Religionskritik

Kriegserklärung der schwarz-weißen gegen die schwarz-rot-goldnen Annoncen (1848)

von Georg Weerth
 


herausgegeben von Alois Payer (payer@payer.de)


Zitierweise / cite as:

Weerth, Georg <1822-1856>: Kriegserklärung der schwarz-weißen gegen die schwarz-rot-goldnen Annoncen. -- 1848. -- Fassung vom 2004-10-31. -- URL:  http://www.payer.de/religionskritik/weerth01.htm    

Erstmals publiziert: 2004-10-31

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Dieser Text ist Teil der Abteilung Religionskritik  von Tüpfli's Global Village Library



Abb.: Titelleiste

Ursprünglich erschienen in: Neue Rheinische Zeitung (Köln), Nr. 65, 66 vom 4.8. bzw. 5.8.1848.


"Georg Ludwig Weerth (* 17. Februar 1822 in Detmold, † 31. Juli 1856 in Havanna, Kuba) war ein deutscher Kaufmann und Schriftsteller.

Weerth wird als Sohn Generalsuperintendenten Ferdinand Weerth geboren. 1836 erleidet der Vater mehrere Schlaganfälle und kann deshalb seinen Beruf nicht mehr ausüben. Weerth verlässt daher das Gymnasium in Detmold und beginnt am 16. September 1838 in Elberfeld bei der Fa. J. H. Brink & Co. eine kaufmännische Lehre.

Schon während seiner Lehre lernt Weerth den Dichter Hermann Püttmann kennen, der ihn mit der Literatur vertraut macht. 1838 befreundet sich Weerth mit Ferdinand Freiligrath, dessen Literaten-Kränzchen er im selben Jahr noch beitritt. Dieser Kreis besteht aus 15 Personen, welche sich regelmäßig treffen um über Literatur zu diskutieren und sich gegenseitig z. T. eigene, z.T. fremde Gedichte vortragen.

1840 zieht Weerth nach Köln, doch schon zwei Jahre später, 1842 geht er nach Bonn, um bei einem nahen Verwandten, Friedrich aus'm Weerth zu arbeiten. Hier in Bonn lernt Weerth auch den Maikäferbund kennen und tritt ihm bei. Aber schon 1843 zieht Weerth nach Bradford, GB um dort für zweieinhalb Jahre in einer Textilfabrik zu arbeiten. In seiner Zeit in England lernt Weerth auch Friedrich Engels kennen. Auf einer Reise nach Belgien, macht Weerth im Sommer 1845 auch die Bekanntschaft mit Karl Marx.

Im März 1846 wird Weerth eine Stelle in der Kammspinnerei Emanuel & Son (Brüssel) angeboten, welche er sofort annimmt. Als Weerth im Februar/März 1848 vom Ausbruch der Revolution in Frankreich hört, reist er sofort nach Paris um sie mitzuerleben und sich dabei zu beteiligen. Im April 1848 geht er mit F. Engels und K. Marx nach Köln um bei der Gründung der Neuen Rheinischen Zeitung mitzuhelfen. Weerth wird der erste sozialistische Feuilletonist in Deutschland. In dieser Zeit publiziert er auch seine Satire auf den Adel Leben und Taten des berühmten Ritters Schnapphanski; als Vorlage diente Weerth der Fürst Felix Lichnowski. Als dieser am 19. September 1848 ermordet wird, bewirkt dies ein Verfahren wegen Verunglimpfung des Verstorbenen. Im Januar 1850 wird er für schuldig befunden und zu drei Monaten Haft und zum Verlust seiner Bürgerrechte auf fünf Jahre verurteilt. Am 25. Februar 1850 tritt Weerth in Köln seine Haftstrafe an.

Nach Verbüßung der Strafe und enttäuscht vom Scheitern der Revolution veröffentlicht Weerth nichts Literarisches mehr. Er unternimmt lange Handelreisen durch halb Europa (u. a. Spanien, Portugal Großbritannien, Frankreich). Nach der Insolvenz seiner Firma übernimmt Weerth am 7. Dezember 1852 die Agentur der Fa. Steinthal & Co. für Westindien. Er zieht nach St. Thomas und bleibt dort bis Juni 1855. In dieser Zeit bereist er für seine Firma die USA, Mexiko, Kuba und Brasilien.

Am 15. Juni 1855 kehrt er nach Southampton zurück; u. a. um seiner Cousine zweiten Grades Betty Tendering einen Heiratsantrag zu machen. Da diese ihn ablehnt, kehrt Weerth am 2. Dezember 1855 nach St. Thomas zurück. Im März 1856 entschließt er sich, nach Havanna, Kuba zu übersiedeln und sich dort zur Ruhe zu setzen. Am 23. Juli 1856, anlässlich eines Ausflugs nach Santiago, Kuba erkrankt Weerth an einem Fieber. Obwohl ihm sofort ärztliche Hilfe zuteil wird, diagnostiziert der behandelnde Arzt erst am 26. Juli eine Gehirnhautentzündung. Da schon weit fortgeschritten und zurück zuführen auf Malaria, war keine Heilung mehr möglich.

Am 31. Juli 1856 stirbt Georg Weerth, ohne das Bewusstsein wieder zu erlangen, in Havanna, Kuba. Dort wird er auch auf dem Cemeterio Central beigesetzt."

[Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Weerth. -- Zugriff m 2004-10-31]


Wir simpeln, anspruchslosen Leute in der Provinz, die wir unsern billigen Piesporter trinken, wir schauen mit einer gewissen Ehrfurcht nach der Residenz hinüber, wo man Weißbier genießt und die Geschicke der Welt entscheidet.

Wie mag es doch in der Residenz aussehn? fragte ich mich oft. Die Frauen haben gewiss kleinere Füße wie hier. Die Friseure tragen gewiss größere Locken wie die unsrigen. Welch geistreiche Barbiere wird es nicht in Berlin geben! Ähnliche Betrachtungen überstürzten mich stets in Menge.

Eine gewisse Scheu, eine gewisse Ängstlichkeit hat mich bisher abgehalten, Berlin einmal beim Lichte zu besehen, von Angesicht zu Angesicht, so recht in der Nähe, Nase gegen Nase. Ich würde mich gar zu komisch in meinem Provinzialrock ausnehmen, in meiner Sonntagshose, in der grünen Krawatte, mit dem ehrlichen, gutmütigen Gesichte, das uns Provinzialisten eigentümlich ist.

Berlin muss eine wunderschöne Stadt sein! Und nun vollends erst nach der Revolution, nach der Umwälzung des Straßenpflasters, wo jeder rauchen darf! Große Errungenschaft!

Ach Gott! Bis auf den heutigen Tag blieb ich in Köln.

Ich habe Berlin noch immer nicht gesehn: Das Bild muss mich daher für die Wirklichkeit entschädigen - um doch wenigstens zu erfahren, wie es in Berlin hergeht, lese ich die »Vossische Zeitung«1, d.h. die Annoncen.

Die Annoncen waren bisher immer das einzige, was ich von einer Zeitung verdauen konnte. Die Politik verachte ich; nichts ist langweiliger als so ein leitender Artikel über irgendein konstitutionelles Kamel, über einen republikanischen Elefanten oder über anderweitige Tiger, Esel und Maulwürfe.

Die Politik ist herzlos; die Annoncen voller Gemüt. Lauter Bekenntnisse schöner Seelen. Hier ein Glückwunsch, dort ein Steckbrief, dann eine Fallite, ferner ein Stellgesuch usw. Man tut da tiefe Blicke in das menschliche Leben, und man begreift, wie Gott alles weise geordnet hat und wie die Welt voll ist seiner Güte.
Annoncen sind poetisch!

Wenn ich lese, dass frische Heringe angekommen sind, denke ich da nicht auch an den Heringsfang, an die Gefahren der See, an den Donner der Brandung, an den Flug der Möwe, an den Fliegenden Holländer - den einzigen interessanten Holländer, den es je gegeben hat?

Sehe ich, dass man eine neue Sendung Zitronen ankündigt, fallen mir da nicht sofort die Orangenwälder Italiens ein, der tiefblaue Himmel jenes seligen Landes, Venedig und Neapel, Raffael und Tasso, der Heilige Vater und mein verstorbener Onkel Jakob, dem man einst in der Romagna 14 preußische Friedrichsdor straßenräuberte?

Annoncen sind meine Leidenschaft. Ich schwärme für Annoncen. Die Annoncenliteratur ist die einzige, welche der Nachwelt aufbewahrt zu werden verdient.
Die Annoncen der »Vossischen Zeitung« liebe ich aber über alles. Ganze Mitternächte, wenn andere Leute sich längst in den Wein, in die Liebe oder in die Betten versenkt haben, da brüte ich noch über den Annoncen der »Vossischen Zeitung« wie ein Türke über dem Koran, wie ein verständiger Ochs über einer leeren Krippe, wie ein Kuckuck über fremden Eiern.

Haben Sie je schon einmal die »Vossische Zeitung« gesehen?

Sie ist auf dem elegantesten Löschpapier gedruckt, welches die ältere und die neuere Zeit aufzuweisen hat. Solange die Welt stand und solange der »Hamburgische unpartheyische Correspondent«2 auf Tabakstütenpapier erschien, solange erscheint auch die »Berlinische« oder die »Vossische Zeitung« geradeso, wie sie augenblicklich vor mir liegt.


Abb.: Titelleiste des Hamburgischen Correspondenten

»Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen. Im Verlage Vossischer Erben«, so heißt es am Kopfe des Blattes. Gleich darunter folgt dann unser preußisches Wappen, der Adler mit der Krone, gehalten von zwei wilden Männern, ähnlich denen, die man auch auf Wirtshausschildern sieht, namentlich in Krefeld bei Hornemann, dem ewigen Jüngling, der das bekannte, außerordentlich gute Diner gibt, zu 20 Silbergroschen preußisch, ohne Wein, um 1/2 2 Uhr mittags.


Abb.: Titelleiste der Vossischen Zeitung

Die »Vossische Zeitung«, dieser klare Born der Intelligenz in der uckermärkischen3 Sahara: er war mein Trost in der Dürre des Lebens. Ich liebe ihn wie einen alten Schlafrock, wie einen warmen Pantoffel, wie einen treuen Hosenknopf.

Die »Vossische Zeitung« fand ich probat zu allen Zeiten, wenn ich lachen wollte, weinen, schlafen, mich ärgern, mich zerstreuen, mich schämen für das Vaterland oder mich nicht schämen an dem Orte, wo keine Scham ist.

Durch die »Vossische Zeitung« lernte ich auch Berlin kennen. Ich kenne Berlin, trotzdem dass ich nie da war. Ich kenne es wie ein Polizeidiener, wenn er nüchtern, wie ein Eckensteher, wenn er betrunken ist. Sollte je einmal Berlin durch Feuer, Wasser, Schwefel, Sand, Bier untergehen oder als deutsches Andenken von unserm Freunde Nikolaus wie ein Zahnstocher in die Westentasche gesteckt werden, so mögen nur die wohllöblichen Versicherungsanstalten zu mir kommen, und ich will ihnen aufgeben, wie das Verlorene zu ersetzen ist an Menschen, Häusern, Lieutenants, Wagen, Pferden, Pudeln usw.

Aus der »Vossischen Zeitung« lernte ich auch das einzige, was ich von Politik und von dergleichen unwichtigem Zeuge weiß. Mit Schrecken sehe ich nämlich, dass seit der Revolution, von der ich zufällig etwas erzählen hörte, zwei sehr bestimmte Parteien in Deutschland entstanden sind, die sich, wie Anhänger der weißen und der roten englischen Teerose4, dereinst gewaltig in die Haare zu fallen drohen.

Die eine dieser Parteien soll sich, nach der »Vossischen«, namentlich in Süddeutschland aus schwarz- rot-goldnen5 Kappen, Pfeifenköpfen und Uhrbändern entwickelt haben, die einige alte Burschenschaftler in ihrem Herzen und in ihren Rumpelkammern zufällig aufbewahrten.

Die andere Partei, die gewöhnlich den Dativ mit dem Akkusativ verwechselt, hat sich dagegen unsere alten guten Farben: Schwarz und Weiß6, in den Stürmen der Zeit bewahrt und lässt diese durch die Lüfte flattern. Lange habe ich nicht begreifen können, was diese Couleuren miteinander zu hadern haben. Erst seit ich den Personen auf die Schliche gekommen bin, welche die beiden Parteien repräsentieren, ist mir alles deutlich geworden.


Abb.: schwarz-rot-goldne Kokarde. -- 1832 [Bildquelle. http://www.uni-konstanz.de/FuF/Philo/Geschichte/Tutorium/Themenkomplexe/Quellen/Quellenarten/Symbol_als_Quelle/
Gegenstandliche_Symbole/hauptteil_gegenstandliche_symbole.html . -- Zugriff am 2004-10-31]

Zu den Schwarz-Rot-Goldnen gehören alle möglichen und unmöglichen Menschen, von dem ersten Professor bis zum letzten Pedell, von Gervinus7 in Heidelberg bis zu Franz Fleutchen in Bonn. Die Schwarz-Weißen werden dagegen repräsentiert durch den Dr. W. Bötticher, durch den Wehrreiter im 20. Landwehr-Kavallerie-Regiment, Schlesinger, durch einen westpreußischen Landwehrmann des Kreises Conitz, durch den vormaligen Gymnasiallehrer A. Drahn, durch den Herrn F. von Bülow und durch einen geborenen Berliner.


Abb.: Die Farben Preußens

Wie gesagt, die schwarz-weißen Annoncen stehen in offener Fehde mit den schwarz-rot-goldnen. Die letzteren halten sich noch etwas zurück. Die erstern werden aber mit jedem Tage hitziger, und wie mutige Trompeter sprengen sie über die löschpapierne Fläche der »Vossischen Zeitung«. Da haben wir z.B. unsern Wehrreiter im 20. Landwehr-Kavallerie-Regiment, Schlesinger; das ist so ein Haupt-Annoncenhahn.

»Kameraden!« ruft er der preußischen Landwehr zu. »Werdet ihr auf Befehl des Reichskriegsministers von Peucker8 am 6. August d.J. dem Erzherzog Johann von Österreich als Reichsverweser9 Deutschlands huldigen??? Ich nicht! Nach Preußens König huldige ich nur einem, und dieser ist der edle Prinz von Preußen! Ihm bringe ich ein dreimaliges Hurra und rufe wiederholentlich: Er lebe als General en chef der Heere Preußens! Ich bin kein Österreicher! Ich bin ein Preuße, Schwarz und Weiß sind meine Farben.« Kann man sich einen mutigeren Wehrreiter denken als diesen Schlesinger in Charlottenburg?

Man braucht nur die Annonce zu lesen, und der ganze Mann steht vor einem, wie er leibt und lebt. »Kameraden!« ruft Schlesinger aus. Man sieht, wie er mit dem Fuße auf die Erde stampft, wie er den blonden Schnurrbart streicht und wie sich sein rotwangiges, von Sommersprossen übersätes Antlitz in martialische Falten verzieht. »Kameraden!« - Die Anrede hat etwas feierlich Verwegenes; man meint nicht anders, als dass Schlesinger uns mitteilen würde, wie er kleine Kinder fräße, Türklinken, Schuhnägel, Branntweingläser, Ratten und Mäuse. »Kameraden!« sagt Schlesinger. »Werdet ihr dem Erzherzog Johann huldigen?« Man sieht, wie Schlesinger seinen Handschuh auszieht, um ihn sofort zur Fehde hinzuwerfen, falls man seine Frage bejahen werde. Aber er wartet die Antwort gar nicht ab. »Ich nicht!« setzt er hinzu, und die Zähne blitzen durch seinen Schnurrbart. Schlesingers Herz pocht in volleren Schlägen; seine grauen Katzenaugen flammen vor Entrüstung. Schlesinger ist schön, trotz des blonden Schnurrbarts und trotz der Sommersprossen.

»Nach Preußens König huldige ich nur einem, und dieser ist der edle Prinz von Preußen!« Man meint, der Kulminationspunkt der Schlesingerschen Beredsamkeit sei gekommen. Der Wehrreiter Schlesinger macht einen Eindruck, den man fürs ganze Leben im Gedächtnis behält. Aber da kommt noch das Beste. »Ich bin ein Preuße, Schwarz und Weiß sind meine Farben!« - Da haben wir's! Wie Gottes Cherub vor dem Paradies steht der Wehrreiter Schlesinger vor dem Thron. Gut gebrüllt, Schlesinger! Du hast einen Doppelkümmel verdient, echten Brandenburger Doppelkümmel - Schlesinger, ich achte dir!

Nach der Annonce des einzelnen Wehrreiters kommt eine Adresse der westpreußischen Landwehr des Conitzer Kreises. Was wir eben aus einem einzigen Munde vernahmen, es wird uns jetzt massenweis entgegengedonnert.

»Die Frankfurter Bundesversammlung hat zum 6. August eine Huldigung für den deutschen Reichsverweser erlassen. Darauf erklären wir: dass wir demselben nicht huldigen, sondern unserm preußischen König allein treu bleiben werden! Ein braver Soldat kann nur einem Herrn dienen, und wir hoffen mit Zuversicht, dass alle unsere Kameraden diesem Beispiel folgen werden.«

Edle westpreußische Landwehr, man sieht, dass du dankbar für deine genossenen Kommissbrote bist. So etwas tut wohl. Man merkt doch, dass man in Preußen ist. Diese kühlen blonden Conitzer können nur eine Liebe haben. Saint-Just10 sagte, die Welt sei leer seit den Römern. Die Conitzer Landwehr ruft aus: »Es gibt nichts außer Preußen!« Wie wird sich Schlesinger freuen, wenn er die Adresse dieser Westpreußen liest!

Dem tapfern Wehrreiter und den westpreußischen Landwehrleuten folgt Herr F.v. Bülow. Die Vossischen Erben haben an diesem Manne einen Goldmann. Seine Annoncen sind lang wie die Langeweile; teilweise groß gedruckt. - Die Vossischen Erben werden diesen Mitarbeiter zu schätzen wissen. Der Herr v. Bülow gibt eine geschichtliche Abhandlung, die mit 1810 beginnt und mit 1814 endet. »Wer«, fährt er dann fort, »wer hat der Frankfurter Nationalversammlung die Macht gegeben, den 16 Millionen Einwohnern des preußischen Staates ihre mit Blut erkauften Rechte zu nehmen? Ist denn das ganze preußische Volk befragt worden, ob es den Erzherzog Johann statt seines konstitutionellen Königs zum Oberfeldherrn haben will?«

Der Herr von Bülow hat recht. Die Frankfurter Versammlung nimmt sich Sachen heraus, die haarsträubend sind. Sie kehrt sich weder an Beelzebub noch an Herrn von Bülow - diese Versammlung! Diese zusammengelaufenen Professoren und Advokaten! Ist es nicht eine Schande?

Ein Herr Brm. in Potsdam ist derselben Meinung; er weiß, wie es mit der Frankfurter Versammlung aussieht: »Die Bestimmungen über die Zentralgewalt in Deutschland sind nur ein bloßer Entwurf dreier sonst berühmter Professoren, die hier aber bloß bekundet haben, dass nicht alle hochglänzenden und überkonsequenten Theorien für die Praxis taugen.« Herr Brm. ist ein praktischer Mann; aus ihm kann noch etwas werden - Herr Brm.; wenn er auch gerade kein Abgeordneter zu der Frankfurter Versammlung wird - Herr Brm. Jedenfalls hat er eine Zukunft - Herr Brm. Er wird sich einen Namen machen - Herr Brm. - Einen schönen Namen hat er schon.

Die »Vossische Zeitung« ist reich an Annoncen, reich wie das Meer an Fischen, wie der Himmel an Sternen, wie eine Kaserne an Flöhen.
Die Annonce des Wehrreiters, der Conitzer Landwehr, des Herrn von Bülow und des Herrn Brm. - alles das wird indes von einer Anzeige des Dr. W. Bötticher übertroffen. Wir schwören hierdurch bei allem, was uns nicht heilig ist, dass wir diese Anzeige unverstümmelt abschreiben wollen:

O Land, Land, Land! Höre des Herrn Wort.
(Jerem. 22, 29)

  1. »Niemand kann zweien Herren dienen. Entweder er wird einen hassen und den andern lieben, oder wird einem anhangen und den andern verachten.« Matth. 6, 24. Wer das liest, der merke jetzt darauf!

  2. »Wer das Schwert nimmt (Gewalt sich anmaßt gegen die Obrigkeit), der soll durchs Schwert umkommen« (Todesstrafe erleiden durch die Obrigkeit. Röm. 13, 2, 4.). Matth. 26, 52. Wer das liest, der merke jetzt darauf! denn so spricht der, dem »alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden« (Matth. 28, 18.) und der kein Gesetz, auch nicht das vom Gewissen bezeugte und ins Herz geschriebene Vernunftgesetz (Röm. 2, 15.) je auflöst (Matth. 5, 17.), der Richter der Lebendigen und der Toten.

Dr. W. Bötticher

Herrliche unverstümmelte Anzeige! Ist dieser Dr. Bötticher nicht bibelfest? Wie viele protestantisch- pietistische Kränzchen und Konventikelchen hat der Herr Doktor nicht durchmachen müssen, ehe es ihm gelang, so gewandt mit Bibelzitaten um sich zu werfen! Dieser hamsterfromme Doktor ist nicht weniger gegen die Schwarz-Rot-Goldenen erbost als der tapfere Schlesinger. »Niemand kann zweien Herren dienen«, sagt der Herr Doktor uns, »wer sich Gewalt anmaßt, der soll durchs Schwert umkommen.« Entweder müsst ihr zu dem Schwarz-Weißen oder zu dem Schwarz-Rot-Goldenen treten. Der blasse, teeberauschte Doktor ist unerbittlich. »Land, Land, Land! höre des Herrn Wort.« O ihr Schwarz-Weißen, hört des Herrn Wort, des Dr. Bötticher!

Wenn der Dr. Bötticher vor lauter Bibelsprüchen eigentlich gar nicht zu Worte kommt, so drückt sich der vormalige Gymnasiallehrer A. Drahn um so verständlicher und kürzer aus.

»Warum aus einem Lande einen Fürsten wählen, wo bis jetzt der Stock regierte?« Stockfisch von einem Gymnasiallehrer, hast du nicht selbst dein halbes Leben lang den Stock geführt und deine Jungen geprügelt? Die »Vossische« ist unerschöpflich. Auch in Versen führt sie die schwarz-weiße Begeisterung Berlins mit sich. Da singt ein Mensch namens Julius Spatz:

»Es schallt dem Landesvater
Ein dreifach donnernd Hoch!
Es ist der beste Rater,
Doch ach, ein Volk, es log.

Sein Herz bleibt groß und edel,
Er manches gleich vergisst,
Sonst müsste mancher Schädel
Längst hängen am Gericht.«

Es graust uns. Selig der, welcher vergessen kann! Mit Herrn v.H. in einer andern Annonce rufen wir aus: »Vergessen wir die Vergangenheit, schwarz wie die tief ergreifende Sonnenfinsternis.« Kann man sich etwas Schöneres denken? - »schwarz wie die tief ergreifende Sonnenfinsternis!« Man sieht, dass die Schwarz-Weißen köstliche Kerle zu ihren Verteidigern haben. Tief ergreift uns ihre schwarze Verstandesfinsternis.

Ein außerordentliches Schriftstück ist indes auch noch »Der letzte Wunsch eines 94jährigen preußischen Veteranen«:

»Gnädiger Gott, gewähre die letzte der Bitten
Einem zitternden Greis, der treu im Dienste des Staates
Gekämpft, geblutet für seine geliebten Monarchen! -
Lass ihm noch sehen vor seinem nahenden Ende,
Seinen König und Herrn gebietend, doch auch geliebet
Von seinem Volk, und herrschend im preußischen Lande -
Nicht untertänig sei Er dem fremden Fürstengeschlechte,
Nicht untertänig Sein Volk, das kühn errang sich die Freiheit. -
Lass ihm noch sehen, wie frei der preußische Adler
Hebet sein Haupt dreist zu der Sonne empor,
Ohne die Fänge des Doppeladlers zu fürchten,
Noch sie zu suchen zum Schutz, weder von Ost noch von Süd. -

Potsdam, im Juli 1848.
z P.«

Die Poesie dieses alten Maulwurfs hat etwas Rührendes. Einem 94jährigen Veteranen ist es nicht übelzunehmen, dass er schwarz-weiß bleiben will sein Leben lang und dass er die schwarz-rot-goldne Couleure hasst, die Farbe, die er einst an Pfeifenquästen sah und an revolutionären Pfeifenköpfen. Mit geschwungener Krücke steht dieser 94jährige Veteran vor der Tür seiner Hütte, brummend und polternd, um sich die junge, lasterhafte Welt vom Leibe zu halten, die mit ihren Gelüsten so frech vorüberstürmt und auch gern den alten Mann mit hinein in ihren Strudel reißen möchte. Was bei dem sommersprossigen Wehrreiter der reine Schnapsenthusiasmus, was bei den Landwehrmännern des Conitzer Kreises die bloße Kommissbrotbegeisterung, was bei Herrn von Bülow und Herrn Brm. die göttliche berlinische Affektation, was bei dem Dr. W. Bötticher der blasse, protestantische Teepietismus und was bei den Dichtern Schatz und v.H. die tiefergreifende schwarz-weiße Verstandesverfinsterung zuwege brachte, das kommt in dem zornigen Gebet des 94jährigen Veteranen endlich als etwas Natürliches, wirklich Empfundenes zum Vorschein, und der Spott geht uns aus, die Waffe des Humors versagt uns den Dienst, wir eilen dem würdigen Veteranen entgegen, wir drücken ihm die Hand, und wir bitten ihn, sich ruhig in sein ehrliches Grab zu legen, wo niemand seinen Schlummer stören wird

bis zu der Stund,
Wo die Posaune tönet
Und wo des Himmels goldner Grund
Vom Schritt der Helden dröhnet.

So haben wir denn die »Vossische Zeitung« mit ihren Annoncen und Kriegserklärungen so aufmerksam wie möglich durchstudiert.

Wir sehnten uns nach Berlin - aber auf einmal vergeht uns wieder alle Lust.

Am Ufer des schönsten aller Ströme stehen wir: die Sonne lacht herab auf unsere Hügel, unsere Täler. Wir schwingen unsere Römer, und die kleinen lustigen Gassenbuben singen durch die Straßen der alten, der heiligen Stadt Köln:

»Freiheit und Republik,
Wären wir erst die Preußen quick.«


Erläuterungen:

1 Vossische Zeitung

"Vossische Zeitung (eigentlich »Königlich privilegierte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen«), zweimal täglich in Berlin erscheinende freisinnige, aber von der Partei unabhängige Zeitung mit Handelsblatt, Sonntagsbeilage und Beilage »Für Reise und Wanderung«, die älteste der Berliner Zeitungen. Das königliche Privilegium für den Buchhändler J. A. Rüdiger ist vom 18. Febr. 1721 datiert; dessen aus dem zerstörten Heidelberg eingewanderter Vater hatte jedoch bereits 1704 das Privileg zur Herausgabe eines Wochenblattes erhalten. Der älteste erhaltene Jahrgang ist von 1721 datiert, wo das Blatt dreimal wöchentlich als »Berlinische privilegierte Zeitung« erschien. 1751, nachdem Rüdiger gestorben war, ging das Privilegium an dessen Schwiegersohn Chr. Fr. Voß über, der das Blatt »Staats- und gelehrte Zeitung« nannte und Lessing die Redaktion des »Gelehrten Artikels« übertrug (1751-55). 1751 erschien neun Monate lang die von Lessing herausgegebene Monatsbeilage »Neuestes aus dem Reiche des Witzes« (neue Ausg. von Houben, s. unten). Seit 1785 führt sie den jetzigen Titel. 1802 ging sie durch Kauf in den Besitz der Tochter von Chr. Fr. Voß, der Gattin des Münzdirektors Karl Lessing in Breslau, eines Bruders von G. E. Lessing, über; deren Nachkommen (»Vossische Erben«) sind noch gegenwärtig die Besitzer der Zeitung. Seit 1824 kommt sie täglich heraus. Die Sonntagsbeilage (von Otto Lindner 1858 als erste Beilage des Hauptblattes gegründet) erscheint seit 1866 selbständig. Zu den Hauptmitarbeitern in der Zeit der 1820er und 1840er Jahre gehörten Rellstab und Gubitz. Seit 1864 ist L. Pietsch (s. d.) einer ihrer feuilletonistischen Mitarbeiter und Kunstkritiker. Von 1870-89 schrieb Th. Fontane die Theaterkritiken über das Schauspielhaus. Chefredakteur ist gegenwärtig (1908) Hermann Bachmann, Redakteur der Sonntagsbeilage Friedrich Stephany."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

2 Hamburgische unpartheyische Correspondent

"Hamburgischer Korrespondent, die älteste politische Zeitung Hamburgs, die jetzt dreimal täglich erscheint. Ihre Anfänge reichen in das Jahr 1710 oder 1711 zurück, wo ein Buchdrucker Holle in Schiffbeck bei Hamburg zweimal wöchentlich eine Zeitung u. d. T. »Schiffbecker Posthorn« herausgab, die später »Aviso« und von 1721-31 »Staats- und Gelehrte Zeitungen des holsteinischen unparteiischen Korrespondenten« hieß. Nachdem sie in den Besitz des Buchdruckers Georg Christian Grund in Hamburg übergegangen, wurde sie »Staats- und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unparteiischen Korrespondenten« genannt. Da sie einen für damalige Zeiten sehr gut organisierten Nachrichtendienst besaß, war sie zu Beginn des 19. Jahrh. das am meisten gelesene Blatt in deutscher Sprache. 1806 hatte sie eine Auflage von 30,000 Exemplaren. Während der französischen Herrschaft in Hamburg erschien sie mit französischem und deutschem Text u. d. T. »Journal du département des Bouches de l'Elbe« oder »Staats- und Gelehrtenzeitung des Hamburgischen unparteiischen Korrespondenten«. Seit 1830 erschien sie täglich, und 1852 wurde sie Amtsblatt für Hamburg. 1869 ward sie Eigentum der Aktiengesellschaft »Neue Börsenhalle«. Sie vertritt eine deutsch-nationale Richtung und spiegelt daneben auch die Anschauungen der jeweilig maßgebenden Faktoren der Reichsregierung wider. Chefredakteur ist Hermann Diez."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

3 uckermärkischen Sahara

"Ukermark (Uckermark), der nördlichste Teil der preuß. Provinz Brandenburg, zwischen der Mittelmark, Mecklenburg-Strelitz, Pommern und der Neumark, wird von der Uker (von der sie den Namen hat), Oder, Weise, Randow und vielen Seen bewässert und bildet eine nur von geringen Hügeln durchzogene fruchtbare Ebene von 3700 qkm (67,2 QM.) Flächeninhalt. Sie umfaßt im wesentlichen die Kreise Prenzlau, Angermünde und Templin."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

4 Anhänger der weißen und der roten englischen Teerose: unter dem Zeichen einer weißen bzw. einer roten Rose kämpften im 15. Jahrhundert die Häuser Lancaster und York um die englische Krone (Rosenkrieg).

5 schwarz-rot-gold

"Deutsche Farben. Die alte deutsche Reichssturmfahne bestand aus einem goldenen Banner mit einem schwarzen Adler im Felde, der des Kaisers Hauswappen auf der Brust trug; sie wurde an roter Stange mit silberner Spitze getragen und bestand bis zum Ausgang des Mittelalters. Als Reichsfarben galten nach ihr Schwarz und Gelb (Gold). Erst die aus der patriotischen Begeisterung der Befreiungskriege hervorgegangene deutsche Burschenschaft wählte 1815 die Trikolore »Schwarz-Rot-Gold« als Symbol des deutschen Vaterlandes zu ihrem Abzeichen. Ob bei dieser Wahl nur der zufällige Geschmack eines patriotisch begeisterten Mädchens (Amalie Nitschke), die der Studentenschaft Jenas die erste schwarz-rot-goldene Fahne verehrte, oder das alte Reichsbanner, dessen goldenes Feld häufig auch von einem roten Streifen durchzogen war, den Ausschlag gegeben, ist streitig. Die bald eintretende Verfolgung der Burschenschaften erstreckte sich auch auf ihr Abzeichen, und ein Bundesbeschluß vom 5. Juli 1832 verbot das Tragen von Bändern, Kokarden etc. in diesen Farben. Gerade die Bedeutung, die sie hierdurch erlangten, bewirkte, daß die liberalen deutschen Patrioten Schwarz-Rot-Gold als die Nationalfarben anerkannten, und verhalf ihnen in der Bewegung von 1848 zum Sieg. Am 9. März d. I. wurde durch Bundesbeschluß der zweiköpfige Reichsadler mit der Aufschrift »Deutscher Bund« als Bundeswappen angenommen und gleichzeitig damit die Farben Schwarz-Rot-Gold zu Farben des Deutschen Bundes erhoben. Jedoch mit Reaktivierung des Deutschen Bundes fand diese Glanzperiode der deutschen Farben bereits ihr Ende, und in verschiedenen Staaten verfiel ihr Tragen von neuem der polizeilichen Verfolgung. Erst bei Wiederbeginn der nationalen Bewegung wurde die »deutsche Trikolore« von neuem zum Nationalsymbol erhoben, und während des Frankfurter Fürstentages 1863 wehte sie über dem Sitz der Bundesversammlung. 1866 wurden sie dann offiziell von den Bundesregierungen, die sich gegen Preußen erklärt hatten, als gemeinsames Zeichen anerkannt, und das 8. deutsche Armeekorps, die »deutsche Reichsarmee«, trug im Kriege gegen Preußen als Feldzeichen eine schwarz-rot-goldene Armbinde. Als die preußenfeindliche Partei in Deutschland unterlag, ward bei der Gründung des Norddeutschen Bundes die Trikolore »Schwarz-Weiß-Rot«, die beiden ersten Farben mit Rücksicht auf die Landesfarben Preußens, die letzte nach der Erklärung Bismarcks mit Rücksicht auf die Farben Kurbrandenburgs (rot und weiß) zum offiziellen Banner des Bundes bestimmt und ging von ihm 1871 auf das neue Deutsche Reich über. - Schwarz-Rot-Gold (Gelb) ist Landesfarbe der preußischen Fürstentümer, Schwarz-Gold-Rot die des Königreichs Belgien. "

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

6 schwarz-weiß: Farben Preußens

7 Professor Gervinus in Heidelberg

"Gervinus, Georg Gottfried, Geschichtschreiber und Literarhistoriker, geb. 20. Mai 1805 in Darmstadt, gest. 18. März 1871 in Heidelberg, trat 1819 in einer Buchhandlung zu Bonn, bald darauf in einem Tuchgeschäft zu Darmstadt in die Lehre, widmete sich aber daneben mit Eifer ästhetischen und literargeschichtlichen Studien und neuern Sprachen, holte seit 1824 die versäumte Schulbildung durch die fleißigsten Privatstudien nach, bezog 1825 die Universität Gießen und ging Ostern 1826 nach Heidelberg, wo er unter Schlosser Geschichte studierte. Seit 1828 Lehrer zu Frankfurt a. M., habilitierte er sich 1830 mit einer Schrift über die »Geschichte der Angelsachsen« (Frankf. 1830) in Heidelberg, begab sich bald auf ein Jahr nach Italien und gab 1833 eine Sammlung kleiner historischer Schriften heraus. 1835 erschien der erste Band seiner »Geschichte der deutschen Nationalliteratur« (Leipz. 1835-42, 5 Bde.); spätere Auflagen führen den veränderten Titel: »Geschichte der deutschen Dichtung«, die fünfte ist teilweise nach seinem Tode von K. Bartsch herausgegeben (das. 1871-74). Zum ersten Male wurde darin die deutsche Literatur im Zusammenhang mit dem nationalen und politischen Leben und den gesamten Kulturzuständen als ein Ausfluss des gesamten nationalen Lebens betrachtet. Auf Dahlmanns Empfehlung 1835 als Professor der Geschichte und Literatur nach Göttingen berufen, gab er die »Grundzüge der Historik« (Leipz. 1837, wieder abgedruckt in seiner Selbstbiographie) heraus, eine kleine, aber von ernstem Nachdenken zeugende Schrift. Seine Wirksamkeit in Göttingen nahm ein schnelles Ende infolge des von ihm und sechs andern Professoren unterzeichneten Protestes gegen die vom König Ernst August verfügte Aufhebung der hannöverschen Verfassung. Vgl. Göttingen. Im Dezember 1837 abgesetzt und des Landes verwiesen, lebte er teils in Darmstadt, teils in Italien und ließ sich 1844 in Heidelberg nieder, wo er als Honorarprofessor vielbesuchte Vorlesungen hielt. Seine Teilnahme an den öffentlichen Dingen betätigte G. durch seine zwei Flugschriften über »Die Mission der Deutschkatholiken« (Heidelb. 1846) und »Die preußische Verfassung und das Patent vom 8. Februar« (Mannh. 1847), namentlich aber durch die 1847 in Verbindung mit Häusser, Mathy u. a. unternommene Gründung der »Deutschen Zeitung«, die er ein Jahr lang redigierte und mit vielen trefflichen Leitartikeln ausstattete. Im Frühjahr 1848 von den Hansestädten als Vertrauensmann zum Bundestag gesandt und von einem sächsisch-preußischen Wahlbezirk in die Nationalversammlung gewählt, betätigte er sich wenig, trat vielmehr, mit dem Gang der Dinge wenig einverstanden, schon im August 1848 verstimmt aus dem Parlament aus und suchte Erholung in Italien. Anfang 1849 zurückgekehrt, schrieb er wieder eifrig Artikel für die »Deutsche Zeitung«, zog sich jedoch nach der Auflösung der Nationalversammlung von der Politik zurück und begann ein größeres Werk über Shakespeare (»Shakespeare«, Leipz. 1849-52, 4 Bde.; 4. Aufl. mit Anmerkungen von Rudolf Genée, das. 1872, 2 Bde.). 1853 erschien als Vorläufer eines größern Werkes die »Einleitung in die Geschichte des 19. Jahrhunderts«, die wegen freisinniger Äußerungen verboten wurde, und 1854 ließ G. den ersten Band der »Geschichte des 19. Jahrhunderts« (Leipz. 1856-66, 8 Bde.) folgen, die, mit dem Wiener Kongress beginnend, das Streben der Völker nach Freiheit und Selbstherrschaft von dem Standpunkt des konstitutionellen Liberalismus schildert. Die Katastrophe des Jahres 1866, die das von G. ersehnte Ziel der politischen Einheit Deutschlands auf einem ganz andern Wege näher rückte, namentlich die preußische Annexionspolitik, verstimmte ihn tief; er sah der weitern Entwickelung der Dinge nur mit Erbitterung gegen Preußen zu und mit Groll über den Staatsmann, der sich so gar nicht an die Vorschriften politischer Doktrinäre hielt. Dieser Stimmung gab er selbst nach Beginn des Krieges gegen Frankreich Ausdruck in der vom November 1870 datierten Vorrede zum ersten Band einer neuen Auflage seiner »Geschichte der deutschen Dichtung«. Seine Ansichten über die politischen Dinge seit 1866 führte er noch weiter aus in zwei nach seinem Tode von seiner Witwe (Viktoria, geborne Schelver, gest. 1893) herausgegebenen Aufsätzen: »Denkschrift zum Frieden an das preußische Königshaus« und »Selbstkritik« (»Hinterlassene Schriften«, Wien 1872). Die letzte größere Arbeit, die er veröffentlichte, war ein Buch über »Händel und Shakespeare. Zur Ästhetik der Tonkunst« (Leipz. 1868), dem aus seinem Nachlass »Händels Oratorientexte, übersetzt von G.« (das. 1873) folgten. Im »Nekrolog Friedrich Christoph Schlossers« (Leipz. 1861) setzte er seinem alten Lehrer ein Denkmal persönlicher Freundschaft und verbreitete sich über die Aufgaben des Geschichtsschreibers."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

8 Reichkriegsminister Peuker

"Peucker, Eduard von, preuß. General, geb. 19. Jan. 1791 zu Schmiedeberg in Schlesien, gest. 10. Febr. 1876 in Berlin, trat 1809 in die preußische Artillerie, ward 1811 Offizier und diente 1812 in Russland, dann in den Befreiungskriegen im Yorckschen Korps mit Auszeichnung. Nach dem Frieden vornehmlich im Kriegsministerium beschäftigt, 1816 geadelt, 1822 Major geworden, trat P. an die Spitze der mit der Oberleitung des Geschützwesens und der Bewaffnung betrauten Abteilung des Kriegsministeriums und betrieb besonders die Einführung des unter seiner Leitung geprüften Zündnadelgewehrs. Seit 1842 Generalmajor, wurde er 1848 preußischer Militärbevollmächtigter bei der Bundesmilitärkommission in Frankfurt a. M. Im Juli 1848 vom Reichsverweser zum Reichskriegsminister berufen, trat er 5. Aug., als der Reichsverweser die Huldigung aller deutschen Armeen forderte, zurück, führte aber das Amt wieder vom 18. Sept. nach Unterdrückung des Aufstandes bis 10. Mai 1849. Am 20. Mai übernahm er den Oberbefehl über die gegen Baden bestimmten Bundestruppen. Im März 1850 in die Bundeszentralkommission berufen, ging er im Dezember, nach der Unterwerfung Preußens zu Olmütz, als preußischer Kommissar nach Kassel zur Wiederherstellung der Autorität des Kurfürsten, wurde 1854 Generalinspektor des Militärerziehungs- und Bildungswesens, trat 1872 in den Ruhestand und ward ins Herrenhaus berufen. Ihm zu Ehren wurde 1889 das schlesische Feldartillerieregiment Nr. 6 Feldartillerieregiment v. P. genannt. Er schrieb: »Beiträge zur Beleuchtung einiger Grundlagen für die künftige Wehrverfassung Deutschlands« (Frankf. 1848) und »Das deutsche Kriegswesen der Urzeiten« (Berl. 1860 bis 1864, 3 Bde.), wofür ihn die Berliner Universität 1860 zum philosophischen Ehrendoktor ernannte."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

9 Reichverweser: Als die deutsche Nationalversammlung 1848 ein neues Deutsches Reich herzustellen sich bemühte, entschied sie sich 28. Juni für Einsetzung eines Reichsverwesers an Stelle des Bundestags und ernannte 29. Juni den Erzherzog Johann von Österreich zum provisorischen unverantwortlichen Inhaber der deutschen Zentralgewalt unter dem Titel »Erzherzog-Reichsverweser«. Am 20. Dez. 1849 legte dieser aber sein Amt bereits wieder nieder.

10 Saint-Just

"Saint-Just (spr. ßängschüst), Antoine, franz. Revolutionsmann, geb. 25. Aug. 1767 in Décize bei Nevers, gest. 28. Juli 1794, ward durch das Studium der alten Klassiker und der Rousseauschen Schriften für die republikanische Staatsform begeistert und 1792 in den Nationalkonvent gewählt. Seine Ideen hatte er in der Schrift: »Esprit de la révolution et de la constitution de France« (1791) niedergelegt. Danach wollte er einen sozialistischen Staat gründen, in dem jedes persönliche Sonderleben unterdrückt wäre und der organisierte Gesamtwille der Gesellschaft unumschränkt herrsche. Er war ein ehrlicher, aber beschränkter und düsterer Fanatiker, der das Blut fließen ließ, weil er es für notwendig hielt. Er stimmte für Ludwigs XVI. Tod ohne Aufschub und trug viel zum Sturz der Gironde bei. Als Mitglied des Wohlfahrtsausschusses ward er 1793 mit Lebas in das Elsass zur Überwachung der Truppen gesandt, erklärte hier die Guillotine in Permanenz und verfügte Hinrichtungen in Masse, beförderte aber die Reorganisation der Armee. Er war es auch, der Robespierre zur Vernichtung der Partei Dantons anfeuerte. 1794 bildete er mit Robespierre und Couthon im Konvent das allmächtige Triumvirat. Am 9. Thermidor ward er zum Tode verurteilt und bestieg mit Robespierre das Schafott. Außer einigen Poesien im Genre von Voltaires »Pucelle« hinterließ er »OEuvres politiques« (Par. 1833; neue Ausg. 1896, 2 Bde.)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]


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