Religionskritik

Die Langeweile, der Spleen und die Seekrankheit

(1849)

von Georg Weerth


herausgegeben von Alois Payer (payer@payer.de)


Zitierweise / cite as:

Weerth, Georg <1822-1856>: Die Langeweile, der Spleen und die Seekrankheit. -- 1849. -- Fassung vom 2004-11-02. -- URL:  http://www.payer.de/religionskritik/weerth03.htm    

Erstmals publiziert: 2004-11-02

Überarbeitungen:

©opyright: Public Domain

Dieser Text ist Teil der Abteilung Religionskritik  von Tüpfli's Global Village Library


 Erstdruck in: Neue Rheinische Zeitung (Köln), Nr. 238 bis 258 vom 6.-29.3.1849.


Zufällig war ich neulich in Babylon, d.h. in London. Die Themse rauschte an meinem Fenster vorüber. Bridgehouse Hotel liegt nämlich unmittelbar am Wasser, und man sieht den Fluss hinauf und hinab, und wenn die Dampfboote unter der Londoner Brücke herfahren, da neigen sie mit einem Male Schlot und Mast wie zu einer zierlichen Verbeugung, die höflichen Dampfboote, und rasch fliegen sie an dir vorüber.

Als ich aber sämtlichen Dampfbooten, Kuttern, Fregatten und ähnlichen untergeordneten Fahrzeugen während einer halben Stunde Gelegenheit gegeben hatte, sich ganz ergebenst vor mir zu verbeugen, und als nun der Abend herankam und die letzten Strahlen der sinkenden Sonne mit dem immer finstrer hereinbrechenden Nebel jenen luftigen Wolkenkampf begannen, in dem sich alle Boxereien und Keilereien des lieben platten Landes widerzuspiegeln scheinen, als links die Türme der Westminsterabtei in bläulicher Ferne schamrötlich abendlich emporglühten und rechts der alte, schreckliche Tower wie ein versteinerter Seufzer zum letzten Male aus dem Schattenmantel der Nacht hervorschaute, ja, und als endlich gerade gegenüber in der Kuppel der St.-Pauls-Kirche die großen Episkopalglocken ihr Abendlied begonnen: da rührte ich immer langsamer mit meinem Teelöffel in dem großen Glase Grog, das vor mir auf dem Tische stand, und meine Augen sanken, und mein Kopf fiel auf die Brust, und ich schlief ein und träumte den folgenden entsetzlichen Traum.

Es träumte mir, ich hätte das beste Diner bestellt, das man für soundso viele Pfund Sterling in London haben kann. Nicht ohne Ursache, denn ich erwartete drei der liebenswürdigsten Gäste.

Dadurch, dass ich Menschen zum Mittagessen einlud, unterschied ich mich vorteilhaft von vielen meiner Landsleute, die sich gewöhnlich in London einladen lassen. Von allen meinen Empfehlungsbriefen: »gut für ein Diner«, hatte ich in der Tat nicht den geringsten Gebrauch gemacht, und wenn ich Herrn von Raumer1 bei seiner nächsten wissenschaftlichen Reise nach Alt-England damit gefällig sein kann, so werde ich mir diesen Dienst zu besonderm Vergnügen gereichen lassen.

Ein Kellner, wie man ihn nur in England findet, ein spindeldürrer, blasser Seeräuber in großen Schuhen mit silberner Schnalle, in seidenen Strümpfen, die bis ans Knie reichten, in schwarzer Hose und in schwarzem altertümlichem Frack mit dolchspitzen Zipfeln, kurz, ein höflicher, zerknirschter Mensch, der wie der leibhaftige Katzenjammer aussah, riskierte eine höchst graziöse Verbeugung - graziöser hatten sich nicht die schwarzen Schornsteine der Dampfer verneigt - und kündigte mir mit lispelnder Stimme an, dass soeben der erste meiner Gäste arriviert sei.

Man kann sich meine Freude denken, denn ich war sehr hungrig, hungrig wie ein Wolf, wie ein Flamländer, und mit der Begeisterung des Hungers rannte ich an die Tür und an den Wagenschlag.

Eine hohe verschleierte Dame, ein wahrer Kirchturm in schneeweißem Atlas, setzte eben mit großbritannischer Würde den langen Fuß auf die Schwelle des Hotels. Ich küsste der Schönen die unbewegliche Hand und erkundigte mich nach dero Wohlbefinden. Die Bevölkerung des Hotels leuchtete mit Wachskerzen, und feierlich wallten wir in unser teppichweiches Gemach, das eigentümlich nach Kohlen und nach Seekrebsen duftete.

Die Flammen des Kamins schlugen lustiger empor und mischten ihre Streiflichter mit dem Glanze des Gases, das wie flüssiger Mondschein durch die mattgeschliffenen Kristallschalen der Kandelaber wogte. Des Daseins süßer Komfort lachte uns entgegen, und das Wohlleben streckte seine weichen Arme aus, um uns herabzuziehen auf die schwellenden Polster des Vergnügens.

Als aber der Schleier meiner Dame niederrollte, da stand vor mir: eine jener hohen, kalten, schlankgewachsenen Engländerinnen, von denen man nicht weiß, ob sie eben erst aus Marmor geworden oder ob sie gleich zu Marmor werden sollen. Schneeweißer Teint, himmelblaue Augen, blondes Haar, rote Lippen und vortreffliche Zähne. Das schönste Modell von einem weiblichen Wesen, das ich je gesehen habe.

Im Frühling schuf Gott die Französinnen, im brennenden Sommer schuf er die Weiber von Rom und Madrid. Im humoristischen Herbst erfand er die deutschen Mädchen, doch die Engländerinnen machte Gott im Winter.

So eine kühle Tochter Britanniens ist wie ein schöner festgefrorner Wintermorgen, und wenn ihre Wangen in der Lust des Küssens erröten, da meint man, die Morgensonne zittre Rosen streuend über ein Schneefeld.

Still, kalt und schneeweiß stand meine Freundin vor mir. Einem aufmerksamen Beobachter würde es nicht entgangen sein, dass alles an der bemerkenswerten Dame mehr lang als kurz oder rund war. Lang war ihr Fuß, lang ihre Hände, lang ihre Nase, länglich ihr Gesicht und lang ihre ganze Figur. »Seit langer Zeit haben wir uns nicht gesehen«, begann ich die Konversation. - »Sehr lange nicht«, erwiderte die Holde. - »Ich habe mich lange nach Ihnen gesehnt.« - »Lange war es auch mein Wunsch, Ihnen wieder zu begegnen.« Unser ganzes Gespräch drehte sich um die Länge, und die Zeit wäre mir gewiss lang geworden, wenn nicht mein längst erwarteter zweiter Gast endlich in höchsteigener Person hereingetreten wäre.

Es war dies einer jener würdigen Gesellen, die wir jahraus, jahrein zwischen Ostende und Basel hin und her teekesseln2 sehen. Er trug eine graukarierte Hose, eine graukarierte Weste und einen graukarierten Frack. Grau waren Haare und Augen. Grau der Bart. Der ganze Kerl sah aus wie die Dämmerung. Die Umrisse seines Körpers verschwammen fast mit der Atmosphäre, und erst als er mitten zwischen den Flammen des Kamins und den Gaslichtern stand, erkannte ich meinen alten Bekannten und fiel ihm grüßend um den Hals; ganz gegen alle englische Sitte und Gewohnheit.

Die längliche Dame und der graue Herr gehörten zu meinen besten Freunden, als ich früher das Glück hatte, drei Jahre in England3 verweilen zu müssen. Die Dame füllte manche meiner müßigen Stunden aus. Doch noch häufiger besuchte mich der graue Herr. Nächtelang saßen wir miteinander stumm am Kamine, Grog trinkend und Zigarren rauchend. Steif starrten wir ins Feuer, und hatten wir sechs Stunden lang so gesessen, da erhob sich mein alter Freund, drückte mir die Hand und versicherte mir, dass er sich ungeheuer amüsiert habe. Trotz seiner unangenehmen Angewohnheiten liebte ich meinen grauen Freund von ganzem Herzen. Ich verzieh es ihm z.B., dass er stets seine Nasenspitze besah, dass er manchmal die Füße statt der Hände in die Hosentaschen zu stecken suchte und dass er nie zu Bette ging, ohne gegen allenfallsige Raubmörder einen großen Korkzieher in der Tasche seiner Unterhose mit sich zu führen.

Meiner Begrüßung folgten die Komplimente, die Herr und Dame einander schuldig zu sein glaubten. Beide waren sich keineswegs fremd. Sie sahen sich häufig in jenen interessanten englischen Gesellschaften, in denen man wenig spricht. Der böse Leumund wollte sogar wissen, Herr und Dame seien einst in eine so lebendige Unterhaltung geraten, dass sie, plötzlich beide einschlafend, nickend mit den Nasen aneinandergerannt wären und unter seltsamen Grimassen den Schwur getan hätten, sich nie wieder dergestalt von dem Feuer der Unterredung fortreißen zu lassen. Wie dem auch sei: meine beiden Gäste waren hocherfreut, sich wiederzusehen. Lang und feierlich erhob sich die Dame und blickte verschämt zu Boden, was meinen grauen Freund so ungemein rührte, dass er für einen Augenblick alle Geistesgegenwart verlor und mitten in seiner besten Verbeugung wie ein schiefer Meilenzeiger regungslos stehenblieb.

Ich benutzte diese Erstarrung der gegenseitigen Komplimente, um mich der Tür zuzuwenden, die eben zum dritten Male geöffnet wurde. Es war der letzte meiner Gäste, den man hineinführte, und wahrhaftig, er erschien in sonderbarer Begleitung. Wenn nämlich die lange, weißatlassene Dame zu Wagen herankam und mein grauer Freund zu Pferde herbeisprengte, so fuhr der dritte Besuch zu Schiff bis an mein Hotel und ließ sich von zwei Matrosen in blauen Hemden und roten Jacken bis in mein Zimmer tragen.

Meine Leser werden sich wundern, in dem hereingetragenen Wesen abermals etwas Weibliches zu finden. Aber schon der Symmetrie wegen hatte ich die Sache so einrichten müssen, denn wollte ich der langen Dame bei Tisch gegenübersitzen, so musste ich auch für meinen grauen Freund ein erbauliches Visavis einladen, eine Aufgabe, die bei meiner strengen Auswahl für eine so feierliche Gelegenheit wirklich schwer zu lösen war. Nach langem Hin- und Hersinnen geriet ich endlich auf die höchst ausgezeichnete Person, welche eben im Begriff war, meiner Einladung nachzukommen. Wir finden in ihr eine Dame, deren Alter beim besten Willen nicht nachzuweisen ist. Sie trägt grüne Kleider, gelöste Locken und duftet nach Teer und Seewasser. Man könnte sie hübsch nennen und würde sie ihres nymphenhaften Wuchses wegen vielleicht schön finden, wenn nicht der erdfahle Teint ihres Gesichtes unwillkürlich zurückstieße. Feucht glänzt ihr Auge durch die langen Wimpern. Ihr Gang hat etwas sehr Eigentümliches; man merkt, dass sie mehr auf der See als auf dem Lande lebt.

Ich stellte die Neuhereingetretene meinen beiden andern Gästen ohne weiteres vor. Sie hatten sich gerade von ihrer Erstarrung erholt, und es war wirklich eine Genugtuung für mich, als ich alle drei nach den ersten Artigkeitsbezeugungen sofort in der Erinnerung längst gemachter und endlich erneuerter Bekanntschaft schwelgen sah.

Unser Diner war indes aufgetragen, und ich lud meine Gäste ein, sich zu setzen. Die ganze Geschichte hatte etwas sehr Feierliches. Der weite teppichbedeckte Raum, die schweren seidnen Vorhänge der Fenster, der riesige Kamin mit seiner Kohlenglut, der kleine Tisch in der Mitte des Zimmers, umringt von vier großen Fauteuils, das blendendweiße Tischtuch, das fast bis auf die Erde hinabhing, das Silbergeschirr, die Kristallflaschen und die kolossalen verdeckten Schüsseln - alles harmonierte miteinander und versprach einen Naturgenuss, der dem Wirte keine Schande machen konnte.

Der Naturgenuss des Essens und des Trinkens bleibt trotz der häufigen Wiederkehr ein außerordentlich wichtiger Akt im menschlichen Leben. Ich finde es daher passend, dass man ihn jedesmal mit einem kurzen Spruch, mit einem Gebet oder mit einer heiteren Anrede eröffnet, sei es in biblischen Rhythmen, in Hexametern oder in einfacher Prosa. Essend und trinkend nähert sich der Mensch mehr als je dem Ursprünglichen. Er schwelgt am Busen der Natur, deren Schätze uns die Kochkunst erst recht eigentlich zugänglich machte. Essen und Trinken ist Kunst- und Naturgenuss zu gleicher Zeit. Da liegen die Austern der unerforschlichen See; da flutet die Schildkrötensuppe, die herzerfreuende. Da prangt das Rippenstück eines schwerwandelnden friesischen Ochsen, und hier ragt die Keule eines schottischen Widders. Die Schnepfe und das Birkhuhn Alt-Englands, der französische Fasan und die deutsche Lerche. Transatlantische Äpfel, die Orangen Italiens und spanische Trauben. In dem Kristall der Flaschen der gelbe Xeres4, der tiefrote Portwein, der wilde Champagner und das Gold der rheinischen Hügel - - o stelle dich auf den Gipfel des Chimborasso5, und du hast keine schönere Aussicht; vor allen Dingen erhebe du aber deine Hand und danke der Mutter Natur, denn sie hat alles weise geordnet, und die Welt ist voll ihrer Güte.

Ich träumte famos.

Meine Gäste hatten sich gesetzt. Ich saß der weißen Dame gegenüber. Mein grauer Freund hatte die Meerentstiegene zu seinem Visavis. Doch es ist durchaus nötig, dass ich die Namen der Unbekannten nenne. Die weißatlassene lange Dame mit ihrem himmlisch schönen, aber regungslos nichtssagenden Gesichte war niemand anders als die personifizierte »Langeweile«. Mein grauer Freund, der so zakisch angelsächsisch auf seinem Stuhle saß, war der englische »Spleen«; ach, und das Weib, was zu Schiffe kam: es war die »Seekrankheit«.

Und wir tranken und tranken.

Nachdem aber das damastene Tischtuch mit allem, was daraufstand, entfernt war und die geschäftigen Kellner neue Kristalldekanter und neue Gläser auf den nackten Mahagonitisch gestellt hatten, nahm ich das Wort und erklärte der mir gegenübersitzenden lieben langen Göttin der Langenweile, dass ich ungemein glücklich sein würde, ein Glas Wein mit ihr zu trinken.

Die Holde lächelte und erwiderte sofort, dass es ihr zu ganz außerordentlichem Vergnügen gereiche, meiner Einladung zu folgen. Ich füllte daher mein Glas bis an den Rand, und die Göttin füllte das ihrige.

Der Akt des gemeinschaftlichen Weintrinkens ist ein Akt von hoher Bedeutung in England. Zwei Heidelberger Corpsburschen, die die Schlachtfelder von sechs Semestern hinter sich haben, können sich nicht mit mehr Anstand und Würde auf krumme Säbel oder Pistolen fordern, als zwei Engländer sich zum Genuss eines Glases Portwein einladen. Es ist, als ob sich die Türme der Westminsterabtei und die Kuppel von St. Paul bei aufgehender Sonne still »guten Morgen« wünschten. Mit demselben Ernste, mit dem Cromwell6 König Karl aufs Schafott brachte, mit derselben Würde, mit der einst Pitt7 im Parlamente aufstand, um den Krieg gegen die französische Republik zu verlangen, und mit derselben Feier, mit der Lord Hardinge8 nach der Schlacht von Sobraon9 den Völkern des Indus und des Ganges eröffnete, dass sie hinfort den Nacken unter das britische Szepter zu beugen hätten - mit demselben Ernste, mit derselben Würde und mit derselben Feier trinken die Engländer ihren Portwein und Cherry und schauen sich mit ihren starren großbritannischen Augen so schrecklich dabei an, als söffen sie Rattengift, um dann hinabzufahren zum Styx10 oder zum Satan.

Da ich zu Wasser und zu Lande schon oft genug Gelegenheit hatte, mich in dem Naturgenuss des Portweintrinkens zu üben, so konnte es natürlich nicht fehlen, dass mein Duett mit der langweiligen Göttin über alle Maßen vortrefflich ausfiel. Beide ergriffen wir das schimmernde Kristall, in dem das edle Blut der pyrenäischen Halbinsel so mystisch wogte und blitzte wie flüssige Rubinen; beide erhoben wir dann die Gläser, und jetzt uns messend mit stieren Blicken, neigten wir die Köpfe, kaum bemerkbar und möglich steif, um endlich mit todernsten Gesichtern à tempo den großen Moment des Trinkens zu vollenden.

Als aber auch die Göttin der Seekrankheit und der graue Spleen einen Becher miteinander gewechselt hatten, da wandte ich mich wieder zu der Langenweile und sprach zu ihr in dem zierlichsten Englisch, was je ein Insulaner gesprochen hat von dem galanten Sir Walter Raleigh11 an bis auf Benjamin Disraeli12: »Teuerste Göttin, ich gebe Ihnen hierdurch das Wort. Sie werden sich dieses Wortes vortrefflich zu bedienen wissen, und gern wollen wir Ihren Erzählungen lauschen, denn niemand kann interessanter sein als die Langeweile.«

Sprach's und verstummte.

Die Göttin der Langenweile warf aber ihre blonden Locken über das schneeweiße Angesicht; der Atlas ihres Kleides krachte verführerisch, und langsam öffnete sie jetzt die rosigen Lippen und hub folgendermaßen zu reden an:

»Groß ist das Reich, das ich beherrsche. Ja wahrlich, in meinem Reiche geht die Sonne niemals unter. Mein Einfluss erstreckt sich über alle Teile der Erde. Ich beherrsche die Welt seit den grausten Zeiten. Älter bin ich als der älteste der lebenden Menschen; älter als der älteste Kirchturm, als die älteste Pyramide, als die Arche Noah [Genesis 6], ja mit Adam wohnte ich schon im Paradiese [Genesis 2], ehe ihm Gott sein Weib geschaffen zu unendlichem Vergnügen - ja mit Gott selbst stand ich auf vertrautem Fuße, ehe er aus lauter Langerweile die Welt erschuf und alles, was darinnen ist. Unumschränkt war meine Macht in dem sogenannten goldnen Zeitalter der Menschheit; mit den ersten Hirten langweilte ich mich auf den grasreichen Ebnen des Orients; bauen half ich an dem großen sprachverwirrenden Turme [Genesis 11], und wenn auch die heitern Gelage von Babylon und Ninive manchmal meinen stillen Einfluss störten, so fand ich doch Eingang in den Herzen vieler einfältiger Leute, die wie Jakob vierzehn Jahre lang um dasselbe Weib freiten  [Genesis 129] oder wie Joseph lieber ihrem Herrn treu blieben, als sich ihrer Gebieterin angenehm machten [Genesis 39]. Ja, als ein besonderes Faktum bitte ich es zu konstatieren, dass Methusalem [Genesis 5] nur aus reiner Langerweile seine tausend Jahre alt wurde.

Doch der langweiligen patriarchalischen Zeit folgten, ach, die fröhlichen Jahrhunderte der Griechen. Die Götter, die damals en vogue waren, verwilderten im Himmel und die Menschen auf Erden. Unsittlich nackt thronten die Unsterblichen auf dem Gipfel des Olymps, stets bereit zu den verliebtesten Streichen, zu den ausgelassensten Aventüren. Selbst der Vater der Götter verschmähte es nicht, sich unter jederlei Gestalt zu den Nymphen des platten Landes herabzulassen und zu ihrer Heiterkeit ein Erkleckliches beizutragen. Wie konnte damals von Langerweile die Rede sein? Die Menschen nahmen ein böses Beispiel an ihren Vorgesetzten. Auf offenem Markte saßen die reizenden Athener und freuten sich ihres Lebens, und unerbittlich schlossen sich vor mir alle Türen. Hatte ich je einmal Zutritt zu einem hellenischen Wesen, nun, so war es höchstens eine Penelopeia13, die mich aufnahm, als sie sich jahrelang ihrem herrlichen Dulder entgegensehnte.

Auch unter dem Waffenlärm der Römer war meines Bleibens nicht, und ich atmete erst wieder auf, als die christliche Zeit kam mit ihren feisten Mönchen, denen ich in stiller Zelle gern Gesellschaft leistete. Das Christentum brachte mich damals auch nach Deutschland, wo ich in den langen Lehrgedichten der ausgezeichnetsten Poeten die deutlichsten Spuren zurückließ. Das Mittelalter halte ich überhaupt für die Glanzperiode meines Daseins, und ich habe nur zu bedauern, dass es von so kurzer Dauer war, denn mit der Erfindung des Pulvers ging die Welt leider einer Epoche entgegen, die bis auf die jüngsten Tage hin immer kurzweiliger geworden ist.

Blasiert über das Familienleben mischte ich mich damals in die öffentlichen Angelegenheiten der Völker. Vor allen Dingen suchte ich aber stets meinen Einfluss in der Literatur geltend zu machen, und ich muss selbst gestehen, dass ich auf dem Felde der Theologie das Unerhörte geleistet habe. Ärgerlich war es mir, dass ich fast nie bei den Franzosen Glück machte. Aber wir scheinen nicht füreinander geschaffen zu sein. Sie behandelten mich stets mit Geringschätzung, und da ich vor ihrer eingewurzelten Frivolität den tiefsten Abscheu habe, so gab ich mir auch zuletzt keine Mühe mehr, sie durch das Wohltuende meines Einflusses auf die Bahn der Tugend hinüberzuleiten.«

Als die langweilige Göttin soweit gesprochen hatte, musste ich entsetzlich gähnen und wollte mich eben dieses Verstoßes wegen entschuldigen, als ich noch zur rechten Zeit bemerkte, dass mir unwillkürlich die größte Artigkeit passiert war. Das Antlitz der langen Göttin überflog nämlich ein Zug der ungeteiltesten Befriedigung, als sie mich gähnen sah, und mit wahrer Begeisterung setzte sie, namentlich mir zugewandt, ihre Rede fort:

»Sie können hieraus abnehmen, dass ich schon seit geraumer Zeit auf der Erde wirksam umhergespukt habe. Oh, teuerster Freund, ich versichere Ihnen, Deutschland gehörte zu den Ländern, in denen ich mich immer am heimischsten fühlte. Gelebt und geliebt habe ich mit dem edlen Volke der Deutschen, und herrlich hat sich mein Geist offenbart in Germaniens denkwürdigsten Kunstschöpfungen. Wie begeisterte ich nicht den unerreichten Klopstock14! Wie hat nicht Platen15 mich in die weichsten Formen zu bannen gewusst! Aber auch den neueren Autoren wandte ich mich gerne zu. Sind nicht die Gutzkowschen16 Dramen wahre Meisterwerke der Langenweile? Wer ist nicht schon einmal bei den lyrischen Ergüssen der jüngeren rheinischen Dichter selig zusammengeschlummert! Doch auch in der Journalistik bin ich vertreten. Die 'Kölnische Zeitung'17 wurde mein Zentralorgan. Überall zeigt sich mein stilles Walten, und auch Sie, teuerster Freund, werden vielleicht meinen heilsamen Einfluss spüren, wenn Sie nach Ihrer Rückkehr aus England wiederum der Krankheit schriftstellerischer Versuche anheimfallen.«

Trotz der großen Bonhomie, mit der die Göttin diese Worte sprach, hätte ich die letzte Bemerkung doch beinah sehr anzüglich gefunden. Aber die Holde ließ mir keine Zeit, irgend etwas zu erwidern.

»Zwar entfernt von Deutschland«, fuhr sie fort, »nehme ich doch an der Entwicklung Ihres Vaterlandes den wärmsten Anteil. Auf eine erfreuliche Weise zieht sich bei Ihnen wiederum alles in die Länge. Aber das kommt, weil ich mit den besten Rednern der Paulskirche18 auf ein und derselben Bank saß. - - Wie umsäuselte ich nicht den früher so berühmten Soiron19! Wie leitete ich nicht die Beredsamkeit eines Venedey20! Oh, nur ein einziges Mal ist man in Frankfurt aus der Rolle der Langenweile gefallen: als man den Verfasser des Schnapphahnski21 gerichtlich verfolgen ließ!

Ja wahrlich, wenn es nicht ein England in der Welt gäbe, so möchte ich in Deutschland wohnen! Aber die Revolutionen des Kontinents haben mich vertrieben, und auf diesem konstitutionellen Kreidefelsen, auf diesem Hort der Ruhe und der gesetzlichen Ordnung, will ich Hütten bauen, eine für mich, eine für dich, o teurer Spleen, und die letzte für dich, du liebenswürdigste und interessanteste aller Krankheiten, ja für dich, o Seekrankheit!«

Hier schwieg die holde Göttin, und der Spleen, der bisher so steif und unbeweglich wie eine Eule auf seinem Stuhl dagesessen hatte, suchte plötzlich aus lauter Begeisterung über den herrlichen »Speech« die Füße in die Hosentaschen zu stecken, indem er entsetzlich dabei nieste und ein schnarrendes »hear, hear!« ausstieß. Auch die Seekrankheit erwachte aus ihrer Lethargie und machte einige unheimliche Bewegungen. Ihr fahles Angesicht verzog sich zu einer jener unbeschreiblichen Grimassen, die man bei stürmischem Wetter an seinen Seegefährten zu studieren pflegt, und hätte ich nicht rasch meine Augen verhüllt, ich glaube wahrhaftig, das Schrecklichste wäre mir passiert.

Aber meine Gäste kehrten sich wenig an meine tiefen Empfindungen. Sie schauten mit dem süßen Einverständnis verwandter Seelen lächelnd einander an, und ein Bund wurde zwischen ihnen geschlossen, der noch manches Zeitliche überdauern wird.

Ich muss gestehen, ich spielte eine sehr traurige Rolle in diesem Augenblick.

Die Portweinflasche machte aber bald von neuem die Runde, und die Langeweile, der Spleen, die Seekrankheit und ich selbst füllten die Gläser bis zum Rande. Jetzt erhoben wir das schimmernde Kristall, und jetzt uns messend mit stierem Blick, neigten wir die Köpfe, kaum bemerkbar und möglichst steif, um endlich mit todernsten Gesichtern à tempo den großen Moment des Trinkens zu vollenden - und lautlos wurde es in dem weiten Gemache, und nur die Themse schlug murmelnd an die Quadern unseres Hauses, und fernher klang durch die Nacht das Brausen Londons, verhallend wie der Donnerfall des Niagara.

Das Gespräch erstreckte sich jetzt über die Zustände Englands, und die Göttin der Langenweile versicherte mir unter anderm, dass sie eine fleißige Kirchengängerin sei.

»Den englischen Gottesdienst«, meinte sie, »kann ich Ihnen nicht genug rühmen. Unten in dem Schiff der Kirche stehen die Repräsentanten der kleinen Mittelklasse; Menschen, die während der Wochentage so gern Sand in den Zucker streuen, die den Wein mit Schnaps vermischen und die Milch, wenn auch nicht mit Wasser aus dem Jordan, so doch mit dem Segen ihrer Pumpe taufen - mit einem Wort: kleine, ehrliche Leute, die sich mit einem mäßigen Nutzen begnügen. Sie haben sich für heute einmal gründlich die Hände gewaschen und erscheinen in den Kirchenstühlen feierlich schwarz wie Stare und steif wie Böcke.

Rings auf den Galerien sammeln sich die höhern Klassen der Gesellschaft. Fabrikanten, die von reduzierten Arbeitslöhnen leben, unternehmende Spekulanten, die z.B. am Sonntag ungemein für Missionsangelegenheiten und Bibelgesellschaften schwärmen und in der Woche Götzenbilder fabrizieren, zum Export nach dem Innern von Afrika, nach Hindostan oder nach den Inseln der Südsee. Bankiers ferner, die das Skalpieren besser verstehen als die Mohikaner des fernen Westens. Makler, die gewiss in den Himmel kommen, weil sie den Teufel mit der größesten Leichtigkeit um ihre Seelen prellen werden. Advokaten, die so berüchtigt sind, dass man die Kinder mit ihrem Namen bange macht. Unbestechliche Beamte, die bei 300 Pfund Einnahme jährlich 500 Pfund Ersparnisse zurücklegen. Gelehrte, die jederzeit bereit sind, für die Emanzipation der Sklaven aufzutreten, und die sich à la Lord Brougham22 das Gesangbuch in die Haut eines Negers einbinden lassen. Fromme, mildtätige Rentner, die zur Buße für ihre Sünden die gesetzliche Armentaxe bis auf Heller und Pfennig einbezahlen. Wie gesagt, es sind die bessern Klassen der Gesellschaft, welche die gepolsterten Sitze der Galerien einnehmen; Leute, die von 5000 bis zu 20000 Pfund wert sind, Geschäftsmänner ersten Ranges, die man an der Börse kennt, die stets gutes Papier remittieren, manchmal Wagen und Pferde halten und deswegen sehr respektabel sind. Die noch reicheren Leute dienen dem Herrn ihrem Gotte in aparten Logen.

Mitten zwischen den Männern sitzen die kaninchenkeuschen Gattinnen und Töchter der liebenden Familienväter. Die unten in dem Schiff der Kirche nach Rosinen und Korinthen, kurz, nach allen Gerüchen der Levante duftend; die auf den Galerien möglichst geschmacklos in die reichsten Seiden - und Atlasstoffe gekleidet.

Während der Organist auf seinem herrlichen Instrumente sehr schlecht präludiert, füllt sich der Raum allmählich mit Andächtigen. Jeden lässt man herein, und wohlgekleideten Fremden weist man mit der größesten Artigkeit die besten Plätze an. Nur zerlumpte Arbeiter und Bettler, die keinen Kirchenstuhl bezahlen können, werden in die Zugluft des Einganges oder gar hinausgewiesen.

Endlich erscheint der Pastor. Er ist ein würdiger Mann, der sogar abends bei einer Flasche Portwein ein ganz fideler Kerl ist, der auch bisweilen in Eisenbahnaktien spekuliert und überhaupt die irdischen mit den himmlischen Interessen aufs vorteilhafteste zu verbinden weiß. Er hat das Alte und das Neue Testament im Kopfe, und räuspernd stellt er sich auf die Hinterbeine und schnarrt den Text.

Da erhebt sich die ganze fromme Gemeinde. Man wackelt mit den Köpfen, man wendet sich rechts und links, man verdreht die Augen, und säuselnd beginnen sie ihren Davidschen Psalm.

O liebliches Säuseln! Wie wird mir - bin ich auf Erden? Sitze ich unter Sterblichen? Sind das die Leute, die während sechs Wochentagen so trefflich zu schachern wissen, die von reduzierten Arbeitslöhnen leben, die Götzenbilder fabrizieren, die ihre gesetzliche Armentaxe bezahlen? Nein, es ist nicht möglich! Ich bin im Himmel. Ich höre die himmlischen Heerscharen singen; sie jauchzen von Liebe und Glauben, von Entsagung und göttlicher Barmherzigkeit - ja wahrhaftig, teuerster Freund, ich kann Ihnen den anglikanischen Gottesdienst nicht genug empfehlen.«

Hier machte die Göttin eine kleine Pause und trank ein großes Glas Portwein. Ich war etwas erstaunt über ihre Schilderung, denn nach alledem, was ich vernahm, musste ich doch diese kirchlichen Feierlichkeiten für ungemein ergötzlich halten, und es war mir nur ein Rätsel, wie die Langeweile sich so sehr damit einverstanden erklären konnte. Die Göttin schien meine Zweifel zu erraten, und rasch fuhr sie zu reden fort:

»Glauben Sie indes ja nicht, teuerster Freund, dass das allerdings belustigende Orgeln, Singen, Jauchzen, Wackeln und Augenverdrehen länger als eine halbe Stunde dauert.

Den heitern Präliminarien folgt endlich die langweilige Predigt. Sie können sich gar nicht denken, wie mächtig ich in der Rede eines englischen Geistlichen bin. Schon nach den ersten zwanzig Phrasen bringe ich die Leute, trotz ihres festen Vorsatzes, wach zu bleiben, zum leisen Einnicken, und ist der Redner gar bis an das Herz seines Gegenstandes vorgedrungen, da dominiere ich total, und es passiert nicht selten, dass der sprechende Pastor und ich selbst die einzigen Wesen sind, welche von vielen Tausenden die Augen offen behalten.

Ja, ich schwärme für den englischen Gottesdienst. Sie können die verschiedenen Momente desselben wie folgt zusammenfassen: zuerst das Geläut der Glocken, dann der Gesang; hierauf die Predigt und der Schlaf. Zuletzt das Vaterunser. Der Schlaf dauert am längsten. Dreimal habe ich sonntäglich das Vergnügen dieser Feierlichkeiten, unzählige schlaftrunkene Kränzchen und Konventikelchen nicht mitgerechnet.«

Jetzt begriff ich die religiöse Begeisterung meiner Freundin, und gern schickte ich mich an, ihren ferneren belehrenden Mitteilungen ein aufmerksames Ohr zu leihen.

»Der einzige Prediger in England, der die Leute nicht zum Schlafen bringt«, erzählte die Göttin weiter, »ist ein deutscher Jude, namens Wolff. Dieser Dr. Wolff ist eine so merkwürdige Persönlichkeit, dass Sie gewiss verzeihen werden, wenn ich Sie ausführlich über diesen ausgezeichneten Mann unterhalte. Es versteht sich von selbst, dass ich den Doktor hasse, denn durch seine interessanten Predigten droht er die Langeweile der englischen Kirchen auf eine sehr bedauerliche Weise zu meinem Nachteil umzugestalten.

Die Kindheit des ehrwürdigen Doktors gehörte dem patriarchalischen Glauben der Väter an. Das Mittelalter seines Lebens war dem Katholizismus gewidmet. In der neuern Zeit warf sich Wolff aber der Religion der Gegenwart, der anglikanischen Industrie, in die Arme. Alle großen Epochen der Weltgeschichte spiegeln sich also in dem Leben dieses Mannes wider.

Wolff wurde zu Frankfurt a.M. geboren, in derselben Stadt, die in alter und neuer Zeit so viele komische Geburten erlebt hat. Die ersten Lebensjahre unseres Helden verstrichen bedeutungslos. Wolff war seinen Eltern untertan. Zärtlich, wie Väter und Mütter sind, bestimmten die Wölffischen Eltern ihren Sohn für den Handel, und frühe schon unterwies Vater Wolff seinen Sohn in der hohen Kunst des Addierens und des Multiplizierens. Im Dividieren und im Subtrahieren unterrichtete er ihn nicht, denn Vater Wolff war der Ansicht, dass man dieses leider im Leben von selbst lerne.

Das Gemüt des Knaben ergötzte sich an dem geheimnisvollen Zauber der Zahlen, und sein Geist entwickelte sich zusehends.

Als aber Wölffchen so weit gekommen war, dass er selbständig zu rechnen verstand, da ging er mit sich zu Rate und machte die Entdeckung, dass er allerdings ein schönes Talent für die Vervielfältigung der beschnittenen Dukaten besitze, dass er aber einen Verrat an diesem Talente begehe, wenn er es in der untergeordneten Manier seiner Vorfahren ausbeute.

Das Kostbarste, was du besitzest - sagte Wolff zu sich selbst -, ist nicht deine angeborne Zähigkeit, dein scharfer Verstand und deine schleichende Courage, nein, noch viel kostbarer ist dein alter Glaube! Suche dieses rostige Vermächtnis mit Zähigkeit, mit Verstand und mit Courage in die kurrente Münze der Jetztzeit umzusetzen, denn nur auf diese Weise wirst du das große Rechenexempel deines Lebens ersprießlich lösen können.

Und Wolff wurde sehr ernst, und er setzte sich hin und studierte Tag und Nacht. Als er aber viele der ältern und der neuern Sprachen gründlich erlernt hatte und in fremden Zungen geradeso gut sprach und in fremden Zügen geradeso gut schrieb, wie er in Buchstaben und Zahlen, addierend und multiplizierend, glücklich fühlte und dachte: da reiste er nach Rom und legte sein orientalisches Gewand ab und schlüpfte in den weihrauchduftenden Rock eines Zöglings der Societas de propaganda fide23.

Sein ewiges Volk vergaß der Abtrünnige in der Ewigen Stadt, und zu lächelnden Raffaelischen Madonnen betete der Jüngling, der sich beugen sollte vor dem alten Herrn Zebaoth24 der Frankfurter Börse.

Doch der alte Judengott lachte über den törichten verlornen Sohn, denn der Gott des Gewinnes und des Verlustes wusste sehr wohl, dass Wölffchen sich verspekuliert hatte. Ja, der alte Bankier Zebaoth24 ist blasiert über seine christlichen Debitoren; er kennt ihre Handlungsbücher so gut wie die seinigen, und er weiß, dass der heilige Petrus sich glücklich schätzt, wenn das alte Geschäft des Sinai die christlichen Wechsel noch ferner diskontieren will.

Bei seinem Übertritt zur katholischen Kirche hatte Wolff an alles gedacht, nur nicht an dies. Zu seinem nicht geringen Schrecken wurde er plötzlich des fatalsten aller Missgriffe inne.

Er glaubte, bei reichen, mittelalterlichen Äbten und Kardinälen angekommen zu sein, und er war zu den allermodernsten Bettelmönchen geraten; und ob die Raffaelischen Madonnen auch noch so lieblich lächelten und ob der Weihrauch auch noch so lieblich duftete, Wolff fühlte sich sehr unbehaglich in dem vermeintlichen Mittelalter, er lernte damals das Dividieren und das Subtrahieren, und gern hätte er den Rock der Propaganda wieder mit dem Gewande des Orients vertauscht.

Doch das war nicht mehr möglich, der Kredit unseres Helden war bei der orthodoxen Bank Sinai zu sehr erschüttert. Er konnte nicht zurück; er konnte nur vorwärts, und rasch beschäftigte er sich damit, die hindernden Widersprüche seines Daseins zu versöhnen, um endlich einer erfreulicheren Karriere entgegenzusteuern..-.

Der Jude, der ein Römer geworden war, wurde nämlich aus einem Römer ein Engländer. Ist eine vortrefflichere Verwandlung denkbar?

Wolff ging zur anglikanischen25 Kirche über, und vollkommen gelang es ihm jetzt, seine patriarchalischen Reminiszenzen und seine ganze mittelalterliche Anschauung in die praktischen Interessen der Jetztzeit aufzulösen.

Ein ganz besonderer Umstand kam ihm hierbei trefflich zustatten. Wolff machte sich nämlich anheischig, zwei in Indien verlorengegangene englische Offiziere wiederaufzusuchen. Er reiste wirklich nach jenen fernen Gegenden ab, und in allen englischen Journalen las man bald die wunderbare Nachricht, dass der würdige Doktor, auf einem Esel reitend, in wallendem Talare, das Wort des lebendigen Gottes aufgeschlagen in der Hand, alle feindlichen Positionen passiert habe und bis nach Bokhara vorgedrungen sei. Wochen und Monate verstrichen indes, und Wölffchen langte endlich wieder wohlbehalten in Alt- England an - ohne die beiden Offiziere.

Sein Glück war aber gemacht. Er war der Mann des Tages. Die englischen Journale machten sich ein Vergnügen daraus, ihre Spalten durch die abenteuerlichen Berichte des Doktors zu würzen, und der Doktor selbst stieg auf alle Kanzeln und Tribünen, um auch mündlich den erstaunten Pfarrkindern seine Don Quijotiaden vorzutragen. Eine Pfarre, die etwa 600 Pfund einbrachte, und eine Lady mit ebensoviel Rente waren bald die Belohnung des jüdisch-römisch-anglikanischen Frankfurters, und nie hat wohl jemand den frommen Bewohnern Großbritanniens eine entsetzlichere Nase gedreht als unser Wölffchen.«

Hier schwieg die holde Göttin der Langenweile. Der Spleen kaute an den Fingern, die Seekrankheit schaukelte sich auf ihrem Sessel, und ich selbst war so entzückt über die interessanten Mitteilungen meiner Freundin, dass ich das Trinken ganz darüber vergessen hatte - was gewiss viel heißen will.

Aber seht, ihr Romanschreiber und Novellendichter: wenn ich von der Langenweile träume, so bin ich interessanter, als wenn ihr wachend eure kurzweiligsten Schätze zu produzieren versucht.

»Ja, teuerster Freund, ich dominiere in England -«, sprach die Göttin der Langenweile, etwas ermüdet von dem vielen Erzählen. -

 »Oh, Verehrteste«, erwiderte ich ihr, »ich bin ganz davon überzeugt; ich hatte die beste Gelegenheit, Ihr stilles Walten an Ort und Stelle zu bewundern. So wohnte ich z.B. einst in der Nähe einer Familie, deren Geschichte zu den langweiligsten gehört, die Sie hören können -«

»Erzählen Sie!« riefen meine Gäste, und ich musste natürlich gehorchen.

»Besagte Familie bestand aus drei Personen. Aus dem Vater, der Mutter und der Tochter. Der Vater war ein Ehrenmann; er sprach wenig und aß viel. Den Trunk liebte er aber über die Maßen. Seines Zeichens war er ein Fabrikant von Grabsteinen, woraus Sie abnehmen können, dass der Herr Thompson nur mit den bessern Klassen der Gesellschaft zu tun hatte, denn ein Arbeiter reflektiert selten auf ein Monument, ein Arbeiter ist schon damit zufrieden, wenn er tot ist, ein Arbeiter ist ein ungebildeter Mann - - So dachte Herr Thompson, und wie gesagt, machte er nur mit reichen Fabrikanten, mit feisten Pächtern, mit ehrwürdigen Pastoren, kurz, mit Leuten Geschäfte, die schon bei Lebzeiten einsehen, dass es dereinst gar nicht schaden kann, wenn man ihnen schwarz auf weiß auf die Grabsteine schreibt, dass sie einen tugendhaften Lebenswandel führten, niemand betrogen und gen Himmel fuhren als anständige Bürger der Stadt und gläubige Jünger Jesu Christi - - Herr Thompson machte vortreffliche Geschäfte. Aber der Trunk, der Trunk! Herr Thompson liebte den Trunk mehr als sein Leben, und er trank sich deshalb zu Tode.

Als er aber nun eine schöne respektable Leiche war, da ging seine hinterlassene Gemahlin mit sich zu Rate und setzte ihm auf sein Grab den schönsten Leichenstein, der je die Asche eines Gerechten gedrückt hat. 'Hier ruht Herr Thompson', hieß die Inschrift, 'Fabrikant von Grabsteinen, Eigentümer mehrerer Häuser und Familienvater. Wandrer, stehe still usw.' - Nichtsdestoweniger war die Witwe unglücklich genug, keinen zweiten Wandrer durchs Leben auftreiben zu können.

Ja, dies war sehr schlimm, denn der verstorbene Herr Thompson hatte seiner Gattin außer mehreren Häusern und außer seinem restierenden Vorrat an Grabsteinen auch noch dieselbe Leidenschaft hinterlassen, aus welcher er selbst in ein besseres Leben hinüberschlummerte, und je mehr sich die Aussicht der Witwe verschlechterte, einen andern Gatten wiederzufinden, desto mehr verringerte sich bald der Wert der Häuser und die Zahl der Grabsteine, so dass von Häusern und Grabsteinen nur ein einziger unversetzter und nicht vertrunkener Grabstein übrigblieb, den Frau Thompson mit sich ins oder vielmehr aufs Grab nahm, als sie, dem Beispiele ihres vorangegangenen Gemahles treu, endlich ebenfalls am Trunke dahinschied, um ihr Töchterchen ohne Häuser und ohne Grabsteine allein auf der Oberwelt zurückzulassen.

Die arme Miss Thompson war nun wirklich übel dran. Übrigens war sie schön, und das ist schon immer etwas. Nachdem sie daher als echte Engländerin bei sich überlegt hatte, ob sie nach Australien gehen, ob sie sich den Hals abschneiden oder ob sie lieber heiraten solle: zog sie schließlich das letztere vor und verfügte sich sofort zu ihrer Nachbarin.

Der Zufall wollte es, dass ich bei eben dieser Nachbarin im Hause wohnte. Sie war eine der vortrefflichsten und ehrlichsten Frauen, die ich je gesehen habe. In der Kochkunst war sie nur bis zu einem Beefsteak gekommen, aber in der Frömmigkeit blieb sie hinter David und Salomo wenig zurück. Die Psalmen des erstern wusste sie vortrefflich falsch zu singen; die Katze, der siedende Teekessel und die Wetterfahne auf dem Dache stimmten in den Gesang ein, und ich werde wohl nie wieder ein solches Konzert zu ertragen haben.

Meine alte Wirtin hatte den Besuch der jungen Miss Thompson freudig entgegengenommen und sofort die nötige Rücksprache mit ihr getroffen. Es war ihr bald klar, was das Herz des armen Kindes verlangte, und keine zehn Minuten verflossen, da klopfte die ehrliche Frau auch schon an mein Zimmer.

Ich war nicht wenig erstaunt, die Alte mit der Jungen hereintreten zu sehen. Ich springe empor, ich lade die junge Dame aufs freundlichste ein, sich zu setzen, und nachdem wir die gewöhnlichen Artigkeitsphrasen miteinander gewechselt haben, erkundige ich mich darnach, was mir die Ehre dieses schönen Besuches verschafft hat.

Traurig schlägt da die kleine Miss ihre blauen Augen nieder; ich ergreife ihre weiche Hand und bitte sie, Zutrauen zu mir zu fassen und alles von mir zu verlangen, was ein Sterblicher zu leisten imstande ist - aber vergebens. Eine peinliche Windstille entsteht in der Konversation. Ich habe Zeit, die junge Person zu betrachten; sie ist allerliebst. Die blonden Haare, der schlanke Wuchs, die weißen Hände und die schwermütig verhangenen Augenlider: alles zieht mich unwillkürlich zu ihr hinüber; ich bitte sie inständigst, mir die Rätsel ihres kleinen Herzens zu erschließen, und tausend Eide schwöre ich, nichts davon verraten zu wollen - aber umsonst!

Da ist endlich meine alte Wirtin so gescheit, der allseitigen Verlegenheit ein Ende zu machen. Sie stemmt die Hände in die Seiten und erzählt mir die Geschichte von den Eltern des Mädchens, von den Häusern und den Grabsteinen:

'Und sehn Sie', fährt sie dann fort, 'Miss Eliza ist jetzt ein verlassenes Kind.

Was soll sie tun? Es ist am besten, dass sie heiratet. Sie trägt Ihnen daher ihr Herz und ihre Hand an, und es wird ihr jedenfalls lieb sein, wenn Sie sich bald entschließen wollen, denn das Alleinsein ist langweilig, und der Mann findet den besten Komfort in seinem geliebten Weibe -'

Einen Davidschen Psalm beginnend, endet die Alte ihren Vortrag, und verwundert blicke ich bald auf die würdige Matrone, bald auf das schüchterne Mädchen. Die Unbeweglichkeit und das Schweigen der jungen Miss scheinen mir zu beweisen, dass die Alte die reine Wahrheit gesprochen hat. Ich rücke daher näher mit meinem Sessel und lege die Hand vertraulich auf den Arm des hübschen Kindes. 'Sie wollen mich also heiraten?' - 'Yes, Sir.' Es wird mir ganz angenehm zumute. 'Wie der Prophet Habakuk', fahre ich fort, 'bin ich capable de tout, aber erlauben Sie wenigstens, liebe Miss, dass ich Ihnen vorher eine Woche oder einen Monat lang Gelegenheit gebe, mich kennenzulernen. Es kann Ihnen doch unmöglich recht sein, so ohne weiteres eine Verbindung einzugehen, welche die interessantesten Folgen haben könnte. In der Tat - -'

Die Alte unterbricht mich: 'Vierundzwanzig Stunden! Vierundzwanzig Stunden haben Sie Bedenkzeit!' - 'Ja, vierundzwanzig Stunden', lispelt die Miss, und sie erhebt sich und verschwindet.«

»Aber Sie werden doch, beim Teufel, das Frauenzimmer nicht geheiratet haben?« fragte hier mein grauer Freund, der Spleen, indem er sich erschrocken emporrichtete.

»Teuerster Spleen, ich wäre wirklich fast so toll gewesen. Vor allen Dingen hielt ich es für meine Pflicht, der heiratslustigen Kleinen den gemachten Besuch sofort zu erwidern. Ich traf sie sehr gefasst in ihrem Zimmer an; ich setzte mich zu ihr und erzählte ihr einen halben Tag lang alles, was mir gerade in den Sinn kam. 'Vierundzwanzig Stunden!' blieb aber der Termin. Der Starrsinn der Kleinen war nicht zu beugen.

Das Ende vom Liede war, dass meine Schöne nach vierundzwanzig Stunden den ersten andern Menschen zum Manne nahm, der ihr in den Wurf kam. Ich begleitete das glückliche Ehepaar zur Kirche, und wir sind stets besonders gute Freunde geblieben.«

»Kam die junge Frau mit einem Knaben oder mit einem Mädchen nieder?« fragte die Langeweile.

»Mit einem Grabstein!« murmelte der Spleen, und die Seekrankheit wälzte sich vor Lachen.

Die Göttin der Langenweile wunderte sich keineswegs über die Geschichte der jungen Miss Thompson:

»Mit den Heiraten ist es ein eigenes Ding in England«, fuhr sie fort, »die Heiraten stehen in England in genauem Zusammenhange mit den Weizenpreisen. Wahrscheinlich ist dies in andern Ländern nicht weniger der Fall, aber ich möchte fest behaupten, dass sich namentlich in England die gegenseitige Annäherung junger Personen, ja, mit einem Worte, dass sich die Liebe beider Geschlechter genau nach den Notierungen der Kornhändler von Mark Lane26 richtet. So wurden z.B. im Jahre 1832 bei einem Weizenpreise von 52 Schilling p. Quarter 242469 Ehen geschlossen, eine Anzahl, die sich im Jahre 1835 bei einem Weizenpreise von 34 Schilling bis auf 275508 Ehen vergrößerte.

Haben Sie nur die Güte, die höchst interessanten statistischen Tabellen über die Population der Vereinigten Königreiche in Porters 'Progress of the Nation'27 nachzuschlagen, und Sie werden nicht nur finden, dass diese Angaben durchaus richtig sind, sondern dass sich dieselben Schwankungen auch in allen übrigen Jahren seit dem Beginn dieses Jahrhunderts wiederholten.

Ja, der Gott Amor hängt von den Fruchthändlern der Londoner City ab; die Fruchthändler der City richten sich nach dem Wind und dem Wetter, und die Liebe ist eine rein ökonomische Frage.

Wenn Ihnen die allerliebste Miss Thompson einen Heiratsantrag machte, so glauben Sie daher ja nicht, dass diese Artigkeit Ihren geistigen und körperlichen Vorzügen gegolten hätte - nein, Fräulein Thompson hatte vielleicht gerade in irgendeiner Zeitung gelesen, dass wegen des schlechten Wetters und infolge einer bevorstehenden Missernte die Fruchtpreise bedeutend in die Höhe gehen würden, und es verstand sich daher von selbst, dass sie als echte Engländerin sofort den Entschluss fasste, sich zu verlieben, um Sie noch zur rechten Zeit zu der Torheit einer ehelichen Verbindung zu verleiten.

Die Ehe ist in England eine Geschäftssache, welche man so rasch und so rund als nur möglich abzutun pflegt, und wenn man der Liebe noch keinen besondern Platz auf der Börse anwies, unterblieb dies nur deswegen, weil man bisher dergleichen geringfügige Geschichten en passant abmachte und sie mehr unter die Rubrik der Spekulationen brachte, welche ganz im stillen und ohne viel Geräusch behandelt werden wollen.

Die englischen Arbeiter machen einzig und allein eine Ausnahme in dem Geschäftsabschluss der Ehe. Es liegt auf der Hand, dass diese armen Leute sich nur durch den Frühling, durch einen singenden Vogel oder durch eine hübsche Blume zur Liebe hinreißen lassen, denn die Konsequenzen ihrer ehelichen Verbindungen kommen nicht in Pfunden Sterling, sondern nur in jenen hungrigen Kindern zum Vorschein, deren Sterblichkeit, wie bekannt, nach einer schlechten Ernte oder nach einer Handelskrise um 25 bis 30 Prozent über die Summe des gewöhnlichen Totenzettels hinauszusteigen pflegt.

Die Aristokratie verheiratet sich in England, um ihre Rasse fortzupflanzen; die Mittelklasse sucht ein Zinsengeschäft zu machen, und der Arbeiter nimmt ein Weib, damit ein gleichgestimmtes Wesen seine Not und seine Langeweile teile, denn man langweilt sich jedenfalls weniger zu zweien als allein.

Aus diesem Grunde bin ich gegen jede Ehe!

Ostern und Pfingsten sind die Zeitpunkte, wo namentlich die englischen Arbeiter ihre Ehen schließen. Es ist nicht selten, dass man dann vierzig bis sechzig Paare vor den verschiedenen Kirchentüren einer Fabrikstadt antrifft. Die heiratslustigen Männer, junge Burschen von 18 bis 22 Jahren, haben sich so hübsch als möglich herausgeputzt. Ihre Bräute tragen schwarze Merinokleider und ein schneeweißes wollenes Tuch darüber. Beiläufig bemerkt, unterscheiden sich die Fabrikarbeiterinnen in ihrer Kleidung sehr von den weiblichen Dienstboten. Während die ersten nämlich im gewöhnlichen Leben alle Farben und an ihrem Hochzeitstage schwarz tragen, kleiden sich die Dienstboten, namentlich die der wohlhabendern Familien, fast durchgängig violett, eine Farbe, die sich sehr hübsch macht, besonders im Gegensatze zu dem schneeweißen englischen Teint des Halses und des Busens, der bei dem tiefen Einschnitt der Kleider stets Gelegenheit hat, sich dem Auge des aufmerksamen Beobachters in seinen vorteilhaftesten Formen zu zeigen.

Ist die Ehe kirchlich eingesegnet, so ziehen die Neuvermählten, ein Paar hinter dem andern, durch die Stadt, um nach einem schnell beendigten Mittagessen gemeinschaftlich eine Hochzeitsreise in die nächsten Felder oder auf die umliegenden Hügel zu unternehmen, wo man sie in dem geselligsten Zusammensein bis gegen Abend durch Spielen, Tanzen und Singen ihren Hochzeitstag feiern sieht.

Wie die englischen Arbeiter in fast allem, was sie tun und treiben, aus der gewöhnlichen guten Sitte der steifen Mittelklasse heraustreten, so zeichnen sie sich auch durch diese massenhaftere und deswegen viel interessantere Hochzeitsfeier vor den übrigen Klassen der Gesellschaft vorteilhaft aus. Statt eines einzigen frisch vermählten Paares, das von seiner Umgebung mit dummen Glossen und mit abgenutzten Witzen umringt wird, begehen die Arbeiter in Gesellschaft den Tag der ersten Liebe, und der Himmel ist auch fast immer so gefällig, die kurze Feier mit seiner Oster- oder Pfingstsonne aufs freundlichste zu begünstigen.

In früheren Jahren dehnten Neuvermählte fast nie ihre Hochzeitsreisen weiter als auf den Besuch der nächsten Felder aus. Erst seit die Eisenbahnen den Verkehr erleichtert haben, unternehmen sie auch Touren nach den benachbarten Städten und Dörfern. Von einer solchen Reise hatte ich neulich das komischste Beispiel. Tom Holmes, ein Fabrikarbeiter, liebte nämlich Mary Ann Wilson, das Dienstmädchen einer vornehmen Kaufmannsfamilie in Manchester. Der Frühling kam, und Tom bestand darauf, dass man Hochzeit halte. Mary Ann musste sich daher am Sonntag für einige Stunden Urlaub ausbitten; man ging zur Kirche und ließ sich kopulieren. Leider waren aber so viele Brautleute vor Tom und Mary Ann eingeschrieben, dass unser junges Paar fast drei Stunden auf seinen Segen warten musste. Von den vier Stunden, welche Mary Ann Urlaub erhalten hatte, blieb daher nach dem Schluss der kirchlichen Feier nur noch eine Stunde übrig. Es war nun zu spät, eine beabsichtigte Eisenbahntour nach Liverpool zu machen, und Mary Ann schlich zur bestimmten Stunde wieder zurück in das Haus ihrer Herrschaft. Traurig langweilig traf ich das arme Mädchen hier an. Den Kopf auf die Hand gestützt und die hellen Tränen im Auge, saß das verlassene Kind in dem stillen Zimmer der Küche und begriff eigentlich nicht recht, weshalb man nur deswegen heirate, um sich gleich wieder von seinem Manne zu trennen. Da tritt die Dame des Hauses vor ihre Magd. Sie sieht, dass das schöne Mädchen geweint hat, und sie erkundigt sich nach der Ursache ihres Kummers. Mary Ann will lange Zeit nicht mit der Sprache heraus, zuletzt gesteht sie, dass Tom es 'nicht länger habe aushalten können', dass sie geheiratet hätten und dass der Urlaub leider nur gerade für die Kirchenfeier ausgereicht habe und dass Tom, da sie gezwungen gewesen sei, nach Hause zurückzukehren, nun 'allein' die beabsichtigte Hochzeitsreise nach Liverpool unternommen habe, von der er hoffentlich zurückkehren werde, um dann später einmal seine Frau wiederzusehen.«

Die Göttin der Langenweile schwieg. »Diese Heirat scheint also weder aus Spekulation noch aus Vergnügen unternommen worden zu sein?« setzte ich hinzu. »Ja, nicht einmal die Fruchtpreise wurden dabei berücksichtigt.«

»Tom konnte es nicht länger aushalten«, wiederholte die Göttin, und der graue Spleen meinte, dass er sehr wahrscheinlich in dieser Geschichte ein bedeutendes mitgespielt habe.

Ich hatte den Erzählungen der Göttin der Langenweile mit der größten Aufmerksamkeit zugehört, aber ich muss gestehen, ich fühlte allmählich den Einfuß der holden Dame. Es war mir zumute, als hörte ich einen evangelischen Kandidaten die erste Sonntagnachmittagspredigt säuseln, als läse ich einen Leitartikel der »Kölnischen Zeitung«, als sähe ich Regenwürmer aus der Erde kriechen und nach der Musik eines Dudelsacks den Fandango tanzen.

Meine Nase wurde unwillkürlich länger, ich fühlte, dass meine Beine sich dehnten, und ich musste gähnen, entsetzlich gähnen.

Alles das encouragierte aber die würdige Göttin nur, immer weiter fortzufahren. Ich legte mich daher ins Mittel und bemerkte ihr, dass ihre Mitteilungen allerdings von dem höchsten Interesse gewesen seien, dass ich aber nun über das Familien- und Kirchenleben der Briten hinlänglich unterrichtet wäre und dass es mir angenehm sein würde, auch über sonstige Dinge noch etwas zu erfahren.

»Ach, da muss ich Ihnen vom Parlamente erzählen!« rief da die Göttin, und ohne weiteres schickte sie sich an, mich in das Haus der Gemeinen einzuführen.

»Das provisorische Haus der Commons ist ein wenig räumliches, aber gut eingerichtetes Gebäude. Im Sitzungssaale bemerken Sie rechts und links auf gepolsterten Bänken die ehrenwerten Mitglieder; die Hüte auf den Köpfen, die Beine übereinandergeschlagen. Im Hintergrunde, zwischen den beiden Reihen der Mitglieder, sitzt der 'Sprecher', der Präsident, der wohl nur deswegen Sprecher heißt, weil er nie spricht, auf einem ziemlich hohen Stuhle. Er trägt eine große Allongeperücke und schneidet ein todernstes Gesicht. Vor dem Sprecher sitzen zwei Schreiber, ebenfalls mit Perücken, und vor den Schreibern steht ein Tisch, auf dem sich die für die Debatte erforderlichen Papiere usw. befinden. Dem Sprecher gegenüber, an dem andern Ende des Saales, ist die sogenannte Bar, welche nur Parlamentsmitglieder passieren dürfen. Dies die Einrichtung des untern Teiles des Hauses. Oben laufen Galerien um alle Wände. Die Galerien rechts und links sind nur den Mitgliedern zugänglich. Die Galerie über dem Sprecher ist für die Berichterstatter bestimmt; die ihm gegenüberliegende Tribüne gehört den Fremden.

Beiläufig bemerke ich Ihnen noch, dass die Bänke zur Rechten des Sprechers von der ministeriellen Partei eingenommen werden und dass auf der ersten Bank die Minister sitzen. Links vom Sprecher lässt sich die Opposition nieder. Die Mitglieder sprechen nicht von einer Tribüne, sondern von ihren Plätzen, indem sie sich von der Bank erheben und für die Dauer der Rede ihre Häupter entblößen.

Ich hoffe, dass Ihnen meine Schilderung klar ist. Wenn Sie als Fremder auf der Fremdengalerie sitzen, so sind Sie in dem umgekehrten Falle wie der Sprecher. Zu Ihrer Linken haben Sie dann das Ministerium; zu Ihrer Rechten die Opposition, und zwischen beiden Parteien durch blicken Sie über den Tisch des Hauses hinweg geradezu auf die große Nase des Sprechers.«

»Verstanden!« unterbrach ich die Göttin und weckte mich aus meinem Geistesschlummer durch ein großes Glas Portwein.

»Oh, selige Nächte habe ich schon in diesem Hause verlebt«, fuhr die Langeweile fort, »denn die Sitzungen dauern häufig ihre acht bis zehn Stunden und ziehen sich nicht selten bis 4 oder 5 Uhr morgens hin. In solchen Fällen bin ich allmächtig. Die geduldigsten Mitglieder des Hauses bringe ich zur Verzweiflung und die hitzigsten Gemüter zum Einschlafen. Mit Recht kann ich von den endlos langen Debatten sagen, dass sie diejenigen sind, in welchen ich eine fast unumschränkte Herrschaft ausübe, und ich habe nur zu bedauern, dass gewöhnlich die meisten ehrenwerten Mitglieder davonlaufen, wenn eine derartige Diskussion beginnt. Ja, die Engländer sind blasiert über das irische Elend; sie hörten es schon zu oft wiederholen, dass Paddy ein armer Teufel ist; es ist eine Sache, die sich von selbst versteht, und niemand begreift, warum man noch viele Worte darum verlieren soll.

Als der alte Daniel O'Connell28 noch lebte, da war freilich die Geschichte anders, denn der König Dan war eine zu merkwürdige Persönlichkeit, als dass man nicht mit Aufmerksamkeit hätte zuhören sollen. Sowie er vom Sprecher das Wort erhielt, stürzte auch ein Türsteher in den nächsten Konversationssaal, um den schwatzenden Mitgliedern die Wendung der Debatte anzuzeigen, und sofort füllten sich alle Bänke mit Zuhörern. Wie ein General auf dem Schlachtfeld stand der alte Dan auf seinem Platze, und wenn er bald mit Donnerstimme den Engländern das Elend seiner Landsleute ins Gedächtnis zurückrief und bald in süßen, melodischen Tönen von dem 'Edelstein der See', von der 'schönsten Insel der Welt' lispelte, da schlief niemand ein, da lauschte man jedem Worte, und selbst die Gegner konnten den Beifall nicht versagen.

König Dan war ein schlauer Mann. Er hing seine Advokatur an den Nagel und wurde Agitator, eine Beschäftigung, die ihm jährlich etwa 30.000 Pfund einbrachte. Solange die Agitation dauerte, solange bezog Dan auch diese Rente, und es war daher ganz in seinem wohlverstandenen Interesse, dass er der Leidenschaft des Volkes nie zu sehr den Zügel schießen ließ und nie den Versuch machte, die revolutionäre Bewegung und damit das Elend seiner Landsleute zum Schluss zu bringen. Leute, die nicht auf der Höhe ihrer Zeit stehen, könnten hieraus schließen, dass Dan eigentlich ein großer Schuft gewesen sei - - Aber was wollen Sie? Dan war Geschäftsmann. Dan spekulierte in irischem Elend, und wenn sich auch die Irländer dazu gratulieren konnten, dass Dan endlich starb und dass ihnen die Augen aufgingen, so verlor doch das britische Parlament jedenfalls einen Mann, der zu den besten Rednern gehörte. Ja, der alte Dan hat mir durch seine fulminanten Reden oft genug Eintrag getan, und ich kann ihm nur deswegen verzeihen, weil er einst einen Streich beging, der das Haus für mehrere Tage langweiliger machte, als es vielleicht seit seinem Bestehen gewesen ist.

Die Sache verhielt sich nämlich einfach so, dass man O'Connell bei irgendeiner Debatte durch allerlei Intrigen halb rasend gemacht hatte. Vergebens ließ Dan alle Minen springen, um seine Gegner wenigstens in etwa für seine Pläne zu interessieren - aber man lachte ihn aus und trieb ihn dadurch schließlich zu einer der schlimmsten Maßregeln, welche je dagewesen. Jedesmal nämlich, wenn die Verhandlungen ihren Anfang nahmen, erhob sich O'Connell von seiner Bank und bemerkte dem Sprecher, dass Fremde auf der Galerie zugegen seien und dass er ihnen sofort befehlen möge, sich zurückzuziehen. Da es nun wirklich in England noch ein altes Gesetz gibt - more honoured in the breach, than the observance -, wonach jeder Fremdenbesuch im Parlamente und deswegen auch jede Veröffentlichung der Debatten untersagt ist, so musste der Sprecher dem Aufruf des Irländers gehorchen, und im Nu wurden dann jedesmal die Galerien der Fremden und der Berichterstatter geräumt. Schrecklich war dies für die ehrenwerten Mitglieder, denn nichts von allen ihren schönen Reden drang jetzt mehr in die Öffentlichkeit, und da O'Connell eine Woche lang bei seiner Maßregel beharrte, so stellte sich bald eine solche Lauheit und eine solche Schlafsucht ein, dass man das Parlament zuletzt gar nicht mehr wiedererkannte. Es schien, als ob alle Energie versiegt wäre, und ich bin der Meinung, dass die damalige Zeit die interessanteste war, welche die Langeweile je erlebt hat.

Dan ist nun längst tot und vergessen, aber er hat uns ein köstliches Kleinod hinterlassen in seinem Sohn John29! Ja, wenn Tristram Shandy30 meinte, dass er nur deswegen ein so lustiger und humoristischer Bursche sei, weil ihn sein Vater in dem Momente zeugte, wo ihm mit Schrecken einfiel, dass er das monatliche Geschäft des Aufziehens seiner großen Hausuhr vergaß, so sollte man von Herrn John O'Connell, wenn er nicht gar zu alt wäre, fast vermuten, dass ihn sein Vater in jener Periode zustande brachte, wo das britische Parlament so traurig aussah, als litte es an den sieben ägyptischen Plagen. Stellen Sie sich in diesem John O'Connell, der unglücklicherweise weder den Verstand noch die Rente seines Vaters geerbt hat, einen Mann vor, von dem man nicht weiß, ob er mehr einem Frage- als einem Ausrufungszeichen gleicht. Zackig und winkelig sind alle seine Bewegungen; platt ist seine Nase und platt sein Schädel. Wie ein Pilz aus dem Sumpfe schießt er empor von seiner Bank, und mit der Stimme eines Frosches hebt er jetzt stotternd an zu sprechen von dem Elend seiner Landsleute, von dem 'Edelstein der See', von der 'schönsten Insel der Welt'.

Was man einst von einem Riesen vortragen hörte, man vernimmt es jetzt aus dem Munde eines Krüppels. Nach und nach verlassen die Mitglieder des Hauses ihre Plätze; die, welche sitzenbleiben, rücken zu traulicher Konversation näher aneinander, und selbst der Sprecher neigt sein Haupt auf die Schulter, um irgendeinem alten Bekannten zu lauschen, der die Dauer der O'Connellschen Rede durch die Erzählung eines Spaßes zu betrügen weiß.

Wie ein Betrunkener sich mit seinen Beinen in einem Bunde Stroh verwickelt, so verwickelt sich der Redner in dem Stroh seines Vortrags. Je mehr er in das Herz seiner Litanei vordringt, desto mehr vergisst er, dass alle Mitglieder des Hauses längst aufgehört haben, ihm zuzuhören, dass Lord John seine Papiere durchsieht, dass Sir George Grey mit einigen Nachbarn die heitersten Witze reißt, dass Sir James Graham sinnend seine kahle Glatze reibt und dass die Nase des alten Hume längst hinabgesunken ist in die weiße Hemdkrause. - Unaufhaltsam ist aber der holprige Fluss der O'Connellschen Beredsamkeit; er zerbricht die Worte mit seiner Zunge, wie man Pfeifenstiele zerbricht mit den Fingern, und wenn er jetzt mit seinen Fäusten auf die Lehne der Bank schlägt wie mit zwei Hämmern auf den Amboss und wenn ihm der Angstschweiß auf die Stirn tritt und wenn er mit röchelnder Stimme jetzt zum Schlusse erklärt, dass er auf der Flur des Hauses sterben werde, wenn diese oder jene Maßregel gegen Irland passiere, und wenn er nun erschöpft zusammensinkt: da erwachen mit einem Male alle ehrenwerten Mitglieder aus ihrer Lethargie und rufen ein ironisches 'Hört! Hört!' und lachen aus vollem Halse, weil Herr O'Connell schon sechsmal versprochen hat, auf der Flur des Hauses sterben zu wollen, und noch immer nicht gestorben ist - und mit Schrecken sieht man, dass ein egoistischer Gauner, aber ein vortrefflicher Redner das arme Irland vielleicht noch besser verteidigte als ein ehrlicher Mensch, aber ein parlamentarischer Tropf.

Oh, diese irischen Debatten sind ein wahres Gaudium für mich«, vollendete die Göttin der Langenweile, »und nur dann erhalten sie plötzlich eine andre Wendung, wenn der große Polterer in ihnen auftritt: der Chartist31 Feargus O'Connor32.

Langsam und feierlich erhebt der Sprecher seine Hand, und zu vornehmem Gruße neigt er kaum bemerkbar sein Haupt.

'Mr. Feargus O'Connor!' ruft er dann im tiefsten Tone, indem er hinüberblickt nach der ersten Oppositionsbank, und sofort erhebt sich der Chef der Chartisten, merkwürdigerweise gerade zwischen Sir Robert Peel und Sir James Graham.

O'Connor ist ein stattlicher Mann. Auf wohlgebildeten und gewandten Schenkeln und Lenden erhebt sich ein breitschultriger, brustgewölbter Oberkörper, der einen mehr interessanten als schönen Kopf mit breiter, nach vorn stehender Stirn trägt. O'Connors Haare sind rötlich, seine Augen liegen tief, seine Nase ist etwas aufgestülpt. In O'Connors Auftreten liegt Würde und Festigkeit; seine Gestikulation ist lebendig, der Ton seiner Stimme kräftig, metallen.

Zu der Zeit, als Daniel O'Connell seine Advokatur an den Nagel hing, um sich ausschließlich mit der irischen Repeal-Agitation zu befassen, da glaubte er in seinem Landsmanne Feargus O'Connor ein treffliches Werkzeug für seine Pläne gefunden zu haben; Freund Dan protegierte daher den jungen Feargus in auffallender Weise. Eine Zeitlang harmonierten die beiden aufs beste miteinander; als der schlaue Daniel aber sah, dass der junge Feargus viel zu wild und zu entschieden auftrat, um die Agitation in einer der O'Connellschen Rente vorteilhaften Weise zu befördern, da schob er ihn leise beiseite und sandte ihn hinüber nach England, wo nach Henry Hunts Tode ein tüchtiger Agitator unter den Arbeitern immer nötiger geworden war. O'Connor begriff den Zusammenhang seiner Sendung erst später und hat sein Beiseiteschieben dem alten Dan nie vergessen können.

Einmal in England angekommen, warf sich der 'wilde Feargus' mit aller Energie in die Bewegung der arbeitenden Klasse und imponierte sofort durch seine große Courage, durch seine namenlose Tätigkeit, vor allen Dingen aber durch seine vollkommene Rechtlichkeit, die freilich vielfach angefochten ist, von der aber das gänzliche Verschulden der O'Connorschen Besitzungen in Irland den besten Beweis liefert. Ihn unterstützte bei seiner Agitation der eigentümliche Reiz, der über dem Namen der O'Connors liegt. Denn seinen Stammbaum leitet O'Connor zurück bis zu den fernsten, halbverschollenen Königen des grünen Erin. Verwachsen ist der Name seines Hauses mit allen blutigen Ereignissen jener unglücklichen Insel; durch das Tosen einer jeden Revolte klingt der Ruf eines O'Connor. Vergangenheit und Gegenwart berühren sich in diesem Manne. Er erschien wie ein vom Thron gestürzter König, der als kecker Proletarier wieder auferstand, ohne Leid um das Geschehene, mit allen Fasern seines Lebens wurzelnd in der Gegenwart und mit der Riesenfaust donnernd vor die Pforte der Zukunft, dass sie weit dem Volke sich erschließe und nur dem Volke! War es ein Wunder, dass er bald als Chef der englischen Chartisten dastand?

Ja, das Volk liebte O'Connor. In seinem O'Connor sah das Volk sich selbst.

Abwechselnd himmlisch weise und niederträchtig dumm; tragisch ernst und bis zum Entzücken ergötzlich - naiv und sentimental in einem Atem; manchmal fein und gewandt wie ein Franzose und plötzlich wieder grob und plump gleich einem Shakespeareschen Stallknecht; zutraulich schmeichelnd wie ein kleines Mädchen und wieder stolz und despotisch wie ein römischer Imperator; von Liebe lispelnd wie Hafis und in barbarischen Derbheiten sich ergehend trotz Meister Franz Rabelais; großmütig wie ein Leu, aber auch grausam wie ein Tiger; ebenso enthusiastisch für das einmal Begriffene als widerspenstig gegen das Unverstandene; launig-poetisch und leichtsinnig in der Liebe und dem Wein wie der echte Irländer; plötzlich wieder ökonomisch und wirtschaftlich besorgt gleich dem filzigsten Schotten und endlich: stolz, energisch und kühn wie der Sohn Alt-Englands - alles das war dieser O'Connor! Ein tolles Gemisch aller Volksleidenschaften, ausgeschmückt mit allen Tugenden und mit allen Lastern des Volkes; mit einem Charakter, in dem sich die Grundzüge des Volkes der Rose, der Distel und des Klees in einer Weise widerspiegelten, wie sie noch in keinem britischen oder irischen Agitator, weder in Cartwright33 noch in Cobbett34, noch in Hunt35, noch in O'Connell zum Vorschein kamen.

Oh, nie werde ich den Augenblick vergessen, wo ich den Irländer zum ersten Male reden hörte. Er war damals in der Epoche seines höchsten Glanzes. Die Versammlung hatte lange auf ihn gewartet, der Saal war gedrängt voll. Viele der Anwesenden hatten sich schon in die Fensternischen geflüchtet, um nicht erdrückt zu werden. Frauen und Mädchen wurden auf die Stufen der Tribüne gebracht. Über dem Ganzen lag eine schwere, dumpfige Atmosphäre, und die Lichter der Ampeln warfen einen trüben Schein auf die Gesichter von etwa fünftausend Arbeitern. Rings herrschte eine unheimliche Stille. Wie einem Gewitter sah man dem Erscheinen O'Connors ernst und bang entgegen.

Da entstand plötzlich vor der Tür ein wilder Spektakel; im Vordergrunde des Saales wogte es toll durcheinander; die Leute drehten sich rechts und links, man bekam Rippenstöße in Menge, und unwillkürlich wurde man nach der Richtung fortgezogen, von der der Lärm ausging. O'Connor hatte die Schwelle des Saales betreten. Von mehreren Freunden begleitet, brach er sich Bahn durch die Menge; vielen die Hände schüttelnd, manche bei Namen rufend, alle herzlich grüßend, wie ein heimkehrender Vater seine Kinder bewillkommt, und lachend und scherzend immer vorwärtsdrängend bis zum Fuß der Tribüne. 'There he is! There he is!' klang es von allen Lippen, und wie im Triumphe hoben ihn die Arme seiner Getreuen auf die Höhe der Plattform. Mit einer Stimme, die im Laufe des ersten Teiles der Rede mehr oder weniger ihren Ton beibehielt und durch Einförmigkeit gewissermaßen jedes Wort in das Gedächtnis der Zuhörer eingraben zu wollen schien, begann O'Connor seine Rede. Ich weiß nicht mehr alle Details derselben; nur so viel ist mir erinnerlich, dass einem halbstündigen aufmerksamen Zuhören allmählich eine sichtbare Bewegung der ganzen Masse folgte. O'Connor hatte über dieses und jenes Bericht abgestattet, dann folgte die Argumentation, jetzt rückte er in das Herz seines Gegenstandes vor.

Schon mehrere Male hatte er hörbar das Brett der Tribüne mit der Rechten geschlagen, schon mehrere Male zorniger mit dem Fuße gestampft und wilder das Haupt geschüttelt - er schickte sich an, den Angriff auf seine Feinde zu machen. Die Versammlung merkte dies und ermunterte ihn durch lauteren Beifall; es war, als hätte man einen Stier mit rotem Tuche gehetzt. Da hatte der Riese seinen Gegner gepackt! Die Stimme bekam einen volleren Klang, die Sätze wurden kürzer, stoßweise drangen sie aus der kochenden Brust, die Faust trommelte wilder auf den Rand der Tribüne, das Gesicht des Redners wurde feuerrot, seine Glieder zitterten, der Katarakt seines Zornes hatte das letzte Wehr überflutet, und hin donnerte nun die Woge der Beredsamkeit, alles vor sich niederwerfend, alles zerkrachend und zersplitternd, und ich glaube, der Mann hätte sich totgesprochen, wenn er nicht durch einen Applaus unterbrochen worden wäre, der das ganze Haus für eine Minute lang wie in eine schwingende Bewegung setzte.

O'Connor sprach etwa drei Stunden lang an jenem Abend. Sein Eindruck auf die Versammlung war unbeschreiblich. Mehr als einmal trockneten die Weiber, welche den Redner auf der Tribüne umringten, ihre heißen Tränen von den Wangen; mehr als einmal brachen sie in den unendlichsten Jubel aus. Auf den Gesichtern der Männer las man, was in ihren Herzen vorging - die Stimmung des Redners lebte in einem jeden. Die Irländer, die bei dem Meeting zugegen waren, kannten für ihren Enthusiasmus, wie gewöhnlich, keine Grenzen. Sie drängten sich mehrere Male durch die dichtesten Haufen, sprangen an der Tribüne hinauf und drückten O'Connors Hände. Mehrere Subjekte, die man als Unruhstifter und Spione erkannte, ergriff man und warf sie über die Köpfe der Versammlung von einer Hand zur andern, durch die ganze Länge des Saales, absichtliche Stöße den unwillkürlichen hinzufügend und an der Türe des Saales durch einige Fußtritte ihre schnelle Abreise sehr befördernd.

O'Connor stand damals auf dem Gipfel seines Ruhmes; gehasst von der Aristokratie, gefürchtet von der Mittelklasse und vergöttert vom Volke. Er war der Diktator einer der furchtbarsten Parteien neuerer Zeit, der Partei der englischen Arbeiter.

Mehrere Jahre sind seitdem verstrichen. Als Abgeordneter für Nottingham sahen wir ihn heute im Parlamente. Er hat sich auf den Wink des Sprechers erhoben und ergreift das Wort gegen die von den Whigs vorgeschlagene Verlängerung der irischen Zwangs-Bill.

Festen Schrittes tritt er an den Tisch des Hauses; jetzt lehnt er den einen Arm auf die rote Büchse, und den andern in die Seite stemmend, beginnt er seine Rede. - Ja, das ist noch dieselbe Stirn, welche so kühn manchem Feinde getrotzt hat; ja, das ist noch dieselbe Brust, aus der mit dem Donner eines Gewitters so mancher gewaltige Ton über Tausende von Zuhörern dahinbrauste. Es ist wohltuend, nach dem stotternden Krüppel John O'Connell diesen Riesen O'Connor auftreten zu sehen. Ein 'Aha' geht durch die ganze Versammlung; neugierig recken die ehrenwerten Mitglieder ihre Hälse, viele erheben sich, um den wilden Chartisten noch einmal von Kopf bis zu Fuß zu beschauen - aber damit hat auch die Aufmerksamkeit des Parlaments ein Ende. Denn wie O'Connor in seiner Rede vorrückt, jetzt die Leiden Irlands schildernd, jetzt die Grausamkeiten des Gouvernements und jetzt die einzigen Mittel aufzählend, welche die unglückliche Insel vom Untergange retten können, da greift der kleine John Russell nach seinen Papieren, da knüpft Lord Palmerston eine Konversation mit dem Sprecher des Hauses an und da lehnt sich Sir George Grey zu einigen jungen Bekannten hintenüber, um von Fuchsjagden zu sprechen, von Pferderennen und von schönen Frauen. Aber auch die sonst so steifen Freetraders verlieren die Geduld. Der alte Colonel Thompson unterhält sich mit Herrn Hume, und beide lachen aus vollem Halse. Der Quäker Bright trommelt mit den Füßen; der fuchsige Wilson studiert in einer Zeitung, und Mr. Cobden hat sich mit vielen andern Mitgliedern hinaus in den Vorsaal geschlichen. Die Bänke der Torys sind aber erst recht verlassen; Sir James Graham ist hinauf zu den Peeliten36 gestiegen; die alten Glatzköpfe schlafen in den nächsten Ecken oder wandeln mit knarrenden Stiefeln über die Galerie. Disraeli spricht mit seinen Anhängern unter den lebendigsten Gestikulationen, und nur der junge Gladstone blickt unverwandt hinab auf den großen Sir Robert Peel, der, die Arme vor der Brust gekreuzt, die Beine übereinandergeschlagen und den Hut tief über der Stirn, schweigend dasitzt, um von Zeit zu Zeit langsam den Kopf zu erheben und den Redner anzuschauen mit einem mitleidigen Lächeln.

Ja, außer ihm sind wohl nur die irischen Mitglieder am Platze geblieben, und die Worte des Redners würden längst in dem allgemeinen Gemurmel verlorengegangen sein, wenn das Metall der O'Connorschen Stimme sich nicht trotz alldem geltend machte und das Haus erdröhnen ließe bis in seinen letzten Winkel.

Aber wie kommt es, dass der gewaltige Mann so durchaus unwirksam bleibt? Er, der die Bewegung des ganzen Volkes in seiner Hand hielt? Nichts ist leichter zu beantworten als das: O'Connor hat aufgehört, da draußen Triumphe zu feiern, und mit seinen Triumphen im Parlamente ist es für ewig zu Ende. Ja, nach einer Karriere, die fast ohne Beispiel in dem Leben der Agitatoren des Volkes ist, sehen wir den 'wilden Feargus' endlich fast auf demselben Punkte ankommen, den einst sein alter Gönner, der John Daniel O'Connell, erreichte, als das Volk über sein Treiben die Augen öffnete und als er von der Majorität seiner Partei verlassen und verachtet zusammensank und den Fluch seiner hungergefolterten Landsleute mit hinabnahm in ein ruhmloses Grab.

Klar ist es endlich, dass O'Connor zwar nicht wie der alte Dan das Volk für bares Geld verriet, dass er aber deswegen die ganze Bewegung der englischen Arbeiter durch seinen allmächtigen Einfluss stets in eine Farce verwandelte, weil er vor dem Äußersten zurückschreckte, weil er nicht jenen offenen Kampf wagte, ohne den keine Bewegung der Welt zu einem Resultat zu bringen ist.

Verdächtig war es, dass O'Connor hinüber nach Irland reiste, als im Jahre 1839 der Aufstand in Wales begann; verdächtig war es, dass er im Jahre 1842 nicht losschlug, als die Chartisten ganz Manchester besetzt und ganz Lancashire in ihrer Hand hatten - aber zu einem bloßen Polterer sank der große Agitator hinab, als endlich der Frühling von 1848 die revolutionäre Bewegung von halb Europa brachte und als der 'wilde Feargus' die Wut der Arbeiter zu nichts anderem benutzte als zu jenem unglückseligen Meeting des 10. April auf Kennington Common, wo er die schlagfertige Masse beschwor, keinen Tropfen Blut zu vergießen, und wo er in seiner Zeitung, im 'Northern Star', erklärte, dass er nie wieder eine Nacht ruhig in seinem Bette schlafen würde, wenn ein einziger Arbeiter durch die von ihm angefachte Bewegung ums Leben komme.

Mit diesen Worten schrieb Herr O'Connor seine eigene Grabschrift, und Sir Robert Peel36 hatte recht, dass er sich bald darauf entrüstet von seinem Sitze erhob, um auf die widerlichsten Schmeicheleien O'Connors nichts weiter zu erwidern, als dass er gewisse quäkende Frösche kenne, die zu feige seien, um große Verbrecher zu werden. Und recht hatte Richard Cobden37, dass er die Artigkeiten des sonst so gefürchteten Chartisten höhnisch zurückwies, als O'Connor sich dazu herabwürdigte, sogar diesem Repräsentanten der Mittelklasse den Hof zu machen.

Aus war es mit der Achtung der Feinde und mit dem Vertrauen der Freunde, und wenn die Feinde sich damit begnügen, den gesunkenen Mann mit dem gerechtesten Hohn zu überschütten, so werden die früheren Freunde nicht dabei stehenbleiben, sondern einst den Fuß auf seinen Nacken setzen, um, über ihn hinweg, desto sicherer dem Siege entgegenzuschreiten.«

Die Göttin der Langenweile machte eine Pause. Gähnend schloss sie endlich mit den Worten: »Oh, dieser O'Connor ist mir verfallen! Er hörte auf, revolutionär zu sein, und er wurde langweilig - - da haben Sie das ganze Geständnis!«

Der Spleen nieste entsetzlich, und auf unser aller Bitten war er so freundlich, sein langes Schweigen zu brechen und die interessanten Mitteilungen der Langenweile fortzusetzen.


1 von Raumer

"Raumer, Friedrich Ludwig Georg von, deutscher Geschichtschreiber, geb. 14. Mai 1781 in Wörlitz bei Dessau, gest. 14. Juni 1873 in Berlin, studierte die Rechte und Staatswissenschaften, trat in den preußischen Staatsverwaltungsdienst und kam 1810 in das Bureau des Staatskanzlers Hardenberg. 1811 Professor der Geschichte und Staatskunst zu Breslau geworden, bereiste er 1815-17 Deutschland, die Schweiz und Italien, war 1819 Professor der Staatswissenschaft in Berlin, beschränkte sich aber meist auf geschichtliche Vorlesungen. Bis 1831 war er auch Mitglied des Oberzensurkollegiums. R. unternahm noch einige größere Reisen nach Frankreich (1830), England (1835), Italien (1839) und Amerika (1843), deren Resultate er in besondern Schriften niederlegte. Die Aufnahme, die eine von ihm 1847 in der Akademie zu Ehren Friedrichs d. Gr. gehaltene freimütige Rede in den höhern Kreisen fand, bewog ihn, seine Stelle als Sekretär und Mitglied der Akademie niederzulegen. Als Mitglied des deutschen Parlaments 1848 wurde er als deutscher Gesandter nach Paris geschickt. In der Folge ward er Mitglied der Ersten Kammer in Berlin und 1853 als Professor an der Universität emeritiert; doch setzte er seine Vorlesungen bis kurz vor seinem Tode fort. Seine Werke wurden viel gelesen, aber sie sind nur Darstellungen, da ihm tiefere kritische Forscherarbeit fern lag. Von seinen Schriften sind hervorzuheben: die anonym durch Johannes v. Müller zum Druck beförderten »Sechs Dialoge über Krieg und Handel« (Hamb. 1806); »Vorlesungen über die alte Geschichte« (Leipz. 1821, 2 Bde.; 3. Aufl. 1861); »Geschichte der Hohenstaufen und ihrer Zeit« (das. 1823-25, 6 Bde.; 5. Aufl. 1878); »Über die geschichtliche Entwickelung der Begriffe von Recht, Staat und Politik« (das. 1826, 3. Aufl. 1861); »Über die preußische Städteordnung« (das. 1828); »Briefe aus Paris zur Erläuterung der Geschichte des 16. und 17. Jahrhunderts« (das. 1831, 2 Bde.); »Geschichte Europas seit dem Ende des 15. Jahrhunderts« (das. 1832-50, 8 Bde.); »Beiträge zur neuern Geschichte aus dem Britischen Museum und Reichsarchiv« (das. 1836-39, 5 Bde.); »Die Vereinigten Staaten von Nordamerika« (das. 1845); »Briefe aus Frankfurt und Paris 1848-1849« (das. 1849, 2 Bde.); »Historisch-politische Briefe über die geselligen Verhältnisse der Menschen« (das. 1860); »Handbuch zur Geschichte der Literatur« (das. 1864-66, 4 Bde.); »Literarischer Nachlaß« (Berl. 1869, 2 Bde.). Seit 1830 gab er das »Historische Taschenbuch« heraus. Eine Sammlung von Reden, Aufsätzen etc. veröffentlichte er u. d. T.: »Vermischte Schriften« (Leipz. 1852-54, 3 Bde.), eine Selbstbiographie in »Lebenserinnerungen und Briefwechsel« (das. 1861, 2 Bde.)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

2 zwischen Ostende und Basel hin und her teekesseln: d.h. auf dem Rhein mit dem Dampfboot unterwegs

3 Weerth war von Dezember 1843 bis April 1846 im mittelenglischen Bradford Kontorist einer Textilfirma

4 Xeres = Sherry

5 Chimborasso = Chimborazo (spr. tschim-), Gipfel der Westkordillere in der Republik Ecuador, über 6000 m. hoch

6 Cromwell, König Karl

"Oliver Cromwell (* 25. April 1599, 3. September 1658) regierte als Lordprotektor England, Schottland und Irland während der kurzen republikanischen Periode der britischen Geschichte. Ursprünglich einfacher Abgeordneter des Unterhauses, wurde Cromwell im Bürgerkrieg des Parlaments gegen König Karl I. erst zum Organisator, dann zum entscheidenden Feldherrn des Parlamentsheeres. Mit der von ihm betriebenen Hinrichtung Karls endeten alle Versuche der Stuarts, England in einen absolutistisch regierten Staat umzuwandeln."

[Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Oliver_Cromwell. -- Zugriff am 2004-11-02]


7 Pitt: William Pitt der Jüngere (* 28. Mai 1759; 23. Januar 1806), zweimal Premierminister von Großbritannien, Gegner der französischen Revolution, brachte 1804 die dritte Koalition gegen Frankreich zustande, die in der Schlacht bei Austerlitz am 2. Dezember 1805 von Napoleon geschlagen wurde.

8 Lord Hardinge

"Hardinge (spr. harding), Henry, Viscount, brit. General und Staatsmann, geb. 30. März 1785 in Wrotham (Kent), gest. 24. Sept. 1856 in South Park bei Tunbridge, trat im 14. Lebensjahr in die Armee und wurde 1804 Kapitän. Seit 1808 nahm er an den Kämpfen auf der Pyrenäischen Halbinsel teil und wurde 1811 Oberstleutnant. Im Feldzug von 1815 als englischer Kommissar der Blücherschen Armee beigegeben, verlor H. bei Ligny den linken Arm und ward 1821 zum Obersten befördert. 1820 trat er auf Veranlassung der Tories, mit denen ihn seine Heirat mit einer Schwester Castlereaghs in Verbindung gebracht, ins Parlament, ward 1823 Sekretär beim Feldzeugamt und war im Ministerium Wellington von Juli 1828 bis Juli 1830 Kriegsminister, von da bis zum November d. J. Obersekretär für Irland; in demselben Jahr avancierte er zum Generalmajor. Das Amt des irischen Obersekretärs bekleidete er abermals unter Peel 1834 und war unter demselben von 1841-44 zum zweitenmal Kriegsminister. 1841 zum Generalleutnant befördert, wurde er 1844 Generalgouverneur von Ostindien, führte den ersten Pandschabkrieg mit Glück zu Ende, ward bei dem Abschluss des Friedens von Lahor zum Viscount H. von Lahor erhoben und erhielt einen lebenslänglichen Jahrgehalt von 5000 Pfd. Sterl. 1848 kehrte er nach England zurück und wurde im März 1852 zum Generalfeldzeugmeister, 1854 zum Oberbefehlshaber der britischen Armee und 2. Okt. 1855 zum Feldmarschall ernannt, legte indes bald darauf seine Ämter nieder."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

9 Schlacht von Sobraon fand im Februar 1846 statt

10 Styx:in der griechischen Mythologie  ein Fluss der Unterwelt, Grenze zwischen der Welt der Lebenden und dem Hades

11 Walter Raleigh: (1554 - 1618), englischer Seefahrer, Entdecker und Schriftsteller

12 Benjamin Disraeli:  (1804 - 1881), erfolgreicher Romanschriftsteller, mehrmals britischer Premierminister

13 Penelopeia = "Penelope war die Frau Odysseus' und die Mutter des Telemachos. Penelope, eine spartanische Prinzessin, ist das Muster einer treuen Ehefrau. Sie weiß ihre zahlreichen Freier zu vertrösten, indem sie vorgibt, sie müsse erst ein Totentuch für ihren Schwiegervater weben, und regelmäßig in der Nacht wieder auftrennt, was sie am Tag gewebt hat. Das geht drei Jahre gut, bis eine Dienerin sie verrät und die Freier sie bei ihrem nächtlichen Treiben überraschen (Odyssee II 93-110; XIX 134-156). Die Odyssee endet mit der Heimkehr des Odysseus (auf die Penelope 20 Jahre warten musste) und der Bestrafung der Freier. Wie die nach so langer Zeit wieder vereinigten Eheleute miteinander auskamen, darüber hat schon die Antike gegrübelt." [Wikipedia]

14 Klopstock

"Friedrich Gottlieb Klopstock (* 2. Juli 1724 in Quedlinburg; 14. März 1803 in Hamburg) war ein deutscher Autor und Dichter, der auch
Stoffe der Bibel in eigenwilliger Manier bearbeitete.

Klopstock wurde am 2. Juli 1724 in Quedlinburg geboren. Mit 16 Jahren kam er auf die Fürstenschule in Schulpforta. 1745 begann er das Studium der Theologie in Jena und fasste dort auch den ersten Plan zum Messias, den er zunächst in Prosa anlegte; im folgenden Jahr in Leipzig arbeitete er das Werk in Hexameter um. Das Erscheinen der ersten Teile dieses Werks erregte hohes Aufsehen. Hier schuf er auch die ersten Oden. Das Theologiestudium brach er ab, um Hauslehrer in Langensalza zu werden.

Er knüpfte Kontakte zu Johann Jakob Bodmer und wurde von diesem nach Zürich eingeladen, wohin er 1750 reiste. Nach acht Monaten reiste Klopstock auf Einladung des Königs Friedrich V. (Dänemark) nach Dänemark, durch dessen Unterstützung er sein Werk vollenden konnte und wo er drei Jahre lebte.

1759-1762 lebte Klopstock in Quedlinburg, Braunschweig und Halberstadt, reiste dann nach Kopenhagen, wo er bis 1771 blieb. Neben dem Messias schrieb er Dramen, z.B. die Hermannsschlacht. Er wandte sich dann nach Hamburg.

1776 zog er vorübergehend auf Einladung des Markgrafen Karl Friedrich von Baden nach Karlsruhe.

Kopstock starb am 14. März 1803.

Klopstock gilt als Begründer der deutschen Dichtungsreligion und als ein Vater des deutschen Nationalstaatgedankens; Klopstock war ein
Befürworter der Französischen Revolution, geißelte jedoch deren späteren Auswüchse.

Noch heute lesbar sind ein Teil seiner Liebes- und Naturgedichte (freie Rhythmen) und einige seiner Prosastücke."

[Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Gottlieb_Klopstock. -- Zugriff am 2004-11-02]

15 Platen

"August von Platen, (* 24. Oktober 1796 in Ansbach; 5. Dezember 1835 in Syrakus, Sizilien; eigentlich Karl August Georg Maximilian Graf von Platen-Hallermünde) war ein deutscher Dichter.

Leben

Aus verarmtem Adel stammend, erhielt Platen zunächst eine Stelle im Münchner Kadettenkorps, wechselte nach 4 Jahren auf die Pagenschule und schlug 1814 erneut die Offizierslaufbahn ein. Zu dieser Zeit wurde er sich seiner Homosexualität bewusst, die für sein späteres dichterisches Werk große Bedeutung haben sollte. 1814/1815 nahm er am Frankreichfeldzug gegen Napoleon teil. 1818 wurde er für 3 Jahre für ein Studium der Rechtswissenschaften in Würzburg vom Militärdienst beurlaubt. 1819 wechselte er an die Universität Erlangen, gab sein bisheriges Studienfach auf und widmete sich statt dessen der Poesie. Er wandte sich der persischen Sprache und Literatur zu und veröffentlichte 1821 Ghaselen und 1823 Neue Ghaselen. Seine erste Reise nach Venedig fand im Herbst 1824 statt. Dort entstanden 1825 die Sonette aus Venedig.

1826 bricht Platen mit seinem bisherigen Leben und lässt sich in Italien nieder. Dort machte er u.a. die Bekanntschaft von Giacomo Leopardi. 1835 flieht er vor der Cholera von Neapel nach Palermo und dann weiter nach Syrakus, wo er vermutlich in Folge einer falschen Selbstmedikation verstarb."

[Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/August_Graf_von_Platen. -- Zugriff am 2004-11-02]

16 Gutzkow

"Gutzkow, Karl Ferdinand, Dichter und Schriftsteller, geb. 17. März 1811 in Berlin, gest. 16. Dez. 1878 in Sachsenhausen bei Frankfurt a. M., Sohn eines Bereiters des Prinzen Wilhelm, der später eine niedere Amtsstellung im Kriegsministerium bekleidete, studierte auf der Berliner Universität Philosophie und Theologie und widmete sich, ergriffen durch die Eindrücke der Julirevolution, frühzeitig der Publizistik. Er gewann die Teilnahme Wolfgang Menzels und wurde Mitarbeiter an dessen »Literaturblatt« (1832 bis 1834), weshalb er für einige Zeit nach Stuttgart übersiedelte. Auch mit umfangreichern selbständigen Arbeiten trat er bald hervor, zunächst mit novellenartigen Zeitbetrachtungen in den »Briefen eines Narren an eine Närrin« (Hamb. 1832), sodann mit einem nur wenig Zeitanspielungen enthaltenden Roman »Maha-Guru, Geschichte eines Gottes« (Stuttg. 1833, 2 Bde.) und mit geistvollen politisch- literarischen Essays: den »Öffentlichen Charakteren« (Hamb. 1835). Obgleich G. in einzelnen seiner ersten »Novellen« (Hamb. 1834, 2 Bde.) und mit dem (unausführbaren) Drama »Nero« (Stuttg. 1835) poetisches Talent bekundete, so fühlte er sich doch in diesen Jahren (bis etwa 1839) mehr journalistisch als künstlerisch zu schaffen angeregt. Er wurde ungesucht einer der Stimmführer des Jungen Deutschland, das seit Beginn der 1830er Jahre die Aufgabe der neuen Literatur vornehmlich in der Weckung eines politischen Bewusstseins und in der Verbreitung liberaler Anschauungen erblickte; die Literatur sollte hinter der Zeit, in der sich gewaltige Umwälzungen auf materiellem und sozialem Gebiet vorbereiteten, nicht zurückbleiben. In diesem Sinne schrieb G., der inzwischen in Heidelberg und München Rechts- und Staatswissenschaften studiert und 1834 in Frankfurt a. M. die Leitung des »Literaturblattes« zum »Phönix« übernommen hatte, seine Vorrede zu Schleiermachers »Briefen über Schlegels Lucinde« (Hamb. 1835), seine »Soireen« (Frankf. a. M. 1835, 2 Bde.) und den Roman »Wally, die Zweiflerin« (Mannh. 1835; spätere Umarbeitung u. d. T.: »Vergangene Tage«, Frankf. 1852). Einige sinnliche Schilderungen und religiös freisinnige Betrachtungen des im ganzen wenig bedeutenden Romans boten Wolfgang Menzel erwünschte Gelegenheit zu gehässigen Anklagen gegen G., mit dem er sich inzwischen überworfen hatte, und diese Angriffe hatten den Erfolg, dass »Wally« konfisziert und G. in Baden zu einer dreimonatigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde, die er 1835 in Mannheim abbüßte. Zugleich wurde seine ganze Zukunft durch das bundestägliche Verbot aller seiner (wie der andern Jung-Deutschen) frühern und künftigen Schriften und durch die Entziehung des Rechtes, innerhalb des deutschen Bundesgebiets eine Redaktion zu übernehmen, in Frage gestellt. G. überwand zwar mit männlicher Energie und Überzeugungstreue den Schlag, den er durch diese (übrigens bald gemilderten) Maßnahmen des Bundestages erfuhr, aber das dadurch geweckte Misstrauen gegen die Menschen, eine hochgradige Hypochondrie, die überall Verfolger und Feinde witterte, wirkte in seinem folgenden Leben verhängnisvoll nach. Seit 1836 verheiratet, siedelte er 1837 zur Leitung der von ihm begründeten Zeitschrift »Der Telegraph« nach Hamburg über, wo er bis 1842 verweilte, hauptsächlich gefesselt durch die Freundschaft der geistvollen Frau Therese v. Bacheracht, die er aber nach dem Tode seiner Gattin (1848) nicht heiratete. In diesen Jahren war G. literarisch-publizistisch überaus tätig; es erschienen die in der Hast zu Mannheim geschriebene Schrift: »Zur Philosophie der Geschichte« (Hamb. 1836; vgl. R. Fester, Eine vergessene Geschichtsphilosophie, das. 1890); »Zeitgenossen, ihre Tendenzen, ihre Schicksale, ihre großen Charaktere« (Stuttg. 1837, 2 Bde.); die gegen Görres gerichtete Broschüre: »Die rote Mütze und die Kapuze« (Hamb. 1838); »Götter, Helden und Don Quixote« (das. 1838); die gegen Menzel, den verblendeten Goethe-Hasser, gerichteten Aufsätze: »Goethe im Wendepunkt zweier Jahrhunderte« (Berl. 1836) und das panegyrische Werk. »Börnes Leben«, mit einem gegen Heine gerichteten Vorwort (Hamb. 1840). Doch nahm G. schon die Wendung zu mehr dichterischen Arbeiten im Roman »Seraphine« (Hamb. 1838), in der satirischen Zeitgeschichte in Arabesken: »Blasedow und seine Söhne« (Stuttg. 1838-39, 3 Bde.) und eröffnete mit dem Trauerspiel »Richard Savage« (1839) eine sehr fruchtbare und auch Werke von bleibendem Wert schaffende dramatische Periode, in der er eine große Popularität erreichte. 1842 vertauschte er Hamburg mit Frankfurt a. M., 1846 dieses wiederum mit Dresden, wo er in frischer und glücklicher Schaffenslust bis 1861 wohnte. 1847-49 war G. Dramaturg des Dresdener Hoftheaters, 1850 heiratete er zum zweitenmal, 1852-62 leitete er die von ihm begründete Zeitschrift: »Unterhaltungen am häuslichen Herd«. 1861 siedelte G. als Generalsekretär der Deutschen Schillerstiftung, um deren Zustandekommen er sich große Verdienste erworben hatte, nach Weimar über; doch legte er schon im November 1864 das Amt nieder: gekränkt, überreizt und so tief verstimmt, dass er im Februar 1865 in Friedberg einen Selbstmordversuch machte. Er wurde gerettet und nahm neugekräftigt seine literarische Tätigkeit wieder auf; 1868-73 lebte er in Berlin. Wiederkehrende Nervenleiden veranlassten einen Winteraufenthalt (1873/74) in Italien, 1874-77 lebte er in Heidelberg. Zuletzt ließ sich der in seiner körperlichen Kraft Gebrochene, geistig mehr und mehr Isolierte in Sachsenhausen nieder. Zwischen seinen dichterischen Werken veröffentlichte G. indes noch immer halb journalistische Schriften, so die »Briefe aus Paris« (Leipz. 1842, 2 Bde.), »Deutschland am Vorabend seines Falles und seiner Größe« (Frankf. 1848), »Vor- und Nachmärzliches« (Leipz. 1850), »Lebensbilder« (Stuttg. 1870, 3 Bde.), eine Spruchsammlung: »Vom Baum der Erkenntnis« (das. 1873) und »In bunter Reihe«, Briefe und Skizzen (Berl. 1877). Seine letzte polemische Schrift: »Dionysius Longinus, oder über den ästhetischen Schwulst in der neuern deutschen Literatur« (Stuttg. 1878), war der Ausfluss der leidenschaftlichen Verbitterung, die sich in ihm angehäuft hatte, und die schon, wenn auch minder stark, in dem autobiographischen Buch »Rückblicke auf mein Leben« (Berl. 1875), der Fortsetzung seiner frisch- liebenswürdigen Aufzeichnungen: »Aus der Knabenzeit« (Frankf. a. M. 1852), sich äußerte. - Die bleibende Bedeutung Gutzkows in der deutschen Literatur beruht in den größern Dramen und Romanen, die er schuf. Er hat der deutschen Bühne einige Stücke gegeben, die sich noch heute auf dem Repertoire behaupten: das treffliche historische Lustspiel »Zopf und Schwert« (1844), ferner »Das Urbild des Tartüffe« (1847) und in demselben Jahre die in alle europäischen Sprachen übersetzte Tragödie der Gewissensfreiheit: »Uriel Acosta« (vgl. W. Volkmann, Uriel Acosta, Bresl. 1893). Viel Beifall fand auch das Lustspiel »Der Königsleutnant« (1849), doch ist hierin die Figur des jungen Goethe ganz verzeichnet, und der große Beifall, den das Stück fand, ist vor allem durch die von schauspielerischen Virtuosen gepflegte Paraderolle des Grafen Thorane zu erklären. Von andern Dramen Gutzkows, die trotz mancher Vorzüge weniger durchschlugen, z. T. aber auch ganz verfehlt sind, nennen wir: »Werner, oder Herz und Welt«, Schauspiel (1840), »Die Schule der Reichen«, Schauspiel (1841), »Patkul«, Trauerspiel (1842), »Der 13. November«, Trauerspiel (1842), »Ein weißes Blatt«, Schauspiel (1843), »Pugatscheff«, Tragödie (1846), »Jürgen Wullenweber«, Tragödie (1848), »Liesli«, Volkstrauerspiel (1852), »Philipp und Perez«, Tragödie (1853), »Ottfried«, Schauspiel (1854), »Lenz und Söhne, oder die Komödie der Besserungen«, Lustspiel (1855), »Ella Rosa«, Schauspiel (1856), »Lorbeer und Myrte«, Lustspiel (1856), »Der Gefangene von Metz«, Schauspiel (1870), »Dschingischan«, Lustspiel (1876). Eine Sammlung seiner Stücke erschien u. d. T.: »Dramatische Werke« (Leipz. 1842-57, 9 Bde.; neue umgearbeitete Ausg. 1861-63, 20 Bdchn.; 4. Aufl., Jena 1880). Noch unmittelbarer an die Zeit schloss sich G. in den beiden großen Romanen an: »Die Ritter vom Geiste« (Leipz. 1850-52, 9 Bde.; 6. umgearbeitete Aufl., Berl. 1881, 4 Bde.) und »Der Zauberer von Rom« (Leipz. 1858-61, 9 Bde.; 4. völlig umgearbeitete Aufl., Berl. 1872, 4 Bde.), die bei ihrem Erscheinen außerordentliches Interesse erregten. »Die Ritter vom Geiste« schildern die Reaktionsepoche nach 1848 in scharf und geistvoll gezeichneten Typen, »Der Zauberer von Rom« die Ultramontanen und das katholische Deutschland, dessen politische Bedeutung G. früh erkannte. Außer kleinern Erzählungen schrieb G. noch mehrere große Romane: »Hohenschwangau« (Leipz. 1867-68, 5 Bde.; 3. umgearbeitete Aufl., Bresl. 1880), ein Bild der Reformationszeit; den Memoirenroman »Fritz Ellrodt« (Jena 1872, 3 Bde.); »Die Söhne Pestalozzis« (Berl. 1870, 3 Bde.); »Die neuen Serapionsbrüder« (Bresl. 1877, 3 Bde.; 2. Aufl. 1878), die jedoch bei vielen geistreichen Einzelheiten reizlos in der Form wurden. Eine Sammlung seiner »Schriften« hatte G. schon früh begonnen (Frankf. a. M. 1845-56, 13 Bde.); später erschien eine die gesamte Tätigkeit des Autors in sich fassende Ausgabe: »Gesammelte Werke« (Jena 1873-78, 12 Bde.; 2. Serie: »Dramatische Werke«, 20 Bdchn., davon die 4. Gesamtausgabe 1899 ff.); die »Meisterdramen« gab Eug. Wolff (Berl. 1902) mit Einleitung heraus."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

17 Kölnische Zeitung

"Kölnische Zeitung, dreimal täglich (Montags zwei-, Sonntags einmal) in Köln erscheinende politische Zeitung, die durch die Schnelligkeit ihrer Berichterstattung, die Reichhaltigkeit ihres Inhalts und ihre Beziehungen zu den maßgebenden politischen Faktoren in Berlin im In- und Auslande weite Verbreitung erreicht hat. Ihre politische Grundfarbe stimmt zumeist mit der Politik der nationalliberalen Partei überein; zugleich spiegelt sie aber die jeweiligen Anschauungen der politischen Zentralbehörden in Berlin wider. Seinen jetzigen Namen trägt das Blatt seit 1802, wo es in den Besitz der Erben der Buchdruckerei Schauberg überging. 1808 wurde Markus Du Mont (s. Dumont 4), der eine der Erbinnen Schauberg geheiratet hatte, Besitzer der Druckerei und der Zeitung, die 1809 durch Napoleon unterdrückt wurde und erst 16. Jan. 1814 wieder erschien. Ihre jetzige Bedeutung wurde durch Joseph Du Mont begründet, der von 1831-61 Leiter der Zeitung war. Von 1880-96 leitete sie August Neven-Du Mont (geb. 1832, gest. 7. Sept. 1896), ein Schwiegersohn Joseph Du Monts. Gegenwärtig hat die geschäftliche Leitung Dr. jur. Joseph Neven-Du Mont; Chefredakteur ist geqenwärtig (1905) Ernst Posse. Frühere namhafte Redakteure der Kölnischen Zeitung sind K. H. Brüggemann, Levin Schücking (Feuilleton), Heinrich Kruse und Hermann Grieben. Die K. Z. hat eine eigne telegraphische und telephonische Verbindung mit Berlin, die ihr unter anderm die gesamten Parlamentsberichte übermittelt. Ihren Ursprung führt die K. Z. auf die alten Postzeitungen zurück, aus denen sich 1762 die vom kölnischen Postamt herausgegebene »Kaiserl. Reichs-Ober-Post-Amts-Zeitung zu Cölln« entwickelte, die bis zum Erlöschen des kaiserlichen Privilegiums durch die Besetzung Kölns durch die Franzosen (1794) bestand. Von da bis 1802 wurde das Blatt unter dem Namen »Postamts-Zeitung« und »Kölner Zeitung« weitergeführt."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

18 Paulskirche: Die Frankfurter  Paulskirche wurde Versammlungsort für die nach der Märzrevolution 1848 gewählte Frankfurter Nationalversammlung. Am 18. Mai 1848 trat die Versammlung zum ersten Mal hier zusammen und wurde deshalb auch Paulskirche oder Paulskirchenparlament genannt. Bis 1849 arbeitete die Nationalversammlung hier an einer Verfassung für ein einheitliches Deutsches Reich, der Paulskirchenverfassung.

19 Soiron: Alexander von Soiron (* 2. August 1806 in Mannheim; 6. Mai 1855 in Heidelberg) war badischer Politiker und Abgeordneter in der Frankfurter Nationalversammlung.

20 Venedey: Jakob Venedey, deutscher Schriftsteller, geb. 24. Mai 1805 in Köln, gest. 8. Febr. 1871 in Oberweiler, nahm 1848 am Vorparlament teil, gehörte im Fünfzigerausschuss wie in der Nationalversammlung zu den Führern der Linken und zur großdeutschen Partei.

21 Verfasser des Schnapphahnski = Weerth (Leben und Taten des berühmten Ritters Schnapphahnski. -- Erstdruck in: Neue Rheinische Zeitung (Köln), Nr. 167 vom 13.12.1848 bis Nr. 83 vom 23.8.1848). Am 19. September 1848 wird das Vorbild für die Schnapphahnski- Figur, der Abgeordnete der Nationalversammlung Lichnowsky, wird in Frankfurt am Main getötet. Weerth unterbricht den Abdruck seiner Feuilletonserie. Er wird vor Gericht geladen.

22 Lord Brougham

"Brougham (spr. bru'm), Henry, Lord B., brit. Staatsmann, geb. 19. Sept. 1779 in Edinburg, gest. 7. Mai 1868 in Cannes, studierte in Edinburg und machte sich früh durch mathematische und physikalische Arbeiten bekannt. Gleichzeitig bildete er sich durch Studium und praktische Übung zum Redner und Politiker aus und trat nach größern Reisen auf dem Kontinent als Rechtsgelehrter und politischer Schriftsteller auf. Seine Schrift »An enquiry into the colonial policy of the European powers« (Edinb. 1803, 2 Bde.) ist besonders gegen den Sklavenhandel gerichtet. Mit einigen Freunden gründete er 1802 die »Edinburgh Review«, die bald Einfluss auf die öffentliche Meinung gewann; seine darin veröffentlichten Aufsätze erschienen 1856 in 3 Bänden. 1805 siedelte B. nach London über und wurde 1808 hier Rechtsanwalt. Seit 1810 gehörte er dem Unterhaus an, wo er für die Abschaffung des Sklavenhandels und gesetzlicher Missbräuche wirkte. Nach der Parlamentsauflösung von 1812 erhielt B. erst 1815 wieder einen Sitz im Unterhaus, dessen Mitglied er seitdem bis zu seiner Ernennung zum Peer verblieb. Indem er sich zu fortgeschritten liberalen Grundsätzen bekannte, bekämpfte er den Anschluss Englands an die Heilige Allianz und wirkte namentlich für die Verbesserung der Volkserziehung. Seine darauf bezüglichen Anträge drangen zwar nicht durch; doch machte er sich im Verein mit Gleichgesinnten durch die Stiftung von Kleinkinderschulen und Bildungsanstalten für Handwerker, durch die Begründung der Gesellschaft gemeinnütziger Kenntnisse und durch seine in mehr als 30 Auflagen verbreitete Schrift »Practical observations upon the education of the people« (Lond. 1825; deutsch von Klöden, Berl. 1827) um die allgemeine Bildung verdient. Sein Rednertalent bewies er namentlich 1820 als Verteidiger der Königin Karoline (s.d.) in dem vor dem Oberhaus gegen sie eingeleiteten Prozess. 1825 wurde B. Lord-Rektor der Universität Glasgow; auch trug er zur Gründung der Londoner Universität (1828) bei und trat 1828 und 1829 für die Emanzipation der Katholiken sowie mit Erfolg für die Verbesserung der Rechtspflege ein. Als 1830 die Whigs unter Lord Grey zur Regierung gelangten, ward B. zum Peer mit dem Titel Baron B. and Vaux und zum Lord-Kanzler ernannt. Wesentlich durch sein Verdienst wurde die Reformbill im Oberhause durchgebracht; außerdem aber entfaltete er durch Reformen in Gerichtsverfassung und Strafrecht eine erfolgreiche Tätigkeit. Nach Greys Rücktritt (Juni 1834) blieb B. unter Lord Melbourne Lord-Kanzler, wurde aber im November mit Melbourne entlassen. In das im April 1835 neugebildete Kabinett Melbournes nicht aufgenommen, blieb er seitdem ohne Amt ein einflussreiches Mitglied des Oberhauses. Während er sich später von der Politik zurückzog und in Südfrankreich physikalischen Untersuchungen lebte (vgl. seine »Tracts; mathematical and physical«,, 2. Aufl., Lond. 1860), blieb er doch seinen Bestrebungen für eine Reform der englischen Gesetzgebung getreu. Seit 1857 beteiligte er sich an den Arbeiten der Social science association, deren Präsident er 1860-65 war. Von seinen Schriften nennen wir noch: »The British constitution, its history and working« (1841; 3. Aufl., Lond. 1868); »Sketches of statesmen of the time of George III.«, denen sich die »Lives of men of letters and science, of the time of George III.« anschließen. Seine meisterhaften Reden erschienen in 4 Bänden (»Speeches at the Bar and in Parliament«, Edinb. 1845). Eine Sammlung seiner Schriften: »Critical, historical and miscellaneous works«, wurde von ihm selbst herausgegeben (1857, 10 Bde.; neue Ausg. 1872, 11 Bde.). Nach seinem Tod erschienen sein autobiographisches Werk: »Life and times of Lord B.« (Lond. 1871, 3 Bde.) und eine neue Ausgabe seines Romans »Albert Lunel« (1872)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

23 Societas de propaganda fide

"Propaganda (lat., v. propagare, »ausbreiten, verbreiten«), im allgemeinen eine Anstalt, die Ansichten zu verbreiten sucht, besonders die Anstalten für Heidenmission (s. Mission). Im engern Sinne Propaganda (Congregatio de propaganda fide) wird die von Gregor XV. 1622 in Rom gegründete Gesellschaft zur Verbreitung des Katholizismus unter den Heiden und zur Ausrottung der Ketzerei genannt. Urban VIII. verband damit 1627 das Collegium de propaganda fide zur Ausbildung eingeborner Missionare in den Heidenländern. Berühmt ist das Fest vom 6. Jan., an dem Neden in den verschiedensten Sprachen von diesen Zöglingen gehalten werden. Die Propaganda ist die oberste Behörde in allen Missionsangelegenheiten."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

24 Bankier Zebaoth: Herr Zebaoth = der herrschende Gottesname als Ausdruck der überweltlichen Allmacht und Erhabenheit, soviel wie Gott der Himmelsheere.

25 anglikanische Kirche

"Anglikanische Kirche (Anglokatholische Kirche, Established Church of England), die Staatskirche in England, die hinsichtlich der Lehre den reformierten Kirchen beizuzählen ist, in Kultus und Kirchenverfassung aber zwischen Katholizismus und Protestantismus die Mitte hält. Diese ihre eigentümliche Stellung erklärt sich aus der Art und Weise ihrer Entstehung. Die Reformation Englands ist nicht wie die deutsche aus einer religiösen Bewegung des Volkes hervorgegangen, an deren Spitze sich dann die Großen gestellt hätten, sondern der Bruch mit Rom war die Folge des launenhaften Eigenwillens eines tyrannischen Königs. Erst als sich unter den Nachfolgern desselben zeigte, wie eng die politische mit der religiösen Freiheit verbunden sei, wurde im Kampf mit politischer Willkür der englische Volksgeist eng an den Protestantismus gekettet. Vorbereitet war zwar auch hier die Reformation, teils durch Wiclif und die Lollarden, teils durch die Humanisten. Gleichwohl blieben alle reformatorischen Bewegungen so lange vergeblich, als nicht die politische Gewalt des Staates sich mit ihr verbunden hatte. Heinrich VIII., der das Band mit Rom zerriss, war seiner ganzen Denkweise nach der römischen Lehre zugetan, wie er denn nicht allein die protestantisch Gesinnten in seinem Lande verfolgt, sondern auch durch eine Streitschrift gegen Luther sich den Ehrentitel eines Beschützers des Glaubens erworben hatte. Erst als der Papst seine Ehe mit Katharina von Aragonien nicht auflösen wollte, ließ der König vom Parlament die Rechte des Papstes vernichten und schloss 1533 ohne päpstliche Dispensation seine Ehe mit Anna Boleyn. Als der Papst 1534 den Bann über ihn aussprach und 3. Nov. d. J. die Suprematsakte den König zum Haupte der englischen Kirche machte, 1536-40 die sämtlichen Klöster und Abteien unter Einziehung ihres Vermögens aufgehoben wurden, ward der Bruch mit Rom zur Tatsache. Doch blieb die neukonstituierte Kirche ihrem Wesen nach in Kultus und Lehre katholisch, und nur in wenigen Punkten konnten der evangelisch gesinnte Erzbischof Cranmer und der Staatssekretär Cromwell für eine vermittelnde Auffassung Raum gewinnen. 1539 bedrohten die sechs Blutartikel mit dem Tode jeden Angriff auf die Lehren von der Transsubstantiation und der Kelchentziehung, dem Zölibat und der Unauflöslichkeit des Keuschheitsgelübdes, der Ohrenbeichte und den Seelenmessen. Noch 1547 erneuerte der König das Verbot der Bibel. Erst unter Eduard VI., für den der der Reformation günstige Herzog von Somerset die Regentschaft führte, durften die unter Heinrich Verbannten zurückkehren. Auch wurden ausländische Gelehrte, wie Martin Bucer und Fagius aus Straßburg, berufen, unter deren Beihilfe die Liturgie geändert ward. 1549 wurde das Abendmahl unter beiderlei Gestalt eingeführt und die Priesterehe gestattet. Das von Cranmer entworfene allgemeine Gebetbuch erhielt 1549 kirchliche Sanktion. Durch den Einfluss des Auslandes empfing die a. K. den reformierten Charakter, der schon in der Revision des allgemeinen Gebetbuches und in dem Glaubensbekenntnis der 42 Artikel von 1552 sich deutlich ausspricht. Die Herrschaft der katholischen Maria (1553-58) brachte eine kurze blutige Reaktion des Katholizismus. Bald nach Elisabeths Thronbesteigung aber ward 1. Febr. 1559 die Suprematie der Krone wiederhergestellt, im selben Jahre wurde das revidierte Gebetbuch eingeführt, und mit der Feststellung der »39 Artikel« (1563, bez. 1571), der Einführung des neuen Katechismus und einer revidierten Bibelübersetzung war der Bau der englischen Staatskirche vollendet. Derselben zufolge erschien jeder kirchliche Ungehorsam als Insubordination und Hochverrat, und die Gesetzgebung der letzten Jahre Elisabeths wandte sich nicht bloß gegen die Katholiken, sondern auch gegen die Presbyterianer und Puritaner, die an dem Ritual und der Hierarchie Anstoß nahmen, wie gegen andre unter den Namen Nonkonformisten oder Dissenters, Independenten (s. diese Artikel) etc. zusammengefasste Sekten. Jakob 1. gab alles Kirchengut in dem unterworfenen Irland dem aufgezwungenen anglikanischen Klerus, obwohl das Land katholisch blieb. Die Bedrückung der Katholiken hatte 1641 das entsetzliche irische Blutbad zur Folge, in dem die Mehrzahl der Protestanten ermordet wurde, die überlebenden die Insel verlassen mussten. Als aber unter Karl I. durch Erzbischof Land das mit dem politischen Absolutismus verbundene Prälatentum in Willkür und Despotismus ausartete und durch ein ausgebildetes Zeremonienwesen Anstoß gab, rief der Versuch, die bischöfliche Kirche in Schottland einzuführen, dort 1637 eine Empörung hervor. Auch in England verband sich gleich darauf die politische mit der kirchlichen Opposition und wurde 1643 der Presbyterianismus zur herrschenden Kirche bis zur Wiederherstellung der Staatskirche durch die neue Uniformitätsakte von 1662 (s. Dissenters). Erst das 19. Jahrh. hat die enge Verbindung von Staat und Kirche in England zu lockern vermocht.

Die innere Verfassung der anglikanischen Kirche ist eine rein hierarchische. Die Geistlichkeit besteht aus Bischöfen, Priestern und Diakonen (deacons). Unter den beiden Erzbischöfen von Canterbury (Primas und erster Peer des Reiches) und von York stehen 33 Diözesanbischöfe, von denen indes nur 24 im Herrenhaus Sitz und Stimme haben, und 17 Suffraganbischöfe. Jedem Bischof steht ein Kapitel (chapter) zur Seite, zu dem außer dem Dekan (dean) auch noch Chorherren (canons), Domherren (prebendaries), Archidiakonen (archdeacons) und andre Würdenträger einschließlich eines rechtsgelehrten vicar gehören. Die Bischöfe, die meisten Dekane und viele der andern Würdenträger werden von der Krone ernannt. Die Bischöfe beziehen einen Gehalt von 1500-15,000 Pfd. Sterl. jährlich, die Dekane 500-3000 Pfd. Sterl. Die Pfarreien (benefices, livings) werden von Patronatsherren besetzt. Dieses Besetzungsrecht (advowson) wird in den meisten Fällen von Privatpersonen ausgeübt, doch wird der Kandidat nur dann vom Bischof in sein Amt eingeführt, wenn er die nötige Qualifikation besitzt. Die Pfründner (incumbents) sind entweder rectors, wenn sie im Vollgenuss des Zehnten und des Ertrags des Pfarrlandes (glebe) stehen, vicars, wenn sie nur den »kleinen« Zehnten beziehen, oder perpetual curates, die in dotierten Filialkirchen den Dienst versehen. In größern Gemeinden wird der Pfarrherr durch Hilfsgeistliche (stipendiary curates) unterstützt. Die Gesetzgebung sorgt dafür, dass die Pfründner wenigstens einen Teil des Jahres selbst den Gottesdienst versehen. Auch die früher übliche Vereinigung von vielen Pfründen in einer Hand (plurality) ist eingeschränkt worden. Dass indes bei obwaltenden Verhältnissen das Recht der Besetzung (noch bei Lebzeiten eines Pfründners) an den Meistbietenden versteigert werden kann, und dass viele reichdotierte Pfarreien als Ausstattung in den Besitz der jüngern Söhne der großen Gutsherren und der bischöflichen Verwandten gelangen, ist wohl selbstverständlich. Es gibt zur Zeit etwa 23,000 Geistliche, mit und ohne Pfründe, und etwa 14,000 Pfründen mit einem Jahreswert von etwa 5 Mill. Pfd. Sterl. Die Hälfte dieser Pfründen bringt dem Inhaber unter 130 Pfd. Sterl. Den Bischöfen liegt die gesamte innere Verwaltung der Kirche ob, auch stehen ihnen die Disziplin und die Gerichtsbarkeit zu. Jedes der beiden Erzbistümer hat sein House of Convocation, in dem die Bischöfe, die Dekane und Vertreter der Kapitel und der niedern Geistlichkeit (proctors) Sitz und Stimme haben. Die Beschlüsse unterliegen der Genehmigung des Parlaments. Das Laienelement wird durch einen jährlich tagenden Church Congress (seit 1868) vertreten. Für die Bildung der Geistlichkeit sorgen außer den Universitäten noch 18 theologische Seminare.
Die jährliche Gesamteinnahme der anglikanischen Kirche wird auf über 10 Mill. Pfd. Sterl. geschätzt. Sie entspringt dem seit 1836 an die Stelle des Zehnten getretenen Erbzins, dessen Betrag von sieben zu sieben Jahren festgesetzt wird, liegenden Gütern, angelegtem Kapital, Stolgebühren, Kirchstuhlmieten und freiwilligen Gaben. Die Kirchensteuer (church rate) ist seit 1868 abgeschafft. Aus den Annaten (first fruits) werden die Einnahmen gering dotierter Pfründen erhöht (sogen. Queen Anne's Bounty, weil diese Bestimmung zur Zeit der Königin Anna getroffen wurde). Sehr bedeutend sind die freiwilligen Gaben für kirchliche und für Zwecke der innern und äußern Mission. Die 24 Gesellschaften für äußere Mission haben eine Jahreseinnahme von über 500,000 Pfd. Sterl. Allein für Kirchenbauten wurden 1884-93 13,500,000 Pfd. Sterl. gezahlt.

Der Gottesdienst ist durch das allgemeine Gebetbuch (s. Book of Common Prayer) genau geregelt und zeichnet sich durch liturgischen Reichtum unter allen evangelischen Kulten aus. Die Predigt tritt hinter der Liturgie zurück. In der Lehre ist die a. K. durchaus protestantisch; denn die neununddreißig Artikel, das eigentliche Glaubenssymbol, auf das alle Geistlichen verpflichtet werden, stimmen z. T. wörtlich mit den deutschen evangelischen, insbes. reformierten Bekenntnisschriften überein. Die rein juristische formelle Anwendung der 39 Artikel bei der Bemessung der Lehrfreiheit der Geistlichen hindert aber nicht, dass auch in der anglikanischen Kirche die verschiedensten Richtungen sich geltend machen. Man pflegt drei Parteien zu unterscheiden: Die hochkirchliche Partei (High Church Party) hält vor allem an der Verfassung und dem allgemeinen Gebetbuch fest. Aus ihr sind hervorgegangen die Puseyiten oder Traktarianer, auch Anglokatholiken oder Ritualisten genannt, die, Pusey (s. d.) folgend, im Ritus und im Dogma sich sehr dem Katholizismus nähern und ihren Anhang besonders in der vornehmen Welt haben (s. Ritualistischer Streit). Die niederkirchliche Partei (Low Church oder Evangelical Party) legt weniger Wert auf Ritus und Verfassung als auf tätiges Christentum in innerer und äußerer Mission. Aus dieser Partei ging die 1846 gestiftete Evangelische Allianz (s. d.) hervor. In der Partei der sogen. Breitkirchlichen (Broad Church Party) ringt eine freiere, von deutscher Wissenschaft angeregte Theologie nach kirchlicher Anerkennung; zu ihr gehörten Männer wie Arnold, Colenso, A. P. Stanley. Die a. K. beschränkt sich als Staatskirche auf England, Wales und die Insel Man; doch sind aus ihr mehrere Tochterkirchen hervorgegangen. Die protestantisch-bischöfliche Kirche von Irland, 1800 mit der anglikanischen Kirche als United Church of England and Ireland vereinigt, ist seit 1871 unabhängig und hat die 39 Artikel in wesentlichen Punkten abgeändert. Sie steht unter 13 Bischöfen und hat eine Synode, in der neben den Bischöfen und 208 Vertretern der Geistlichkeit auch 416 Laien Sitz und Stimme haben. Die Episcopal Church in Schottland (7 Bischöfe) sowohl als die American Episcopal Church in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, die Church of Canada, die Church of Australia, die Indian Church und die Church of South Africa sind gleichfalls Tochterkirchen, aber mit vollkommen selbständiger Verwaltung. Dahingegen stehen die Bischöfe in den Kolonien, die Missionsbischöfe in Heidenländern und eine größere Zahl unabhängiger Gemeinden im Auslande noch in einigem Zusammenhang mit der Mutterkirche, die ihnen bedeutende Unterstützungen gewährt. Doch ist die a. K. in keiner der Kolonien Staatskirche und sieht sich betreffs ihrer Erhaltung fast lediglich auf die Beisteuer der Gemeindemitglieder angewiesen. Alle zehn Jahre vereinigen sich die Bischöfe der anglikanischen Kirche zu einer Konferenz im erzbischöflichen Palast zu Canterbury (sogen. Lambethkonferenz), an der 1897: 194 Bischöfe teilnahmen."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

26 Mark Lane: in dieser Straße Londons wohnen die Kornmakler

27 Porter, George Richardson <1792-1852>: The progress of the nation, in its various social and economical relations, from the beginning of the nineteenth century to the present time.  -- London: Knight, 1836-1843. -- 3 vols. : 18 cm.

28 Daniel O'Connell

"O'Connell, Daniel, berühmter irischer Agitator, geb. 6. Aug. 1775 zu Carhen in der Grafschaft Kerry, gest. 15. Mai 1847 in Genua, besuchte die Jesuitenschule in St.-Omer und das englische College in Douai, schlug, 1793 nach England zurückgekehrt, die juristische Laufbahn ein und ward 1798 Rechtsanwalt in Dublin. Er erwarb sich bald den Ruf eines ebenso ausgezeichneten Redners und gewandten Verteidigers als tüchtigen Patrioten. 1800 protestierte er vergeblich gegen die Union zwischen Irland und Großbritannien; seit jener Zeit begann er in Vereinen und Versammlungen seine Agitation für die Sache seines unterdrückten Volkes, unter dem er bald überaus populär wurde. 1815 hatte er mit dem der schroff protestantischen Koterie, welche die Stadtverwaltung Dublins beherrschte, eng verbundenen Schiffsleutnant d'Esterre ein Duell, in dem er seinen Gegner erschoss; ein ähnlicher politischer Zweikampf mit Sir Robert Peel wurde einige Monate später nur mit Mühe verhindert. O'Connell gründete 1823 mit seinem Freund Shiel die »Great Catholic Association«, die sich bald mit zahllosen Zweigvereinen über die ganze Insel verbreitete, die er aber von offenen Gesetzesüberschreitungen fernzuhalten wusste. Als die Regierung 1825 diesen Verein unterdrückte, stellte ihn O'Connell unter anderm Namen und in andrer Form wieder her. 1828 wurde er von der Grafschaft Clare ins Unterhaus gewählt, durfte jedoch nicht eintreten, da er als Katholik den Testeid nicht leisten konnte. Um die bei der steigenden Aufregung in Irland drohende Gefahr eines Bürgerkriegs abzuwehren, betrieb nun die Regierung selbst die Katholikenemanzipation, und O'Connell, zum zweitenmal gewählt, nahm 1829 seinen Platz im Unterhaus ein. Er beantragte die Abschaffung des protestantischen Pfarrzehnten in Irland und machte seit dem Sommer 1830 den Widerruf (repeal) der Union zwischen England und Irland zur Losung, mit der er die Massen entflammte. Eine Anklage, die deshalb gegen ihn erhoben wurde, blieb erfolglos; der Einfluss des Agitators, der seit 1832 Dublin im Unterhaus vertrat, stieg immer mehr; fast die Hälfte der 100 irischen Abgeordneten folgte seiner Führung. Mit dieser Macht, die man »O'Connells Schweif« (the O'Connell-tail) zu nennen pflegte, unterstützte er die Reformbill, die Irland fünf Abgeordnete mehr gewährte. Da er sein Vermögen und Einkommen teilweise seinen politischen Bestrebungen aufgeopfert hatte, brachten seine Landsleute eine Rente für ihn auf, die sich jährlich auf 13-18,000 Pfd. Sterl. belief. Die Verhängung von Ausnahmegesetzen über Irland, wo die öffentliche Ordnung noch immer gestört war, vermochte O'Connell 1833 nicht zu hindern. Dagegen gelang es ihm, dessen Enthüllungen im Unterhaus 1834 sogar einen Ministerwechsel hervorriefen, 1837 eine Armenbill für Irland und 1838 die Annahme eines Gesetzes durchzusetzen, das die Last des Zehnten für die irische Bevölkerung milderte. Als eine von O'Connell eingebrachte Vorlage zur Regelung der Wahlfreiheit nicht einmal zur ersten Lesung kam, begründete er im April 1840 die »Loyal National Repeal Association« und begann die Repealagitation von neuem. Nach dem Sturz der Whigs im August 1841 und nachdem O'Connell als Lord- Mayor von Dublin bei den Stadtbehörden den Antrag auf eine den Widerruf der Union verlangende Petition durchgesetzt hatte, nahm diese Agitation einen großartigen Aufschwung. Von den Geistlichen aufgefordert, strömte das Volk in ungeheuern Massen zu den »Monster-Meetings«, die häufig an Orte, die durch den Irländern heilige Erinnerungen geweiht waren, z. B. an den Königshügel von Tara, zusammengerufen wurden, und in denen O'Connell mit glühenden Farben das Elend des Volkes schilderte und die Auflösung der Union als das Ende aller Leiden, Gewalt und Empörung aber als das Verderben Irlands darstellte. Die Regierung eröffnete gegen ihn und andre Führer der Bewegung einen Prozess, der am 30. Mai 1844 mit seiner Verurteilung zu 2000 Pfd. Sterl. Geldbuße und einjähriger Hast endete. Doch legte O'Connell gegen dies Urteil Berufung ein, das Oberhaus erklärte 4. Sept. das Verfahren wegen Formverletzungen für nichtig, und O'Connell ward im Triumph aus dem Gefängnis abgeholt. Auf der nächsten Repealversammlung stellte er den Gedanken einer Föderation zwischen Großbritannien und Irland auf, den er im Parlament des folgenden Jahres mit Feuer vertrat. Dadurch aber entfremdete er sich einen großen Teil seiner Landsleute und namentlich die aus dem Schoß des Repealvereins hervorgegangene Partei »Jung-Irland«. Schon krank, trat er 1847 in Begleitung seines jüngsten Sohnes, Daniel, eine Reise nach Italien an, auf der er in Genua starb. Sein Herz ward seinem letzten Willen gemäß nach Rom, sein Körper aber nach Irland gebracht und in Glasnevin beigesetzt. In seiner Schrift »Historical memoir of Ireland and the Irish, native and Saxon« (Dublin 1843, 2. Aufl. 1846; deutsch, Leipz. 1843) zeigte er sich selbst als scharfblickenden Historiker. Seine Staatsreden, rhetorische Meistewerke, wurden von seinem Sohn John O'Connell (»Life and speeches of Daniel O'Connell«, Dublin 1846, 2 Bde.) und von Cusack (das. 1875, 2 Bde.), die »Political and private correspondence of Daniel O'Connell« von Fitzpatrick (Lond. 1888, 2 Bde.) herausgegeben."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

29 John O'Connell

"Der dritte Sohn, John O'Connell, geb. 24. Dez. 1810, gest. 24. Mai 1858, trat gleichfalls 1833 ins Parlament und stellte sich nach seines Vaters Tod an die Spitze des Repealvereins, der aber unter seiner Leitung immer mehr an Einfluß verlor und sich 1848 auflöste. Er erhielt 1857 von der Regierung die Sinekure eines Sekretärs der Schatzkammer beim irischen Kanzleigericht. Er schrieb außer der Biographie seines Vaters (s. oben): »Recollections and experiences during a parliamentary career from 1833 to 1848« (Lond. 1848, 2 Bde.)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

30 Leben und Meinungen von Tristram Shandy, Gentleman (The life and opinions of Tristram Shandy, Gentleman) (1760): Roman von Laurence Sterne (1713-1768).

"1. Kapitel

Ich wollte, mein Vater oder auch meine Mutter, oder eigentlich beide – denn es wäre wirklich Beider Pflicht und Schuldigkeit gewesen – hätten sich ordentlich zu Gemüthe geführt, was sie thun wollten, als sie mich zeugten. Hätten sie sich gehörig vor Augen gestellt, wie viel von dem abhänge, was sie gerade thaten, daß es sich nicht nur um die Erschaffung eines vernünftigen Wesens handle, sondern daß möglicherweise die glückliche Bildung und Beschaffenheit seines Leibes, vielleicht auch sein Geist und das eigenthümliche Gepräge seines Gemüthes und sogar – sie wußten wenigstens das Gegentheil nicht – das Glück seines ganzen Hauses von den Launen und Stimmungen beeinflußt werden konnten, die in dem Momente gerade die maßgebenden waren, hätten sie das Alles gehörig erwogen und überlegt und demgemäß auch gehandelt, so bin ich lebhaft überzeugt, daß ich eine ganz andere Figur in der Welt gespielt haben würde, als diejenige ist, in welcher mich der geneigte Leser vermuthlich erblicken wird. Ja ihr lieben Leute, glaubt mir nur, diese Sache ist nicht so unerheblich, als Manche von euch glauben mögen. Ihr habt wol alle davon gehört, wie die thierischen Regungen vom Vater auf den Sohn übertragen werden u. s. w. und noch vieles Andere in dieser Richtung. Nun gut, ich kann euch mein Wort daraufgeben: neun Zehntel von eines Mannes Vernunft oder Unvernunft, von seinen Erfolgen und Mißerfolgen in dieser Welt hängen von seiner Bewegung und Thätigkeit, von den verschiedenen Spuren und Geleisen, in die man sie bringt, ab, so daß, wenn sie einmal im Gange sind, – gleichviel ob auf gutem oder schlechtem Wege, darum gebe ich keinen Groschen –, sie dahin poltern wie ein Verrückter. Indem sie aber immer wieder denselben Weg treten, machen sie am Ende eine so ebene und glatte Straße daraus wie ein Gartenpfad, und wenn sie einmal daran gewöhnt sind, bringt sie der Teufel selbst oft nicht mehr daraus.

Höre, Alter, sagte meine Mutter, hast du nicht vergessen die Uhr aufzuziehen? – Ach du meine Güte! rief mein Vater ungeduldig, gab sich jedoch zugleich Mühe, seine Stimme zu mäßigen, – hat seit Erschaffung der Welt eine Frau ihren Mann jemals mit einer so dummen Frage unterbrochen? – Was sagte denn Ihr Herr Vater vorher? – O Nichts. "

[Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/sterne/tristram/tristram.htm. -- Zugriff am 2004-11-02]

31 Chartist

"Chartismus (spr. tschar-), der Name für eine Arbeiterbewegung in England in den 1830er und 1840er Jahren, deren Zweck war, die Staatsgewalt in die Hände der arbeitenden Klassen zu bringen, um dann Rechts- und Wirtschaftsordnung im Interesse der Arbeiter zu ändern. Nachdem die Reform Act von 1832 zwar das Wahlrecht erweitert, nicht aber zugunsten der untern Klasse geändert hatte, und als auch im reformierten Parlament die radikalen Mitglieder mit ihren Versuchen, eine Vertretung der Arbeiter im Parlament und für eine weitere Ausdehnung des Stimmrechts herbeizuführen, stets in einer verschwindenden Minorität blieben, wurde 1837 in London ein Arbeiterverein, die Working men's Association, gegründet, um für eine Neuordnung der Gesellschaft im Arbeiterinteresse zu agitieren. Der Verein, geleitet von Lovett, gründete Provinzialvereine und trat in Verbindung mit den radikalen Parlamentsmitgliedern (Roebuck, Joseph Hume, O'Connell u. a.). Der Name C. rührt daher, dass die Partei 1838 nach einer gegen weitere Zugeständnisse gerichteten Erklärung Lord John Russells ihr Programm in die Form eines Gesetzentwurfs (Bill) fasste, die O'Connell als Charte (Volkscharte im Gegensatze zur Magna Charta König Johanns) bezeichnete und die sofort von den demokratischen Vereinen des Landes als Programm angenommen wurde. Die Hauptpunkte der Charte, die aus 39 Artikeln bestand, waren: allgemeines Stimmrecht der Männer vom 21. Jahr, geheime Abstimmung, jährliche Neuwahl des Unterhauses, Abschaffung des passiven Wahlzensus, Vermögensqualifikation zu wählen der Mitglieder, Diäten, gleichmäßige Wahlbezirke (nach Kopfzahl). Andre waren: Einführung der Einkommensteuer, Abschaffung der neuen Armengesetze, Verminderung der Lasten, Fabrikgesetze etc. Das Haupt des C. wurde jetzt und blieb während der ganzen Bewegung O'Connor (s.d.). Die energische Agitation der Chartisten für die Wiedereinführung des 1834 aufgehobenen Elisabethschen Armengesetzes und die Zehnstundenbewegung führten dem C. die Arbeiter in großen Massen zu. Zahlreiche Zeitschriften mit großem Absatz entstanden, von denen das Organ O'Connors (»Northern Star«) das populärste war ungeheure Volksversammlungen wurden überall ab gehalten, und eine Massenpetition an das Parlament um Einführung der Charte wurde vorbereitet. Die Chartisten spalteten sich aber sofort in zwei Parteien, in die der physischen Gewalt unter O'Connor, Stephens u. a. und die der moralischen Gewalt unter Lovett. Der Gegensatz der Parteien kam zum heftigen Ausbruch in dem am 4. Febr. 1839 in London zusammengetretenen »nationalen Konvent« der Chartisten, der als Arbeiterparlament neben dem Parlament tagte. O'Connor und seine Partei siegten über die Partei der moralischen Gewalt. Die Versammlungen der Chartisten nahmen einen bedrohlichen Charakter an, sie wurden abends und nachts gehalten, man kam bewaffnet zu ihnen und predigte offen die Rebellion. Als das Parlament es 12. Juli 1839 ablehnte, die Petition, die 1,280,000 Unterschriften erhalten hatte, in Erwägung zu ziehen, kam es zu blutigen Zusammenstößen, namentlich 15. Juli in Birmingham, dem damaligen Hauptsitz der Bewegung, zu einem Aufstand, bei dem über 30 Häuser in Brand gesteckt wurden, der aber bald unterdrückt ward. Die Regierung ging energisch gegen die Führer vor, gegen 380 wurden im Lande verhaftet und mit wenigen Ausnahmen zu Gefängnis von 1 Monat bis zu 2 Jahren verurteilt. Der Versuch der Chartisten, 3. Nov. 1839 die Gefangenen in Newport zu befreien, missglückte.

Zu Anfang 1840 schien die Bewegung zu Ende, doch wurden 20. Juli d. I. alle Ortsvereine zu einer großen Association, »Nationale Chartistenassociation von Großbritannien«, vereinigt. In ihr gelangte zunächst die gemäßigte Partei aus Ruder. Es wurde beschlossen, nur friedliche und konstitutionelle Mittel anzuwenden, um die Charte zum Landesgesetz zu machen. Eine neue Petition, angeblich mit 3,300,000 Unterschriften, wurde dem Parlament überreicht, aber gleichfalls verworfen. Das hatte zur Folge, dass die radikale Partei der Chartisten wieder die Oberhand bekam. Die Haupttätigkeit der Chartisten bestand jetzt längere Zeit darin, Streiks zu veranlassen, um Forderungen gegen die Fabrikanten durchzusetzen. Doch waren die Erfolge meist gering. Noch einmal zeigte sich eine starke Chartistenbewegung 1848, als die Februarrevolution die Chartistenkreise mächtig erregte. Die Führer, O'Connor vor allen, forderten die Massen offen zur Revolution auf und vertraten jetzt auch entschieden republikanische Ideen. Zunächst sollte eine mit zahlreichen Unterschriften bedeckte Petition für die Charte an das Parlament gerichtet und nach einer großen Volksversammlung 10. April in Prozession ins Parlament getragen werden. Als aber die Regierung energische Vorkehrungen traf, um den Zug zu verhindern, scheute O'Connor vor dem unvermeidlichen blutigen Zusammenstoß zurück. Der Zug unterblieb, die Petition, die nach der Angabe O'Connors von 5,700,000 Personen (tatsächlich waren es kaum ein Drittel) unterschrieben sein sollte, wurde nun in gesetzlicher Weise dem Parlament überreicht. Diese Petition war die letzte Tat der Chartisten. O'Connors Einfluss auf die Massen war durch seinen Rückzug gebrochen, der C. hörte auf, ein Gegenstand des Schreckens zu sein, und verlor mehr und mehr an Bedeutung; O'Connor selbst starb im Irrenhaus, eine Chartistenpartei besteht heute nicht mehr."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

32 Feargus O'Connor

"O'Connor, Feargus Edward, irischer Agitator, geb. 18. Juli 1794, gest. 30. Aug. 1855, widmete sich der Advokatur, ward 1832 für Cork ins Parlament gewählt und vertrat hier die Interessen Irlands mit rücksichtsloser Kühnheit. Sein Auftreten blieb nicht ohne Einfluß, weshalb 1835 O'Connors Gegner die Kassierung seiner Wiederwahl zu bewirken wußten. Ohnehin mit O'Connells gemäßigter Politik nicht zufrieden, schloß sich O. den englischen Chartisten (s. Chartismus) an und durchzog das Land, um in Volksversammlungen die Unzulänglichkeit der Parlamentsreform und die Rechtlosigkeit der arbeitenden Klassen darzulegen. Unter seiner Leitung kam 6. Aug. 1838 zu Birmigham eine große Chartistenversammlung zustande, worauf ein Nationalkonvent in London zusammentrat, der einen allgemeinen Aufstand vorbereiten sollte. Aber es kam nicht zu einer Massen erhebung der Arbeiter, sondern nur zu vereinzelten Aufständen, die der Polizei- und Militärgewalt erlagen. Mehrere Anführer wurden ergriffen und deportiert; O. selbst, der sich im Hintergrund gehalten hatte, blieb unangefochten, ward aber im Mai 1840 wegen aufreizender Artikel, die er in dem 1837 von ihm begründeten Journal »The Northern Star« veröffentlicht hatte, zu einer Strafe von 18 Monaten Gefängnis verurteilt, die er bis September 1841 verbüßte. Seit 1847 Parlamentsmitglied für Nottingham, berief er nach der französischen Februarrevolution einen neuen Chartistenkonvent, überreichte dem Parlament eine Riesenpetition für Einführung der Volkscharte und ließ diese 10. April 1848 durch eine Volksdemonstration unterstützen. Die Nichtachtung seiner Reformvorschläge im Parlament und das Mißlingen einer nach seinem Plane gestifteten, nach kommunistischen Prinzipien verwalteten Gemeinde machten einen so tiefen Eindruck auf O'Connors reizbares Gemüt, daß er in Geisteszerrüttung verfiel. Er ward im Juni 1852 in eine Irrenanstalt gebracht, die er erst kurz vor seinem Tode wieder verließ."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

33 Cartwright:

" Cartwright (spr. kárt-rait), 1) John, engl. Publizist, geb. 28. Sept. 1740 in Northampton, gest. 23. Sept. 1824, trat in den Seedienst und kehrte 1770 nach England zurück. Seit 1775 wirkte er in Flugschriften für die amerikanische Unabhängigkeit und für radikale Reform der Verfassung und Gesetzgebung in England selbst. 1780 gründete C. mit John Jebb, Granville Sharpe etc. die Society for Constitutional Information (Gesellschaft für konstitutionelle Belehrung); die französische Revolution gab ihm Veranlassung, in dem »Commonwealth in danger« (1795) seine radikalen politischen Meinungen zu entwickeln. Seit 1805 lebte C. in London, wo er seine politische Wirksamkeit trotz wiederholter Anfechtungen eifrig fortsetzte."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

34 Cobbett

"Cobbett, William, engl. Publizist, geb. 9. März 1762 zu Farnham in Surrey, gest. 18. Juni 1835, diente 1784-91 im Heere, nahm als Sergeant seinen Abschied und wanderte 1792 nach Amerika aus. Durch eifriges Studium hatte er inzwischen die Lücken seiner Bildung auszufüllen gesucht, so daß er zu Philadelphia unter dem Namen Peter Porcupine (»Stachelschwein«) als Schriftsteller auftrat, Buchhändler wurde und die Zeitschrift »Porcupine's Gazette« herausgab. Wegen einer Schmähschrift zu hoher Geldbuße verurteilt, kehrte er 1801 nach London zurück und redigierte bis an seinen Tod die Wochenschrift »Weekly political Register«, die ein Muster geistreicher Polemik war und den größten Einfluß, namentlich auf die breiten Schichten des kleinen Bürgerstandes, gewann. Um 1804 trat er infolge eines Preßprozesses zur radikalen Partei über. 1810 zog ihm ein Artikel über die Prügelstrafe im Heer eine Verurteilung zu zweijähriger Gefängnisstrafe und 1000 Pfd. Sterl. Geldbuße zu. 1817 ging er für zwei Jahre nach Amerika, nahm nach seiner Rückkehr die frühere Tätigkeit wieder auf und wurde der Führer der journalistischen Agitation für Parlamentsreform. Seit 1832 saß er für Oldham im Unterhaus, wo er jedoch keine bedeutende Stellung gewann."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

35 Hunt

"Hunt (spr. hönnt), James Henry Leigh, engl. Schriftsteller, geb. 19. Okt. 1784 in Southgate bei London, gest. 28. Aug. 1859 in Putney, ließ schon als Schüler der Christhospitalschule in London »Juvenilia, or a collection of poems« (1801) drucken, arbeitete hierauf längere Zeit bei seinem Bruder, einem Attorney, und erhielt sodann eine Anstellung im Kriegsministerium, die er aber wieder aufgab, um sich vorzugsweise der Theaterkritik zu widmen. In dieser Zeit schrieb er Essays über dramatische Kunst. gesammelt 1807 als »Critical essays on the performances of the London theatres«. Schonungslos in Besprechung kirchlicher und politischer Mißverhältnisse, z. B. im Pamphlet »The folly and danger of methodism« (1809), wußte er den Radikalismus in der Londoner Journalistik emporzubringen. Er begründete hierzu 1808 den »Examiner«. Wegen eines Angriffs auf den Prinz-Regenten wurde er 1813 zu zweijähriger Einkerkerung verurteilt, wofür er sich durch seinen »Report of an information, filed ex officio by the attorney general with observations« rächte. Als Gefangener, der die Freiheit seiner Person durch keinen Verzicht auf die Freiheit seiner Feder erkaufen wollte, gewann er die Freundschaft von Byron, Shelley, Moore und Lamb. Später wandte er sich ausschließlich der Poesie zu und hatte Erfolg mit dem romantischen Epos »The story of Rimini« (1816); es ist Dante und Chaucer nachgeahmt, Byron gewidmet (ins Deutsche übersetzt von K. v. Meerheimb, Leipz. 1878). 1821 luden ihn Byron und Shelley nach Italien ein und ließen ihn die freidenkerische Zeitschrift »The Liberal« herausgeben (1822-23), die indessen kein Glück machte. Größeres Aufsehen erregte er später mit dem biographischen Buch »Lord Byron and some of his contemporaries« (1828). Nach Byrons Tod kehrte er nach London zurück, schrieb für fremde und eigne Reviews und fand daneben noch Zeit für einen historischen Roman: »Sir Ralph Esher, or memoirs of a gentleman of the court of Charles II.« (1832, 3. Aufl. 1836), für ein Bändchen Betrachtungen: »Christianism« (1832), das ihm die Freundschaft Carlyles eintrug, für ernste und komische Gedichte und für ein fünfaktiges Drama: »A legend of Florence«, das 1840 mit Erfolg gespielt wurde. Besonders erwähnenswert sind zwei seine Bändchen kunstkritischer Art: »Imagination and fancy« (1844) und »Wit and humour« (1846). Trotz dieser mannigfachen Tätigkeit war er mit seiner Familie in steter Geldverlegenheit, so daß Dickens 1847 für ihn zwei Liebhabervorstellungen von Ben Jonsons »Every man in his humour« veranstaltete. Seine »Autobiography« (1850, 3 Bde.; 3. Aufl. von seinem Sohne Thornton fortgesetzt, 1860; neu hrsg. von Ingpen 1903, 2 Bde.) hat Carlyle den besten Werken dieser Art gleichgestellt. Seinen letzten Jahren gehören an: »The poems of Chaucer modernised« (1841 u. 1859), »The fourth estate«, eine Geschichte der englischen Presse (1852), »Beaumont and Fletcher«, eine Blütenlese aus ihren Dramen (1855), und »Notices of Wycherley, Congreve, Vanbrugh and Farquhar« (1855). In »The religion of the heart« (1853) legte er seine Ansichten über natürliche Religion dar; 1855 sammelte er seine Epen u. d. T. »Stories in verse«. Die erste Sammelausgabe seiner »Poetical works« erschien noch bei seinen Lebzeiten in Amerika (Boston 1857, 2 Bde.); 1860 veranstaltete sein Sohn Thornton eine vollständigere Ausgabe (Lond., neugedruckt 1875), dann gab er die »Correspondence of L. H.« heraus (1862, 2 Bde.), wozu Cowden Clark (»Recollections of writers«, 1878) noch viele Nachträge lieferte. Ausgewählte Gedichte und Essays gab Johnson heraus (1891, 2 Bde.)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

 36 Peeliten: Sir Robert Peel (1788 -  1850) im Jahr 1833 gegründete Parte, die zwischen der Starrheit der alten Tories und der Beweglichkeit der jüngern Whigs die Mitte hielt.

37 Richard Cobden (1804 - 1865), Vertreter des Freihandels


Zurück zu Religionskritik