Religionskritisches von Kurt Tucholsky

Braut- und Sport-Unterricht (1930)

von

Kurt Tucholsky
 


Herausgegeben von Alois Payer (payer@payer.de)


Zitierweise / cite as:

Tucholsky, Kurt  <1890 - 1935>: Braut- und Sport-Unterricht.  -- 1922. -- Fassung vom 2005-01-01. -- URL:  http://www.payer.de/religionskritik/tucholsky01.htm   

Erstmals publiziert: 2005-01-01

Überarbeitungen:

©opyright: Abhängig vom Todesdatum des Autors

Dieser Text ist Teil der Abteilung Religionskritik  von Tüpfli's Global Village Library


Erstmals erschienen in:

Die Weltbühne. -- 1930-04-08. -- Unterschrift: Ignaz Wrobel



Abb.: Umschlagtitel: "Fromme Gesänge". -- 1919

"Kurt Tucholsky (* 9. Januar 1890 in Berlin;  21. Dezember 1935 in Göteborg) war ein deutscher Journalist und Schriftsteller. Er schrieb auch unter den Pseudonymen Kaspar Hauser, Peter Panter, Theobald Tiger und Ignaz Wrobel.

Tucholsky zählte zu den bedeutendsten Publizisten der Weimarer Republik. Als politisch engagierter Journalist und zeitweiliger Mitherausgeber der Wochenzeitung Weltbühne erwies er sich als hellsichtiger Gesellschaftskritiker in der Tradition Heinrich Heines. Zugleich war er Satiriker, Kabarettautor, Liedtexter und Dichter. Er verstand sich selbst als entschiedener Demokrat, Pazifist und Antimilitarist und warnte vor antidemokratischen Tendenzen — v.a. in Politik, Militär und Justiz — und vor der Bedrohung durch den Nationalsozialismus.

Biographie

Jugend, Schulzeit, Studium

Kurt Tucholskys Elternhaus, in dem er am 9. Januar 1890 zur Welt kam, stand in der Lübecker Straße 13 in Berlin-Moabit. Seine frühe Kindheit verbrachte er jedoch in Stettin, wohin sein Vater aus beruflichen Gründen versetzt worden war. Der jüdische Bankkaufmann Alex Tucholsky hatte 1887 seine Cousine Doris Tucholski geheiratet, die ihm nach Kurt noch zwei weitere Kinder schenkte.

Nachdem die Familie 1899 nach Berlin zurückgekehrt war, wurde Kurt Tucholsky im Französischen Gymnasium eingeschult. 1903 wechselte er auf das Königliche Wilhelms-Gymnasium, das er aber 1907 verließ, um sich mit einem Privatlehrer auf das Abitur —Abitur im Jahre 1909 begann er ein Jurastudium in Berlin.

Sein Hauptinteresse galt jedoch schon damals der Literatur. So reiste er mit einem Freund nach Prag, um den von ihm geschätzten Schriftsteller und Kafka- Freund Max Brod zu besuchen. Nach einer Begegnung mit Franz Kafka schrieb dieser über Tucholsky:

Ein ganz einheitlicher Mensch von 21 Jahren. Vom gemäßigten und starken Schwingen des Spazierstocks, das die Schulter jugendlich hebt, angefangen bis zum überlegten Vergnügen und Missachten seiner eigenen schriftstellerischen Arbeiten. Will Verteidiger werden.


Erste Erfolge als Schriftsteller

Dazu kam es aber nie. Die Neigung zur Literatur und zum Journalismus war stärker. Bereits während seiner Zeit als Schüler hatte Tucholsky seine ersten journalistischen Arbeiten verfasst. Der Ulk hatte 1907 den kurzen Text "Märchen" gedruckt, in dem sich der 17-Jährige über den Kunstgeschmack Kaiser Wilhelms II. lustig gemacht hatte. Während des Studiums intensivierte er seine journalistische Tätigkeit, unter anderem für das sozialdemokratische Parteiorgan Vorwärts. Für die SPD zog er 1911 in den Wahlkampf.

Mit Rheinsberg — ein Bilderbuch für Verliebte veröffentlichte Tucholsky 1912 eine Erzählung, in der er einen für die damalige Zeit ungewohnt frischen, verspielten Ton anschlug und die ihn erstmals einem größeren Publikum bekannt machte. Im Jahr darauf erschien sein erster Artikel in der Schaubühne, des später in Weltbühne umbenannten Blatts des Publizisten Siegfried Jacobsohn, der bis zu seinem Tod Tucholskys Mentor und Freund war.

Als Soldat im 1. Weltkrieg

Der hoffnungsvolle Beginn einer journalistischen Karriere wurde durch den 1. Weltkrieg unterbrochen. Nach seiner Promotion zum Dr. iur. an der Universität Jena wurde Tucholsky 1915 eingezogen. Er erlebte schwere Stellungskämpfe mit und diente an der Ostfront zunächst als Armierungssoldat, dann als Kompanieschreiber. Später brachte er die Feldzeitung Der Flieger heraus. In der Verwaltung der Artillerie-Fliegerschule in Alt-Autz in Kurland lernte er seine spätere Frau Mary Gerold kennen.

Die Begegnung mit dem Juristen Erich Danehl führte dazu, dass er 1918 als Vizefeldwebel und Feldpolizeikomissar nach Rumänien versetzt wurde. (Tucholskys Freund Danehl tauchte später als "Karlchen" in mehreren Texten auf, zum Beispiel in Wirtshaus im Spessart.) Im rumänischen Turn-Severin ließ Tucholsky sich im Sommer 1918 protestantisch taufen. Aus der jüdischen Gemeinde war er bereits am 1. Juli 1914 ausgetreten.

Obwohl Tucholsky sich noch im August 1918 an einem Preisausschreiben zur 9. Kriegsanleihe beteiligt hatte, kehrte er im Herbst 1918 als überzeugter Anti- Militarist und Pazifist aus dem Krieg zurück.

Kampf um die Republik

Schon im Dezember 1918 übernahm Tucholsky die Redaktion des Ulk. Auch für die Weltbühne arbeitete er nun wieder regelmäßig. Um das linksdemokratische Wochenblatt nicht allzu "Tucholsky-lastig" erscheinen zu lassen, hatte er sich bereits 1913 drei Pseudonyme zugelegt, die er bis zum Ende seines publizistischen Wirkens beibehielt: Ignaz Wrobel, Theobald Tiger und Peter Panther. Da Theobald Tiger zeitweise für den Ulk reserviert war, erschienen in der Weltbühne im Dezember 1918 erstmals Gedichte unter einem vierten Pseudonym: Kaspar Hauser.

Denn es gab kaum eine Rubrik, zu der Tucholsky nichts beizutragen hatte: von politischen Leitartikeln und Gerichtsreportagen über Glossen und Satiren bis zu Gedichten und Buchbesprechungen. Zudem dichtete er Texte, Lieder und Couplets für das Kabarett — etwa für die Bühne "Schall und Rauch" — und für Sängerinnen wie Claire Waldoff und Trude Hesterberg. Im Oktober 1919 erschien seine Gedichtsammlung Fromme Gesänge.

In die unmittelbaren Nachkriegszeit fällt ein wenig rühmliches Kapitel im Leben Tucholskys: seine kurzfristige Tätigkeit für das Propagandablatt Pieron, die er selbst später als Fehler bezeichnet hat. Im Auftrag der Reichsregierung sollte die Zeitschrift vor der Volksabstimmung über die endgültige deutsch-polnische Grenzziehung in Oberschlesien anti-polnische Stimmung machen.

Aber auch in dieser Zeit verlor Tucholsky nie sein eigentliches großes Anliegen aus den Augen: die Verteidigung der aus der Novemberrevolution hervorgegangenen, demokratischen Republik gegen ihre erklärten Feinde in Militär, Justiz und Verwaltung, in den alten monarchistisch gesinnten Eliten und in den neuen, antidemokratischen, völkischen Bewegungen. Bereits im Januar 1919 startet er in der Weltbühne, die anti-militaristische Artikelserie Militaria, ein Angriff auf den fortlebenden wilhelminischen Geist unter den damaligen Militärs, die er durch den Krieg zusätzlich verroht sah.

Ebenso leidenschaftlich prangerte er die zahllosen politischen Morde an, die die Weimarer Republik in den ersten Jahren erschütterten. Immer wieder wurden Anschläge auf linke, pazifistische oder auch nur liberale Politiker und Publizisten verübt, zum Beispiel auf Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, Walter Rathenau, Matthias Erzberger und Philipp Scheidemann oder Maximilian Harden. Früher als andere erkannte Tucholsky, dass die junge Demokratie ebenso so sehr durch ihre Feinde wie durch ihre eigene Schwäche bedroht war. Daher sparte er auch nicht mit Kritik an den demokratischen Politikern selbst, die seiner Meinung nach zu nachsichtig mit ihren Gegnern umgingen. Nach dem Mord an Außenminister Rathenau 1922 richtete Tucholsky in einem Gedicht einen Appell an die Selbstachtung der Republik:

Steh einmal auf! Schlag mit der Faust darein! Schlaf nicht nach vierzehn Tagen wieder ein!
Heraus mit deinem Monarchistenrichter,
mit Offizieren — und mit dem Gelichter,
das von dir lebt und das dich sabotiert
an deine Häuser Hakenkreuze schmiert.
(...)
Vier Jahre Mord — das sind, weiß Gott, genug
Du stehst jetzt vor dem letzten Atemzug.
Zeig, was du bist. Halt mit dir selbst Gericht.

Stirb oder kämpfe. Drittes gibt es nicht.

Elf Jahre bevor die ersten deutsche Demokratie tatsächlich ihren letzten Atemzug tat, hatte Tucholsky ihre Totengräber bereits deutlich beim Namen genannt. Er beließ es daher auch nicht bei seiner publizistischen Tätigkeit, sondern betätigte sich auch direkt politisch. So wirkte er unter anderem an der Gründung des "Friedensbundes der Kriegsteilnehmer" mit und engagierte sich in der USPD, der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei, der er 1920 beigetreten war.

Die Mitgliedschaft in einer Partei hielt Tucholsky aber nie von der Kritik an ihren Mitgliedern ab. Mit ätzendem Spott beschrieb er zum Beispiel die Leistung von Rudolf Hilferding als Chefredakteur der USPD-Zeitung Freiheit:

Herr Dr. Rudolf Hilferding wurde vom Reichsverband zur Bekämpfung der Sozialdemokratie in die Redaktion der "Freiheit" entsandt. Es gelang ihm, das gefährliche Blatt in zwei Jahren derart herunterzuwirtschaften, dass sowohl von einem Blatt wie von einer Gefahr nicht mehr gesprochen werden kann.

Im Mai 1920 heiratete Tucholsky die Ärztin Else Weil, das Vorbild für "Claire Pimbusch" aus Rheinsberg, nachdem seine Beziehung zu Mary Gerold vorerst gescheitert war.

In der Hochphase der Inflation sah Tucholsky sich gezwungen, seine publizistische Arbeit zugunsten einer Tätigkeit in der Wirtschaft zurückzustellen. 1923 trat er in das Berliner Bankhaus Bett, Simon & Co. ein, schloss aber schon am 15. Februar 1924 wieder einen Mitarbeitervertrag mit Siegfried Jacobsohn. Tags zuvor hatte er sich von seiner ersten Frau scheiden lassen. Als Korrespondent der Weltbühne und der angesehenen Vossischen Zeitung ging er im Frühjahr nach Paris. Am 30. August heiratete er Mary Gerold.

Abschied von Deutschland

Seit 1924 lebte Tucholsky überwiegend im Ausland und kehrte nur sporadisch nach Deutschland zurück. Die Distanz schärfte aber eher noch sein Wahrnehmungsvermögen für die deutschen Dinge. Er beteiligte sich über die Weltbühne weiter an den politische Debatten in der Heimat. Darüber hinaus versuchte er, wie Heinrich Heine im 19. Jahrhundert, das gegenseitige Verständnis von Deutschen und Franzosen zu fördern.

Als Siegfried Jacobsohn im Dezember 1926 starb, erklärte sich Kurt Tucholsky sofort bereit, die Leitung der Weltbühne zu übernehmen. Da ihm die Arbeit als "Oberschriftleitungsherausgeber" aber nicht dauerhaft behagte, übergab er das Blatt schon bald seinem Kollegen und Freund Carl von Ossietzky. Als Mitherausgeber sorgte er immer auch für den Abdruck unorthodoxer Beiträge, wie etwa die des "Neusozialisten" Kurt Hiller.

In den Jahren 1927 und 1928 erschienen seine essayistische Reisebeschreibung Ein Pyrenäenbuch, die Textsammlung Mit 5 PS (womit sein Name und die 4 Pseudonyme gemeint sind) und Das Lächeln der Mona Lisa. Mit den literarischen Figuren des "Herrn Wendriner" und des "Lottchen" beschrieb er typische Charaktere seiner Zeit.

Auch während seiner Zeit im Ausland, musste sich Tucholsky in Prozessen mit politischen Gegnern auseinandersetzen, die sich von seinen Äußerungen beleidigt oder attackiert fühlten. Wegen des Gedichts Gesang der englischen Chorknaben wurde 1928 gar ein Prozess wegen Gotteslästerung gegen ihn eingeleitet.

Im gleichen Jahr trennten sich Kurt und Mary Tucholsky endgültig. Tucholsky hatte bereits 1927 Lisa Matthias kennen gelernt, mit der er 1929 einen Urlaub in Schweden verbrachte. Dieser Aufenthalt inspirierte ihn zu der 1931 bei Rowohlt erschienenen Kurzroman Schloss Gripsholm, in dem noch einmal die jugendliche Unbeschwertheit und Leichtigkeit von Rheinsberg anklang.

Der Kontrast könnte kaum größer sein zu dem 1929 gemeinsam mit John Heartfield veröffentlichten, gesellschaftskritischen Werk Deutschland, Deutschland über alles. Darin bringt Tucholsky das Kunststück fertig, die schärfsten Attacken auf alles, was er am Deutschland seiner Zeit hasst, mit einer Liebeserklärung an das Land zu verbinden:

Und nun will ich euch mal etwas sagen: Es ist ja nicht wahr, dass jene, die sich 'national' nennen und nichts sind als bürgerlich-militaristisch, dieses Land und seine Sprache für sich gepachtet haben.. ... Wir sind auch noch da.

Und weiter:

Wir pfeifen auf die Fahnen — aber wir lieben dieses Land (...) wir, die wir besser deutsch schreiben und sprechen als die Mehrzahl der nationalen Esel...

Verstummen

Es traf Tucholsky tief, als ihm zu Beginn der 30er Jahre klar wurde, dass alle seine Warnungen ungehört verhallten und sein Eintreten für die Republik, für Demokratie und Menschenrechte offenbar ohne jede Wirkung blieb. Als einer der klarsichtigsten Beobachter der deutschen Politik erkannte er die mit Hitler heraufziehenden Gefahren. "Sie rüsten für die Reise ins Dritte Reich", schrieb er schon Jahre vor der Machtergreifung, und er machte sich keine Illusionen, wohin eine Kanzlerschaft Hitlers das Land führen würde. Das bezeugte Erich Kästner rückblickend im Jahre 1946, als er den Schriftsteller in Begegnung mit Tucho als "kleinen dicken Berliner" bezeichnete, der "mit der Schreibmaschine eine Katastrophe aufhalten" wollte.

1930 verlegte Tucholsky schließlich seinen Wohnsitz dauerhaft ins schwedische Hindås bei Göteborg. Im Jahr darauf wurde er zusammen mit Carl von Ossietzky des Landesverrats angeklagt, da die Weltbühne in dem Artikel Windiges aus der Luftfahrt die verbotene fliegerische Aufrüstung der Reichswehr offengelegt hatte. Tucholsky weigerte sich jedoch, zu dem Prozess nach Deutschland zu kommen. So entging er, anders als Ossietzky, einer Haftstrafe und der Gefahr, nach der Machtergreifung den Nazis in die Hände zu fallen. Seinen berühmt gewordenen Satz "Soldaten sind Mörder" wertete ein Gericht im Juli 1932 jedoch nicht als Verunglimpfung der Reichswehr.

Seit 1931 verstummte Tucholsky publizistisch zusehends. Das Ende seiner Beziehung zu Lisa Matthias, der Tod eines engen Freundes und ein chronisches Nasenleiden verstärkten seine resignative Stimmung. Tucholskys letzter zu Lebzeiten veröffentlichter Text erschien am 8. November 1932 in der Weltbühne. Es waren nur noch Schnipsel, wie er seine Aphorismen nannte. Zu größeren literarischen Formen fehlte ihm zusehends die Kraft. Zwar legte er dem Rowohlt-Verlag ein Exposé für einen Roman vor. Die politische Entwicklung in Deutschland verhinderten jedoch dessen Realisierung. 1933 verboten die Nazis die Weltbühne, verbrannten Tucholskys Bücher und bürgerten ihn aus.

In den erhalten gebliebenen Briefen an Freunde wie Walter Hasenclever oder seine letzte Geliebte, die Zürcher Ärztin Hedwig Müller, bezeichnete sich Tucholsky als "aufgehörten Deutschen" und "aufgehörten Dichter". An Carl von Ossietzky schrieb er am 11. April 1933:

Dass unsere Welt in Deutschland zu existieren aufgehört hat, brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen. Und daher werde ich erst einmal das Maul halten. Gegen einen Ozean pfeift man nicht an.

Folglich lehnte Tucholsky es strikt ab, sich an der entstehenden Exil-Presse zu beteiligen. Zum einen verstand er sich nicht als Emigrant, da er Deutschland schon 1924 verlassen hatte und erwog, sich um die schwedische Staatsbürgerschaft zu bewerben. Seine tieferen Gründe, warum er sich nicht mehr mit Deutschland beschäftigte, schilderte er in dem bewegenden letzten Brief an Mary Gerold:

Ich habe über das, was da geschehen ist, nicht eine Zeile veröffentlicht — auf alle Bitten hin nicht. Es geht mich nichts mehr an. Es ist nicht Feigheit — was dazu schon gehört, in diesen Käseblättern zu schreiben. Aber ich bin au dessus de la mêlée, es geht mich nichts mehr an. Ich bin damit fertig...

Tatsächlich war er aber nicht fertig und nahm sehr wohl Anteil an den Entwicklungen in Deutschland und Europa. Und um einem bedrohten Freund beizustehen, dachte er auch daran wieder in die Öffentlichkeit zu treten. Kurz vor seinem Tod plante er, in einem scharfen Artikel mit dem einst von ihm verehrten norwegischen Dichter Knut Hamsun abzurechnen. Hamsun hatte sich offen für das Hitler-Regime ausgesprochen und Carl von Ossietzky angegriffen, der ohne sich wehren zu können im Konzentrationslager Papenburg-Esterwegen einsaß. Hinter den Kulissen unterstützte Tucholsky auch die Verleihung des Friedensnobelpreises für 1935 an den inhaftierten Freund. Ossietzky erhielt die Auszeichnung tatsächlich im folgenden Jahr rückwirkend für 1935. Den Erfolg seiner Bemühungen hat Kurt Tucholsky jedoch nicht mehr erlebt.

Von der lang anhaltenden Krankheit geschwächt, nahm er am Abend des 20. Dezember 1935 in seinem Haus in Hindås eine Überdosis Schlaftabletten ein. Tags darauf wurde er, schon im Koma liegend, gefunden und ins Sahlgrensche Krankenhaus nach Göteborg gebracht. Dort verstarb Kurt Tucholsky am Abend des 21. Dezember. Die These vom Suizid wird in jüngster Zeit von Tucholskys Biographen Michael Hepp  angezweifelt. Er hält eine Selbsttötung aus Versehen für möglich.

Die Asche Kurt Tucholskys wurde im Sommer 1936 unter einer Eiche nahe Schloss Gripsholm im schwedischen Mariefred beigesetzt."

[Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Kurt_Tucholsky. -- Zugriff am 2004-12-28]


Braut- und Sport-Unterricht

Ein katholischer Pfaffe wandelt
einher, als wenn ihm der Himmel
gehöre; ein protestantischer Pfaffe
hingegen geht herum, als wenn er
den Himmel gepachtet habe.
Heine1

Wenn im folgenden von der 'Kirche' die Rede ist, so wird damit von den politischen Gruppen gesprochen, die, unter Benutzung von Gottesdiensten, mit Berufung auf ältere theologische Schriften und durch geistliche Agenten Politik machen. Das ist ihr Recht. Keinesfalls aber ist es ihr Recht, sich allemal dann, wenn diese Politik angegriffen wird, hinter der vorgeblichen Heiligkeit ihrer Bestrebungen zu verkriechen und so für sich und ihre Leute ein Ausnahmerecht zu statuieren. Solange der kirchliche Gnostiker2 seinen Menschenbruder auf den Tod vorbereiten will, wird sich jeder geschichtlich geschulte Denker vor der ungeheuren Masse von Erfahrung, philosophischem Wissen und metaphysischer Bestrebung beugen, die in den Schriften der Kirche, besonders in denen der katholischen Kirche, angehäuft sind. Im Augenblick aber, wo die Kirchen in den politischen Tageskampf eintreten, müssen sie sich gefallen lassen, genau wie jede andre politische Gruppe beurteilt und kritisiert zu werden. Einen Anspruch auf eine Sonderstellung haben sie nicht. Kein Staatsanwalt kann daran etwas ändern.

Was an der Haltung beider Landeskirchen auffällt, ist ihre heraushängende Zunge. Atemlos jappend laufen sie hinter der Zeit her, auf dass ihnen niemand entwische. »Wir auch, wir auch!«, nicht mehr, wie vor Jahrhunderten: »Wir.« Sozialismus? Wir auch. Jugendbewegung? Wir auch. Sport? Wir auch. Diese Kirchen schaffen nichts, sie wandeln das von andern Geschaffene, das bei andern Entwickelte in Elemente um, die ihnen nutzbar sein können.

Wohin geht die Jugend am Sonntag? In die Kirche? Nein: auf die Sportplätze. Die Geistlichen warteten in ihren leeren Kirchen; es kam niemand. Da erhoben sie die Soutanen und Talare und wandelten ernsten Schrittes hinaus auf die Sportplätze, und sie lehrten dorten das Wort Gottes inmitten der Sprungseile und der Wurfkugeln. Mohammed war zum Berge gekommen. Das wäre den Herren früher als eine Ketzerei erschienen; die Kirche hat nachgegeben; sie hat sich nicht gewandelt, sie ist gewandelt worden.

Die Protestanten: »'Sportpredigten und Sportansprachen'3, herausgegeben von Gerhard Kunze, Studentenpfarrer in Leipzig« (erschienen bei C. Ludwig Ungelenk in Dresden). Das ist eine recht armselige Sache.

Lobend mag angemerkt werden, was diese Schrift nicht ist: sie ist keine nach kaltem Tabak riechende Muckerei. Dieser Prediger sieht seine Zeit so, wie sie ist er sieht sie nur erschreckend flach, und aus jenem herbstlichen Kartoffelfeuer, das einmal in Luther gebrannt hat, ist eine sanft regulierte Zentralheizung geworden. »Wenn die protestantische Religion«, steht bei Heine, »keine Orgel hätte, wäre sie überhaupt kein Religion.«4 Ob es sich nun um Gleichzeitigkeit oder Beeinflussung handelt: die kleine Schrift erinnert fatal an das Unsäglichste, was an Religion zur Zeit auf diesem Erdball hergestellt wird: an die Clownerien amerikanischer Pfaffen, die ja wohl das Äußerste und Letzte an Entwürdigung der Religion leisten.

Der Pfarrer Kunze hat zunächst andre Sorgen.

»Der Inhalt der Verkündigung an Sport und Sportler kann kein andrer sein als das Evangelium selbst. Die Gefahr heidnischer Idealisierung in 'christlicher' Verbrämung liegt besonders nahe.«

Ach nein — sie liegt leider gar nicht nahe. Wären die Herren noch heidnisch! Aber tausend einexerzierte Bankbeamte und Warenhausverkäufer, die im freien Sonnenlicht Stabübungen machen, sind noch lange nicht heidnisch — das ist ein Irrtum. Nun, im Vorwort gehts sehr philosophisch zu, aber schon hier springt die irre Furcht der Kirche in die Augen: Nur nicht zurückbleiben! nur mit der Zeit gehen! wir auch! wir auch! Und so tritt sie denn zur Predigt an.

»Kommandorufe, Predigt beim Eichenkreuz-Bezirksturnfest in Mettmann.«

Diese Predigt beginnt folgendermaßen:

»Kehrt marsch! Stillgestanden! Richt euch! Rührt euch! Kommandorufe tönen über den weiten Turnplatz, und alsbald wenden sich die marschierenden Abteilungen . . . Ihr Turner seid mit Lust dabei. Auch in dieser Stunde hören wir Kommando. Der Ruf Gottes wendet sich . . . «

In einem medizinischen Prüfungskollegium saß einmal ein Zoologe, der war dafür berüchtigt, nur über sein Spezialfach, die Würmer, zu prüfen. Eines Tages aber stieß ihn der Bock, und er fragte einen nichtsahnenden Kandidaten etwas von den Elefanten. »Der Elefant«, sagte der Kandidat nach kurzem Nachdenken, »frisst so gut wie gar keine Würmer. Die Würmer . . . « So auch dieser Pfarrer.

Und was er dann nach den kleinen Kunstgriffen der Einleitungen seinen jungen Leuten zu sagen hat, das ist leer, platt und, da die Orgel fehlt, überhaupt keine Religion. Es sind, wenn man genauer hinsieht, Leitartikel vernünftiger Demozeitungen, brave Allgemeinplätze, Ermahnungen zur Fairness, zum anständigen Leben, hygienische Mahnungen, mit seinem Körper kein Schindluder zu treiben — alles sehr beherzigenswerte und mäßig formulierte Ansprachen. Aber was das mit einem Glauben, mit der Kirche, mit der Religion zu tun hat —: das geht aus dem Bändchen nicht hervor. Diese Kirche wird sich sehr dranhalten müssen, wenn sie der Konkurrenz des großen Bruders und der zahlreichen kleinen Sektenbrüder nicht erliegen will.

Der große Bruder — der Katholizismus — fängt das nun schon ein wenig anders an. »'Brautunterricht, Eine praktische Einleitung für den Seelsorgsklerus'. Von Doktor Karl Rieder, Pfarrer in Reichenau«5 (erschienen bei Herder & Co. in Freiburg im Breisgau). Kratze das Heiligenbildchen, und du findest den Stimmzettel.

Über die Auffassung der Ehe, wie sie in diesem von der kirchlichen Behörde gut geheißenen Heftchen dargetan wird, kann man diskutieren. Ich kann nicht in den Chorus jener miteinstimmen, die in jedem kirchlich denkenden Menschen einen schwachsinnigen Reaktionär sehen; so einfach wollen wir uns den Kampf nicht machen. Es ist sehr wohl möglich, dass ein katholisch erzogener Mann mit seiner Lebensgefährtin in der Ehe jenes Sakrament sieht, von dem die Kirche spricht; wenn ihr Glaube, der nicht vom Himmel gefallen, sondern der geschichtlich gewordene Ausdruck einer Klasse ist, sich als stärker erweist als unsre ökonomischen Verhältnisse, so mögen das diese Menschen mit sich abmachen. Vielleicht sind sie sehr glücklich, auch dann noch, wenn ihre Ehe es nicht ist.

In diesem Heft wird nicht gemuckert; der Geschlechtsverkehr in der Ehe wird vernünftig abgehandelt, bis auf einen — den entscheidenden Punkt. Und hier allerdings ist kein Wort zu scharf, um eine Propaganda abzuwehren, die unendliches Unheil über die Leute bringt.

Wenn ein Pfarrer, der das Leben zu kennen hat, in so einer Unterrichtsstunde für angehende Frauen allen Ernstes den Satz proklamiert:

 »Besser zehn Kinder auf dem Kissen als nur eines auf dem Gewissen«

 — so darf man ihn denn doch fragen, ob er nicht weiß, dass es Zehntausende von deutschen Familien gibt, die dieses Kissen überhaupt nicht besitzen. Es ist wie ein Hohn, den Sklaven der Fabriken und der Hütten, der Warenhäuser und der Mänteljunker zu predigen:

»Es müssen darum die Eheleute entweder die Ehe recht gebrauchen, so dass Gott die Empfängnis eines Kindes daran knüpfen kann, oder aber die Eheleute müssen wie Bruder und Schwester vollständig enthaltsam leben ohne Befriedigung der sinnlichen Lust.«

Was also darauf hinauslaufen dürfte, dass der Generaldirektor eines chemischen Betriebes der sinnlichen Lust frönen darf, weil er die Kissen für die Kinder besitzt, die er nicht auf dem Gewissen haben soll — dass hingegen seine Arbeiter ihre Frauen nur heiraten dürfen, um nach dem zweiten Kind brüderlich neben ihr zu liegen. Armut ist ein großer Glanz von innen . . .

Hier fehlt die wirtschaftliche Betrachtungsweise ganz; die kapitalistische Weltordnung wird als 'göttlich' gegeben, dagegen auflehnen darf man sich, wie wir gleich hören werden nicht, und daher haben Mann und Frau auf eine Betätigung zu verzichten, die doch von einer Macht gegeben ist, die die Katholiken so gern im Mund führen: vom Naturrecht. Das gilt hier nicht.

Der Brautunterricht, der hier erteilt wird, ist politisch. Dass die Ziviltrauung nur zähneknirschend angeführt wird, versteht sich von selbst. Ja, es gibt sie . . . ja, gewiss . . .

»Vor Gott und euerm Gewissen seid ihr aber durch die standesamtliche Trauung noch nicht Eheleute. Denn das heilige Sakrament der Ehe ist nur der Kirche zur Verwaltung übertragen worden, nicht dem Staate. Die Kirche allein bestimmt darüber, wie die Ehe rechtmäßig und gültig eingegangen werden kann.«

Was in dieser Form falsch ist. Ganz klar und eindeutig aber wird an einer Stelle die Rolle des als Geistlichen verkleideten politischen Agenten:

»Katholischen Geist atme die Zeitung, die in euerm Hause gelesen wird, da es gegen den katholischen Glauben verstößt, neutrale oder gar kirchenfeindliche Zeitungen zu unterstützen. Das gleiche gilt auch von den Büchern, die im Hause gelesen werden. Katholisch sei der Umgang in der Zugehörigkeit zu den katholischen Vereinen, da es jedem Katholiken verboten ist, Organisationen oder Vereinen anzugehören, welche« — hör gut zu! — »den Klassenkampf oder das Machtprinzip oder einen heidnischen Nationalismus auf ihre Fahne geschrieben haben oder das wirtschaftliche Leben loslösen wollen von den Grundsätzen des Christentums mit dem Schlagwort: Religion ist Privatsache.«

Da haben wir sie ganz.

Abgesehen von der Komik, die darin liegt, dass eine auf der schärfsten Autorität und Unterordnung ruhende Organisation das 'Machtprinzip' als solches ausschließt und nur das Prinzip jener Macht verbieten will, die nicht von ihr selber ausgeht —: hier haben wir sie ganz. Es ist Politik, die so gemacht wird, klare, eindeutige Tagespolitik. Und nicht nur gegen diese Politik wenden wir uns.


Abb.: Wahlplakat der (klerikalen) Zentrumspartei. -- 1930

Wir wehren uns dagegen, dass eine politische Gruppe, ohne die in Deutschland zur Zeit nicht regiert werden kann, sich allemal dann kreischend hinter den Staatsanwalt flüchtet, wenn ihr der politische Kampf unbequem wird. Man kann spielen, aber man soll beim Spiel nicht mogeln. Entweder ihr macht Politik, wie die Kommunisten, wie die Nazis, wie die Deutsche Volkspartei, und das tut ihr —: dann müsst ihr euch gefallen lassen, genau so umstritten zu werden wie jene. Ihr wollt nicht das Kreuz umschrien haben? Dann müsst ihr es nicht im politischen Kampf schwingen. Wer will euch ans Kreuz? Die politischen Gegner wollen euch an den Stimmzettel, den ihr mit dem Kreuz deckt. Und ihr habt nicht das Recht, eure moralischen Forderungen, die weder im Naturrecht basieren noch von Gott gegeben sondern Menschenwerk sind, andern aufzudrängen, die sie aus ebenso reinlicher Überzeugung ablehnen, wie ihr sie statuiert.

Nicht die Gebundenheit ist das primäre — die Freiheit ist es.

Ihr lebt vom metaphysischen Bedürfnis der Massen. Ihr seid uns kein Bedürfnis.

Ignaz Wrobel


Erläuterungen:

1 Heine, Heinrich <1797 - 1856>: Reisebilder. Vierter Teil. -- 1830. -- Die Stadt Lucca. -- Kapitel IV.

2 hier: Erkennende

3 Sportpredigten und Sportansprachen / hrsg. von Gerhard Kunze. -- Dresden : C. L. Ungelenk, 1929. -- 63 S. ; 8°. -- (Sammlung von Pastoralreden in Beitrag namhafter Geistlicher ; Bd. 5, H. 3)

4 Heine, Heinrich <1797 - 1856>: Reisebilder. Dritter Teil. -- 1830. -- Die Bäder von Lucca.

5 Rieder, Karl: Der Brautunterricht : Eine praktische Anleitung für den Seelsorgsklerus. -- Freiburg : Herder, 1925. -- VII, 40 S. ; 8°. -- (Hirt und Herde ; 13)


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