Religionskritisches von Josef Victor Widmann

"Die Sünden Gottes" (1882)

von

Josef Victor Widmann


Herausgegeben von Alois Payer (payer@payer.de)


Zitierweise / cite as:

Widmann, Josef Victor <1842 - 1911>: "Die Sünden Gottes".  -- 1882. -- Fassung vom 2005-02-22. -- URL:  http://www.payer.de/religionskritik/widmann01.htm    

Erstmals publiziert: 2005-02-04

Überarbeitungen: 2005-02-22 [Ergänzung]

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Dieser Text ist Teil der Abteilung Religionskritik  von Tüpfli's Global Village Library


Erstmals veröffentlicht in:

Der Bund : unabhängige liberale Tageszeitung Verlag. -- Bern : Der Bund. -- 1882. --  Nr. 138

Wieder abgedruckt in:

Widmann, Josef Victor <1842 - 1911>: Ausgewählte Feuilletons /  hrsg. von Max Widmann. -- Frauenfeld : Huber, 1913. -- XV, 267 S. ; 21 cm. -- S. 134 - 140 [Hier nach dieser Ausgabe wiedergegeben]



Abb.: J. V. Widmann [Bildquelle: http://www.bl.ch/docs/archive/chronik/register_pers/wi.htm. -- Zugriff am 2005-02-03]

"Widmann, Josef Victor, auch: Messer Ludovico Ariosto Helvetico, * 20. 2. 1842 Nennowitz/Mähren, † 6. 11. 1911 Bern.

Redakteur; Autor von Reisebeschreibungen, Erzählungen, Romanen, Dramen, Gedichten.

Der Sohn des Liestaler Pfarrers besuchte dort die Primar- u. Bezirksschule sowie das Basler Pädagogium (Lehrer waren u. a. Burckhardt u. Wilhelm
Wackernagel) und studierte danach an den Universitäten Basel, Heidelberg u. Jena Theologie. 1867 war Widmann Pfarrhelfer in Frauenfeld, 1868-1880 Vizedirektor und Direktor einer Berner Mädchenschule.

Auf Verlangen pietistischer Kreise entlassen, erhielt er 1880 den Dr. h. c. der Universität Bern und übernahm die Feuilletonredaktion der Zeitung »Der
Bund«. Jährlich verfasste er in dieser Eigenschaft 300-500 Rezensionen; als seine Hauptaufgabe betrachtete er jedoch die Förderung noch unbekannter Autoren (u.a. Robert Walsers u. Carl Spittelers, mit dem er seit 1858 befreundet war).

Widmanns eigene Werke kennzeichnen gemütvolle Ironie einerseits, Resignation, Verzicht u. Todesbereitschaft andererseits. Thematisch u. formal ist das Spektrum sehr breit: Antikendramen (Iphigenie in Delphi. Frauenfeld 1865), Romane (Die Patrizierin. Bern 1888), Novellen, Erzählungen, Komödien (Maikäferkomödie. Frauenfeld 1897), Reiseberichte und Italienbücher (Rektor Müslins Italiänische Reise. Zürich 1881).

WEITERE WERKE: Arnold v. Brescia. Frauenfeld 1867 (Trauersp.). - 'Bin', der Schwärmer. Ebd. 1896 (Idylle). - Johannes Brahms in Erinnerungen. Bln. 1898. - Die Muse des Aretin. Frauenfeld 1902. - Gedichte. Ebd. 1912. - Ausgewählte Feuilletons. Basel 1922. - Feuilletons.
Bern/Stgt. 1964. - Briefe: Liebesbriefe des jungen J. V. Widmann Basel 1921. - Briefwechsel zwischen Gottfried Keller u. J. V. Widmann. Basel/Zürich 1922. - Briefwechsel mit Henriette Feuerbach u. Ricarda Huch. Zürich/Stgt. 1965.

[Quelle: Rémy Charbon. -- In:Literaturlexikon : Autoren und Werke deutscher Sprache / [hrsg. von] Walter Killy. -- Berlin : Directmedia Publ., 2000. -- 1 CD-ROM  -- (Digitale Bibliothek ; 9). -- Lizenz des Bertelsmann-Lexikon-Verl., Gütersloh. -- ISBN 3-89853-109-0. -- s.v.]

Zu J. V. Widmann siehe auch

Payer, Alois <1944 - >: Materialien zum Neobuddhismus.  --   Kapitel 14: Buddhismus in anderen Ländern. -- 1. Buddhismus in der Schweiz. -- URL: http://www.payer.de/neobuddhismus/neobud141.htm. -- Zugriff am 2005-02-03


Abb.: Ferdinand Hodler (1853 - 1918): Josef Viktor Widmann. -- 1898

[Bildquelle: Widmann, Josef Victor <1842 - 1911>: Josef Viktor Widmann : "ein Journalist aus Temperament" : ausgewählte Feuilletons / hrsg. von Elsbeth Pulver und Rudolf Käser. -- Gümligen : Zytglogge-Verlag Bern, ©1992.  -- 304 S. : Ill. ; 21 cm. -- ISBN 3-7296-0426-0. -- Einbandtitel]


"Die Sünden Gottes"

Kein Zweifel! noch vor hundert Jahren hätte man dem Verfasser der merkwürdigen Broschüre, von der ich hier sprechen will, den Prozess gemacht, und selbst in unserem Jahrhundert dürfte er im Freistaat Uri — siehe Riniker1 — die schönsten offiziellen Prügel bekommen haben. Immerhin nur, wenn man ihn erwischt hätte! Und das wäre schwierig; denn der Autor des in San Francisco gedruckten englischen Traktates, "Die Sünden Gottes"2 hat für gut befunden, anonym zu bleiben.

Ich selbst besitze das Buch nicht, dessen Bekanntschaft ich nur flüchtig auf langer Eisenbahnfahrt machte. Ein ältlicher Amerikaner, kein reicher Vergnügungsreisender, da er dritter Klasse fuhr, bot mir die Broschüre zum Lesen an, vermutlich, da er, mir gegenübersitzend, selbst ganz vertieft war in Lektüre und halb begraben in französischen und englischen Journalen. Vielleicht war er selbst der Verfasser; sein breiter, struppiger Bart, seine blitzenden Augen unter einer hohen Stirn, die mit den unzähligen Falten  und Furchen des Denkens einem gepflügten Acker glich, auch ein ungewöhnlich langer brauner Rock und ein mächtiger Naturstock aus dem Holze der Stechpalme — das waren Symptome, die mich vermuten ließen, ich dürfte es hier mit einem modernen Propheten zu tun haben, etwa einem  Gesundheitsapostel vom Schlage Ernst Mahners3 oder dem Sendboten einer Temperenzlersekte4. Was mich in der Autorschaft des Unbekannten irre macht, ist nur der Umstand, dass er mir die Broschüre nicht schenkte. Dergleichen Leute, die ihre Überzeugung auszubreiten bestrebt sind, handeln sonst freigebiger; freilich stieg ich in N . . . so plötzlich aus, indem ich, ins Lesen versunken, beinahe die Station verpasst hätte, dass der gute Mann, dem ich sein Buch ohne Abschied hinwarf, kaum Zeit gefunden hätte, es mir zum Geschenk anzubieten.


Abb.: "Lämmerherde derjenigen Christen, die 'Gott einen guten Mann sein lassen'"

Sei nun dem, wie ihm wolle, das Buch "Die Sünden Gottes" ist ein merkwürdiges Erzeugnis der theologisch-philosophischen Literatur. Mit seinem Titel bäumt es sich auf und stürzt es sich wie in grimmiger Drache in die Lämmerherde derjenigen Christen, die "Gott einen guten Mann sein lassen", während man bei allen diesen Anläufen, die der Verfasser gegen die religiösen Fundamente unternimmt, doch das Gefühl nicht los wird, dieser erbitterte Angriff stamme gleichwohl aus einem überaus milden, liebevollen, fast allzuweichen Gemüte, freilich auch aus einem konsequenten, ich möchte sagen yankeemäßig hellen Verstande.

Im ersten Kapitel meint der unbekannte Autor, es sei endlich einmal an der Zeit, statt ewig von den Sünden der Menschen zu sprechen, von der Versündigung Gottes an der Menschheit einiges Aufheben zu machen. Nicht zwar, fügt er sogleich bei, als ob der die Sünden der Menschheit für eine kleine Sache ansähe.

 "Aber", sagt er wörtlich, "diese Sünden gleichen in ihrer Wirkung den Wellenkreisen, die ein ins Wasser geworfener Stein macht. Sie pflanzen sich horizontal fort, in die Breite, nicht vertikal in die Höhe, oder, ohne Bild gesprochen, sie wirken auf die Mitmenschen, fügen dem Täter und seinen Zeitgenossen oder auch den Nachkommen viel Übles zu. Als Sünden wider Gott, d. h. wider die große Lebensmacht, die viele als bewusste Kausalität aller Erscheinungen sich vorstellen, könnten unsere Sünden nur in Betracht kommen, wenn diese Lebensmacht nicht ihrerseits so tief im Schuldbuche der Menschheit, wie überhaupt der ganzen Schöpfung stünde."


Abb.: "Als Sünden wider Gott, d. h. wider die große Lebensmacht, die viele als bewusste Kausalität aller Erscheinungen sich vorstellen, könnten unsere Sünden nur in Betracht kommen, wenn diese Lebensmacht nicht ihrerseits so tief im Schuldbuche der Menschheit, wie überhaupt der ganzen Schöpfung stünde.":  Bibel des Patrice Léon,: Moses empfängt die Gesetzestafeln auf dem Berge Sinai (Ex 19, 19-25). -- 10. Jhdt.

Also ein Pessimist! wird hier der Leser ausrufen. Ja! gewiss ein Pessimist, aber ein Pessimist, der seine Beschwerden gleichsam zusammenpackt und auf die Post gibt mit der direkten Adresse an die Gottheit, die er keineswegs leugnet, die er aber vor das Schwurgericht seiner Leser stellt.

Der Verfasser gibt nämlich nunmehr in einer Reihe von folgenden Kapiteln eine wahrhaft furchtbare Schilderung der unsäglichen Leiden, denen alle Kreatur auf Erden unterworfen ist, wie nicht nur kein Zoll des menschlichen und tierischen Leibes sei, der nicht seiner besonderen Krankheit ausgesetzt wäre, sondern wie in der ganzen Natur, namentlich in dem mit sensiblen Nerven begabten Tierreiche, eine Gattung und Art auf die so oft schreckliche Vernichtung der andern sich angewiesen sehe, so dass, wenn ein Mensch, sagen wir ein König oder ein verantwortlicher Minister, etwas annähernd so Pfuscherhaftes in einer großen allgemeinen Einrichtung sich hätte zu schulden kommen lassen, "sein Name längst zu den Namen eines Nero oder Domitian geworfen wäre." Dabei ruft der Autor aus:

"Saget nicht, dass ich Euch nichts Neues erzähle, dass Ihr das schon längst wisset. Durch Euer Wissen darum wird der zuckende Schmerz von Millionen Kreaturen nicht minder brennend; ein seit ungezählten Jahrtausenden wirkendes Unheil verjährt schon deshalb nicht, da es sich mit jedem Sommertag und mit jeder Winternacht verjüngt."


Abb.: "eine Gattung und Art auf die so oft schreckliche Vernichtung der andern sich angewiesen sehe":  Eugène Ferdinand Victor Delacroix (1798 - 1863): Löwen, ein Pferd zerfleischend. -- um 1820

Da ich die Absicht hatte, womöglich einen Überblick zu gewinnen über die ganze Broschüre und dabei meine Langsamkeit im Lesen einer fremden Sprache in Anschlag bringen musste, überschlug ich in diesen Kapiteln die sehr übersichtlich geordnete Aufzählung der ärgsten Gräuel des Naturlebens. Aber soviel erfasste ich doch in der Eile, dass, wenn ich zwischen hinein einen Blick durch das Waggonfenster in die lachende Landschaft hinauswarf, ich hinter dem Frühlingsantlitz der Maiennatur eine Leichenmaske mit von Todesangst verzerrten grauenvollen Zügen zu erblicken meinte.

Im zehnten Kapitel kommt etwas Neues. Die Sünde der Gottheit, sagt dort der Verfasser, besteht nicht allein in der unmittelbaren Verschuldung der durch eine so schlechte Einrichtung unglücklich gemachten Kreatur, sondern ferner in dem Reflex dieser Einrichtung auf das menschliche Gemüt, in der Verletzung des sittlichen Gefühls, des Mitleids im Menschen, also Verletzung von Eigenschaften, die gerade als von Gott eingepflanzt angesehen werden. In welches Chaos von Gewissensskrupeln stürzt die Gottheit nicht etwa den rohen Wilden, wohl aber den sittlich gebildeten, den wohldenkenden Menschen der Zivilisation, der ein Herz voll Erbarmens im Busen trägt und mit diesem Herzen sich angewiesen sieht, entweder selbst den Henker zu machen an vielen Tausenden unschuldiger Geschöpfe, die zu seiner Nahrung dienen, oder das blutige Geschäft bestimmten Berufsleuten zu überlassen. Selbst wenn der gewissenhafte Mensch, der hierüber Abscheu empfindet, der Hindu, oder der moderne Vegetarianer in Amerika und im alten Europa, sich an bloße Pflanzenkost hält, — eine Lebensweise, die wahrscheinlich in nördlichen Klimaten sein eigenes Leben bedroht, — wie tausendfach wird gleichwohl sein Ohr gemartert durch die Qualtöne, die immerfort in der Natur erschallen, oder sein Auge beleidigt durch die Windungen, die der halb zertretene Wurm oder andere stimmberaubte Wesen, die enterbten Weheträger des Daseins, zu seinen Füßen machen. Es ist so viel Jammer durch die ganze Natur zerstreut, dass, wenn alle Menschen mit Hintansetzung ihrer sonstigen Lebensziele aus bloßer Weichherzigkeit die Sünden der Gottheit in der Natur gutmachen wollten, sie dies nicht zu tun vermöchten.

Es bleibt daher, — und dies setzt der Autor in einem besonderen Kapitel auseinander — dem vernünftigen Menschen nichts übrig, als sich systematisch zu verhärten gegen diese im Staube zuckende Nervenqual und sich stündlich zu trösten mit dem Gedanken: Ich habe ja diese verantwortliche Welt nicht eingerichtet! Aber, bemerkt  der Autor, eine solche Verhärtung, wie verständig sich auch sein mag, da wir in der Tat nicht die Spitalwärter und die Diakonissen des großen Lazarettes der Gottheit machen können, ist zugleich eine Demoralisation des Menschen, da sie ihn dazu bringt, anders zu handeln als er fühlt, da sie Liebe und Verstand in Konflikt setzt, ganz abgesehen davon, dass ohne das Vorbild der alltäglichen Brutalität der Natur die Menschen wohl auch unter einander friedfertiger und besser wären.


Abb.: Das Hauptproblem eines Weltethos, das von theistischen Religionen getragen wird: "da wir in der Tat nicht die Spitalwärter und die Diakonissen des großen Lazarettes der Gottheit machen können, ist zugleich eine Demoralisation des Menschen, da sie ihn dazu bringt, anders zu handeln als er fühlt, da sie Liebe und Verstand in Konflikt setzt, ganz abgesehen davon, dass ohne das Vorbild der alltäglichen Brutalität der Natur die Menschen wohl auch unter einander friedfertiger und besser wären." [Bildquelle: http://www.al.lu/projects/weltethos/. -- Zugriff am 2005-02-04]

Im letzten Kapitel, ich denke, es sei das zwölfte, kehrt der Verfasser zu dem Gedanken zurück, von dem er ausgegangen ist: Wenn denn die Gottheit diese Welt so veranlagt hat, dass der liebevoll fühlende Mensch ohne fortwährende Verletzung seiner besten Regungen in ihr gar nicht existieren kann, so sollen üble Handlungen der Menschen künftighin nicht als Sünden wider Gott, sondern eher als menschliche Addition zu den Sünden der Gottheit wider die Welt betrachtet werden.

In einem sehr satirisch geschriebenen Nachworte widmet endlich der Verfasser seine Schrift den auf dem Boden des positiven Christentums stehenden Mitgliedern von Tierschutzvereinen. Es sei sehr begreiflich, sagt er unter anderm, dass diese Herren hauptsächlich gegen die Vivisektion auftreten, weil in der Vivisektion zuverlässig eine von Menschen ausgeübte Tierquälerei vorliege. Wenn sie aber konsequentere Denker wären, so müssten sie nicht immer so starr einseitig nach dem Tische der Anatomen hinblicken, sondern sich sagen, dass es einen Vivisektor gebe, der die blutige Arbeit — auch die unblutige des Verhungernlassens — in ganz anders grandioser Weise betreibe, als die Professoren der Naturwissenschaft dies zu tun vermöchten. Konsequentes Denken passe freilich solchen Leuten nicht usw.


Abb.: "dass es einen Vivisektor gebe, der die blutige Arbeit — auch die unblutige des Verhungernlassens — in ganz anders grandioser Weise betreibe, als die Professoren der Naturwissenschaft dies zu tun vermöchten". Plakat gegen Tierversuche [Bildquelle: http://www.vegan-welt.de/mahnwache/tierversuche.phtml. -- Zugriff am 2005-02-04]

So weit das Buch des Amerikaners, das unter allen Umständen als eine sehr ungemütliche Reiselektüre muss bezeichnet werden.

Wenn ich im übrigen nach dem Werte dieser Auseinandersetzungen frage, so kommt mir vor, dass eine religiöse Weltanschauung, die zwischen das göttliche Sein und das Sein der Erscheinungen keine Differenz setzt, also die Gottheit auch im leidenden Wurm erblickt, — der Pantheismus, um doch den wissenschaftlichen Ausdruck nicht zu verschweigen, — von allen diesen Reflexionen des San Francisco-Philosophen kaum berührt werde. Wo dagegen Religionen einen außerweltlichen persönlichen Welturheber sich vorstellen, da ergibt sich allerdings ein Konflikt jener bekannten Eigenschaften der Weisheit, der Güte und der Allmacht. Der ältern christlichen Orthodoxie darf aber zur Ehre angerechnet werden, dass sie in teilweiser Würdigung dieses Konfliktes die Lehre eines Widersachers der Gottheit in ihr theosophisches Weltbild aufgenommen hat; nur hätte sie bei größerer Konsequenz noch weiter gehen müssen, da ein mit bloß sekundärer Macht bekleideter Satan den Zwang nicht erklärt, dem der Welturheber in seiner Schöpfung zu unterliegen scheint. Die stärkste Bejahung solcher pessimistischer Anschauungen über das All dürfte jedoch in der christlich orthodoxen Lehre von den letzten Dingen liegen, da man wohl die Kritik am Weltgebäude nicht weiter treiben kann, als dass man erklärt, es sei auf Abbruch gebaut und müsse einem besser eingerichteten dereinst Platz machen.


Erläuterungen:

1 Hans (Johann) Friedrich Riniker 1841 - 1892  (1841 - 1892): 1872 - 1887 Oberförster; 1879 - 1892: Nationalrat; 1884 aargauischer Verfassungsrat; 1887 - 1892 aargauischer Regierungsrat; 1890 Landammann; 1887 Mitglied des schweizerischen Schulrates; 1888 Oberst; 1891 Kommandant der XI. Infanterie-Brigade. Auf welches Ereignis Widmann hier anspielt, konnte ich nicht ermitteln.

2 ein entsprechendes Buch konnte ich bibliographisch nicht ermitteln. Vermutlich handelt es sich um eine literarische Fiktion Widmanns.

3 Ernst Mahner: Adolf Kussmaul (1822-1902) schreibt in "Jugenderinnerungen eines alten Arztes" (1899) über diesen Gesundheitspostel:

"Ein Gesundheitsapostel war nach Heidelberg gekommen. Er nannte sich Ernst Mahner und wandelte mit priesterlicher Würde in langem Gewande barhäuptig, mit wallenden Haaren und mächtigem Vollbart, durch die Straßen. Er hatte seine Heilslehre nach Mosis Vorbild in zehn Gebote gekleidet, schlug sie öffentlich an, wie Luther seine Thesen, und verteidigte sie öffentlich in Vorträgen gegen mäßiges Eintrittsgeld. Er eiferte wider die geistigen Getränke und das »stinkgiftige Schmauchkraut«, rühmte das Wasser und pries bombastisch die gütige Natur nach der Art der heutigen Naturärzte. Böse Zungen sagten ihm nach, sein Gesetz sei strenger als der Apostel gegen sich selbst, und behaupteten fest, sie hätten Mahner im weltlichen Gewande bei Trüffelpastete und Sherry im Hinterstübchen eines Mannheimer Restaurants überrascht.

Auf diesen wunderlichen Heiligen kam bei Tische häufig die Rede. Er hatte auch unter den Studenten einige Jünger gefunden. Einer von ihnen, ein Philologe und Sonderling, saß unter uns am Tische, ohne dass wir wussten, wie nahe er Mahner stand. Er blieb stumm bei unseren Gesprächen und Scherzen und schaute gemessen und ernst darein, wie der Gerechte unter den Sündern. Zuletzt merkten wir doch, dass sein Gesicht noch tiefere Falten zog, wenn wir auf Mahner zu sprechen kamen, nach einigen Wochen verschwand er und kam nicht wieder. Es wurde uns erzählt, er steige jetzt mit seinem Meister täglich auf den Königsstuhl, um dort oben im Walde auf den Wegen und Halden Sonnenbäder zu nehmen; sie liefen fast unbekleidet barfuss einher. Leider hatte die Polizei kein hygienisches Einsehen, sie verbot diese stärkenden Übungen, um den Damen der Stadt den verleideten Besuch des Königsstuhls wieder zu ermöglichen.

Mahner war wirklich ein ungewöhnlich abgehärteter Mensch. Die Zeitungen berichteten von einem erstaunlichen Schauspiel, das er an einem sonnigen Wintertage den Bewohnern von Mainz bereitet hatte. Auf einer Eisscholle stehend, in Sandalen und nur an den Hüften bekleidet, soll er, einen Becher Rheinwasser schwingend, auf dem Strom an der Stadt vorbeigetrieben haben. Der Abhärtung ungeachtet, hat er kein hohes Alter erreicht. Verkommen im Elend, starb er im städtischen Hospital zu Konstanz, wie mir mein Freund und Schüler, Medizinalrat Dr. Honsell, der ihn dort behandelt hat, erzählte."

[Quelle: Kussmaul, Adolf <1822 - 1902>: Jugenderinnerungen eines alten Arztes. -- Stuttgart : Bonz, 1899. -- VIII, 495 S. : Portr. -- S. 165f. -- Neuausgabe in: Deutsche Autobiographien [Elektronische Ressource] : 1690 - 1930 ; Arbeiter, Gelehrte, Ingenieure, Künstler, Politiker, Schriftsteller / hrsg. von Oliver Simons. -- Berlin : Directmedia Publ., 2004.  -- 1 CD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 102). -- ISBN 3-89853-502-9. -- S. 41651]

4 Temperenzler:  Temperenzler, Mitglieder der Mäßigkeitsvereine, besonders der Antialkoholbewegung


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