Religionskritik

Syllabus Pii IX, seu Collectio errorum in diversis Actis Pii IX proscriptorum, editus 8. Dec. 1864.  = Syllabus von Papst Pius IX. oder Sammlung der von Papst Pius IX. in verschiedenen Äußerungen geächteten Irrtümer (1864-12-08)


herausgegeben von Alois Payer (payer@payer.de)


Zitierweise / cite as:

Pius <Papa, IX.> <1792 - 1878>: Syllabus Pii IX, seu Collectio errorum in diversis Actis Pii IX proscriptorum = Syllabus von Papst Pius IX. oder Sammlung der von Papst Pius IX. in verschiedenen Äußerungen geächteten Irrtümer (1864-12-08). -- Fassung vom 2004-04-12. -- URL:  http://www.payer.de/religionskritik/syllabus.htm

Erstmals publiziert: 2004-04-12

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Dieser Text ist Teil der Abteilung Religionskritik  von Tüpfli's Global Village Library


0. Übersicht



1. Einleitung


Der Syllabus Errorum ist eine Liste von 80 Aussagen, die von Papst Pius IX. als falsch verurteilt wurden. Der Syllabus Errorum, oft auch kurz als 'Syllabus' bezeichnet, wurde zugleich mit der Enzyklika Quanta Cura am 8. Dezember 1864 veröffentlicht. Die deutsche Übersetzung wurde im Jahr 1865 kirchlich approbiert. Der Syllabus ist in 10 Paragraphen aufgeteilt.

Der Syllabus Errorum ist im wesentlichen ein Exzerpt aus vorangegangenen Enzykliken, Ansprachen, Briefe und Apostolischer Schreiben.

Im Syllabus zeigt sich unverblümt das reaktionäre Wesen des Katholizismus. Diese reaktionäre, gegen die Menschenwürde gerichtete Grundhaltung macht auch heute noch - wenn auch verbrämter - das Wesen des Katholizismus aus. Am 3. September 2000 wurde Pius der IX. seliggesprochen.


Abb.: Anbetung der Hl. Unwissenheit. -- Karikatur von Honoré Daumier (1808 - 1879) auf den Widerstand der katholischen Kirche gegen die Einführung  allgemeiner unentgeltlicher Schulen in Frankreich. --  1872


1.1. Über Pius IX.



Abb.: Pius IX [Bildquelle: http://www.the-forum.com/art/pgvanity.htm. -- Zugriff am 2004-04-09]

"Pius IX.

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Papst Pius IX.

Pius IX. (eigentlich Giovanni Maria Mastai-Ferretti) war Papst von 1846 bis 1878. Da er das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit aufstellte, nennt man ihn den "Unfehlbarkeitspapst".

Er wurde am 13. Mai 1792 in Senigallia geboren, wurde 1827 Erzbischof von Spoleto, 1832 von Imola und 1840 Kardinal. Am 16. Juni 1846 wurde er als Nachfolger Gregors XVI. zum Papst gewählt.


Abb.: "Pius IX. verbirgt sein wahres Gesicht unter der Maske Christi", holländische Karikatur, 1852

[Bildquelle: Die Welt des Christentums : Kirche und Gesellschaft in 2 Jahrtausenden / mit Beitr. von William H. C. Frend ... Hrsg. von Geoffrey Barraclough. -- München : Beck, ©1982. -- 336 S. : 353 Ill. . -- Originaltitel: The Christian world (1981). -- ISBN 3-406-08623-3. -- S. 251]

Er begann seine Herrschaft mit einigen liberalen Reformen, wandte sich aber gegen Republikanismus und die italienische Einigungsbewegung. Während der revolutionären Erhebungen von 1848 floh er am 24. November mit den Kardinälen nach Gaeta und konnte erst im Frühjahr 1850 nach Rom zurückkehren. 1857 entschied Pius, das die Darstellung von männlichen Geschlechtsteilen innerhalb der Mauern der Vatikanstadt eine Lust auf die Menschen innerhalb dieser Mauern erzeugen könnte, woraufhin er eigenhändig mit Hammer und Meissel das steinerne Geschlechtsteil einer jeden Statue im Vatikan abschlug. Er beschädigte dadurch hunderte von Meisterwerken von Bernini, Bramante und Michelangelo. Die Zerstörungen an den Skulpturen werden auch heute noch mit Feigenblättern aus Gips kaschiert. Als 1870 der Kirchenstaat aufgelöst wurde, zog er sich auf Lebenszeit in den Vatikan zurück. Die Verträge, die ihm 1871 von der italienischen Regierung angeboten wurden, lehnte er ab.

Pius veröffentlichte zahlreiche theologische Schriften und Erklärungen, u. a. 1854 das Dogma von der Unbefleckten Empfängnis, 1864 den Syllabus Errorum und die Enzyklika "Quanta Cura". Darin wandte er sich gegen Liberalismus und Demokratie. Außerdem diskriminierte er das Judentum. Den Höhepunkt seiner Amtszeit bildet jedoch das Erste Vatikanische Konzil von 1869/70, auf dem die Unfehlbarkeit des Papstes verkündet wurde. Dies führte zum Kulturkampf mit dem Deutschen Reich.


Abb.: "la nouvelle Assomption" (Die neue Himmelfahrt): katholische Prälaten versuchen, den Papst durch die Unfehlbarkeitserklärung in den Himmel hinaufzuziehen. -- Karikatur von Honoré Daumier (1808 - 1879). -- 1870

Pius IX. starb am 7. Februar 1878 im Vatikan. Seine Amtszeit von fast 32 Jahren ist die längste, die je ein Papst erreichte.

Der Prozess der Heiligsprechung wurde 1907 eingeleitet, am 3. September 2000 erfolgte die Seligsprechung trotz zahlreicher Proteste der Evangelischen und der Orthodoxen, die dies als Rückschritt für die Ökumene betrachten. So wurde denn auch seine Seligsprechung von den Gläubigen auf dem Petersplatz nicht so stark bejubelt wie die gleichzeitig vorgenommene Seligsprechung seines späteren Amtskollegen Johannes XXIII. "


Abb.: Pius IX. im Himmel. -- Heilgenbildchen. -- Paris, 19. Jhdt.

[Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Pius_IX.. -- Zugriff am 2004-04-09]


1.2. Zur Entstehung und Aufnahme des Syllabus



Abb.: "Ich wollte ihn besudeln, habe mich aber selbst beschmutzt". -- Karikatur von Honoré Daumier (1808 - 1879). -- 1869-09-11

"Der Syllabus und seine Folgen

Diese verschiedenen Manifestationen des Liberalismus im katholischen Milieu, die oft von Unvorsichtigkeiten im Ausdruck und bisweilen auch von offen zweideutigem Verhalten begleitet wurden, waren Ärgernis für die Männer des Glaubens, die angesichts dieser »Religion der Freiheit« und der »Religion der Wissenschaft« bestrebt waren, die »Rechte Gottes über die Gesellschaft und die Geister« erneut zu bestätigen. Sie waren um so stärker beunruhigt, als es ihnen, die zumeist instinktmäßig der Vergangenheit verbundene Konservative waren, sehr schwer fiel, zwischen den ewigen Wahrheiten, die um jeden Preis bewahrt werden müssen, und den kontingenten Strukturen der kirchlichen oder zivilen Ordnung zu unterscheiden. Viele waren daneben auch von der um 1860 tatsächlich nicht mehr bestreitbaren Tatsache erschüttert, dass überall dort, wo die Liberalen an die Macht kamen, schon bald eine kirchenfeindliche Gesetzgebung eingeführt wurde. Diese letztere Erwägung beunruhigte vor allem die römischen Kreise, die durch die Entwicklung in Italien seit 1848 mehr denn je von dem Bestehen eines engen Zusammenhangs zwischen den Grundsätzen von 1789 und der Zerstörung der traditionellen Werte in der sozialen, moralischen und religiösen Ordnung überzeugt wurden. Pius IX., im Mittelpunkt der Christenheit stehend, glaubte nun handeln zu müssen, um nicht durch sein Schweigen die wenigen katholischen Nationen, die dem - in seinen Augen besten - System der privilegierten und vom Staat protegierten Kirche noch mehr oder weniger treu geblieben waren, zu entmutigen. Da die Macht der Umstände ihn in verschiedenen Ländern zu praktischen Konzessionen gezwungen hatte, hielt er es für um so dringlicher, die Prinzipien laut in Erinnerung zu bringen. Daher ergriff er in dem Maße, wie sich die von seinen Vorgängern Pius VI., Pius VII., Leo XII. und Gregor XVI. verurteilten Konzeptionen in den offiziell katholischen Ländern, nämlich in Spanien, in den südamerikanischen Republiken und vor allem im Italien des Risorgimento, durchsetzten, jede sich bietende Gelegenheit17, um diesen oder jenen Aspekt der entsprechenden klassischen Lehre der Kirche hervorzuheben. Aber die Idee einer zusammenfassenden Verurteilung aller als falsch erachteten Lehren der modernen Gesellschaft nahm, 1849 von Kardinal Pecci in Umlauf gesetzt und später von der »Civiltà cattolica« aufgenommen, nach und nach ihren Weg. 1859, nach dem Wiederaufleben der Römischen Frage, wurde sie erneut propagiert, und im Herbst ersuchte der Vatikan von einigen Vertrauensmännern, wie Mgr. Pie, Dom Guéranger und dem Rektor der Universität von Löwen de Ram (der in Zusammenarbeit mit einigen Professoren antwortete) um Vorschläge, welche Irrtümer verurteilt und welche Punkte der Lehre hervorgehoben werden sollten. Im Frühjahr 1860 wurde auf der Grundlage der erhaltenen Antworten ein erster Vorentwurf des »Syllabus errorum in Europa vigentium« erarbeitet, der 79 Sätze enthielt. Im Herbst gelangte jedoch ein langer Hirtenbrief des Bischofs von Perpignan, Mgr. Gerbet, nach Rom. Gerbet war ein früherer Mitarbeiter Lamennais', aber ereiferte sich nun gegen das, was er einst verehrt hatte. Das Dokument, das den Titel »Instruction sur les erreurs du temps présent« trug, schloß mit einer Liste von 85 irrigen Sätzen, die dem Papst eine noch bessere Basis für das feierlich zu veröffentlichende Projekt zu sein schien - nach P. Martina jedoch zu Unrecht, da nach seiner Meinung der erste Entwurf mehr auf der Ebene der Prinzipien lag und einen mehr synthetischen Charakter hatte. Mehrere aufeinanderfolgende Kommissionen von Theologen und Kardinälen, deren Arbeiten vom Papst genau verfolgt wurden, befassten sich daraufhin länger als ein Jahr mit der Ausarbeitung und vor allem der theologischen Qualifizierung der Sätze Gerbets. Trotz der sehr deutlichen Zurückhaltung vieler Kurienkardinäle, die eine Rückkehr zum ersten Entwurf begrüßt hätten, beschloss Pius IX., die neue, auf dem Hirtenbrief Gerbets fußende Liste, die in 61 Thesen die wichtigsten modernen Tendenzen zur Befreiung der Philosophie, Moral und Politik von der Kontrolle der Religion zusammenfasste, jenen Bischöfen vorzulegen, die im Sommer nach Rom kamen, um für die weltliche Macht des Papstes zu demonstrieren. Obschon die Mitteilung unter dem Siegel der Verschwiegenheit erfolgt war, wurden gewisse Indiskretionen begangen. Die vorzeitige Verbreitung des Dokuments entfesselte in der antiklerikalen Presse einen Sturm gegen den römischen Obskurantismus. Die bischöflichen Reaktionen, die übrigens nur sehr spärlich erfolgten, waren eher zurückhaltend. Dennoch beharrte der Papst auf seiner ersten Idee, und so setzte die Kommission die Ausarbeitung von Mgr. Gerbets Liste von Sätzen fort, jedoch so langsam, dass viele den Eindruck gewannen, die große Verurteilung der modernen Irrtümer sei auf einen späteren Zeitpunkt - einige hofften sogar, sine die - verschoben. Aber Ende des Sommers 1863 ließen zwei unselige Reden die Frage erneut aufflammen: die Apologie, die Montalembert, ungeduldig über die »Ängstlichkeit« seiner Freunde, beim internationalen Kongress der belgischen Katholiken in Mecheln für die »Freie Kirche im freien Staat« hielt18, und die hochmütige Forderung Döllingers nach Unabhängigkeit des katholischen Gelehrten vom kirchlichen Lehramt, die er auf der Münchener Versammlung vorbrachte. Vor allem die erste dieser Reden 'deren Widerhall sehr stark war', stellte eine Herausforderung an all jene dar, die im katholischen Liberalismus die Hauptgefahr ihrer Zeit sahen, und man drängte nun stärker auf eine klare und eindeutige Stellungnahme Roms zu diesem Thema. Verschiedene Interventionen ersparten Montalembert einen öffentlichen Tadel, aber Pius IX. gelangte immer mehr zu der Überzeugung, dass es einer feierlichen Intervention bedurfte, um die Bewegung der Geister einzudämmen. Verschiedene Einflüsse verzögerten dies jedoch um ein volles Jahr: französische diplomatische Interventionen, die einige Bischöfe aus Furcht vor einer Brüskierung der öffentlichen Meinung angeregt hatten; Hinweise aus Belgien, nicht noch vor den wichtigen Wahlen den Eindruck zu erwecken, Rom verurteile die Verfassung, da man dadurch nur der liberalen Partei in die Hände spiele; schließlich die Bedenken des Kardinals Antonelli, man könne dadurch einige nichtkatholische Verteidiger der weltlichen Macht des Papstes, wie z.B. Adolphe Thiers, entmutigen. Pius IX. verschloss sich diesen Argumenten nicht. Aber ihn, der sehr leicht zu beeindrucken war, bestimmten noch viel stärker andere Einflüsse: das immer stärkere Hineinschlittern zahlreicher italienischer Katholiken in »vermittlerische« Positionen; der Erfolg des Buches »Vie des Jésus« von Renan, in dem sich die Gefahr der Pressefreiheit verdeutlichte; die jüngsten Verletzungen der Rechte der Kirche in Polen und Mexiko; die Warnungen Kettelers vor der geistigen Unabhängigkeit der deutschen Theologen und, allgemeiner, die Gefahr einer Begünstigung des Radikalismus durch die Passivität der Katholiken. Zweifellos war auch die Konvention vom September 1864 für Pius IX. ein zusätzlicher Grund, nun nicht mehr zuzuwarten.

Im August 1864 wiederum konsultiert, hatten die Kardinäle der Inquisition ihre Einwände gegen die auf der Grundlage von Gerbets Liste erarbeitete Reihe von Sätzen erneuert und eine andere Art des Vorgehens vorgeschlagen: eine Ansprache des Papstes, in der seine früheren Verurteilungen erneuert werden sollten. Dieser neuen Anregung beschloss der Papst schließlich zu folgen, und so verfasste man innerhalb weniger Wochen mit der besonderen Unterstützung des jungen Barnabiten L. Bilio außer einer Enzyklika auch eine Liste von Auszügen aus Ansprachen und Schriften des Papstes, die er seit Beginn seines Pontifikats formuliert und in denen er bereits die verschiedenen »modernen Irrtümer« verurteilt hatte. Ende Dezember wurde die Enzyklika »Quanta cura« veröffentlicht, der unter dem Titel »Syllabus errorum« ein Katalog von 80 als unannehmbar beurteilten Sätzen angefügt war. Der Papst verurteilte darin den Pantheismus und den Rationalismus, den Indifferentismus, der alle Religionen für gleichwertig erachtet, den Sozialismus, der das Recht auf Eigentum leugnet und die Familie dem Staat unterordnet, die irrigen Vorstellungen über die christliche Ehe, die Freimaurerei, die Zurückweisung der weltlichen Macht des Papstes, den Gallikanismus, der die Ausübung der kirchlichen Autorität von der Autorisierung durch die Zivilgewalt abhängig machen will, den Etatismus, der auf dem Unterrichtsmonopol besteht und die Orden aufhebt, den Naturalismus, der es als Fortschritt wertet, dass die menschlichen Gesellschaften die Religion nicht achten, und der die Laisierung der Institutionen, die Trennung von Kirche und Staat und die absolute Religions- und Pressefreiheit als Ideal fordert. Besonders dieser letzte Aspekt bewegte die Öffentlichkeit, vor allem da die Sätze des Syllabus, aus ihrem Kontext genommen, oft sehr verwirrend waren und das Urteil Dom Buttlers rechtfertigen, »ein äußerst ungelegenes Dokument« zu sein.

Zunächst sah die Mehrheit der Nichtkatholiken in diesem Dokument die eklatante Bestätigung der Unvereinbarkeit jener Kirche, wie sie die Ultramontanen geschaffen hatten, mit den Denk- und Lebensweisen des 19. Jh. In dieser Meinung konnte sie die ultramontane Presse, die über diese endgültige Klarstellung jubelte, nur bestärken, und viele Katholiken stellten sich nun die ängstliche Frage, ob dies möglicherweise den Tatsachen entspreche.

In Wirklichkeit war die Erregung jedoch nicht überall so heftig. In Italien lieferte sich zwar die Presse Wortgefechte, aber die Öffentlichkeit blieb ruhig, da die einen längst aufgehört hatten, den Weisungen des Vatikans in politischen Belangen große Bedeutung zuzumessen, und die anderen besser mit jener subtilen Exegese vertraut waren, deren es zu einer genauen Interpretation eines römischen Dokuments bedurfte. Im allgemeinen kommentierte man das Dokument im Zusammenhang mit der Römischen Frage, da man darin weniger eine Stellungnahme gegen die moderne Gesellschaft als eine Erwiderung auf die Konvention vom September sah. In Großbritannien stimmte die nichtkatholische Öffentlichkeit nahezu vollständig darin überein, dass der Papst sich durch seinen Feldzug gegen die moderne Gesellschaft, vor allem da er ihn in so undifferenzierten Begriffen führte, absolut lächerlich gemacht habe. Die Katholiken dagegen versuchten, jedoch ohne großen Erfolg, darzulegen, dass Pius IX. die doktrinalen Irrtümer und Exzesse des Liberalismus verurteilt habe und nicht die liberalen Institutionen, wie England sie kannte. Ganz ähnlich war es in den Niederlanden. Obwohl auch dort die katholischen Zeitungen auf dieser Unterscheidung bestanden, trug das päpstliche Dokument doch zur Verstärkung der protestantischen Feindschaft gegen das Papsttum und zur Beschleunigung des Bruchs zwischen Katholiken und Liberalen auf parlamentarischer Ebene bei. In den deutschsprachigen Ländern jedoch war die Lage anders. Hier befürchtete die österreichische Regierung zunächst, der Klerus könne auf Grund der Enzyklika eine noch günstigere Anwendung des Konkordats fordern. Döllinger und seine Freunde beklagten den »Syllabus«; aber der »Mainzer Kreis«, dessen Einfluss außerhalb intellektueller Kreise die breite Masse der Katholiken erfasste, nahm die Verurteilung der atheistischen Philosophen und der zu waghalsigen Theologen befriedigt zur Kenntnis, vertrat jedoch mit wenigen Ausnahmen die - übrigens gerechtfertigte - Auffassung, dass diese Zurückweisung des antichristlichen Liberalismus kein Hindernis sei, um auch weiterhin das Bestmögliche aus den konstitutionellen Freiheiten zu machen. Diese Interpretation setzte sich auch in Belgien selbst in vielen ultramontanen Kreisen sehr schnell durch; aber in den ersten Tagen war die Mutlosigkeit der konstitutionell eingestellten Katholiken sehr groß. In Frankreich dagegen hielt die Agitation mehrere Wochen an. Viele gemäßigt liberale Katholiken waren in ihren Überzeugungen tief erschüttert; andere erkannten zwar, dass diese Erinnerung an die Prinzipien im ganzen nicht viel an der früheren Situation änderte, waren jedoch sehr niedergeschlagen, da sie mit ansehen mussten, wie sich durch die übertriebenen Kommentare der Presse Veuillots die Kluft, die die Ungläubigen von der Kirche trennte, noch weiter vertiefte. Mehrere Bischöfe reagierten unmittelbar und schrieben nach Rom, um auf die Gefahr der Zweideutigkeit hinzuweisen und eine Klarstellung zu verlangen; einige jedoch, wie vor allem Darboy und Maret, schlugen, um in der Zwischenzeit die übertriebenen Interpretationen einiger ihrer Kollegen zu verhindern, der Regierung vor, die offizielle Veröffentlichung der Enzyklika unter dem Vorwand, dass diese Verurteilungen sich möglicherweise gegen die Verfassung des Kaiserreichs richteten, zu verbieten. Mit dem Genie eines Polemikers nahm Dupanloup, unterstützt von Cochin, diese antiliberale Maßnahme zum Vorwand, einen abschwächenden Kommentar zur Enzyklika und zum Syllabus zu verfassen, der sich als eine Verteidigung des ungerecht von einer feindlichen Presse und ebensolchen Ministern angeklagten Papstes gab; er war darüber hinaus geschickt genug, die captatio benevolentiae der römischen Kreise zu vollenden, indem er seinem Kommentar eine beredte Anklage gegen die jüngste Konvention beifügte, in der sich die kaiserliche Regierung Turin gegenüber verpflichtet hatte, Rom zu evakuieren. Diese »Übersetzung der Enzyklika in die moderne Sprache« (A. Dechamps), in der die Schärfen des Originals allerdings etwas abgeschwächt waren, war (auch in ganz Europa und sogar in Amerika) äußerst erfolgreich und wandelte innerhalb weniger Tage die öffentliche Meinung zuungunsten der Antiklerikalen, noch mehr vielleicht aber des L. Veuillot und seiner Freunde. Dupanloup gelang es außerdem, von Pius IX., der ihm für die scharfe Kritik gegenüber der kaiserlichen Regierung dankbar war, ein Belobigungsbreve zu erhalten. Dieses war zwar sehr vorsichtig formuliert, bedeutete aber dennoch eine Zustimmung, die zusammen mit den Lobreden zahlreicher Bischöfe der Broschüre des Bischofs von Orléans den Anschein einer mehr oder weniger offiziösen Interpretation des Syllabus gab, obwohl viele Andersdenkende sich bemühten, deren Bedeutung soweit wie möglich herabzusetzen. Diese Tatsache ist von gewisser Bedeutung für die spätere Geschichte des katholischen Liberalismus, und von daher verdient diese Broschüre mehr als nur ein bloß anekdotisches Interesse.

Für den Augenblick hatte sich der Sturm gelegt, und beide Parteien befanden sich auf der theoretischen Ebene wieder in ihren alten Positionen, da die Intervention Dupanloups den liberalen Katholiken ein Zurückweichen, das bereits unvermeidlich erschien, erspart hatte und sie deshalb bis zur Thronbesteigung Leos XIII. ihre Stellung halten konnten. Dennoch mussten sie in der Zwischenzeit ihre Segel einziehen. Mehrere hatten außerdem anlässlich der päpstlichen Verurteilungen erkannt, dass sie in ihren Äußerungen bisweilen zu radikal oder ungenau gewesen waren. Vor allem aber erkannten sie die Notwendigkeit einer Zurückhaltung, um den greisen Papst, der sich über das wachsende Sektierertum jener, die sich Liberale nannten, immer stärker erregte, nicht noch mehr zu verärgern. Pius IX., der den Liberalismus von Tag zu Tag mehr als »Irrtum des Jahrhunderts« verurteilte, war schließlich nicht mehr imstande, den radikalen Unterschied zu erkennen, der den katholischen Liberalismus vom Liberalismus schlechthin trennte. Während der allgemeine Liberalismus, auch wenn seine Anhänger religiöse Gewohnheiten praktizierten, naturalistisch war und den Menschen möglichst völlig aus religiösen Bindungen lösen wollte, waren die liberalen Katholiken besonders in der intellektuellen Ausrichtung, aber auch im Handeln durch die Forderungen ihres Glaubens bestimmt und akzeptierten, wenn auch vielleicht nicht immer ganz bereitwillig, eine Unterwerfung unter die Entscheidungen der Kirche. Pius IX. räumte einen Unterschied ein, aber nur unwillig. »Der katholische Liberalismus«, so erklärte er 1874, »das ist ein Fuß in der Wahrheit und ein Fuß im Irrtum, ein Fuß in der Kirche und ein Fuß im Geist des Jahrhunderts, ein Fuß mit mir und ein Fuß mit meinen Feinden.« So schickte er sich zwar darein, die »Hypothese« in vielen Fällen zu tolerieren, konnte sich jedoch nicht enthalten, seine nur geringe Sympathie gegenüber jenen zu zeigen, die sich in seinen Augen leichten Sinnes für diese Notwendigkeit entschieden und nun jederzeit von praktisch zulässigen Konzessionen zur Aufgabe der Prinzipien übergehen konnten. Die volle Gunst des Papstes galt dagegen den »Rittern des Absoluten«, die ohne Berücksichtigung der Entwicklung der Geister oder auch nur der lokalen Erfordernisse vor allem und gegen jeden das hervorhoben, was als das »Recht der christlichen Gesellschaft« gelten sollte; die wiederholten Ermutigungen, die Rom den Exaltiertesten von ihnen zukommen ließ, gaben ihnen schließlich die Überzeugung, sie seien vom Papst mit einer echten Sendung betraut. Den liberalen Katholiken war es zwar gelungen, einer Verurteilung zu entgehen, aber sie standen dennoch in Missgunst und waren sich dessen klar bewusst. 15 Jahre hindurch sollte nun der Vordergrund der Szene von Extremisten - liberale Radikale einerseits und intransigente Ultramontane andererseits - beherrscht werden, die beide gleichermaßen intolerant waren und ihre Ideologie allen aufzwingen wollten."

[Quelle: Roger Aubert <1914 - >. -- In: Handbuch der Kirchengeschichte / hrsg. von Hubert Jedin. -- Freiburg im Breisgau[u.a.] : Herder. -- Bd. VI. -- 1971. --  S. 598 - 610]


2. Text des Syllabus, lateinisch und deutsch


2.0. Index Actorum Pii IX, ex quibus excerptus est Syllabus = Index der Äußerungen von Pius IX, aus welchen der Syllabus exzerpiert ist


1' Ep. encvcl. "Qui pluribus", 9. Nov. 1846
2' Alloc. "Quisque vestrum", 4. Oct. 1847
3' Alloc. "Ubi primum", 17. Dec. 1847
4' Alloc. "Quibus quantisque", 20. Apr. 1849
5' Ep. encycl "Nostis et nobiscum", 8. Dec. 1849
6' Alloc. "Si semper antea", 20. Maii 1850
7' Alloc. "In consistoriali", 1. Nov. 1850
8' Ep. "Multiplices inter", 10. Iun. 1851
9' Ep. "Ad apostolicae sedis", 22. Aug. 1851
10' Alloc. "Quibus luctuosissimis", 5. Sept. 1851
11' Lettera al Ré di Sardegna, 9. Sept. 1852
12' Alloc. "Acerbissimum", 27. Sept. 1852
13' Alloc. "Singulari quadam", 9. Dec. 1854
14' Alloc. "Probe memineritis", 22. Ian. 1855
15' Alloc. "Cum saepe", 26. Iul. 1855
16' Alloc. "Nemo vestrum", 26. Iul. 1855
17' Ep. encycL "Singulari quidem", 17. Mart. 1856
18' Alloc. "Numquam fore", 15. Dec. 1856
19' Ep. "Eximiam tuam" ad archiep. Colon., 15. Iun. 1857
20' Litt. Ap. "Cum catholica Ecclesia", 26. Mart. 1860
21' Ep. "Dolore haud mediocri" ad episc. Vratislav., 30. Apr. 1860
22' Alloc. "Novos et ante", 28. Sept. 1860
23' Alloc. "Multis gravibusque", 17. Dec. 1860
24' Alloc. "Iamdudum cernimus", 18. Mart. 1861
25' Alloc. "Meminit unusquisque", 30. Sept. 1861
26' AIIoc. "Maxima quidem", 9. Iun. 1862
27' Ep. "Gravissimas inter" ad archiep. Monaco-Frising., 11. Dec. 1862
28' Ep. encycl "Quanto conficiamur", 10. Aug. 1863
29' Ep. encycl. "Incredibili afflictamurv, 17. Sept. 1863
30' Ep. "Tuas libenter" ad archiep. Monaco-Frising., 21. Dec. 1863
31' Ep. «Cum non sinen ad archiep. Friburg., 14. Iul. 1864
32' Ep. "Singularis nobisque" ad episc. Montisregalem, 29. Sept. 1864
1’ Enzyklika Qui pluribus vom 9. November 1846.
2’ Ansprache Quisque vestrum vom 4. Oktober 1847.
3’ Ansprache Ubi Primum vom 17. Dezember 1847.
4’ Ansprache Quibus quantisque vom 20. April 1849.
5’ Enzyklika Nostis et Nobiscum vom 8. Dezember 1849.
6’ Ansprache Si semper antea vom 20. Mai 1850.
7’ Ansprache In consistoriali vom 1. November 1850.
8’ Brief Multiplices inter vom 10. Juni 1851.
9’ Brief Ad Apostolicæ Sedis vom 22. August 1851.
10’ Ansprache Quibus luctuosissimis vom 5. September 1851.
11’ Brief an den König von Sardinien vom 9. September 1852.
12’ Ansprache Acerbissimum vom 27. September 1852.
13’ Ansprache Singulari quadam vom 9. Dezember 1854.
14’ Ansprache Probe memineritis vom 22. Januar 1855.
15’ Ansprache Cum sæpe vom 26. Juli 1855.
16’ Ansprache Nemo vestrum vom 26. Juli 1855.
17’ Enzyklika Singulari quidem vom 17. März 1856.
18’ Ansprache Nunquam fore vom 15. Dezember 1856.
19’ Brief Eximiam tuam vom 15 Juni 1847 an den Kardinal-Erzbischof von Köln.
20’ Apostolisches Schreiben Cum catholica Ecclesia vom 26. März 1860.
21’ Brief Dolore haud mediocri vom 30. April 1860 an den Bischof von Breslau.
22’ Ansprache Novos et ante vom 28. September 1860.
23’ Ansprache Multis gravibusque vom 17. Dezember 1860.
24’ Ansprache Jamdudum cernimus vom 18. März 1861).
25’ Ansprache Meminit unusquisque vom 30. September 1861.
26’ Ansprache Maxima quidem vom 9. Juni 1862.
27’ Brief Gravissimas inter an den Erzbischof von Freising vom 11. Dezember 1862.
28’ Enzyklika Quanto conficiamur mærore vom 10. August 1863.
29’ Enzyklika Incredibili afflictamur vom 17. September 1863.
30’ Brief Tuas libenter an den Erzbischof von Freising vom 21. Dezember 1863.
31’ Brief Cum non sine an den Erzbischof von Freiburg vom 14. Juli 1864.
32’ Brief Singularis Nobisque an den Bischof von Monreale vom 29. September 1864.
  Geächtete Thesen

Propositiones Syllabi = Geächtete Thesen


2.1. § I. Pantheismus, naturalismus et rationalismus absolutus =  Pantheismus, Naturalismus und absoluter Rationalismus



1. Nullum supremum, sapientissimum, providentissimumque Numen divinum exsistit, ab hac rerum universitate distinctum, et Deus idem est ac rerum natura et idcirco immutationibus obnoxius, Deusque reapse fit in homine et mundo, atque omnia Deus sunt et ipsissimam Dei habent substantiam; ac una eademque res est Deus cum mundo et proinde spiritus cum materia, necessitas cum libertate, verum cum falso, bonum cum malo et iustum cum iniusto (26').

2. Neganda est omnis Dei actio in homines et mundum (26').

3. Humana ratio, nullo prorsus Dei respectu habito, unicus est veri et falsi, boni et mali arbiter, sibi ipsi est lex et naturalibus suis viribus ad hominum ac populorum bonum curandum sufficit (26').

4. Omnes religionis veritates ex nativa humanae rationis vi derivant; hinc ratio est princeps norma, qua homo cognitionem omnium cuius-cunque generis veritatum assequi possit ac debeat (1' 17' 26').

5. Divina revelatio est imperfecta et idcirco subiecta continuo et : indefinito progressui, qui humanae rationis progressui respondeat (1' 26').

6. Christi fides humanae refragatur rationi; divinaque revelatio non ; solum nihil prodest, verum etiam nocet hominis perfectioni (1' 26').

7. Prophetiae et miracula in sacris Litteris exposita et narrata sunt poetarum commenta, et christianae fidei mysteria philosophicarum investigationum summa; et utriusque Testamenti libris mythica con-tinentur inventa; ipseque Iesus Christus est mythica fictio (1' 26').

1. Es gibt kein höchstes, weisestes und über alles vorhersehendes göttliches Wesen, das von der Gesamtheit dieser Welt unterschieden wäre. Gott ist zugleich wie das Wesen der Dinge und daher Veränderungen unterworfen. In der Wirklichkeit ist Gott ein Werdender im Mensch und in der Welt. Alles ist Gott und besitzt Seine eigene Wesenheit. Gott und die Welt sind ein und dieselbe Macht und Sache. Deshalb sind ebenfalls Geist und Materie, Notwendigkeit und Freiheit, Wahrheit und Falsches, Gutes und Böses, Recht und Unrecht ein und dasselbe 26’.

2. Jede Einwirkung von Gott auf die Menschen und auf die Welt ist zu leugnen 26’.

3. Die menschliche Vernunft ist, ohne dass wir sie irgendwie auf Gott beziehen müssten, der einzige Richter über Wahrheit und Falsches, über Gut und Böse. Sie ist sich selbst Gesetz und mit ihrer natürlichen Kraft ausreichend, um das Wohl der Menschen und Völker zu sichern 26’.

4. Alle Wahrheiten der Religion fließen aus der angeborenen Kraft der menschlichen Vernunft. Daher ist die Vernunft die hauptsächliche Richtlinie, nach welcher der Mensch die Erkenntnis aller Art von Wahrheit erreichen kann und soll 1’ 17’ 26’.

5. Die göttliche Offenbarung ist unvollkommen und daher einem stetigen und unbegrenzten Fortschritt unterworfen, der dem Fortschritt der menschlichen Vernunft entspricht 1’ 26’.

6. Der Glaube an Jesus Christus steht im Widerspruch zur menschlichen Vernunft. Die göttliche Offenbarung ist daher nicht nur nutzlos, sondern sie schadet sogar der Vollkommenheit des Menschen 1’ 26’.

7. Die in der Heiligen Schrift dargelegten und erzählten Prophezeiungen und Wunder sind Erfindungen von Dichtern. Die Geheimnisse des Glaubens sind das Ergebnis aus philosophischen Forschungen. In den Büchern der beiden Testamente sind mystische Erfindungen enthalten. Jesus Christus selbst ist eine dieser mystischen Erfindungen 1’ 26’.


2.2. § II. Rationalismus moderatus = Der gemäßigte Rationalismus


8. Cum ratio humana ipsi religioni aequiparetur, idcirco theologicae disciplinae perinde ac philosophicae tractandae sunt (13').

9. Omnia indiscriminatim dogmata religionis christianae sunt obiectum naturalis scientiae seu philosophiae; et humana ratio histo-rice tantum exculta potest ex suis naturalibus viribus et principiis ad veram de omnibus etiam reconditioribus dogmatibus scientiam perve-nire, modo haec dogmata ipsi rationi tamquam obiectum proposita fuerint (27' 30').

10. Cum aliud sit philosophus, aliud philosophia, ille ius et officium habet se submittendi auctoritati, quam veram ipse probaverit; at philosophia neque potest neque debet ulli sese submittere auctoritati (27' 30').

11. Ecclesia non solum non debet in philosophiam umquam animad- 1 vertere, verum etiam debet ipsius philosophiae tolerare errores eique relinquere, ut ipsa se corrigat (27').

12. Apostolicae Sedis Romanarumque Congregationum decreta 1 liberum scientiae progressum impediunt (30').

13. Methodus et principia, quibus antiqui Doctores scholastici 1 Theologiam excoluerunt, temporum nostrorum necessitatibus scien-tiarumque progressui minime congruunt (30').

14. Philosophia tractanda est nulla supernaturalis revelationis habita 1 ratione (30').

NB. Cum rationalismi systemate cohaerent quoad maximam partem arrores Antonii Guenther, qui damnantur in 19' et 21'.

8. Da die menschliche Vernunft dem Glauben unmittelbar gleichzusetzen ist, müssen die theologischen Wissenschaften in gleicher Form wie die philosophischen Lehrfächer behandelt werden 13’.

9. Alle Glaubenssätze der christlichen Religion sind ohne Unterschied Gegenstand der natürlichen Wissenschaft oder der Philosophie. Die nur geschichtlich ausgebildete menschliche Vernunft kann aus ihren natürlichen Kräften und Grundsätzen zu dem wahren Wissen aller, auch schwieriger Glaubenssätze gelangen, wenn diese Glaubenssätze der Vernunft als Gegenstand vorgelegt wurden 27’ 30’.

10. Unterschiedlich sind der Philosoph und die Philosophie. Daher hat der Philosoph das Recht und die Pflicht, sich der Autorität zu unterwerfen, die er persönlich als wahre Autorität erkannt hat. Die Philosophie kann und darf sich allerdings keiner Autorität unterwerfen 27’ 30’.

11. Die Kirche darf nicht nur überhaupt keine Erklärung gegen die Philosophie abgeben, sondern sie muss auch die Irrtümer dieser Philosophie dulden und es ihr selbst überlassen, sich zu verbessern 27’.

12. Die Dekrete des Apostolischen Stuhles und der Römischen Kongregationen behindern den freien Fortschritt der Wissenschaft 30’.

13. Die Arbeitsweise und die Grundsätze, nach welchen die alten scholastischen Lehrer die Theologie gepflegt haben, stimmen in keiner Weise mit den Bedürfnissen unserer Zeit und dem Fortschritt der Wissenschaften überein 30’.

14. Die Philosophie muss ohne Rücksicht auf die übernatürliche Offenbarung behandelt werden 30’.

NB: Mit dem System des Rationalismus hängen zum größten Teil die Irrtümer von Anton Günther zusammen, die verurteilt werden in 19’ und  21’.


2.3. § III. Indifferentismus, latitudinarismus = Indifferentismus, Latitudinarismus


15. Liberum cuique homini est eam amplecti ac profiteri religionem, quam rationis lumine quis ductus veram putaverit (8' 26').

16. Homines in cuiusvis religionis cultu viam aeternae salutis reperire aeternamque salutem assequi possunt (1' 3' 17').

11. Saltem bene sperandum est de aeterna illorum omnium salute, qui in vera Christi Ecclesia nequaquam versantur (13' 28').

18. Protestantismus non aliud est quam diversa verae eiusdem chris-tianae religionis forma, in qua aeque ac in Ecclesia catholica Deo placere datum est (5').

15. Jedem Menschen steht es frei, eine Religion anzunehmen und zu bekennen, die er im Lichte der Vernunft als die wahre Religion erachtet 8’ 26’.

16. Die Menschen können bei der Ausübung einer jeden beliebigen Religion den Weg des ewigen Heiles finden und die ewige Seligkeit erlangen 1’ 3’ 17’.

17. Es darf völlig auf die ewige Seligkeit aller Menschen gehofft werden, welche nicht in der wahren Kirche Christi leben 13’ 28’.

18. Der Protestantismus ist nichts anderes, als eine eigenständige Form des gleichen wahren christlichen Glaubens. In diesem Glauben ist es ebenso möglich, Gott wohlgefällig zu dienen, wie in der katholischen Kirche 5’.


2.4. § IV. Socialismus, communismus, societates clandestinae, biblicae, clerico-liberales = Sozialismus, Kommunismus, Geheimgesellschaften, Bibelgesellschaften, liberale Kleriker-Gesellschaften


Reprobantur in 1' 4' 5' 13' 28'. Derartige Seuchen werden oft und in schwerwiegenden Ausdrücken verworfen in 1’ 4’ 5’ 13’ 28’.

2.5. § V. Errores de Ecclesia eiusque iuribus = Irrtümer über die Kirche und ihre Rechte


19. Ecclesia non est vera perfectaque societas plane libera, nec pollet suis propriis et constantibus iuribus sibi a divino suo fundatore collatis, sed civilis potestatis est definire, quae sint Ecclesiae iura ac limites, intra quos eadem iura exercere queat (13' 23' 26').

20. Ecclesiastica potestas suam auctoritatem exercere non debet absque civilis gubernii venia et assensu (25').

21. Ecclesia non habet potestatem dogmatice definiendi, religionem catholicae Ecclesiae esse unice veram religionem (8').

22. Obligatio, qua catholici magistri et scriptores omnino adstrin-guntur, coarctatur in iis tantum, quae ab infallibili Ecclesiae iudicio veluti fidei dogmata ab omnibus credenda proponuntur (30').

23. Romani Pontifices et Concilia oecumenica a limitibus suae potes-tatis recesserunt, iura principum usurparunt atque etiam in rebus fidei et morum definiendis errarunt (8').

24. Ecclesia vis inferendae potestatem non habet neque potestatem ullam temporalem directam vel indirectam (9').

25. Praeter potestatem episcopatui inhaerentem, alia est attributa temporalis potestas a civili imperio vel expresse vel tacite concessa, revocanda propterea, cum libuerit, a civili imperio (9'),

26. Ecclesia non habet nativum ac legitimum ius acquirendi ac pos-sidendi (18' 29').

27. Sacri Ecclesiae ministri Romanusqtie Pontifex ab omni rerum temporalium cura ac dominio sunt omnino excludendi (26').

28. Episcopis, sine gubernii venia, fas non est vel ipsas apostolicas Litteras promulgare (18').
29. Gratiae a Romano Pontifice concessae existimari debent tatn-quam irritae, nisi per gubernium fuerint imploratae (18').

30. Ecclesiae et personarum ecclesiasticarum immunitas a iure civili ortum habuit (8').

31. Ecclesiasticum forum pro temporalibus clericorum causis sive civilibus sive criminalibus omnino de medio tollendum est, etiam in-consulta et reclamante Apostolica Sede (12' 18').

32. Absque ulla naturalis iuris et aequitatis violatione potest abrogari personalis immunitas, qua clerici ab onere subeundae exercendaeque militiae eximuntur; hanc vero abrogationem postulat civilis progressus, maxime in societate ad formam liberioris regiminis constituta (32').

33. Non pertinet unice ad ecclesiasticam iurisdictionis potestatem proprio ac nativo iure dirigere theologicarum rerum doctrinam (30').

34. Doctrina comparantium Romanum Pontificem principi libero et agenti in universa Ecclesia doctrina est, quae medio aevo praevaluit (9').

35. Nihil vetat, alicuius Concilii generalis sententia aut universorum populorum facto summum Pontificatum ab Romano episcopo atque Urbe ad alium episcopum aliamque civitatem transferri (9').

36. Nationalis concilii definitio nullam aliam admittit disputatio-nem, civilisque administratio rem ad hosce terminos exigere potest (9').

37. Institui possunt nationales ecclesiae ab auctoritate Romani Pontificis subductae planeque divisae (23' 24').

38. Divisioni Ecclesiae in orientalem atque occidentalem nimia Romanorum Pontificum arbitria contulerunt (9').

19. Die Kirche ist keine wahre, vollkommene und völlig freie Gesellschaft. Sie besitzt nicht ihre eigenen und beständigen, von ihrem göttlichen Gründer verliehenen Rechte. Es ist eine Angelegenheit der staatlichen Gewalt, die Rechte der Kirche und ihre Grenzen zu bestimmen, innerhalb derer sie diese Rechte ausüben darf 13’ 22’ 26’.

20. Die kirchliche Gewalt darf ihre Autorität ohne Erlaubnis und Zustimmung der staatlichen Gewalt nicht ausüben 25’.

21. Die Kirche ist nicht im Besitz der Vollmacht, in einem Glaubenssatz festzulegen, dass der Glaube der katholischen Kirche den einzigen wahren Glauben darstellt 8’.

22. Die Verpflichtung, durch die katholische Lehrer und Schriftsteller völlig gebunden werden, beschränkt sich lediglich auf das, was durch eine unfehlbare Entscheidung der Kirche als allgemeiner Glaubenssatz vorgelegt wird 30’.

23. Römische Päpste und Allgemeine Konzile haben die Grenzen ihrer Befugnis überschritten, sich Rechte der oberen Staatsgewalt angemaßt und sich in der genauen Festsetzung von Glaubens- und Sittenlehren geirrt 8’.

24. Die Kirche ist weder zur Anwendung politischer Amtsgewalt befähigt, noch hat sie irgendeine mittelbare oder unmittelbare Amtsgewalt 9’.

25. Außer der in der Bischofwürde verankerten Gewalt, ist den Bischöfen eine weltliche Gewalt beigegeben, die von der staatlichen Gewalt entweder ausdrücklich oder stillschweigend erlaubt wurde. Sie kann daher von der staatlichen Gewalt nach Belieben widerrufen werden 9’.

26. Die Kirche hat kein natürliches und gesetzliches Recht auf Erwerb und Besitz 18’ 29’.

27. Die gottgeweihten Diener der Kirche und der Römische Papst sind von jeder Sorge und Herrschaft über weltliche Dinge völlig auszuschließen 26’.

28. Ohne Erlaubnis der Regierung, dürfen die Bischöfe keine Apostolischen Schreiben veröffentlichen 18’.

29. Gnaden, die der Heilige Stuhl verleiht, müssen als ungültig angesehen werden, wenn sie nicht durch die Regierung erwirkt wurden 18’

30. Die Immunität der Kirche und der kirchlichen Personen hat ihren Ursprung im staatlichen Recht 8’.

31. Die päpstliche Gerichtsbarkeit für zeitliche Angelegenheiten der Geistlichen, in bürgerlicher oder strafrechtlicher Hinsicht, ist ohne Beratung und gegen den Einspruch des Apostolischen Stuhles völlig abzuschaffen 12’ 18’.

32. Ohne Verletzung des natürlichen Rechtes und der Billigung, kann das persönliche Vorrecht der Kleriker zur Befreiung von der Last und der Leistung der Militärpflicht abgeschafft werden. Der bürgerliche Fortschritt erfordert diese Abschaffung, besonders in einer Gesellschaft mit einer politisch freiheitlichen Regierungsform 32’.

33. Die kirchliche Rechtsprechungsgewalt ist nicht ausschließlich befugt, theologische Lehren aus eigenem oder angeborenem Recht zu leiten 30’.

34. Die Lehre derjenigen, die den Römischen Papst mit einem freien Staatsoberen vergleichen, der in der gesamten Kirche seine Macht ausübt, ist eine Lehre, die im Mittelalter vorherrschte 9’.

35. Nichts verbietet, durch den Beschluss eines Allgemeinen Konzils oder die Tat der gesamten Völker, das Papsttum vom Römischen Bischof und von Rom auf einen anderen Bischof und eine andere Stadt zu übertragen 9’.

36. Die Bestimmung eines nationalen Konzils lässt keine weitere Erörterung und Abhandlung zu. Die staatliche Macht kann eine Abwicklung der Dinge in diesem Sinn verlangen 9’.

37. Es können staatliche Kirchen errichtet werden, die der Autorität des Römischen Papstes entzogen und völlig von ihr getrennt sind 23’ 24’.

38. Die übermäßige Willkür der Römischen Päpste hat zur Trennung in eine morgenländische und in eine abendländische Kirche beigetragen 9’.


2.6. § VI. Errores de societate civili tum in se tum in suis ad Ecclesiam relationibus spectata = Irrtümer über die bürgerliche Gesellschaft, sowohl an sich, als auch in ihren Beziehungen zur Kirche


39. Reipublipae status, utpote omnium iurium origo et fons, iure quodam pollet nullis circumscripto limitibus (26').

40. Catholicae Ecclesiae doctrina humanae societatis bono et com-modis adversatur (1' 4').

41. Civili potestati vel ab infideli imperante exercitae competit potestas indirecta negativa in sacra; eidem proinde competit nedum ius quod vocant "exsequatur", sed etiam ius "appellationis", quam nuncupant, "ab abusu" (9').

42. In conflictu legum utriusque potestatis ius civile praevalet (9').

.
43. Laica potestas auctoritatem habet rescindendi, declarandi ac faciendi irritas solemnes conventiones (vulgo "Concordata") super usu iurium ad ecclesiasticam immunitatem pertinentium cum Sede Apostolica initas sine huius consensu, immo et ea reclamante (7' 23').

44. Civilis auctoritas potest se immiscere rebus, quae ad religionem, mores et regimen spirituale pertinent. Hinc potest de instructionibus iudicare, quas Ecclesiae pastores ad conscientiarum normam pro suo munere edunt, quin etiam potest de divinorum sacramentorum ad-ministratione et dispositionibus ad ea suscipienda necessariis decer-nere (7' 26').

45. Totum scholarum publicarum regimen, in quibus iuventus christianae alicuius reipublicae instituitur, episcopalibus dumtaxat seminariis aliqua ratione exceptis, potest ac debet attribui auctori-tati civili, et ita quidem attribui, ut nullum alii cuicumque auctoritati recognoscatur ius immiscendi se in disciplina scholarum, in regimine studiorum, in graduum collatione, in delectu aut approbatione magi-strorum (7' 10').

46. Immo in ipsis clericorum seminariis methodus studiorum adhibenda civili auctoritati subicitur (18').

47. Postulat optima civilis societatis ratio, ut populares scholae, quae patent omnibus cuiusque e populo classis pueris, ac publica universim instituta, quae litteris severioribusque disciplinis tradendis et educationi iuventutis curandae sunt destinata, eximantur ab omni Ecclesiae auctoritate, moderatrice vi et ingerentia, plenoque civilis ac politicae auctoritatis arbitrio subiciantur ad imperantium placita et ad communium aetatis opinionum amussim (31').

48. Catholicis viris probari potest ea iuventutis instituendae ratio, quae sit a catholica fide et ab Ecclesiae potestate seiuncta, quaeque rerum dumtaxat naturalium scientiam ac terrenae socialis vitae fines tantummodo vel saltem primario spectet (31').

49. Civilis auctoritas potest impedire, quominus sacrorum antistites et fideles populi cum Romano Pontifice libere ac mutuo commu-nicent (26').

50. Laica auctoritas habet per se ius praesentandi episcopos et potest ab illis exigere, ut ineant dioecesium procurationem, antequam ipsi canonicam a Sancta Sede institutionem et Apostolicas Litteras acci-piant (18').

51. Immo laicum gubernium habet ius deponendi ab exercitio pastoralis ministerii episcopos, neque tenetur oboedire Romano Pontifici in iis, quae episcopatuum et episcoporum respiciunt institutionem (8' 12').

52. Gubernium potest suo iure immutare aetatem ab Ecclesia praescriptam pro religiosa tam mulierum quam virorum professione, omnibusque religiosis familiis indicere, ut neminem sine suo permissu ad solemnia vota nuncupanda admittant (18').

53. Abrogandae sunt leges, quae ad religiosarum familiarum statum tutandum earumque iura et officia pertinent; immo potest civile gu-bernium iis omnibus auxilium praestare, qui a suscepto religiosae vitae instituto deficere ac solemnia vota frangere velint; pariterque potest religiosas easdem familias perinde ac collegiatas ecclesias et beneficia simplicia etiam iuris patronatus penitus exstinguere, illorumque bona et reditus civilis potestatis administrationi et arbitrio subicere et vindi-care (12' 14' 15').

54. Reges et principes non solum ab Ecclesiae iurisdictione eximun-tur, verum etiam in quaestionibus iurisdictionis dirimendis superiores sunt Ecclesia (8').

55. Ecclesia a statu statusque ab Ecclesia seiungendus est (12').

39. Der Staat besitzt den Ursprung und die Quelle aller Rechte und daher ein uneingeschränktes Recht 26’.

40. Die Lehre der katholischen Kirche widerstrebt dem Wohl und dem Nutzen der menschlichen Gesellschaft 1’ 4’.

41. Der staatlichen Gewalt steht ein indirektes, negatives Recht in Glaubensdingen zu, selbst wenn sie von einem ungläubigen Herrscher ausgeübt wird. Ihr steht daher nicht nur das Erlaubnisrecht zu, das man »Exequatur« nennt, sondern auch das Recht der Berufung vom Missbrauch, der sogenannten »Appellatio ab abusu« 9’.

42. Im Konflikt der Gesetze beider Gewalten, erhält das staatliche Recht den Vorrang 9’.

43. Die weltliche Macht ist befugt, feierliche Abmachungen, sogenannte Konkordate, die mit dem Heiligen Stuhl über die Ausübung der zur kirchlichen Immunität gehörenden Rechte geschlossen wurden, auch ohne dessen Zustimmung oder Widerspruch, als ungültig zu erklären und außer kraft zu setzen 7’ 23’.

44. Die staatliche Autorität kann sich in Dinge einmischen, die den Glauben, die Sitten und die geistliche Leitung betreffen. Daher kann sie über Weisungen urteilen, welche die Hirten der Kirche gemäß ihrem Amt als Richtschnur für Gewissensfragen erlassen. Sie kann sogar über die Verwaltung der göttlichen Gnadenmittel und über die Anforderungen zu deren Empfang entscheiden 7’ 23’.

45. Die gesamte Leitung des öffentlichen Schulwesens, die dem Unterricht der Jugend eines christlichen Staates dient, mit gewissen Ausnahmen der bischöflichen Seminarien, kann und soll der weltlichen Autorität zuerkannt werden, sich in die Einrichtung und Ordnung der Schulen, in die Lehrordnung, in die Titelverleihung und in die Wahl und Genehmigung der Lehrer einzumischen 7’ 10’.

46. Selbst die Seminarien für den Klerus unterliegen in ihren Lehrmethoden der weltlichen Autorität 18’.

47. Die Rücksicht auf das Wohl des Staates verlangt, dass die Volksschulen, die allen Kindern jeder Bevölkerungsschicht zugänglich sind, sowie die öffentlichen Anstalten, welche für den höheren wissenschaftlichen Unterricht und für die Erziehung der Jugend bestimmt sind, der Autorität der Kirche vollständig entzogen und der Leitung der bürgerlichen und staatlichen Macht unterworfen sind, je nach Belieben der Regierung und unter dem Einfluss der jeweiligen Meinungen des Zeitalters 31’.

48. Katholische Männer können sich mit einer Art des Jungendunterrichtes zufrieden geben, der vom katholischen Glauben und von der Gewalt der Kirche getrennt ist, und nur die Wissenschaft der natürlichen Dinge sowie die Zwecke des irdischen sozialen Lebens ausschließlich oder in erster Linie beinhaltet 31’.

49. Die weltliche Autorität kann die Einschränkung geltend machen, dass die Bischöfe und die gläubigen Völker mit dem Römischen Papst frei und gegenseitig verkehren 26’.

50. Die weltliche Macht hat von sich aus das Recht, Bischöfe vorzuschlagen. Sie kann von ihnen verlangen, die Verwaltung ihrer Diözesen anzutreten, bevor sie vom Heiligen Stuhl ihre kanonische Einsetzung und das Apostolische Schreiben erhalten haben 18’.

51. Die weltliche Macht hat sogar das Recht, Bischöfe von der Ausübung ihres Hirtenamtes zu entheben. Sie ist nicht verpflichtet, dem Römischen Papst in Angelegenheiten zu gehorchen, die sich auf die Errichtung von Bistümern und Einsetzung von Bischöfen beziehen 8’ 12’.

52. Die Regierung kann in Ausübung ihres eigenen Rechtes das von der Kirche vorgeschriebene Alter zur Ablegung von Ordensgelübden sowohl bei männlichen als auch bei weiblichen Orden ändern und allen Ordensgemeinschaften vorschreiben, jemanden ohne Erlaubnis zur Ablegung der feierlichen Gelübde zuzulassen 18’.

53. Die Gesetze zum Schutz der Orden sowie ihre Rechte und Pflichten sind abzuschaffen. Die weltliche Macht kann allen Beistand leisten, die ihren gewählten Ordensstand verlassen und ihre feierlichen Gelübde brechen wollen. Ebenso kann sie diese Ordenshäuser, Kollegiatskirchen, einfache geistliche Pfründen sowie auch das Patronatsrecht ganz aufheben und ihre Güter und Einkünfte der staatlichen Verwaltung und Staatsverfügung unterstellen 12’ 14’ 15’.

54. Könige und Staatsoberhäupter sind nicht nur von der Rechtssprechung der Kirche enthoben, sondern stehen auch in der Entscheidung der Frage der Rechtssprechung über der Kirche 8’.

55. Die Kirche ist vom Staat und der Staat von der Kirche zu trennen 12’.


2.7. § VII. Errores de ethica naturali et christiana = Irrtümer über das natürliche und christliche Sittengesetz


56. Morum leges divina haud egent sanctione, minimeque opus est, ut humanae leges ad naturae ius conformentur aut obligandi vim a Deo accipiant (26').

57. Philosophicarum rerum morumque scientia, item civiles leges possunt et debent a divina et ecclesiastica auctoritate declinare (26').

58. Aliae vires non sunt agnoscendae nisi illae, quae in materia positae sunt, et omnis morum disciplina honestasque collocari debet in cumulandis et augendis quovis modo divitiis ac in voluptatibus explendis (26' 28').

59. Ius in materiali facto consistit, et omnia hominum officia sunt nomen inane, et omnia humana facta iuris vim habent (26').

60. Auctoritas nihil aliud est, nisi numeri et materialium virium summa (26').

61. Fortunata facti iniustitia nullum iuris sanctitati detrimentum affert (24').

62. Proclamandum est et observandum principium, quod vocant de non-interventu1 (22').

1 Ad quod principium Napoleon III rex Galliae confugit, ne promissis stare et Pio IX contra exercitus Piemontensium in territorium Rom. P'cis irruentium auxilium praestare deberet.

63. Legitimis principibus oboedientiam detractare, immo et rebellare licet (!' 2' 5' 20').

64. Tum cuiusque sanctissimi iuramenti violatio, tum quaelibet scelesta flagitiosaque actio sempiternae legi repugnans non solum haud est improbanda, verum etiam omnino licita summisque laudibus efferenda, quando id pro patriae amore agatur (4').

56. Die Sittengesetze bedürfen keiner göttlichen Bestätigung. Es ist nicht notwendig, dass die menschlichen Gesetze mit dem Naturrecht in Übereinstimmung gebracht werden, oder ihre verpflichtende Kraft von Gott erhalten 26’.

57. Die Philosophie und die Sittenlehre, ebenso die bürgerlichen Gesetze, können und sollen von der göttlichen und kirchlichen Lehre abweichen 26’.

58. Es sind keine anderen Kräfte anzuerkennen, als die, die in der Materie liegen. Die Sittlichkeit, der Anstand und die Würde sind in der Anhäufung und Vermehrung von Reichtümern auf jegliche Weise und in der Befriedigung der sinnlichen Genüsse zu suchen 26’ 28’.

59. Das Recht besteht in der Tatsache. Alle Pflichten der Menschen sind leere Worte. Alle menschlichen Handlungen haben den Anspruch auf Rechtskraft 26’.

60. Autorität bedeutet nichts anderes, als der Inbegriff der Zahlenmenge und der Gesamtheit der materiellen Kräfte 26’.

61. Eine erfolgreiche Ungerechtigkeit bringt der Heiligkeit des Rechts keinerlei Nachteile 24’.

62. Der sogenannte Grundsatz der Nichteinmischung(1) muss verkündet und beachtet werden 22’.

(1) »Principium de non-interventu«; darauf berief sich Napoleon III. von Frankreich, um seine Versprechen nicht halten und Pius IX. gegen die ins Territorium des Römischen Papstes einrückenden Truppen der Piemonteser keinen Beistand leisten zu müssen.

63. Rechtmäßigen Staatsoberhäuptern darf der Gehorsam versagt und sich sogar gegen sie aufgelehnt werden 1’ 2’ 5’ 20’.

64. Der Bruch eines jeden noch so heiligen Eides, ebenso jede verbrecherische und unsittliche Handlung, die dem ewigen Gesetz im Widerspruch steht, sind nicht nur nicht zu verdammen, sondern durchaus erlaubt und sogar höchst lobenswert, wenn sie aus Liebe zum Vaterland geschieht 4’.


2.8. § VIII. Errores de matrimonio christiano =  Irrtümer über die christliche Ehe


65. Nulla ratione ferri potest, Christum evexisse matrimonium ad dignitatem sacramenti (9').

66. Matrimonii sacramentum non est nisi quid contractui accesso-rium ab eoque separabile, ipsumque sacramentum in una tantum nup-tiali benedictione situm est1 (9').

1  Ad sententiam singularem hac altera parte propositionis expressam accedit e. g. Melchior Cano, De locis theologicis lb. VIII c. 5 (Vn. 1759) 196s, sec. quem matrimonium inter christianos nonnisi benedictione nuptiali fit sacramentum proprie dictum.

67. Iure naturae matrimonii vinculum non est indissolubile, et in variis casibus divortium proprie dictum auctoritate civili sanciri potest (9' 12').

68. Ecclesia non habet potestatem impedimenta matrimonium dirimentia inducendi, sed ea potestas civili auctoritati competit, a qua impedimenta exsistentia tollenda sunt (8').

69. Ecclesia sequioribus saeculis dirimentia impedimenta inducere coepit, non iure proprio, sed illo iure usa, quod a civili potestate mutuata erat (9').

70. Tridentini canones, qui anathematis censuram illis inferunt,qui facultatem impedimenta dirimentia inducendi Ecclesiae negare audeant, vel non sunt dogmatici vel de hac mutuata potestate intelligendi sunt (9').

71. Tridentini forma sub infirmitatis poena non obligat, ubi lex civilis aliam formam praestituat et velit hac nova forma interveniente matrimonium valere (9')

72. Bonifatius VIII votum castitatis in ordinatione emissum nuptias nullas reddere primus asseruit (9').

73. Vi contractus mere civilis potest inter Christianos constare veri nominis matrimonium, falsumque est, aut contractum matrimonii inter Christianos semper esse sacramentum, aut nullum esse contractum, si sacramentum excludatur (9' 11' 12' 23).

74. Causae matrimoniales et sponsalia suapte natura ad forum civile pertinent (9' 12').

NB. Huc facere possunt duo alii errores de clericorum caeli batu abolendo et de statu matrimonii statui virginitatis anteferendo. [Contra hos vd.] 1' et 8'.

65. Es kann auf keine Weise zugegeben werden, dass Christus die Ehe zur Würde eines Sakramentes erhoben hat 9’.

66. Das Sakrament der Ehe ist nur eine Zufügung zum Vertrag und daher von ihm trennbar. Das Sakrament selbst besteht einzig und allein im Eheschließungssegen 9’.(2)

2 So etwa Melchior Cano, De locis theologicis VIII,5, S. 196 f., Venedig 1759.

67. Nach dem Naturrecht ist das Eheband nicht unauflöslich. In verschiedenen Fällen kann eine Ehescheidung im eigentlichen Sinn von der staatlichen Behörde gesetzlich eingesetzt werden 9’ 12’.

68. Die Kirche hat nicht die Macht, trennende Ehehindernisse aufzustellen. Diese Macht steht der staatlichen Gewalt zu, durch welche die bestehenden Ehehindernisse aufzuheben sind 8’.

69. Die Kirche hat erst in späteren Jahrhunderten damit begonnen, trennende Ehehindernisse einzuführen, die nicht aus eigenem Recht, sondern in der Ausübung des ihr von der staatlichen Gewalt geliehenen Rechts entstanden sind 9’.

70. Die Canones des Konzils von Trient, welche über diejenigen den Ausschluss aus der Kirche verhängen, die die Berechtigung der Kirche zu leugnen wagen, trennende Hindernisse aufzustellen, sind entweder nicht im Glaubenssatz enthalten, oder müssen im Sinne einer angeeigneten Rechtsgewalt verstanden werden 9’.

71. Die Tridentinische Form der Eheschließung verpflichtet nicht unter Strafe der Ungültigkeit, wenn das staatliche Gesetz eine andere Form vorschreibt und die Gültigkeit der Ehe von dieser Form abhängig macht 9’.

72. Bonifatius VIII. hat als erster behauptet, dass das bei der Weihe abgelegte Keuschheitsgelübde die Ehe nichtig mache 9’.

73. Durch einen rein weltlichen Vertrag kann unter Christen eine wahre Ehe zustande kommen. Es ist falsch zu behaupten, dass der Ehevertrag zwischen Christen immer ein Sakrament darstellt, oder den Vertrag als nichtig erklärt, wenn das Sakrament ausgeschlossen wird 9’ 11’ 12’ 23’.

74. Ehesachen und Trauungen gehören ihrem Wesen nach vor das weltliche Gericht 9’ 12’.

NB: Hierher kann man noch zwei weitere Irrtümer stellen: daß der Zölibat der Kleriker aufzuheben und dass der Ehestand dem jungfräulichen Stand vorzuziehen sei; dagegen  1’ 8’.


2.9. § IX. Errores de civili Romani Pontificis principatu = Irrtümer über die bürgerlichen Herrschaft des Römischen Papstes


75. De temporalis regni cum spirituali compatibilitate disputant inter se christianae et catholicae Ecclesiae filii (9').

76. Abrogatio civilis imperii, quo Apostolica Sedes potitur, ad Ecclesiae libertatem felicitatemque vel maxime conduceret (4' 6').

NB. [Effata hac de re vd. etiam in) 4' 6' 20* 22' 24' 26'.

75. Über die Vereinbarkeit der weltlichen Herrschaft mit der geistlichen sind sich die Söhne der christlichen und katholischen Kirche uneinig 9’.

76. Die Abschaffung der bürgerlichen Gewalt, die der Apostolische Stuhl innehat, trüge viel zur Freiheit und zum Glück der Kirche bei 4’ 6’

NB: Außer diesen ausdrücklich benannten Irrtümern werden noch viele weitere kraft der längst vorgelegten und entschiedenen Lehre über die bürgerliche Herrschaft des Römischen Papstes implizit zurückgewiesen, welche alle Katholiken fest bewahren müssen und die offen dargelegt wird in 4’ 6’ 20’ 22’ 24’ 26’

2.10. § X. Errores, qui ad liberalismum hodiernum referuntur = Irrtümer, die den Liberalismus unserer Tage betreffen


7. Aetate hac nostra non amplius expedit, religionem catholicam . haberi tamquam nnicam status religionem, ceteris quibuscumque cul-tibus exclusis (16').
78. Hinc laudabiliter in quibusdam catholici nominis regionibus lege cautum est, ut hominibus illuc immigrantibus liceat publicum proprii cuiusque cultus exercitium habere (12').

79. Enimvero falsum est, civilem cuiusque cultus libertatem, itemque plenam potestatem omnibus attributam quaslibet opiniones cogita-tionesque palam publiceque manifestandi conducere ad populorum mores animosque facilius corrumpendos ac indifferentismi pestem propagandam (18').

80. Romanus Pontifex potest ac debet cum progressu, cum liberalismo et cum recenti civilitate sese reconciliare et componere (24').

77. In unserer Zeit ist es nicht mehr denkbar, dass die katholische Religion als einzige Staatsreligion anerkannt und alle anderen Arten der Gottesverehrung ausgeschlossen werden 16’.

78. Es ist daher lobenswert, in gewissen katholischen Ländern, den Einwanderern gesetzlich die öffentliche Ausübung ihres Kultes zu garantieren 12’.

79. Es ist falsch, dass die staatliche Freiheit für jeden Kult und die allen gewährte Befugnis, frei und öffentlich ihre Meinungen und Gedanken kundzugeben, dazu führt, Geist und Sitte der Völker zu verderben und zur Verbreitung der Seuche des Indifferentismus führen 18’.

80. Der Römische Papst kann und muss sich mit dem Fortschritt, dem Liberalismus und der modernen Zivilisation versöhnen und vereinigen 24’.


ENDE

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