der Könige Rat.
Nun entdeckt ihr mich nicht so bald in meinem Asyle,
Das mir Amor, der Fürst, königlich schützend, verlieh.
Hier bedecket er mich mit seinem Fittich; die Liebste
Fürchtet, römisch gesinnt, wütende Gallier nicht;
Sie erkundigt sich nie nach neuer Märe, sie spähet
Sorglich den Wünschen des Manns, dem sie sich eignete, nach.
Sie ergetzt sich an ihm, dem freien, rüstigen Fremden,
Der von Bergen und Schnee, hölzernen Häusern erzählt;
Teilt die Flammen, die sie in seinem Busen entzündet,
Freut sich, dass er das Gold nicht wie der Römer bedenkt.
Besser ist ihr Tisch nun bestellt; es fehlet an Kleidern,
Fehlet am Wagen ihr nicht, der nach der Oper sie bringt.
Mutter und Tochter erfreun sich ihres nordischen Gastes,
Und der Barbare beherrscht römischen Busen und Leib.

33 Czerski

" Czerski (spr. tsch-), Johann, Mitstifter der deutsch-katholischen Kirchengemeinschaft, geb. 12. Mai 1813 zu Werlubien in Westpreußen, gest. 22. Dez. 1893 in Schneidemühl. 1842 Vikar an der Domkirche in Posen, 1841 nach Schneidemühl versetzt, legte er 22. Aug. 1841 sein Amt nieder, trat mit einem Teil seiner Gemeinde 19. Okt. aus der römischen Kirche aus und gründete eine »christlich-apostolisch-katholische« Gemeinde. Am 17. Febr. 1845 wurde er exkommuniziert. Innerhalb der deutschkatholischen Bewegung (s. Deutschkatholiken) nahm er einen konservativen Standpunkt ein, indem er an der Gottheit Christi festhielt. Vgl. seine Schriften: »Rechtfertigung meines Abfalles von der römischen Hofkirche« (Bromb. 1845) und »Johann Czerskis Leben und Wirken« (das. 1845)."

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34 Evangelische Kirchenzeitung: von Hengstenberg (s. oben) 1827 gegründetes "Parteiorgan der rücksichtslosesten Unduldsamkeit"

35  Entente cordiale (französisch): herzliches Einvernehmen, Bezeichnung der guten Beziehungen zwischen Frankreich und England, datiert aus der Adresse der französischen Deputiertenkammer von 1840-41.

36 Gemeint ist Christian Karl Josias Freiherr von Bunsen (1791-1860)

"Bunsen, Christian Karl Josias, Freiherr von, deutscher Staatsmann und Gelehrter, geb. 25. Aug. 1791 zu Korbach im Waldeckischen, gest. 28. Nov. 1860 in Bonn, studierte 1808-13 Theologie, dann Philologie und machte sich durch eine gekrönte Preisschrift: »De jure Atheniensium hereditario« (Göttingen 1813), in der gelehrten Welt bekannt. Dann begab er sich seiner Sprachstudien wegen nach Wien, an den Rhein und nach Holland, 1813 nach Kopenhagen (Isländisch) und lernte Ende 1815 in Berlin Niebuhr kennen. Im April 1816 ging er nach Paris, um Persisch und Arabisch zu treiben, und wandte sich Ende 1816 nach Rom. Hier verheiratete er sich 1. Juli 1817 mit einer reichen Engländerin, Fanny Waddington (geb. 4. März 1791), und wurde auf Niebuhrs Empfehlung 1818 Gesandtschaftssekretär. Für seine weitere Laufbahn wurde der Besuch König Friedrich Wilhelms III. in Rom entscheidend, wo Bunsen dem König seine Ansichten über Agende und Liturgie darlegte. 1823 zum Legationsrat ernannt, übernahm er im Frühjahr 1824 die Geschäfte der Gesandtschaft, ward 1827 preußischer Ministerresident beim päpstlichen Stuhl, erhielt den Auftrag, die Unterhandlungen über die gemischten Ehen zu führen, und erwirkte von Pius VIII. das unklar gefasste Breve vom 25. März 1830, das Gregor XVI. später zu Ungunsten Preußens auslegte. Bunsen förderte wissenschaftliche Bestrebungen (Lepsius); unter seiner Mitwirkung erfolgte 1829 die Gründung des vom damaligen Kronprinzen, nachherigen König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, in Anregung gebrachten Archäologischen Instituts. Auch gründete Bunsen auf dem tarpejischen Felsen ein protestantisches Hospital. Daneben beteiligte er sich an der »Beschreibung der Stadt Rom« (1830-13, 3 Bde.); eine Frucht dieser Studien war auch das Prachtwerk »Die Basiliken des christlichen Rom« (mit 50 Kupfertafeln von Gutensohn u. Knapp, Münch. 1843; neue Ausg. 1864; franz. Ausg. von Ramée, Par. 1872). Nachdem er 1834 die Regierung zur Annahme des Breves Pius' VIII. und zur Übereinkunft mit den westdeutschen Bischöfen vom 19. Juni bestimmt hatte, veranlasste das schroffe Verhalten des Kölner Erzbischofs Droste zu Vischering (s.d.) 1837 doch den Streit zwischen der Kurie und Preußen. Bunsen, wieder nach Berlin berufen, rechtfertigte die Verhaftung des Erzbischofs in der »Denkschrift über die katholischen Angelegenheiten in den westlichen Provinzen Preußens vom 25. August«, wurde aber, 1838 nach Rom zurückgekehrt, vom Papst nicht empfangen und erhielt daher längern Urlaub, den er in München und England verbrachte. Ende 1839 erhielt er den Gesandtschaftsposten bei der Eidgenossenschaft in Bern, ward von da 1841 nach Berlin zurückberufen und von dem ihm befreundeten König Friedrich Wilhelm IV. mit einer außerordentlichen Mission zur Errichtung eines evangelischen Bistums in Jerusalem (vgl. Bunsens Schrift »Das evangelische Bistum zu Jerusalem«, Berl. 1842) nach London betraut, worauf 1842 seine Ernennung zum preußischen Gesandten daselbst erfolgte. Gegen den Verdacht, als befürworte er die Einführung anglikanischer Formen in der protestantischen Kirche, verteidigte er sich in dem Werk »Die Verfassung der Kirche der Zukunft« (Hamb. 1845). In den Verfassungsfragen 1844 vom König zu Rate gezogen, arbeitete er den Entwurf zu einer der englischen nachgebildeten preußischen Verfassung aus. 1848 von den Schleswigern in das deutsche Parlament gewählt, in das er aber nicht eintreten konnte, überreichte er 8. April 1848 Lord Palmerston sein »Memoir on the constitutional rights of the duchies of Schleswig and Holstein«, fand aber kein Verständnis für seine Pläne und ging deshalb 1848 und 1849 auf längere Zeit nach Deutschland. Trotz der österreichischen Ränke hielt ihn der König auf seinem Posten, und Bunsen unterzeichnete, obwohl er 1850 die Beteiligung an den Londoner Konferenzen über Schleswig-Holstein abgelehnt hatte, doch das Londoner Protokoll vom 8. Mai 1852. Im übrigen genoss Bunsen die Freundschaft der Königin, des Prinzen Albert und Peels, war seinen deutschen Landsleuten stets ein treuer Berater und rief das deutsche Hospital zu Dalston bei London ins Leben. Beim Ausbruch des orientalischen Krieges befürwortete er ein Bündnis Preußens mit den Westmächten; doch der am Berliner Hofe mächtigere russische Einfluss bewirkte im Juni 1854 seine Abberufung. Bunsen siedelte nach Heidelberg über, wo er gegen ultramontane und unionsfeindliche Ränke unter anderm »Die Zeichen der Zeit, Briefe an Freunde über die Gewissensfreiheit und das Recht der christlichen Gemeinde« (Leipz. 1855, 2 Bde; 3. Aufl. 1856) schrieb. Bei seiner Erhebung in den erblichen Freiherrenstand 1857 ward er Mitglied des Herrenhauses; wegen eines Leidens verbrachte er zwei Winter in Cannes und kaufte sich 1860 in Bonn an. Neben seiner diplomatischen Wirksamkeit und seiner ausgedehnten Korrespondenz über politische und kirchliche Angelegenheiten war Bunsen unausgesetzt literarisch tätig. Sein bedeutendstes archäologisches Werk ist: »Ägyptens Stelle in der Weltgeschichte« (Hamb. u. Gotha 1845-57, 5 Bde.); den Mittelpunkt seiner Bestrebungen aber bildeten biblische, kirchengeschichtliche und liturgische Studien. Seine wichtigsten Werke in diesem Fach sind: »Hippolytus und seine Zeit« (Leipz. 1853, 2 Bde.; in der zweiten englischen Ausgabe u. d. T.: »Christianity and mankind. Their beginnings and prospects« auf 7 Bände erweitert); »Ignatius von Antiochien und seine Zeit« (Hamb. 1847); »Die drei echten und die vier unechten Briefe des Ignatius von Antiochien« (das. 1847) und das unvollendete »Bibelwerk für die Gemeinde«, dessen Fortsetzung von Kamphausen und Holtzmann besorgt wurde (Leipz. 1858-1869, 9 Bde.). Den Briefwechsel Bunsens mit Friedrich Wilhelm IV. gab L. Ranke (Leipz. 1873), »Briefe an Bunsen von römischen Kardinälen und Prälaten, deutschen Bischöfen und andern Katholiken aus den Jahren 1818-1837« Reusch (das. 1897) heraus."

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37 Areopag

"Areopag (griech. Areios pagos, »Areshügel«), Hügel bei Athen, in der Nähe der Akropolis, den Propyläen gegenüber; hier war der Sitz der Erinnyen und des berühmten, uralten gleichnamigen Blutgerichtes, dessen Ursprung bis in die mythische Zeit zurückgeführt wurde. Er bestand (schon vor Drakon) aus den gewesenen Archonten, die ihr Amt tadellos verwaltet hatten, also den ehrenhaftesten, reichsten und angesehensten Männern Athens. Auf der Höhe seines Einflusses wachte der Areopag über die Ausübung der Gesetze durch die Behörden, konnte die Beamten wegen ihrer Amtshandlungen vor Gericht ziehen und gegen alle Beschlüsse des Rates und der Volksversammlung, wenn er in ihnen eine Verletzung der Verfassung oder eine Gefahr für das Gemeinwesen erblickte, Einsprache erheben. Er schirmte den heiligen Dienst der Götter, führte Aussicht über die religiöse Gesinnung, den sittlichen Wandel und die Lebensweise der Bürger und über die Erziehung der Jugend. Ohne eine Anklage abzuwarten, durfte der Areopag alle Bürger vor Gericht laden, vernehmen und strafen. Die Würde der Mitglieder war lebenslänglich, ihre Zahl unbestimmt. So war der Areopag, unabhängig von den Schwankungen der öffentlichen Meinung und umgeben von den heiligsten Erinnerungen der Vorzeit, eine vortreffliche Staatseinrichtung, welche die Entwickelung des Gemeinwesens in konservativem Sinne mäßigte. Eben darum richteten sich aber auch alle Bestrebungen der demokratischen Partei auf die Beschränkung der Macht des Areopags. Schon Drakon war in dieser Richtung tätig, endlich verlor er durch das Gesetz des Ephialtes 460 alle Befugnisse mit Ausnahme des Blutbannes (die Oberaufsicht über die Staatsverwaltung wurde den Nomophylakes übertragen). Eine Reaktion trat nach dem Peloponnesischen Krieg ein; der Areopag wurde in einen Teil seiner alten Befugnisse wieder eingesetzt, namentlich mit der Aussicht über die Beobachtung der Gesetze durch die Behörden von neuem beauftragt und gewann sogar mit dem Sinken der äußern Macht Athens an Einfluß. Aus Apostelgeschichte 17,19 u. 22 erhellt, daß er unter Claudius noch existierte; wahrscheinlich wurde er unter Vespasian aufgehoben."

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38 Peel

"Peel (spr. pil), Sir Robert, brit. Staatsmann, ältester Sohn des Großindustriellen Baronet Sir Robert Peel, geb. 5. Febr. 1788 zu Chamber Hall bei Bury in Lancashire, gest. 2. Juli 1850, ausgebildet in Harrow und Oxford, trat 1809 ins Parlament und schloss sich den Tories an, deren Grundsätze er 20 Jahre lang getreu verteidigte. 1810 ward er Unterstaatssekretär für die Kolonien und 1812 erster Sekretär für Irland. 1817 wegen seiner Abneigung gegen die Emanzipation der Katholiken von der Universität Oxford ins Parlament gesandt, legte er 1818 sein Amt nieder und setzte 1819 die nach ihm benannte Akte durch, welche die Rückkehr zur Metallwährung anordnete. 1821 wurde er mit dem Ministerium des Innern betraut und zeigte sich auch in dieser Stellung als strengen Anhänger toryistischer Ansichten, während er zweckmäßigen Reformen keineswegs abhold war. So bekämpfte er zwar die Katholikenemanzipation und unterstützte die Fremdenbill, schuf aber die Organisation der Londoner Polizei und verbesserte vielfach das Gerichtsverfahren und die Kriminalgesetzgebung. Mit Liverpool schied Peel 1827 aus seiner Stellung, trat an die Spitze der Opposition gegen Canning und übernahm nach dessen Tod zu Anfang 1828 unter Wellington von neuem das Ministerium der Innern. Um die immer drohender werdende Aufregung in Irland zu beschwichtigen, zeigte er sich jetzt der Katholikenemanzipation günstiger und setzte 1829 eine Bill durch, die den Katholiken mittels einer Abänderung der Eidesformel den Eintritt ins Parlament sowie den Zutritt zu den meisten öffentlichen Ämtern ermöglichte. Seine Wähler in Oxford entzogen ihm darauf ihr Vertrauen; selbst seine Brüder und sein Vater erklärten sich gegen ihn. Als nach der Thronbesteigung Wilhelms IV. und dem Ausbruch der französischen Julirevolution die liberale Partei immer drängender eine Parlamentsreform forderte, musste das Ministerium Wellington 16. Nov. 1830 abtreten, und Peel, der nun im Unterhaus die Leitung der Opposition übernahm, kämpfte 18 Monate, freilich vergeblich, gegen die vom Ministerium eingebrachte Reformbill. Als Peel im Februar 1833 in das reformierte Parlament trat, fand er die alten Anhänger seiner Partei fast um zwei Dritteile zusammengeschmolzen. Er sammelte diese Überreste um sich, zog auch manche Whigs zu sich herüber, die vor den Konsequenzen der eingetretenen Reform und der Verbindung des Ministeriums mit den Radikalen erschraken, und ward so Stifter einer neuen Partei (Peeliten), die zwischen der Starrheit der alten Tories und der Beweglichkeit der jüngern Whigs die Mitte hielt. Im November 1834 ward Peel aus Italien, wohin er eine Erholungsreise unternommen hatte, zurückgerufen, um mit Wellington ein neues Kabinett zu bilden; er übernahm darin als erster Lord der Schatzkammer die Oberleitung, sah sich aber trotz der Annahme mehrerer freisinniger Maßregeln schon 8. April 1835 zum Rücktritt genötigt, da das Unterhaus einen Vorschlag Russells auf Überlassung eines Teiles des irischen Kirchenguts zu nichtkirchlichen Zwecken annahm. Von neuem übernahm Melbourne die Leitung der Verwaltung und Peel die der Opposition im Unterhaus. Trotzdem unterstützte er das Ministerium in allen gemäßigt liberalen Maßregeln. 1836 ward er von der Universität Glasgow zum Rektor gewählt. Im September 1841 bildete Peel, nachdem Palmerston wegen seiner Zollpolitik im Unterhaus geschlagen worden war, ein neues Ministerium, das die Häupter der Tories und der gemäßigten Whigs in sich vereinigte. Dieses siegte in der Frage der Korngesetze und setzte eine zeitweilige Einkommensteuer durch. Mit großer Vorsicht ging Peel hierauf an die Herabsetzung der hohen Schutzzölle. 1846 beantragte er in drei Gesetzvorschlägen völlige Aufhebung der Getreidezölle nach drei Jahren, eine neue Herabsetzung des allgemeinen Zolltarifs und Zwangsmaßregeln zum Schutz von Eigentum und Leben in Irland. Die Getreide- und die Tarifbill wurden angenommen, dagegen die irische Zwangsbill durch eine Koalition von Schutzzöllnern und Radikalen, Whigs und Irländern verworfen, worauf Peel 29. Juni zurücktrat. Die von ihm geführte Mittelpartei stand in der Folge den gemäßigten Whigs näher als den Tories; namentlich unterstützte Peel in den Jahren 1847-48 die Freihandelspolitik der Regierung. Peel war einer der hervorragendsten Staatsmänner Englands im 19. Jahrh. Er verband mit außerordentlicher Geschäftsgewandtheit eine nüchterne und überzeugende Beredsamkeit. Seine patriotische Gesinnung, die durchaus auf das Praktische gerichtet war, erklärt die Wandlungen seiner Politik. Seiner Redlichkeit und Ehrenhaftigkeit mussten selbst seine heftigsten Gegner Gerechtigkeit widerfahren lassen; in der Westminsterabtei zu London und in vielen andern Städten, Manchester, Glasgow, Edinburg, Birmingham etc., wurden ihm Denkmäler errichtet. Seine Memoiren und eine Auswahl aus seinen Briefen gab Earl Stanhope heraus (Lond. 1856-57, 2 Bde.)."

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39 Friedrich Wilhelm IV. von Preußen

"Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen, geb. 15. Okt. 1795, gest. 2. Jan. 1861 ...

Nicht nur Preußen, sondern auch Deutschland hoffte viel von Friedrich Wilhelm, als er 7. Juni 1840 den Thron bestieg. Bald erkannte er das königliche Versprechen seines Vaters, dem Land eine zeitgemäße repräsentative Verfassung zu geben, durch öffentliche Proklamation an, begnadigte eine Anzahl wegen politischer Vergehen Verurteilter, setzte Arndt in Bonn in seine Professur wieder ein, berief Boyen und I. A. F. Eichhorn zu Ministern, zog berühmte Vertreter der Literatur und Kunst, wie A. W. v. Schlegel, Tieck, Rückert, Schelling, Cornelius, Mendelssohn-Bartholdy etc., in seine Nähe und stiftete eine Friedensklasse des Ordens pour le mérite für die berühmtesten Gelehrten und Künstler Deutschlands und des Auslandes. Die provinzialständische Verfassung wurde durch die Errichtung von Ausschüssen erweitert, der Presse eine freiere Bewegung gestattet, auch die Erzbischöfe Dunin und Droste-Vischering in ihre Würden wieder eingesetzt, den Altlutheranern und andern der Union widerstrebenden Sekten freierer Spielraum gegönnt, strengere Sonntagsfeier eingeführt, mehrere freisinnige Professoren abgesetzt, alles Zeichen großer Nachgiebigkeit gegen orthodoxe und ultramontane Einflüsse. Von der Richtigkeit seiner Anschauungen überzeugt, ließ er der Kritik seiner Maßregeln anfangs freien Lauf, empfand aber ihre Schärfe oft bitter und schritt mit Polizeimaßregeln ein.  ...

Friedrich Wilhelm, von einer überspannten Vorstellung seiner königlichen Machtvollkommenheit beherrscht, ohne Verständnis für die Grundlagen und Aufgaben des preußischen Staates und für seine Pflichten als Oberhaupt, beschäftigte sich viel mit kirchlichen Fragen, der Mission in China und dem evangelischen Bistum in Jerusalem und vernachlässigte die beiden Grundsäulen der alten absoluten Monarchie, das Beamtentum und das Heer."

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40 Ilium = Troja

41 Zu denken ist vor allem an die Religionskritik von David Friedrich Strauß, Ludwig Feuerbach, Arnold Ruge, Bruno Bauer und Moses Heß sowie auch von Karl Marx.

42 Basilisk

"Basilisk. Unter dem Namen Basiliscus (Regulus, »kleiner König«) führen die Alten ein fabelhaftes Tier auf, eine gelbe afrikanische Schlange mit weißem Fleck und drei Hervorragungen auf dem spitzen Kopf. Sein Zischen bringt Tod, sein Gifthauch versengt Kräuter und Sträucher und sprengt selbst Steine. Er ist der König (basileus) aller Gifttiere, vor dem alle Giftschlangen fliehen, er vergiftet die Luft der Höhlungen, in denen er lebt.

Nach mittelalterlichen Beschreibungen ist der Basilisk ein aus einem dotterlosen Hahnenei (Basiliskenei) durch eine Kröte auf dem Mist ausgebrütetes Tier mit Hahnenkopf, acht Hahnenfüßen, einem am Ende dreispitzigen Schlangenschwanz, das sich in Kellern aufhält, funkelnde Augen und eine Krone auf dem Kopfe hat, schon durch seinen Blick (Basiliskenblick) tötet, nur durch Vorhaltung eines Spiegels, in dem es sich selbst erblickt, getötet werden kann und gewöhnlich als Wächter über Schätze, an die sich Schauergeschichten knüpfen, gesetzt ist.

Offenbar ist die Basiliskensage die Schilderung der Wirkung giftiger Gase, denen Bergleute, Brunnenmacher etc. oft zum Opfer fallen.

Künstliche Basilisken, aus jungen Rochen durch Verzerrung des Körpers nach der eingebildeten Gestalt zugestutzt und mit Glasaugen in den Nasenlöchern versehen, sieht man in alten Naturaliensammlungen.

Im Morgenlande gab man dem Basilisk eine aus Hahn, Kröte und Schlange zusammengesetzte Gestalt, die sich auch in chinesischen Zeichnungen angedeutet findet."

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43 autochthonisch: eigenständig, bodenständig

44 nicht in majorem, vielmehr in minorem ecclesiae gloriam: nicht zur höheren Ehre der Kirche, sondern zur minderen Ehre

45 beati possidentes: Glücklich die Besitzenden (wer den Besitz hat, ist im Vorteil). Römischer Rechtsgrundsatz (cf. Corpus Iuris Civilis, Digestae 50. 16,49)

46 Konrad Melchior Hirzel (1793 - 1843): Bürgermeister von Zürich 1832 - 1839, berief 1838 David Friedrich Strauss an die Theologische Fakultät der Universität Zürich, musste deswegen sein Bürgermeisteramt aufgeben.

47 Konstantin Siegwart-Müller (1801-1869): War bis Ende der 1830er Jahre Mitglied der radikalen Partei Luzerns, trat dann aber an die Seite des katholisch reaktionären Joseph Leu und wurde zu einem der Führer der  klerikal-demokratischen Partei Luzerns, mitverantwortlich für die Berufung der Jesuiten nach Luzern und damit einer der Auslöser des Sonderbundkrieges.

48 Sappeur: Pionier-Soldat für den Bau von Laufgräben.

49 Tirailleur: Schütze

50 Husar: Mitglied der leichten Reiterei (Kavallerie)

51 Konventikel: Erbauungsversammlungen

52 Trieglaff: Gutssitz in Hinterpommern von Adolf von Thadden (1796 - 1882), wurde Mittelpunkt der dortigen Erweckungsbewegung. In Trieglaff hat auch Bismarck seine Bekehrung erlebt. Die Trieglaffer Konferenzen hatten eine gewisse Berühmtheit. Politisch standen die Vertreter dieser Kreise Friedrich Wilhelm IV. nahe und gehörten zur Konservativen Partei.

53 Barby (im Elbe-Saale-Winkel): Schloss Barby seit 1746 an die Herrnhuter Brüdergemeine verpachtet und diente als deren theologischensSeminar.

54 ecclesia militans: die streitbare Kirche (d. h. die Kirche auf Erden)

55 Heiliger Rock

"Heiliger Rock, eine von den angeblichen Reliquien Christi (Joh. 19,23), wird in mehreren Exemplaren, z. B. in Argenteuil, in der Laterankirche zu Rom und anderen Orten, aufbewahrt. Am bekanntesten ist der im Dom zu Trier aufbewahrte, zuerst auf Bitten Kaiser Maximilians 1512 zur Verehrung der Gläubigen ausgestellte heilige Rock geworden, der bald von Helena, der Mutter Konstantins, aus dem Heiligen Lande gebracht und ihrer Vaterstadt Trier geschenkt, bald von Orendel, dem Sohne des Königs Eygel in Trier, der auf dem Zug nach Palästina Schiffbruch gelitten, nach Trier gebracht worden sein soll. Die vom Bischof Arnoldi 1844 verfügte Ausstellung rief die Bewegung des Deutschkatholizismus hervor. 1891 ließ Bischof Korum die Reliquie von neuem ausstellen; 1,925,130 Pilger zogen nach Trier, von denen nach dem Zeugnis des Bischofs 11 geheilt, 27 mit »Gnadenerweisen« bedacht wurden."

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56 Jupiter tonans: Jupiter der Donnerer: oberster römischer Gott

57 Wislicenus

"Wislicenus, Gustav Adolf, prot. Theolog, geb. 20. Nov. 1803 zu Battaune in der Provinz Sachsen, gest. 14. Okt. 1875 in Fluntern bei Zürich, ward 1824 als Mitglied der Burschenschaft zu zwölfjährigem Festungsarrest verurteilt, doch 1829 begnadigt. Seit 1834 Pfarrer in Kleineichstädt bei Querfurt, seit 1841 an der Neumarktskirche in Halle, nahm er lebhaften Anteil an den lichtfreundlichen Bestrebungen. Sein am 29. Mai 1844 in Köthen gehaltener Vortrag über die Autorität der Schrift veranlasste 1846 seine Amtsentsetzung (s. Freie Gemeinden). Seinen Prozess stellte er dar in der Schrift »Die Amtsentsetzung des Pfarrers Wislicenus in Halle« (Leipz. 1846). Er lebte seitdem in Halle als Prediger der Freien Gemeinde, ward jedoch infolge der Schrift »Die Bibel im Lichte der Bildung unsrer Zeit« (Lübeck 1854) im September 1853 zu zweijähriger Gefängnisstrafe verurteilt. Der Vollstreckung entzog er sich durch die Flucht nach Amerika, kehrte aber im Mai 1856 nach Europa zurück und ließ sich bei Zürich nieder. Hier schrieb er sein Hauptwerk: »Die Bibel, für denkende Leser betrachtet« (Leipz. 1863-64, 2 Bde.)."

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58 König

"König, Heinrich Joseph, Schriftsteller, geb. 19. März 1790 in Fulda, gest. 23. Sept. 1869 in Wiesbaden, besuchte das Gymnasium, dann das Lyzeum in Fulda, war zur Zeit des Großherzogtums Frankfurt in der städtischen Verwaltung beschäftigt, kam 1817 als Finanzsekretär nach Fulda, 1819 nach Hanau und wurde 1840 nach Fulda zurückversetzt. Durch seine Abhandlungen »Rosenkranz eines Katholiken« (Frankf. a. M. 1829) geriet er in Konflikt mit dem Klerus und ward hierdurch veranlasst, in seiner Schrift »Der Christbaum des Lebens« (das. 1831) seine religiösen und kirchlichen Ansichten weiter auszuführen; infolgedessen vom Bischof exkommuniziert, schloss er sich der reformierten Gemeinde an. An den Bestrebungen für politische Freiheit beteiligte er sich durch seine Schrift »Leibwacht und Verfassungswacht, oder über die Bedeutung der Bürgergarden« (Hanau 1831). Als Mitglied des ersten Landtags 1832 und 1833 trat er in schroffe Opposition zum Ministerium Hassenpflug; dafür wurde ihm für den folgenden Landtag als Staatsbeamten der Urlaub verweigert. Nachdem König 1847 seinen Abschied genommen, zog er nach Hanau und von hier 1860 nach Wiesbaden. Von Königs dramatischen Arbeiten ist das Trauerspiel »Die Bußfahrt« (Leipz. 1836) hervorzuheben. Seine übrigen Werke, teils geschichtliche Romane, teils leichtere, spielend hingeworfene Erzählungen, sind oft breit und trivial. Wir nennen davon: »Die hohe Braut« (Leipz. 1833, 2 Bde.; 4. Aufl. 1875); »Die Waldenser« (das. 1836, 3. Bde.; 2. Aufl. u. d. T.: »Hedwig die Waldenserin«, 1856; 3. Aufl. 1875); »Williams Dichten und Trachten« (das. 1839, 2 Bde.), umgearbeitet u. d. T.: »William Shakespeare« (das. 1850; 5. Aufl. 1875, 2 Bde.); »Deutsches Leben in deutschen Novellen« (Bd. 1: »Regina«, das. 1842, 3. Aufl. 1875; Bd. 2: »Veronika, eine Zeitgeschichte«, das. 1844); »Täuschungen« (Wiesbad. 1858); »Marianne« (das. 1858); »Die Klubisten in Mainz« (Leipz. 1847, 3 Bde.; 3. Aufl. 1875); »König Jérômes Karneval« (das. 1855, 3 Bde.; 2. Aufl. 1875); »Seltsame Geschichten« (Frankf. 1856); »Von Saalfeld bis Aspern« (Wiesbad. 1864, 3 Bde.); »Deutsche Familien«, Novellen (das. 1862, 2 Bde.). Unter seinen sonstigen Arbeiten sind hervorzuheben: »Georg Forsters Leben in Haus und Welt« (Leipz. 1844, 2. Aufl. 1858); die autobiographischen Schriften: »Auch eine Jugend« (das. 1852, 2. Aufl. 1861) und »Ein Stillleben« (das. 1861, 2 Bde.); ferner: »Eine Fahrt nach Ostende« (Frankf. 1845); »Literarische Bilder aus Russland« (Stuttg. 1837), nach mündlichen Mitteilungen des Russen Melgunow; »Was ist die Wahrheit von Jesu?« (Leipz. 1867) und »Eine Pyrmonter Nachkur« (das. 1869, 2. Aufl. 1876). Seine größern Romane erschienen gesammelt in 20 Bänden (Leipz. 1854-69), eine Auswahl in 15 Bänden (das. 1875)."

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59 confiteor (lateinisch): ich bekenne

60 nego (lateinisch): ich leugne

61 Pietist: Anhänger des Pietismus. Der Pietismus ist eine Bibelbewegung, Laienbewegung und Heiligungsbewegung. Er betont die subjektive Seite des Glaubens, entwickelte aber auch einen starken missionarischen und sozialen Grundzug. In der pietistischen Praxis haben Hauskreise mit gemeinsamem Bibelstudium und Gebet oft größere Bedeutung als Gottesdienste. Der Pietismus betont das Priestertum aller Gläubigen und lässt deshalb neben Theologen auch Laien ohne akademische Bildung, vorrangig Männer, zum Predigtamt zu: als Redner, "redende Brüder", in den Hauskreisen ("Stunden", das heißt Erbauungsstunden / Bibelbesprechstunden).

62 Orthodoxer: Strenggläubiger, heute würde man sagen "Fundamentalist"

63 Freien = Anhänger der Freien Gemeinden

"Freie Gemeinden, religiöse Gemeinschaften, die sich von den bestehenden protestantischen Landeskirchen losgesagt und selbständig konstituiert haben (s. Freikirchen). In Preußen rief seit Friedrich Wilhelms IV. Thronbesteigung die pietistisch-orthodoxe Partei durch ihren Anspruch auf Alleinberechtigung in der Kirche eine Reaktion hervor, deren erstes Stadium das Auftreten der Protestantischen Freunde oder, wie sie bald im Volke genannt wurden, der Lichtfreunde bezeichnet. Den Anstoß gab die Maßregelung des Predigers Sintenis in Magdeburg (1840), der gegen die Anbetung Christi gesprochen hatte, und eine daraufhin von dem Prediger Uhlich (s.d.) und 15 andern Geistlichen zu Gnadau abgehaltene Konferenz (1841). Dieser freie Verein, zunächst bestimmt, die Lehrfreiheit der Geistlichen gegen die Konsistorien zu schützen, wuchs sich unter Uhlichs geschickter Leitung zu einer allgemeinern Bewegung aus. Zu Köthen (1844) beantwortete vor etwa 3000 Gesinnungsgenossen der Prediger Wislicenus (s.d.) aus Halle die Frage, ob die Heilige Schrift noch die Norm unsers Glaubens sei, zugunsten des in der Menschheit, insbes. der christlichen, fort und fort lebendigen Geistes der Wahrheit und der Liebe, der auch die Heilige Schrift wesentlich hervorgebracht habe. Dagegen behandelte Guericke (s.d.), Professor in Halle, in der »Evangelischen Kirchenzeitung« die Lichtfreunde als vom Christentum gänzlich Abgefallene. Die Regierungen Preußens und Sachsens schritten gegen die Versammlungen ein. Eine Protestbewegung führte 22. Aug. 1845 zu einer Eingabe des Berliner Magistrats an den König, worin, als dem Charakter des Protestantismus entsprechend, vollkommene Freiheit der Forschung und der Mitteilung auf religiös-kirchlichem Gebiet beansprucht wurde. Der König wies die Einmischung zurück und rügte die damit verbundene Anklage gegen die Kirchenzeitung. Wislicenus wurde 1846 wegen öffentlich ausgesprochener »unchristlicher« Ansichten seines Amtes entsetzt. Inzwischen entstanden F. G. 1846 in Königsberg (Rupp), Halle (G. A. Wislicenus), 1847 in Marburg (Bayrhoffer), Nordhausen (Eduard Baltzer), Halberstadt (E. Wislicenus) u. in Magdeburg (Uhlich, s. diese Artikel). Diese Freien Gemeinden erlangten durch das königliche Patent vom 30. März 1847 in Preußen freie Religionsübung. 1848 spielten die Führer der Lichtfreunde politisch eine große Rolle; Baltzer, Uhlich, Wislicenus saßen im Frankfurter Parlament. Die Zahl der Gemeinden belief sich auf 40. Mit dem Eintreten der politischen Reaktion wurde die Bewegung noch lebhafter; die Demokratie schloss sich offen an das Frei-Gemeindetum an, die immer heftiger werdende Polemik begann sich gegen das Christentum selbst zu richten. 1850 kam es in Köthen zu einer Vereinigung mit den Deutsch-Katholiken (s.d.). Aber die aus dieser Vereinigung hervorgegangene »Religionsgesellschaft freier Gemeinden« fand wenig Anklang, weil man glaubte, dass sie weniger religiöse als politische Zwecke verfolge. Diese Befürchtung veranlasste auch die Regierungen der meisten deutschen Staaten, seit 1850 gegen die Freien Gemeinden einzuschreiten: in Bayern wurde die Gültigkeit ihrer Taufe nicht anerkannt, in Hessen untersagte man das Auftreten der Reiseprediger, in Sachsen wurden die Freien Gemeinden aufgelöst und verboten, in Preußen bekämpfte man sie mit allen gesetzlichen Mitteln. So wurden sie, auch infolge innerer Streitigkeiten, immer schwächer. 1859 schlossen sich 54 Gemeinden in Gotha zu einem Bund freireligiöser, seit 1862 freier religiöser Gemeinden zusammen, die als ihren ersten Grundsatz die freie Selbstbestimmung in allen religiösen Angelegenheiten anerkannten. Ein die Gemeinschaft bindendes Bekenntnis wurde vermieden. Die Bundesversammlung in Braunschweig 1885 war von über 100 Gemeinden und Vereinen beschickt. 1891 betrug die Zahl der Gemeinden 55, zu denen noch 7 außerhalb des Bundes stehende kamen. 1899 wurde sie auf 48 mit rund 22,000 Mitgliedern, 1903 auf 38 mit rund 8800 selbständigen Mitgliedern und rund 22,500 Seelen angegeben. In nähern Beziehungen zum Bunde stehen weitere 11 Gemeinden mit 800, bez. 1500 Mitgliedern. Vorsitzender des Bundes ist Prediger Tschirn in Breslau. Als Zeitschriften freireligiöser Tendenz sind zu nennen: »Die Morgenröte des 20. Jahrhunderts« (Offenbach), »Ostdeutsche Reform« (Königsberg), »Sonntagsblatt für F. G. und deren Freunde« (Breslau), »Das freie Wort« (Frankfurt a. M.)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. -- 2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

64 Johann Wolfgang Goethe (1749-1832): Faust : der Tragödie erster Teil. -- 1808. -- Vorspiel auf dem Theater:

DIREKTOR.

Der Worte sind genug gewechselt,
Lasst mich auch endlich Taten sehn!
Indes ihr Komplimente drechselt,
Kann etwas Nützliches geschehn.
Was hilft es viel von Stimmung reden?
Dem Zaudernden erscheint sie nie.
Gebt ihr euch einmal für Poeten,
So kommandiert die Poesie.
Euch ist bekannt, was wir bedürfen:
Wir wollen stark Getränke schlürfen;
Nun braut mir unverzüglich dran!
Was heute nicht geschieht, ist morgen nicht getan,
Und keinen Tag soll man verpassen.
Das Mögliche soll der Entschluss
Beherzt sogleich beim Schopfe fassen,
Er will es dann nicht fahren lassen
Und wirket weiter, weil er muss.

65 Gerlach

"Gerlach, Ernst Ludwig (1795-1877), Bruder von Gerlach, Leopold von, hatte den Befreiungskrieg als Freiwilliger mit Auszeichnung und mehrmals verwundet mitgemacht und nach dem Studium der Rechte die juristische Beamtenlaufbahn eingeschlagen, die ihn bis zum Präsidenten des Oberlandesgerichts in Magdeburg führte. Geistig und religiös ist seine Entwicklung ähnlich wie die seines Bruders; doch ist er in der Begegnung mit der pietistischen Erweckung tiefer in die religiösen Fragestellungen eingedrungen, wobei der Einfluss seines Schwagers A. v. Thadden-Trieglaff nicht zu übersehen ist. Dennoch hat er sich im Laufe der Zeit einem streng hierarchischen, orthodoxen Kirchenbegriff zugewandt, ohne dabei an innerer, persönlicher Frömmigkeit zu verlieren. Dieser entsprach wiederum ein bestimmtes konservatives, antiliberales politisches Denken, dessen der organisch-ständischen Staatsphilosophie der Romantik entnommene Leitbilder mit den Weisungen der hl. Schrift übereinstimmen sollten. Mit Fr. J. Stahl vertrat E. L. Gerlach die Forderung eines christlichen Staats, der »Reich und Staat aus Gottes Schöpfung und Geboten« sein sollte. So gehörte auch er zur engsten Umgebung Friedrich Wilhelms IV. und 1848 zu den Revolutionsgegnern. Er war Mitbegründer der Konservativen Partei und der Kreuzzeitung, an der er bis 1866 ständig mitgearbeitet hat. Mit seinem Bruder L. hat er auf den König eingewirkt, die vom Frankfurter Parlament angebotene Kaiserkrone abzulehnen. Auf dem Wittenberger Kirchentag 1848 forderte er mit Hengstenberg einen Bußtag zur Sühne für das ungehorsame Volk und eine offizielle Erklärung gegen die Revolution. Sein ursprünglich enges Verhältnis zu Bismarck kühlte sich immer mehr ab. Dessen Annexionspolitik hielt er die 10 Gebote entgegen, wie er auch Friedrichs II. Eroberungen mit einer Persiflage des preußischen Wahlspruchs »Suum cuique rapere« verurteilt hat. Völlig zum Bruch mit Bismarck kam es im Kulturkampf. Gerlach mußte sein Amt aufgeben und trat als Hospitant zum Zentrum über. Er starb an den Folgen eines Verkehrsunfalls. Die religiöse und politische Tragik des doktrinär-konservativen Denkens des Altpreußentums ist an seiner Person besonders sichtbar geworden."

[Quelle: Karl Kupisch <1903 - 1982>. -- In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG3). -- Bd. 2. -- 1958. -- Sp 1430 ff.]

"Gerlach, Leopold von (1790-1861), stammte aus einer alt-preußischen Beamtenfamilie; der Vater war Oberbürgermeister von Berlin. Als Leutnant 1806 gefangengenommen, studierte Gerlach zunächst Jura, trat jedoch 1813 wieder in die Armee ein, in der er allmählich bis zum Generalmajor aufstieg. Über die Christlich-deutsche Tischgesellschaft und deren Fortsetzung, der sog, »Maikäferei«, in deren Kreis auch die Wellen der Berliner Erweckungsbewegung schlugen, bildete sich unter den Einflüssen der Staatsphilosophie K. L. Hallers und der Historischen Rechtsschule Savignys Gerlachs religiöses und politisches Weltbild, das sich den Ideen der Hl. Allianz einfügte. Vorübergehend Adjutant des Prinzen Wilhelm, trat er bald dem Kronprinzen und späteren König Friedrich Wilhelm IV. näher, zu dessen engsten Ratgebern er zählte. Entschlossener Gegner der Revolution, gehörte er seit 1849 zur sog. »Kamarilla«, trat für enge Verbindung mit Österreich und Rußland ein und förderte die politische und kirchliche Reaktion. Sein Werk war die Berufung Bismarcks zum Bundestagsgesandten, mit dem er jedoch bald in der Frage der Anerkennung Napoleons III. auseinandergeriet. Seine legitimistische Auffassung widersprach einer Realpolitik, wie sie Bismarck vertrat. Das Ausscheiden Friedrich Wilhelms IV. brachte das Ende seiner politischen Machtstellung am preußischen Hofe."

[Quelle: Karl Kupisch <1903 - 1982>. -- In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG3). -- Bd. 4. -- 1958. -- Sp 1429 ff.]

66 Phillips

"Phillips, George, Kanonist [Kirchenrechtler], * 6.1.1804 in Königsberg/Pr., † 6.9.1872 in Aigen bei Salzburg, 1826 Privatdozent. für Deutsches Recht in Berlin, 1827 ao. Prof. daselbst. 1828 trat er zur kath. Kirche über und wirkte 1833-47 in München, zuerst als Rat im Ministerium des Innern, seit 1834 als Prof. der Geschichte, später der Rechte. Durch Beteiligung an der Lola- Montez-Affäre verlor er seine Professur. 1850 wurde er Prof. in Innsbruck, 1851 in Wien (für Kirchenrecht und Deutsche Rechtsgeschichte). Sein durch reiche Materialien rechtsgeschichtlich nützliches, durch den Anschluss an eine (auch in sich unzulängliche) theologisch-dogmatische Stoffgliederung rechtssystematisch mangelhaftes und inhaltlich nicht einmal bis zur Vollendung des Personenrechtes gediehenes Hauptwerk ist das »Kirchenrecht«, das aber als anachronistisches Denkmal einseitiger kirchenpolitischer Behandlung seines Stoffes im Sinne des hochmittelalterlichen Kurialismus interessant bleibt."

[Quelle: Hans Barion (1899 - 1973). -- In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG3). -- Bd. 5. -- 1961. -- Sp. 341.]

67 Ritter

"Ritter, Heinrich, geb. 1791 in Zerbst, 1833 Prof. in Kiel, 1837 in Göttingen, gest. daselbst 1869.

Ritter, der besonders als Historiker bekannt ist, gehört zu den Schülern Schleiermachers, dessen Lehren er im Sinne eines wundergläubigen christlichen Theismus weiterbildet. Gott hat die Welt aus Nichts geschaffen. Die menschliche Seele ist unsterblich. Die Welt ist schlechthin gut."

[Quelle: Eisler, Rudolf <1873-1926>: Philosophen-Lexikon : Leben, Werke und Lehren der Denker. -- Berlin : Mittler, 1912. -- 889 S. -- S. 606.]

68 Beffchen

"Beffchen (Bäffchen), die beiden kleinen, viereckigen Läppchen, die die christlichen Geistlichen vorn am Hals über der Amtskleidung, an manchen Orten auch sonst als Standesauszeichnung tragen; sie sind bei den protestantischen Geistlichen in der Regel weiß, bei denen andrer Kirchen auch schwarz oder violett und häufig nur weiß eingefaßt. Ihre Stelle vertreten hier und da weiße, steif gefältelte Halskrausen."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. -- 2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

69 Domino

" Domino (span. u. ital.), sonst Wintermantel der Geistlichen, der nur bis über die Brust herabreichte; jetzt Maskentracht für Herren und Damen, aus einem langen Mantel mit weiten Ärmeln und einer Kapuze bestehend."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. -- 2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

70 Alba

"Alba, Fernando Alvarez de Toledo, Herzog von, span. Feldherr und Staatsmann, geb. 29. Okt. 1507 in Piedrahita, gest. 11. Dez. 1582 in Lissabon, stammte aus einem der vornehmsten Häuser Spaniens. Durch seinen Großvater, den Eroberer von Navarra, in die soldatische Laufbahn schon 1523 eingeführt, stieg er schnell zu den höchsten Rangstufen auf. 1533 ward er General und 1537 Oberfeldherr der kaiserlichen Heere. Als solcher wurde er durch seine Erfahrung in politischen und zumal in militärischen Dingen den spanischen Herrschern unentbehrlich, denen er, selbst ebenfalls religiös-national fanatisch, treu ergeben war. Im Kriege äußerste Um- und Vorsicht beobachtend, erreichte er in den meisten Fällen seine Ziele. Er erwarb sich bald das unbeschränkte Vertrauen Karls V. In dessen viertem Kriege gegen Frankreich (1542) verteidigte er Katalonien und Navarra. 1546 befehligte er im Schmalkaldischen Krieg unter Karl V. das kaiserliche Heer, unterwarf die protestantischen Städte Süddeutschlands, züchtigte den Herzog Ulrich von Württemberg und trug zu Karls Sieg bei Mühlberg (1547) das meiste bei. Dem Kriegsgericht, das den Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen zum Tode verurteilte, präsidierte Alba und riet dem Kaiser, das Urteil sofort vollziehen zu lassen. Dagegen gelang es ihm 1552 nicht, den Franzosen Metz wieder zu entreißen. Glücklicher focht er in Italien gegen die vereinigte päpstliche und französische Armee, die er 1555 wiederholt schlug. Nach Karls V. Abdankung (1556) besetzte er, als Philipp II. mit Papst Paul IV. in Streit geriet, den Kirchenstaat, musste jedoch auf Befehl des Königs Frieden schließen und alles Eroberte zurückgeben. Als der Bildersturm in den Niederlanden den Zorn Philipps II. erregte, ward Alba 1567 zum Generalkapitän der Niederlande ernannt und trat von Italien aus mit 10,000 Mann Kerntruppen den Marsch nach Brüssel an. Er hatte den Auftrag, den Aufruhr streng zu unterdrücken; dementsprechend war sein Auftreten. Zur Bestrafung der Teilnehmer an den Unruhen setzte er den »Rat der Unruhen« ein, in dem er anfangs selbst den Vorsitz führte. Tausende wurden durch jenes Gericht, von dessen Urteil keine Appellation galt, zum Tode verurteilt, unter ihnen als die vornehmsten Häupter des Adels die Grafen Egmond und Hoorn. Die Gegner Albas hatten anfangs wenig Erfolg. Alba schlug das Heer Ludwigs von Nassau bei Jemmingen in Friesland (21. Juni 1568) und zwang auch im Herbst d. J. den in Brabant ein gedrungenen Wilhelm von Oranien zum Rückzug. Nun legte er dem Lande schwere Abgaben auf. Als die härteste wurde die Alkabala betrachtet,. d.h. die Forderung, dass der zehnte Teil von dem Kaufpreis aller beweglichen Güter als Steuer entrichtet werden sollte. Die Strenge, mit der die Durchführung dieser Maßregel versucht ward, wurde die Ursache für einen neuen Ausbruch des Aufstandes. Die Einnahme der holländischen Seefeste Briel durch die Wassergeusen (1. April 1572) hatte den Abfall des gesamten Nordwesten zur Folge. Wilhelm von Oranien drang in Brabant ein, während dessen Bruder Ludwig Mons und Valenciennes im S. besetzte. Alba musste die neuen Abgaben widerrufen, erfocht aber sonst glänzende Erfolge. Mons wurde zurückerobert, Oranien musste sich nach dem Norden zurückziehen; auch hier fielen Zütphen, Naarden und Haarlem in die Gewalt der Spanier. Indes wollte der König den Frieden in den Niederlanden, seiner reichsten Geldquelle, wiederherstellen. Er berief deshalb Alba zurück (1573) und ersetzte ihn durch den mildern Don Luis de Requesens. Alba wurde vom König mit Ungnade empfangen und sogar vom Hofe verbannt. 1580 ward er aber beauftragt, Portugal, worauf Philipp II. Erbansprüche erhob, zu erobern. Auch diesen Auftrag führte er rasch und glänzend aus, starb aber zwei Jahre später. Noch im Alter von 74 Jahren besaß er die Rüstigkeit eines jungen Mannes. Sein Wuchs war groß, seine Haltung stolz, selbst dem Könige gegenüber, der Ausdruck des Gesichts hart; sein ganzes Äußeres verkündete den Fanatiker."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. -- 2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]


71 Anspielung auf Bileams sprechende Eselin: Numeri (4. Buch Mose) Kap. 22

72 Tories und Whigs

"Tory und Whig (engl., im Plural Tories und Whigs), Namen, mit denen man bis zur neuesten Zeit die beiden Hauptparteien des englischen Parlaments bezeichnet hat. Der Ursprung beider Namen geht in die ersten Zeiten der Stuarts zurück. Tories nannte man ursprünglich katholische Räuberbanden, die etwa seit 1652 nach der Unterwerfung Irlands durch Cromwell den Widerstand gegen die Regierung fortsetzten und das Land unsicher machten; die Ableitung des Wortes ist nicht sicher. Der Name Whig (abgeleitet von whigamore, einer Bezeichnung der westschottischen Bauern wegen eines Rufes [whiggam], mit dem sie ihre Pferde antrieben) galt seit dem Edinburger Aufstand von 1648, dem sogen. Whigamore raid, für die eifrigsten schottischen Covenanters. Seit etwa 1680 knüpften sich die beiden Parteinamen an den Kampf um die Ausschließung des Herzogs von York, des spätern Königs Jakob II., von der Thronfolge; Tories wurden deren Gegner, Whigs ihre Befürworter genannt, und jener Name ging dann allgemeiner auf die Partei des Hofes und des passiven Gehorsams, dieser auf die Partei des Widerstandes gegen die Verletzung der Gesetze und der Freiheiten der Nation über. An der monarchischen Ordnung hielten beide Parteien fest. Seit der Revolution von 1688, namentlich aber seit der Thronbesteigung des Hauses Hannover 1714 erlangten die Whigs das Übergewicht und behaupteten es unter Georg I. und Georg II. im Kabinett wie im Parlament. In dieser Zeit veränderte sich aber allmählich die Stellung der beiden Parteien. Die Tories hatten früher an die Wiederherstellung der königlichen Rechte in dem von den Stuarts beanspruchten Umfang, viele von ihnen auch an die Restauration der vertriebenen Dynastie gedacht. Als aber diese unmöglich geworden war, fügten sie sich in die Umstände und wurden die Vertreter des einmal Bestehenden, also der bischöflichen Kirche und der neuen Dynastie, der bisherigen parlamentarischen Formen und der Schutzzölle. Die eifrigsten Gegner aller Neuerungen nannte man Hochtories (high-tories). Die Whigs dagegen, dem Fortschritt huldigend, wirkten für Emanzipation der Dissenters, Katholiken und Juden und in staatlicher Hinsicht für freisinnige Entwickelung der politischen Institutionen. Seit 1782 wechselten fast stets Tory- und Whigministerien miteinander ab; neuerdings aber haben infolge der eingetretenen politischen Reformen und der damit zusammenhängenden neuen Parteibildungen (der Radikalen, der Homerulers, der Arbeiterpartei) sowie der Verdrängung der Aristokratie aus dem Alleinbesitz der politischen Macht die Namen Tory und Whig ihre aktuelle Bedeutung eingebüßt; und jetzt werden auch in England die sich hauptsächlich bekämpfenden Parteien als Konservative und Liberale und nicht mehr mit den Namen Tory und Whig bezeichnet."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. -- 2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

73 Lord John Russel (1792-1878): liberaler englischer Politiker, setzte sich für Toleranz gegenüber den Katholiken ein

74 Guizot

"Guizot (spr. gíso), François Pierre Guillaume, hervorragender franz. Staatsmann und Schriftsteller, geb. 4. Okt. 1787 in Nîmes (Gard) von protestantischen Eltern, gest. 12. Sept. 1874 auf seinem Landgut Val Richer in der Normandie. Sein Vater, der Advokat war, starb in der Schreckenszeit 8. April 1794 unter der Guillotine, und der Knabe Guizot begleitete hierauf seine Mutter nach Genf, wo er auf dem Gymnasium eine gründliche Bildung erhielt. 1805 begab er sich nach Paris, übernahm 1807 eine Hauslehrerstelle, und nachdem er sich 1812 mit der 15 Jahre ältern vornehmen und sehr einflussreichen Schriftstellerin Pauline de Meulan verheiratet, wurde er zum Professor der Geschichte an der schönwissenschaftlichen Fakultät zu Paris ernannt. Als Schriftsteller hatte er sich schon früher versucht mit einer Ausgabe von Girards »Nouveau dictionnaire universel des synonymes de la langue française« (1809, 2 Bde.; 8. Aufl. 1874) sowie den Werken: »De l'état des beaux-arts en France et du Salon de 1810« (1811), »Vie des poètes français du siècle de Louis XIV« (1813, Bd. 1), »Annales de l'éducation« (1811-15, 6 Bde.) und der Übersetzung von Rehfues' »Spanien im Jahr 1808« (1811, 2 Bde.). Nach Napoleons Rückkehr von Elba begab er sich nach Gent an den Hof Ludwigs XVIII., wurde nach der zweiten Restauration zum Generalsekretär der Justiz, bald darauf zum Requetenmeister und Staatsrat befördert und gründete mit Decazes, Royer-Collard und seinen andern politischen Freunden die Partei der »Doktrinäre« (s. d.). Gleichzeitig mit dem Ministerium Decazes 1820 entlassen, trat Guizot wieder als Lehrer der neuern Geschichte bei der Faculté des lettres ein. Seine von 1820-1822 gehaltenen Vorlesungen sind enthalten in der »Histoire des origines du gouvernement représentatif« (1851, 2 Bde.; 4. Aufl. 1880). Außerdem veröffentlichte er damals einige kleinere Schriften: »Du gouvernement représentatif et de l'état actuel de la France« (4. Aufl. 1821); »Des conspirations et de la justice politique« (1820); »Les moyens de gouvernement et d'opposition dans l'état actuel de la France« (1821); »Sur la peine de morten matière politique« (1822). Zugleich lag er im offenen Kampf mit den reaktionär-klerikalen Bestrebungen der Regierung und wirkte ihnen als Präsident der Gesellschaft »Aide-toi, et le Ciel t'aidera«, die damals zum Schutz der Unabhängigkeit der Wahlen gegründet war, auf alle Weise entgegen. Seine Vortrage von 1828-30 erschienen u. d. T.: »Cours d'histoire moderne« (1828-30, 6 Bde.), wozu die »Histoire de la civilisationen France depuis la chute de l'empire romain jusqu'à la révolution française« (1828-30, 4 Bde.; 14. Aufl. 1886) und die als Einleitung dienende »Histoire de la civilisationen Europe« (1828, 19. Aufl. 1883; deutsch, Stuttg. 1844) gehören. In Verbindung mit mehreren Gelehrten besorgte er die »Collection des mémoires relatifs à l'histoire de France depuis la fondation de la monarchie française jusqu'an XIIIe siècle« (1823 ff., 31 Bde.) und die »Collection des mémoires relatifs à l'histoire de la révolution d'Angleterre« (1823 ff., 26 Bde.), versah viele Werke andrer, z. B. Letourneurs Übersetzung des Shakespeare (1821, 12 Bde.; neueste Ausg. 1869), mit Einleitungen und Anmerkungen und fügte Mablys »Observations sur l'histoire de France« (1823, 3 Bde.) den »Essai sur l'histoire de France« (1824, 12. Aufl. 1868) als vierten Band bei. Seine »Histoire de la révolution d'Angleterre«, 1. Abt.: »Histoire de Charles Ier, 1625-1649« (1828, 2 Bde.; 12. Aufl. 1881), ist das bedeutendste Werk der sogen. pragmatischen Schule; ihr schließen sich an die unten genannten Werke über die beiden Cromwell. 1828 gründete Guizot die »Revue française«, die von der Julirevolution unterbrochen u. erst 1837 auf kurze Zeit wieder aufgenommen wurde.

Im Januar 1830 trat Guizot in die Deputiertenkammer, wo er zum linken Zentrum gehörte; doch begann seine eigentliche staatsmännische Tätigkeit erst mit der Julirevolution. Er war es, der den Protest gegen die Juliordonnanzen verfasste und so den ersten Anstoß zum Ausbruch der Revolution gab. Am 30. Juli ward er provisorischer Minister des öffentlichen Unterrichts, und 11. Aug. ernannte ihn Ludwig Philipp zum Minister des Innern. Da er jedoch die Politik Laffittes nicht billigte, nahm er schon im November 1830 mit den übrigen Doktrinären seine Entlassung. Nach Casimir- Périers Tode trat er 11. Okt. 1832 ins Kabinett Soult als Minister des öffentlichen Unterrichts (bis 15. April 1837). Er wirkte verdienstvoll für die Verbesserung der Unterrichtsanstalten, namentlich der Primarschulen, durch das Gesetz vom 28. Juni 1833 und veranlasste die Wiederherstellung der von Napoleon 1803 aufgehobenen 5. Klasse des Instituts, der Akademie der moralischen und politischen Wissenschaften. Guizot wurde 1839 an Sebastianis Stelle als Gesandter nach London geschickt, wo er aufs wohlwollendste empfangen wurde, aber den gegen Frankreichs orientalische Politik gerichteten Vertrag der vier Großmächte vom 15. Juli 1840 nicht hindern konnte. Am 28. Okt. 1840 übernahm er nach Thiers' Rücktritt im neugeschaffenen Ministerium Soult das Portefeuille des Auswärtigen und ward seit Soults Rücktritt im September 1847 der offizielle Chef dieses Kabinetts, das bis zur Februarrevolution von 1848 am Ruder blieb und, durch sein ganzes Verfahren in den innern wie in den äußern Angelegenheiten die persönliche Politik Ludwig Philipps repräsentierend, nicht wenig dazu beitrug, die konstitutionelle Monarchie in Misskredit zu bringen und den endlichen Sturz der Julidynastie herbeizuführen. In der Ausführung seiner systematischen Repressivpolitik bewies er sich halsstarrig, ja zuletzt geradezu verstockt. Kräftigen Geistes, war er doch unfähig, die Menschen und die Zustände richtig zu verstehen, und dabei von unerträglichem Selbstgefühl und Unfehlbarkeitsdünkel erfüllt. In der auswärtigen Politik führte er durch die Intrigen bei den spanischen Heiraten die Entfremdung mit England herbei und erregte durch die Unterstützung der Jesuiten in der Schweiz die Unzufriedenheit der Liberalen. Die Wahlreform lehnte er hartnäckig ab und rief dadurch die Bewegung von 1848 hervor, die sich wegen seiner allgemeinen Unpopularität zuerst gegen seine Person richtete. Am 24. Febr. 1848 musste er aus Paris flüchten und lebte seitdem zu London. Nachdem er im November 1849 nach Paris zurückgekehrt war, wirkte er hier mit den Häuptern der monarchischen Partei gemeinsam für eine Fusion der Bourbonen und Orléans. Der Staatsstreich vom 2. Dez. 1851 steckte dieser seiner Tätigkeit ein Ziel und veranlasste ihn, wieder nach England zu gehen. Später kehrte er in sein Vaterland zurück und ward im Januar 1854 Präsident der Pariser Akademie der moralischen und politischen Wissenschaften. An den Fusionsverhandlungen 1873 hatte er heimlich einen bedeutenden, aber erfolglosen Anteil. Seine immer starrsinnigere Orthodoxie veranlasste ihn, in der protestantischen Kirche Frankreichs eine beklagenswerte Spaltung herbeizuführen, indem unter seinem Einfluss die Synode 1874den Ausschluss der liberalen Protestanten beschloss.

So gerechten Angriffen seine ministerielle Tätigkeit ausgesetzt gewesen ist, so bereitwillige Anerkennung haben von allen Seiten seine schriftstellerischen Leistungen gefunden. Durch die Gründung der Comités historiques, durch Anregung zur Herausgabe wichtiger Quellensammlungen sowie durch seine eignen zahlreichen Schriften hat er sich um Beförderung der historischen Studien in Frankreich, zumal auf dem Gebiete der Institutionen und der Kulturgeschichte, die größten Verdienste erworben. Leiden auch seine Geschichtswerke an teleologisch-pragmatischem Doktrinarismus, ist doch die große Kunst der Komposition und Darstellung unbestritten. Im Auftrag der Regierung der Vereinigten Staaten von Nordamerika bearbeitete er die Geschichte Washingtons nach dessen hinterlassenen Papieren in »Vie, correspondance et écrits de Washington« (1839-40, 6 Bde.), wofür sein Bildnis im Sitzungssaal der Repräsentantenkammer zu Washington angebracht wurde."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. -- 2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

75 Thiers

"Thiers (spr. tjär), Louis Adolphe, franz. Staatsmann und Geschichtschreiber, geb. 15. April 1797 in Marseille, gest. 3. Sept. 1877 in St.-Germain-en-Laye, ließ sich 1820 in Aix als Advokat nieder, begab sich aber schon im September 1821 mit seinem Freunde Mignet nach Paris, um dort als Journalist seine Talente geltend zu machen. Er veröffentlichte außer einer Schrift über Jean Law (»Histoire de Law«, 1826; neueste Ausg. 1878) 1823-27 seine »Histoire de la Révolution française« in 6 Bänden (15. Aufl. 1881, 10 Bde.; deutsch von Jordan, Leipz. 1854), die seinen Ruhm als Historiker begründete. Als Karl X. durch die Ernennung des Ministeriums Polignac der liberalen Partei den Krieg erklärte, gründete diese unter der Leitung von Thiers, Armand Carrel und Barrot im Januar 1830 den »National«, der durch die Kraft und Kühnheit seiner Polemik gegen die bestehende Dynastie bald großen Einfluss gewann. Besonders elektrisierte die Massen das von Thiers erfundene Schlagwort: »Le roi règne et ne gouverne pas.« Als 26. Juli 1830 die berüchtigten Ordonnanzen erschienen, versammelten sich die Redakteure aller liberalen Journale im Bureau des »National« und erließen unter Thiers' Leitung einen Protest gegen diese Regierungsmaßregel. Nach dem Siege der Revolution führte Thiers die Unterhandlungen mit dem Herzog von Orléans. Nach dessen Thronbesteigung wurde Thiers 11. Aug. zum Staatsrat und Generalsekretär, sodann Anfang November von Laffitte zum Unterstaatssekretär der Finanzen ernannt. Zu derselben Zeit von der Stadt Aix in die Deputiertenkammer gewählt, bildete er sich rasch zu einem Redner aus, dessen Präzision und Gewandtheit bald Anerkennung fanden. So ward er nach Périers Tode 11. Okt. 1832 Minister des Innern, 25. Dez. d. J. des Handels und der öffentlichen Arbeiten. Bei der Umgestaltung des Kabinetts 4. April 1834 übernahm er wieder das Departement des Innern, die »Politik des Widerstandes« gegen die Republikaner mit Erfolg verfechtend. Im Februar 1836 erhielt er den Vorsitz im neuen Kabinett zugleich mit dem Portefeuille des Auswärtigen, musste aber schon 26. Aug. 1836 zurücktreten, da der König dem schon beschlossenen Einschreiten in Spanien zugunsten des Liberalismus seine Zustimmung versagte, und stand nun zwei Jahre lang an der Spitze der dynastischen Opposition. Seit 13. Dez. 1834 war er auch Mitglied der Akademie. Am 1. März 1840 als Minister des Auswärtigen wieder an die Spitze des Kabinetts gestellt, bewirkte er die Zurückführung der Leiche Napoleons I. von St. Helena und die Befestigung von Paris. Sein Plan, der Quadrupelallianz vom 15. Juli entgegen den Vizekönig von Ägypten zu unterstützen und in dem allgemeinen Kriege die Rheingrenze wiederzugewinnen, scheiterte an der Weigerung des friedfertigen Königs. Thiers reichte daher 21. Okt. seine Entlassung ein und gesellte sich wieder zur Opposition. Nach der Februarrevolution von 1848 nahm er in der Nationalversammlung eine Mittelstellung ein. Den Plänen Napoleons wirkte er eifrig entgegen und ward daher beim Staatsstreich 2. Dez. 1851 verhaftet und dann in das Ausland entlassen. 1852 ward ihm die Rückkehr nach Frankreich gestattet, wo er sich elf Jahre lang ganz schriftstellerischer Tätigkeit widmete. Die Frucht davon war die »Histoire du Consulat et de l'Empire« (Par. 1845-62, 20 Bde.; Register 1869; deutsch von Bülau, Leipz. 1845-62, 20 Bde.; von Burckhardt und Steger, das. 1845-60, 4 Bde.). 1863 wurde Thiers in Paris in den Gesetzgebenden Körper gewählt und ward hier der Führer der kleinen, aber mächtigen Opposition. Er bekämpfte in glänzenden Reden (»Discours prononcés au Corps législatif«, Par. 1867) besonders den falschen Konstitutionalismus und die auswärtige Politik des Kaiserreichs, indem er zumal die Einigung Italiens und Deutschlands als schwere Gefahr für Frankreich bezeichnete. In derselben engherzigen Weise hielt er an hohen Schutzzöllen und dem alten Militärsystem fest. Mit größter Energie widersetzte er sich 15. Juli 1870 der übereilten Kriegserklärung. Nach dem Sturze des Kaiserreichs übernahm er im September eine Rundreise an die Höfe der Großmächte, um sie zu einer Intervention für Frankreich zu veranlassen, kehrte aber Ende Oktober unverrichteter Sache zurück. Bei den Wahlen für die Nationalversammlung ward er in 20 Departements zum Deputierten und, da alle Parteien ihr Vertrauen auf ihn setzten, schon 17. Febr. 1871 von der Versammlung zum Chef der Exekutivgewalt gewählt. Seine erste Aufgabe war, den Frieden mit Deutschland zustande zu bringen; er führte selbst die Verhandlungen mit Bismarck und rettete wenigstens Belfort. Am 1. März setzte er die Annahme des Friedens in der Nationalversammlung durch und bewog 10. März diese, ihren Sitz nach Versailles zu verlegen. Der Kommuneaufstand in Paris 18. März brachte Thiers in die höchste Bedrängnis; er fasste den richtigen Gedanken, den Aufstand nicht in den schwer zu behauptenden Straßen, sondern durch Angriff von außen zu unterdrücken. Gleichzeitig wurde 10. Mai der definitive Friede mit Deutschland abgeschlossen. Daran schlossen sich die erfolgreichen Maßregeln zur Beschaffung der nötigen Milliarden. Am 31. Aug. 1871 ward er auf drei Jahre zum Präsidenten der Republik ernannt. Die monarchistischen Parteien aber sahen sich in ihren Hoffnungen auf Thiers' energische Unterstützung getäuscht und rächten sich durch gehässige Angriffe und Ränke. Endlich, nachdem die Zahlung der Kriegsentschädigung an Deutschland und die Räumung des Gebietes durch den Vertrag vom 15. März 1873 gesichert waren, beschloss die klerikal-monarchistische Mehrheit, Thiers zu stürzen. Nach heftiger Debatte ward 23. Mai ein Tadelsvotum gegen das Ministerium mit 360 gegen 344 Stimmen angenommen, und als Thiers darauf seine Entlassung gab, diese mit 368 gegen 338 Stimmen genehmigt. Thiers zog sich darauf wieder vom öffentlichen Leben zurück und nahm nur an wichtigen Abstimmungen in der Deputiertenkammer teil. Nach dem Staatsstreich vom 16. März 1877 richteten sich die Hoffnungen aller Republikaner wieder auf Thiers als das Haupt einer gemäßigten Republik, aber er starb infolge eines Schlaganfalls und wurde 8. Sept. in Paris feierlich bestattet. 1879 wurde ihm ein Standbild in Nancy, 1880 ein solches in St.-Germain errichtet. Thiers, von kleiner Gestalt, aber scharf geschnittenen Zügen, war einer der bedeutendsten Staatsmänner Frankreichs im 19. Jahrh. und jedenfalls der populärste. Seine Doktrin war die des konstitutionellen Systems, in dem der aufgeklärte, wohlhabende Bürgerstand die beste Sicherung seiner geistigen und materiellen Güter erblickte; allen ökonomischen und sozialen Neuerungen war er durchaus abhold. Aber über allen Doktrinen stand bei Thiers seine Nation, Frankreich. Er besaß eine unermüdliche Arbeitskraft, seine, edle Bildung, Scharfblick, eine sanguinische Elastizität des Geistes und echten Patriotismus, dabei aber naive Selbstsucht und Eitelkeit. Als Geschichtschreiber verherrlichte er die Freiheitsideen der französischen Revolution und den Kriegsruhm Napoleons I. in schwungvoller Sprache und glänzender Darstellung, jedoch keineswegs stets wahrheitsgetreu und unparteiisch. So ward er der hauptsächlichste Förderer des Chauvinismus und besonders der Napoleonischen Legende. Er hinterließ Geldmittel zur Begründung eines Instituts zur Lehre der sozialen Wissenschaften und des Völkerrechts (1891 eröffnet)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

76 Sprichwort: Auf den Sack schlägt man und den Esel meint man.

77 Symbole: Glaubensbekenntnisse

78 O'Connell

"O'Connell, Daniel, berühmter irischer Agitator, geb. 6. Aug. 1775 zu Carhen in der Grafschaft Kerry, gest. 15. Mai 1847 in Genua, besuchte die Jesuitenschule in St.-Omer und das englische College in Douai, schlug, 1793 nach England zurückgekehrt, die juristische Laufbahn ein und ward 1798 Rechtsanwalt in Dublin. Er erwarb sich bald den Ruf eines ebenso ausgezeichneten Redners und gewandten Verteidigers als tüchtigen Patrioten. 1800 protestierte er vergeblich gegen die Union zwischen Irland und Großbritannien; seit jener Zeit begann er in Vereinen und Versammlungen seine Agitation für die Sache seines unterdrückten Volkes, unter dem er bald überaus populär wurde. 1815 hatte er mit dem der schroff protestantischen Koterie, welche die Stadtverwaltung Dublins beherrschte, eng verbundenen Schiffsleutnant d'Esterre ein Duell, in dem er seinen Gegner erschoss; ein ähnlicher politischer Zweikampf mit Sir Robert Peel wurde einige Monate später nur mit Mühe verhindert. O'Connell gründete 1823 mit seinem Freund Shiel die »Great Catholic Association«, die sich bald mit zahllosen Zweigvereinen über die ganze Insel verbreitete, die er aber von offenen Gesetzesüberschreitungen fernzuhalten wusste. Als die Regierung 1825 diesen Verein unterdrückte, stellte ihn O'Connell unter anderm Namen und in andrer Form wieder her. 1828 wurde er von der Grafschaft Clare ins Unterhaus gewählt, durfte jedoch nicht eintreten, da er als Katholik den Testeid nicht leisten konnte. Um die bei der steigenden Aufregung in Irland drohende Gefahr eines Bürgerkriegs abzuwehren, betrieb nun die Regierung selbst die Katholikenemanzipation, und O'Connell, zum zweitenmal gewählt, nahm 1829 seinen Platz im Unterhaus ein. Er beantragte die Abschaffung des protestantischen Pfarrzehnten in Irland und machte seit dem Sommer 1830 den Widerruf (repeal) der Union zwischen England und Irland zur Losung, mit der er die Massen entflammte. Eine Anklage, die deshalb gegen ihn erhoben wurde, blieb erfolglos; der Einfluss des Agitators, der seit 1832 Dublin im Unterhaus vertrat, stieg immer mehr; fast die Hälfte der 100 irischen Abgeordneten folgte seiner Führung. Mit dieser Macht, die man »O'Connells Schweif« (the O'Connell-tail) zu nennen pflegte, unterstützte er die Reformbill, die Irland fünf Abgeordnete mehr gewährte. Da er sein Vermögen und Einkommen teilweise seinen politischen Bestrebungen aufgeopfert hatte, brachten seine Landsleute eine Rente für ihn auf, die sich jährlich auf 13-18,000 Pfd. Sterl. belief. Die Verhängung von Ausnahmegesetzen über Irland, wo die öffentliche Ordnung noch immer gestört war, vermochte O'Connell 1833 nicht zu hindern. Dagegen gelang es ihm, dessen Enthüllungen im Unterhaus 1834 sogar einen Ministerwechsel hervorriefen, 1837 eine Armenbill für Irland und 1838 die Annahme eines Gesetzes durchzusetzen, das die Last des Zehnten für die irische Bevölkerung milderte. Als eine von O'Connell eingebrachte Vorlage zur Regelung der Wahlfreiheit nicht einmal zur ersten Lesung kam, begründete er im April 1840 die »Loyal National Repeal Association« und begann die Repealagitation von neuem. Nach dem Sturz der Whigs im August 1841 und nachdem O'Connell als Lord- Mayor von Dublin bei den Stadtbehörden den Antrag auf eine den Widerruf der Union verlangende Petition durchgesetzt hatte, nahm diese Agitation einen großartigen Aufschwung. Von den Geistlichen aufgefordert, strömte das Volk in ungeheuern Massen zu den »Monster-Meetings«, die häufig an Orte, die durch den Irländern heilige Erinnerungen geweiht waren, z. B. an den Königshügel von Tara, zusammengerufen wurden, und in denen O'Connell mit glühenden Farben das Elend des Volkes schilderte und die Auflösung der Union als das Ende aller Leiden, Gewalt und Empörung aber als das Verderben Irlands darstellte. Die Regierung eröffnete gegen ihn und andre Führer der Bewegung einen Prozess, der am 30. Mai 1844 mit seiner Verurteilung zu 2000 Pfd. Sterl. Geldbuße und einjähriger Hast endete. Doch legte O'Connell gegen dies Urteil Berufung ein, das Oberhaus erklärte 4. Sept. das Verfahren wegen Formverletzungen für nichtig, und O'Connell ward im Triumph aus dem Gefängnis abgeholt. Auf der nächsten Repealversammlung stellte er den Gedanken einer Föderation zwischen Großbritannien und Irland auf, den er im Parlament des folgenden Jahres mit Feuer vertrat. Dadurch aber entfremdete er sich einen großen Teil seiner Landsleute und namentlich die aus dem Schoß des Repealvereins hervorgegangene Partei »Jung-Irland«. Schon krank, trat er 1847 in Begleitung seines jüngsten Sohnes, Daniel, eine Reise nach Italien an, auf der er in Genua starb. Sein Herz ward seinem letzten Willen gemäß nach Rom, sein Körper aber nach Irland gebracht und in Glasnevin beigesetzt. In seiner Schrift »Historical memoir of Ireland and the Irish, native and Saxon« (Dublin 1843, 2. Aufl. 1846; deutsch, Leipz. 1843) zeigte er sich selbst als scharfblickenden Historiker. Seine Staatsreden, rhetorische Meisterwerke, wurden von seinem Sohn John O'Connell (»Life and speeches of Daniel O'Connell«, Dublin 1846, 2 Bde.) und von Cusack (das. 1875, 2 Bde.), die »Political and private correspondence of Daniel O'Connell« von Fitzpatrick (Lond. 1888, 2 Bde.) herausgegeben."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

79 Poltronnerie (französisch): Feigheit

80 Genesis 3, 1ff:

1Und die Schlange war listiger denn alle Tiere auf dem Felde, die Gott der HERR gemacht hatte, und sprach zu dem Weibe: Ja, sollte Gott gesagt haben: Ihr sollt nicht essen von den Früchten der Bäume im Garten?
2Da sprach das Weib zu der Schlange: Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten;
3aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esst nicht davon, rührt's auch nicht an, dass ihr nicht sterbt.
4Da sprach die Schlange zum Weibe: Ihr werdet mitnichten des Todes sterben;
5sondern Gott weiß, dass, welches Tages ihr davon esst, so werden eure Augen aufgetan, und werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.

[Luther-Bibel 1912]

81 Matthäusevangelium 14, 15ff.:

15Am Abend aber traten seine Jünger zu ihm und sprachen: Dies ist eine Wüste, und die Nacht fällt herein; Lass das Volk von dir, dass sie hin in die Märkte gehen und sich Speise kaufen.
16Aber Jesus sprach zu ihnen: Es ist nicht not, dass sie hingehen; gebt ihr ihnen zu essen.
17Sie sprachen: Wir haben hier nichts denn fünf Brote und zwei Fische.
18Und er sprach: Bringet sie mir her.
19Und er hieß das Volk sich lagern auf das Gras und nahm die fünf Brote und die zwei Fische, sah auf zum Himmel und dankte und brach's und gab die Brote den Jüngern, und die Jünger gaben sie dem Volk.
20Und sie aßen alle und wurden satt und hoben auf, was übrigblieb von Brocken, zwölf Körbe voll.
21Die aber gegessen hatten waren, waren bei fünftausend Mann, ohne Weiber und Kinder.

[Luther-Bibel 1912]

82 Experto crede Ruperto (lateinisch): "Glaube dem erfahrenen Robert". Diesen Zusatz gab der Bischof von Speyer, Raban (1396-1439), seinem Buch mit Anregungen und Ermahnungen für seinen Neffen und Nachfolger Reinhard von Helmstedt.

83 Ferdinand VII. von Spanien

"Ferdinand VII., König von Spanien, geb. 14. Okt. 1784, gest. 29. Sept. 1833, verlebte an dem vollkommen von Godoy (s.d.) beherrschten Hofe seines Vaters Karl IV. eine traurige Jugend. Er erhielt durch den Kanonikus Escoiquiz eine durchaus unzulängliche Erziehung, und die skandalösen Verhältnisse des Hofes taten das übrige, seinen Charakter zu verderben. Von Natur gutmütig, aber haltlos, wurde er durch die Zurücksetzungen und Kränkungen, die er von seinen Eltern und deren Günstling erdulden musste, feig und unaufrichtig. Von allen Staatsangelegenheiten wurde er geflissentlich fern gehalten, trat aber dafür durch Escoiquiz insgeheim in Verbindung mit den Gegnern Godoys. Auf deren Rat erbat er sich nach dem Tode seiner ersten Gattin, Antonia Therese, Tochter Ferdinands I. von Sizilien, von Napoleon die Hand einer französischen Prinzessin. Diese Korrespondenz wurde aber verraten, und Godoy vermochte Karl IV. die Angelegenheit zu einem Kapitalverbrechen aufzubauschen, durch das Ferdinand vollends diskreditiert werden sollte. Anfänglich zu Hast von unbestimmter Dauer verurteilt, wurde er erst auf seine demütige Abbitte begnadigt. Allein, als bald darauf das Eindringen der Franzosen in Spanien den Hof zur Flucht nach dem Süden nötigte und das ganze Volk in fieberhafte Unruhe versetzte, brach in Aranjuez ein Aufstand gegen Godoy aus, in dessen Verfolg Karl IV. auf die Krone zugunsten Ferdinands verzichtete. Im Vertrauen auf Napoleons Freundschaft zog Ferdinand in das von Franzosen besetzte Madrid ein und folgte sogar einer Einladung des Kaisers nach Bayonne, wohin ihm seine Eltern mit Godoy wenige Tage später folgten. Dort erzwang Napoleon zuerst von Ferdinand den Verzicht auf die Krone zugunsten seines Vaters, der sie dann seinerseits an Napoleon abtrat. Ferdinand wanderte nach Schloss Valençay, wo er bis Ende 1813 festgehalten wurde. Erst dann schloss Napoleon einen Vertrag mit ihm, worin er ihm die Freiheit und den spanischen Thron zurückgab. Inzwischen hatten die Kriege und das liberale Verfassungswerk von 1812 die Verhältnisse derartig verwirrt, dass alle Regierungsgewalt aufgehört hatte. Ferdinand führte deshalb die Dinge einfach auf den Standpunkt zurück, auf dem er sie 1808 verlassen hatte. Allein auch so wurden die Verhältnisse bald unhaltbar. Die freisinnige Minorität begann auf dem Wege der Verschwörungen die Staatsgewalt zu untergraben, und Riegos (s.d.) Militäraufstand gab ihr die erwünschte Gelegenheit, noch einmal die Verfassung von 1812 aufleben zu lassen. Ferdinand war anfangs bereit, sich den Liberalen ehrlich anzuschließen. Allein deren Unfähigkeit, eine lebensfähige Regierung zu schaffen, und die Kränkungen, die sie dem Könige zufügten, ließen ihn bald die Unmöglichkeit eines ersprießlichen Zusammenwirkens erkennen. Seitdem bemühte sich Ferdinand, die Intervention der heiligen Allianz zu beschleunigen, und stand, als das französische Heer in Spanien eingerückt war, mit diesem in geheimem Einverständnis. Trotzdem musste er der revolutionären Regierung nach Sevilla und Cadiz folgen; erst dort erlangte er seine Freiheit zurück, durch die er abermals in die Hände der absolutistisch-ultramontanen Reaktion verfiel. Ferdinand war noch dreimal verheiratet; seine zweite Gattin, Maria Isabella Franziska, Tochter Johanns VI. von Portugal, starb 1818, seine dritte, Josepha, Tochter des Prinzen Maximilian von Sachsen, 1829 (vgl. deren Biographie von Häbler, Dresd. 1892); zum viertenmal vermählte er sich mit Marie Christine, Tochter des Königs beider Sizilien, Franz' I., die ihm zwei Töchter schenkte, Isabella II., geb. 10. Okt. 1830, und Luise, später Herzogin von Montpensier, geb. 1832. Durch den Einfluss seiner vierten Gemahlin bestimmt, verwirklichte er die von den Cortes 1822 beantragte Aufhebung des salischen Gesetzes 29. März 1830 durch eine sogen. pragmatische Sanktion, welche die alte kastilische kognatische Erbfolge wiederherstellte. Schwer erkrankt, übertrug der König im Oktober 1832 seiner Gemahlin die Leitung der Staatsgeschäfte, worauf sich ein freisinnigeres Regierungssystem geltend machte."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

84 Ali Pascha

"Ali Pascha von Janina, geboren wahrscheinlich 1741 zu Tepeleni in Albanien aus der zum Stamme der Tosken gehörigen Familie der Hissas, gest. 5. Febr. 1822. Nach dem Tode seines Vaters Wali Bei, Herrn von Tepeleni (1754), von seiner Mutter Chamko im Kampf um das bestrittene Erbe zu einem rücksichtslosen Krieger erzogen, übernahm er 1766, seine Mutter zum Rücktritt bewegend (dass er sie später vergiftet habe, ist nicht erwiesen), selbständig die Herrschaft. Für die im Kriege gegen Russland und Österreich geleisteten Dienste wurde Ali Pascha 1787 von Abd ul Hamid I. zum Pascha von Trikkala in Thessalien ernannt. 1783 bemächtigte er sich der Stadt und des Gebiets von Janina, 1789 auch eines großen Teils von Arta. Ali Pascha herrschte grausam, aber kräftig, unterdrückte die blutigen Fehden unter den Albanesen und behandelte. religiös duldsam, die Christen mild. Nach der Unterwerfung der Sulioten (1803) ließ er sich von der Pforte zum Oberstatthalter von Rumelien erheben. Er beherrschte Albanien, Epirus, Thessalien und das südliche Makedonien seit 1807 unabhängig von die Pforte, die er jährlich durch einen bestimmten Tribut befriedigte. England, Frankreich und Russland hatten ihre Generalkonsuln an seinem Hof, einem befestigten Palaste bei Janina. Sein Heer schätzte man in der Blüte seiner Macht (1815-20) auf 100,000 Mann in zahlreichen Kastellen. Sultan Mahmud ächtete ihn im Juli 1820 und schickte Ismail Pacho Bei mit 5000 Mann gegen ihn. Da die albanesischen Führer, die durch Geschenke an sich zu fesseln sein wachsender Geiz (in seinem Palaste fand man 10 Mill. Gulden in barem) ihn hinderte, zum großen Teil von ihm abfielen, wurde Ali Pascha in Janina eingeschlossen und musste vor Churschid Pascha, Ismails Nachfolger, aus Mangel an Lebensmitteln 10. Jan. 1822 kapitulieren. Durch Churschid in ein Landhaus im See von Janina gelockt, ward er 5. Febr. ermordet."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

85 Vermutlich die Fabel des Aesop: Der Hund und das Stück Fleisch

"Der Hund und das Stück Fleisch

Ein großer Hund hatte einem kleinen, schwächlichen Hündchen ein dickes Stück Fleisch abgejagt. Er brauste mit seiner Beute davon. Als er über eine schmale Brücke lief, fiel zufällig sein Blick ins Wasser. Wie vom Blitz getroffen blieb er stehen, denn er sah unter sich einen Hund, der gierig seine Beute festhielt.

"Der kommt mir zur rechten Zeit", sagte der Hund auf der Brücke, "heute habe ich wirklich Glück. Sein Stück Fleisch scheint noch größer zu sein als meins."

Gefräßig stürzte sich der Hund kopfüber in den Bach und biß nach dem Hund, den er von der Brücke aus gesehen hatte. Das Wasser spritzte auf. Er ruderte wild im Bach umher und spähte hitzig nach allen Seiten. Aber er konnte den Hund mit dem Stück Fleisch nicht mehr entdecken, er war verschwunden.

Da fiel dem Hund sein soeben erbeutetes, eigenes Stück ein. Wo war es geblieben? Verwirrt tauchte er unter und suchte danach. Doch vergeblich, in seiner dummen Gier war ihm auch noch das Stück Fleisch verlorengegangen, das er schon sicher zwischen seinen Zähnen gehabt hatte."

[Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/aesop/hundflei.htm. -- Zugriff am 2005-02-17]

86 Claudite iam rivos, pueri: sat prata biberunt (Vergilius, Bucolica 3,111): "Schließt jetzt die Kanäle, Jungen: Die Wiesen haben genug Wasser."


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