Religionskritik

Der goldne Spiegel <Auszüge> (1772)

von Christoph Martin Wieland


herausgegeben von Alois Payer (payer@payer.de)


Zitierweise / cite as:

Wieland, Christoph Martin <1733 - 1813>: Der goldne Spiegel, oder Die Könige von Scheschian : eine wahre Geschichte, aus dem  Scheschianischen übersetzt <Auszüge>. -- 1772. -- Fassung vom 2004-07-26. -- URL:  http://www.payer.de/religionskritik/wieland01.htm   

Erstmals publiziert: 2004-07-26

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Dieser Text ist Teil der Abteilung Religionskritik  von Tüpfli's Global Village Library


Ursprünglich erschienen_

Wieland, Christoph Martin <1733 - 1813>: Der goldene Spiegel. -- Leipzig : Weidmanns Erben und Reich, 1772.

Der Text folgt der Ausgabe letzter Hand von 1795.



Abb.: Christoph Martin Wieland / Gemälde von Ferdinand Carl Christian Jagemann. -- 1805

"Christoph Martin Wieland ist neben Gotthold Ephraim Lessing der bedeutendste Schriftsteller der Aufklärung im deutschen Sprachgebiet. Er ist der älteste des klassischen Viergestirns von Weimar (siehe auch Johann Wolfgang von Goethe, Johann Gottfried von Herder, Friedrich von Schiller).

Kindheit und Jugend

Geboren wurde Wieland am 5. September 1733 im Pfarrhaus von Oberholzheim (heute Gemeinde Achstetten) im Gebiet der ehemaligen Reichsstadt Biberach, nach der sein Vater bald darauf als Pfarrer versetzt wurde. Bei diesem und in der Biberacher Stadtschule wurde er unterrichtet. Schon im 12. Jahr versuchte er sich in lateinischen und deutschen Versen. Im 16. hatte er bereits fast alle römischen Klassiker gelesen; unter den modernen zogen ihn Schriftstellern Voltaire, Fontenelle und Bayle und unter den deutschen Poeten insbesondere Barthold Heinrich Brockes an.

Noch vor dem 14. Jahr auf die Schule zu Klosterberge bei Magdeburg geschickt, gab der sehr fromm erzogene Knabe sich anfangs ganz dem dort herrschenden Geist hin und entwickelte sich zu einem großen Verehrer Friedrich Gottlieb Klopstocks. Nachdem er seit Ostern 1749 sich ein Jahr lang bei einem Verwandten zu Erfurt aufgehalten, wo er mit dem "Don Quijote" fruchtbare Bekanntschaft machte, verbrachte er den Sommer 1750 im Vaterhaus. Hier traf er mit der Verwandten Sophie Gutermann (Sophie von Laroche) zusammen. Die schwärmerische Neigung, welche er zu ihr fasste, entwickelte rasch sein poetisches Talent. Auf einem Spaziergang mit ihr empfing Wieland die Anregung zu seinem ersten der Öffentlichkeit übergebenen Gedicht, das 1752 von dem Ästhetiker Meier in Halle, welchem es Wieland anonym zugeschickt, unter dem Titel: Die Natur der Dinge. Ein Lehrgedicht in 6 Büchern herausgegeben wurde.

Studium, Schweiz, Biberach, Erfurt (1750ff.)

Im Herbst 1750 hatte Wieland die Universität Tübingen bezogen, angeblich um Jura zu studieren, was er jedoch über der Beschäftigung mit der Literatur und eigener poetischer Produktion vernachlässigte. Ein Heldengedicht: "Hermann", von welchem er fünf Gesänge ausarbeitete und an Bodmer sandte, brachte ihn mit diesem in einen sehr intimen Briefwechsel.

Seine übrigen Erstlingsdichtungen: "Zwölf moralische Briefe in Versen" (1752), "Anti-Ovid" (Amsterdam 1752) u. a., kennzeichneten ihn als ausschließlichen und leidenschaftlichen Klopstockianer und strebten auf eine spezifisch seraphisch christliche Dichtung hin. Im Sommer 1752 folgte er einer Einladung Bodmers nach Zürich. Auf das herzlichste empfangen, wohnte er im traulichsten Verkehr eine Weile bei Bodmer, den er sich durch eine Abhandlung über die Schönheiten in dessen Gedicht "Noah" und durch die neue Herausgabe der 1741 erschienenen "Züricherischen Streitschriften" (gegen Gottsched) verpflichtete, und in dessen Sinn er ein episches Gedicht in drei Gesängen: "Der geprüfte Abraham" (Zürich 1753), verfasste.

In anregendem Verkehr mit Breitinger, Hirzel, Salomon, Geßner, Füßli, Heß u.a. schrieb Wieland in Zürich um jene Zeit noch die "Briefe von Verstorbenen an hinterlassene Freunde" (Zürich 1753).

Die plötzliche Nachricht, dass seine Geliebte sich verehelicht, sowie ein längerer Aufenthalt in dem pietistisch gestimmten Grebelschen Haus in Zürich hielten ihn eine Weile länger, als es sonst geschehen sein würde, bei der seiner innersten Natur ganz entgegengesetzten frommen Richtung. In seinen "Hymnen" (Zürich 1754) und den "Empfindungen eines Christen" (Zürich 1755) sprach er zum letzten mal die Sprache, die er seit Klosterberge geredet, und erklärte sich mit besonderer Heftigkeit gegen alle erotische Poesie. Der nüchterne Nicolai verglich schon damals Wielands Muse mit einer jungen Schönen, welche die Betschwester spielen will und sich ehestens in eine Kokette verwandeln könne; auch Lessing durchschaute die Hohlheit der seraphischen Schwärmerei Wielands.

Bald genug vollzog sich in Wieland, besonders unter dem Einfluss der Schriften des Lukian, Horaz, Miguel de Cervantes, Shaftesbury, d'Alembert, Voltaire u. a., eine vollständige Umkehr von den eben bezeichneten Bahnen. Schon das Trauerspiel "Lady Johanna Gray" (Zürich 1758) konnte Lessing mit der Bemerkung begrüßen, Wieland habe "die ätherischen Sphären verlassen und wandle wieder unter Menschen". In demselben Jahr entstand das epische Fragment "Cyrus" (Zürich 1759), zu dem die Taten Friedrichs II. die Inspiration gegeben hatten, ferner das in Bern, wo Wieland 1759 eine Hauslehrerstelle angetreten hatte, geschriebene Trauerspiel "Clementina von Porretta" (das. 1760) und die dialogisierte Episode aus der Kyropädie des Xenophon: "Araspes und Panthea", welche Dichtungen sämtlich nach Wielands späteren eignen Worten die "Wiederherstellung seiner Seele in ihre natürliche Lage" ankündigen oder geschehen zeigen. In Bern trat der Dichter in sehr nahe Beziehungen zu der Freundin Jean-Jacques Rousseau, Julie Bondeli.

1760 nach Biberach an der Riß zurückgekehrt, erhielt er eine amtliche Stellung in seiner Vaterstadt, deren kleinbürgerliche Verhältnisse ihm minder drückend wurden, nachdem er auf dem Schloss des Grafen Stadion, der sich nach dem Biberach benachbarten Warthausen zurückgezogen, eine Stätte feinster weltmännischer Bildung, mannigfachste persönliche Anregung und eine vortreffliche Bibliothek gefunden hatte. In Warthausen traf Wieland auch seine ehemalige Geliebte, die mit ihrem Gatten bei Stadion lebte, wieder. Der Verkehr mit den genannten und anderen Personen, die sich in jenem hochgebildeten Kreis bewegten, vollendete Wielands Bekehrung ins "Weltliche". Jetzt erst trat seine schriftstellerische Tätigkeit in die Epoche, die seinen Ruhm und seine Bedeutung für die nationale Literatur umfasst. Um 1761 wurde der Roman "Agathon" (Frankf. 1766) begonnen, 1764 "Don Silvio von Rosalva, oder der Sieg der Natur über die Schwärmerei" (Ulm 1764) vollendet; daneben hatte seit 1762 die Ausführung einer der verdienstlichsten Arbeiten Wielands, seine Übertsetzung des William Shakespeare (Zürich 1762-66, 8 Bde.), begonnen. Mit den beiden oben genannten Romanen und den Dichtungen: "Musarion, oder die Philosophie der Grazien" (Leipzig 1768) und "Idris" (das. 1768), in den nächsten Jahren den Erzählungen: "Nadine" (das. 1769), "Combabus" (das. 1770), "Die Grazien" (das. 1770) und "Der neue Amadis" (das. 1771) betrat Wieland seinen neuen Weg und verkündete eine Philosophie der heitern Sinnlichkeit, der Weltfreude, der leichten Anmut, welche im vollen Gegensatz zu den Anschauungen seiner Jugend stand.

Inzwischen hatte Wieland, der seit 1765 mit einer Augsburgerin verheiratet war, einem durch Riedel in Erfurt vermittelten Ruf an die dortige Universität im Sommer 1769 Folge gegeben. Seine Lehrtätigkeit, die er mit Eifer betrieb, tat seiner dichterischen Produktivität wenig Abbruch. In Erfurt verfasste er, außer einigen der oben genannten Schriften, noch das Singspiel "Aurora", die "Dialoge des Diogenes" und den Staatsroman "Der goldene Spiegel, oder die Könige von Scheschian" (1772), welcher ihm den Weg nach Weimar bahnte.

Weimar (1772ff.)

1772 berief ihn die Herzogin Anna Amalie von Sachsen Weimar zur literarischen Erziehung ihrer beiden Söhne nach Weimar. Hier trat Wieland in den geistig bedeutendsten Lebenskreis des damaligen Deutschland, der schon bei seiner Ankunft Männer wie Musäus, v. Knebel, Einsiedel, Bertuch u.a. in sich schloss, aber bald darauf durch Johann Wolfgang von Goethe und Johann Gottfried von Herder erst feine höchste Weihe und Belebung erhielt. Wieland bezog unter dem Titel eines herzoglichen Hofrats einen Gehalt von 1000 Talern, welcher ihm auch nach Karl Augusts Regierungsantritt als Pension verblieb. In behaglichen, ihn beglückenden Lebensverhältnissen entfaltete er eine frische und sich immer liebenswürdiger gestaltende poetische und allgemein literarische Tätigkeit. Mit dem Singspiel "Die Wahl des Herkules" und dem lyrischen Drama "Alceste" (1773) errang er reiche Anerkennung. In der Zeitschrift "Der teutsche Merkur", deren Redaktion er von 1773 bis 1789 führte, ließ er fortan die eignen dichterischen Arbeiten zunächst erscheinen, neben denen er auch eine ausgebreitete kritische Tätigkeit übte, die lange Zeit hindurch sich aus fast alles, was für die literarische Welt, vorzüglich die deutsche, von Bedeutung war, erstreckte. Wielands im "Merkur" abgedruckte "Briefe über Alceste (September 1773) gaben Goethe und Herder Ärgernis und riefen des ersteren Farce "Götter, Helden und Wieland" hervor, auf welchen Angriff Wieland mit der ihm in der zweiten Hälfte seines Lebens fast unverbrüchlich eignen heitern Milde antwortete. Schon im Titel von Goethes Text ist wahrscheinlich eine zweite Lesemöglichkeit angelegt: Götter, Helden und Wieland). Als Goethe bald darauf nach Weimar übersiedelte, bildete sich zwischen ihm und Wieland ein dauerndes Freundschaftsverhältnis, dem der überlebende Altmeister nach Wielands Tod in seiner schönen Denkrede auf Wieland ein unvergängliches Denkmal gesetzt hat. Goethe gewann auch den stärksten Einfluss auf Wielands Bestrebungen in der dritten Periode, in deren Werken sich die besten und rühmlichsten Eigenschaften unsers Dichters gleichsam konzentrieren, während seine Neigung zur ermüdenden Breite und zur sinnlichen Lüsternheit bis auf einen gewissen Punkt überwunden wurde.

Die "Geschichte der Abderiten", das romantische, farbenreiche Gedicht "Oberon" (Weimar 1781), die prächtigen poetischen Erzählungen: "Das Wintermärchen", "Geron der Adlige", "Schach Lolo", "Pervonte" u. a., gesammelt in den "Auserlesenen Gedichten" (Jena 1784-87), entstanden in den ersten Jahrzehnten zu Weimar. Dazu gesellten sich die treffliche Bearbeitung von "Lukians sämtlichen Werken" (Leipzig 1788 bis 1789) und zahlreiche kleinere Schriften.

Eine Gesamtausgabe der bis 1802 erschienenen Werke (1794-1802 in 36 Bänden und 6 Supplementbänden), welche Georg Joachim Göschen in Leipzig verlegte, hatte Wieland in den Stand gesetzt, das Gut Ossmannstedt bei Weimar anzukaufen. Dort verlebte der Dichter seit 1798 im Kreise der großen Familie (seine Gattin hatte in 20 Jahren 14 Kinder geboren) glückliche Tage, bis ihn der Tod seiner Gattin 1803 veranlasste, den Landsitz zu veräußern und wieder in Weimar zu wohnen, wo er dem Kreis der Herzogin Anna Amalia bis an deren Tod angehörte. Die Zeitschrift "Attisches Museum", welche Wieland allein 1796-1801, und das "Neue attische Museum", das er mit Hottinger und Fr. Jacobs 1802-10 herausgab, dienten dem Zweck, die deutsche Nation mit den Meisterwerken der griechischen Poesie, Philosophie und Redekunst vertraut zu machen. Wieland hatte das gewöhnliche Schicksal hochbejahrter Menschen, den Verlust der meisten Freunde und Lieben durch den Tod, in seinem Alter in hohem Grad zu erfahren, blieb indessen bis zu seinem Tod am 20. Januar 1813 in seltener Weise lebensfrisch. Seine Überreste ruhen seinem Wunsch gemäß zu Ossmannstedt in einem Grab mit denen seiner Gattin und einer Enkelin seiner Jugendfreundin Laroche, Sophie Brentano.

Die mittelbare Nachwirkung Wielands brachte der deutschen Literatur eine Fülle zuvor nicht gekannter Anmut und Heiterkeit, die lebendigste Beweglichkeit und gesteigerte Fähigkeit für alle Arten der Darstellung.

Dieser Artikel basiert ursprünglich auf dem Artikel aus Meyers Konversationslexikon von 1888."

[Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Christoph_Martin_Wieland. -- Zugriff am 2004-07-26]

"DER GOLDNE SPIEGEL, ODER DIE KÖNIGE VON SCHESCHIAN, EINE WAHRE GESCHICHTE. Aus dem Scheschianischen übersetzt

Roman von Christoph Martin Wieland, erschienen 1772; 1794 für die Ausgabe letzter Hand überarbeitet und mit einem neuen Schluss versehen. – Das Werk steht in der Tradition des philosophisch-didaktischen Staatsromans, der sich, von Xenophons Kyrupädie ausgehend, seit der Renaissance von dem eigentlich utopischen, technisch-wissenschaftlichen »Zukunftsroman« trennte und die für das 17. und 18. Jh. bezeichnende Mischform des Fürstenspiegels hervorbrachte. Zwar hat dieser, insofern er sich auf einen hypothetischen Idealstaat bezieht, auch utopischen Charakter, darüber hinaus aber versucht er in pädagogischer Absicht vor allem das Verhältnis eines idealen Fürsten zu seinem Staat in Rechten und Pflichten darzustellen, wie es etwa François de Fénelon in Les aventures de Télémaque (1694) oder Jean-François Marmontel in seinem aufsehenerregenden Bélisaire (1767) und in Deutschland z. B. Albrecht von Haller in Usong (1771) getan hatten – ein Roman, der Wieland zwar nicht beeinflusste, dem er aber sein Werk konkurrierend entgegenzusetzen beschloss.

Der Goldne Spiegel bietet, als Staatsroman in exotisch-morgenländischem Kostüm, die Geschichte des indischen Königshauses Scheschian, die in einer kunstvollen, der Erzählsituation der Märchen aus Tausendundeine Nacht nachgebildeten Rahmenhandlung dem Sultan Schach-Gebal von seiner Mätresse Nurmahal und seinem Hofphilosophen Danischmend vorgetragen wird, um ihn nach den Staatsgeschäften einzuschläfern. – Scheschian, aufgesplittert in unzählige kleine Provinzen, deren Fürsten einander die zentrale Gewalt streitig machen, wird erst zum Staat, als der Tatarenkhan Ogul es erobert und als unumschränkter Monarch mit so viel gesundem Menschenverstand beherrscht, dass selbst die parasitäre Priesterklasse der Ya-faous, der »Nachahmer des Affen«, jenes höchsten Wesens, das die Scheschianer anbeten, im Zaum gehalten wird. Auf Ogul folgt eine Reihe »namenloser« Könige, deren einer sich lediglich durch seine Gemahlin Lili auszeichnet, die das »auszehrende Fieber« jeder fortschreitenden Kultur, den Luxus, in Handwerk, Künsten und Sitten maßlos begünstigt. An dieser Stelle unterbricht Danischmend die Geschichte Scheschians mit einer längeren Erzählung, die den Antagonismus von Natur und Kultur in Anlehnung an Rousseau auflöst: Ein reicher Emir wird nach einem Raubüberfall zu einem Völkchen von Hirten und Ackerbauern verschlagen, das sich in strikter Abgeschlossenheit ein idyllisches Verhältnis zur Natur erhalten hat und keines »höheren Grades der Verfeinerung« bedarf. Der Weise Psammis hat ihm eine einfache, auf die »Erziehung der Natur« gegründete Satzung gegeben, die ihm »Arbeit, Vergnügen und Ruhe, jedes in kleinem Maße, zu gleichen Teilen vermischt«, vorschreibt. Wie sehr jedoch diese Abgeschlossenheit Bedingung des genossenen Glücks ist, geht aus den Anstrengungen hervor, die unternommen werden, sie zu erhalten: Jünglinge, an denen sich »ungewöhnliche Fähigkeiten, eine Anlage zu Ruhmbegierde oder auch nur ein bloßes Verlangen, die Welt zu sehen« bemerken lassen, werden ausgestoßen.

Im weiteren Verlauf der Scheschianischen Geschichte folgt auf Lili der weniger böse als schwache, in »immerwährender Berauschung der Seele« lebende Azor, unter dessen Regierung – als Folgen der verfeinerten Überkultur und der fürstlichen Prachtentfaltung – bereits ungeheure Staatsschulden und eine gewaltige Steuerlast die verarmende Bevölkerung bedrücken. Mit Azors Nachfolger Isfandiar und dessen machiavellistischem Ratgeber Eblis wird die Erzählung zu einer »förmlichen Satyre auf schlimme Fürsten«. Die brutale Erpressung der Untertanen lässt Recht, Gesetz und Sitten verfallen und wird Anlass zu allgemeiner Rebellion und zur Ermordung Isfandiars. »Jetzt ist die Zeit da, wo die Tugend eines einzigen Mannes das Schicksal der ganzen Nation entscheiden kann.« Tifan, Isfandiars Neffe, der in ländlicher Abgeschiedenheit von dem weisen Ratgeber Dschengis erzogen wurde, führt Scheschian »von der untersten Stufe des Elends bis zum Gipfel der Nationalglückseligkeit«. Anders als in der eingelegten Idylle des ersten Teils stellt sich Wieland mit seinem Entwurf eines Idealstaates nun in schroffen Gegensatz zu Rousseau: Die von Tifan erarbeitete Verfassung ist die einer zwar noch nicht konstitutionellen, aber gemäßigten, »aufgeklärten« Monarchie, in der der König als »Statthalter der Gottheit« auf Erden zugleich die gesetzgebende und die ausübende Macht vollzieht, ohne eine verfassungsmäßig geregelte Teilnahme der Volksvertreter an der Gesetzgebung zuzulassen. Das Volk ist in sieben scharf gegeneinander abgegrenzte Hauptklassen gegliedert, zwischen denen keine Übergangsmöglichkeiten bestehen – Adel, Gelehrte, Künstler, Kaufleute, Handwerker, Landvolk und Tagelöhner. Die Kinder genießen eine den »Bedürfnissen einer jeden Klasse« entsprechende Erziehung, die beim Adel, der ein »angebornes Recht an alle obersten Staats- und Kriegsbedienungen« innehat, natürlich anspruchsvoller ist als beim Landvolk. Tifan gewöhnt das Volk an einen »vernünftigeren« Gottesbegriff und eine »natürliche Religion«, entmachtet die Priester und erzieht sie zu »Bürgern«, die als Lehrer seiner politischen Verfassung tätig sein müssen. Weitere Marksteine seiner Politik sind ein auf Bevölkerungsexpansion zielendes Ehezwangsgesetz, Preiskontrollen, Ausfuhrbeschränkungen, ein stehendes Heer von 200 000 Soldaten, das in Friedenszeiten zu Zivildiensten herangezogen wird, und eine milde Steuergesetzgebung. Dieser ideale Staat verfällt jedoch schon bald unter Tifans Nachfolgern Temor, Turkan und Akbar. Tifans »gar zu schöne, gar zu gute, gar zu vernünftige und eben darum . . . für so alberne Tiere, als die Menschen sind, gar nicht passende Verfassung« hat den Grund ihres Verfalls gerade in dem, was ihre Vortrefflichkeit ausmacht: Das unter Tifan beschränkte, durch seine Nachfolger aber wieder erweiterte Mitspracherecht des Adels und des Klerus verstrickt Scheschian in Kriege, die es bald zur Beute benachbarter Herrscher werden lassen.

Dieser Fürstenspiegel, mit dem Wieland seine »Hoffähigkeit« erweisen wollte, an der man nach den frivolen Verserzählungen seiner Jugend zweifelte, trug ihm 1772 die Berufung zum Erzieher Karl Augusts, des Sohnes der Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar, ein. In kaum verhohlener Enttäuschung über seine dortigen beschränkten Wirkungsmöglichkeiten ließ der Autor – als Anhang zur Geschichte von Scheschian – 1775 die Geschichte des weisen Danischmend und der drei Kalender folgen, die jedoch weniger ergänzende Fortsetzung als resignierte Zurücknahme der ersten ist. Wielands im Goldnen Spiegel entwickelte politische Vorstellungen sind weder neu noch entschieden oder gar radikal. Sie huldigen vielmehr in geflissentlicher Loyalität denen Kaiser Josephs II., dessen späterem Verbot des Jesuitenordens (1773) Wieland vorausschauend mit eigenen antiklerikalen Tendenzen zuvorkam. Der »grotesken Kompromisshaftigkeit« (F. Sengle) des Werks zum Trotz entfaltet Wieland in der Rahmenhandlung das große Repertoire seiner eleganten, witzigen Erzählkunst: die geistreichen Brechungen der Übersetzungsfiktion – die scheschianische Geschichte wird als Übertragung ins Chinesische, von da ins Lateinische, von da ins Deutsche ausgegeben und von Anmerkungen aller Übersetzer unterbrochen–, ihre ironische Kommentierung durch Schach-Gebal, der in Tifan nichts als den »phantasierten Helden eines politischen Romans« sehen will, Danischmends freimütige Parteinahme für Tifan, die ihm zunächst das Amt des Ersten Ministers, aber schon bald den Sturz durch die Bonzen des Reiches einträgt – all das sind Momente, die die harmonisierende Verbindlichkeit von Wielands Fürstenspiegel aufwiegen."

[Quelle: Hans-Horst Henschen. -- In: Kindlers neues Literatur-Lexikon / Krieger, Zander und Partner GmbH. -- Orig.-Multimedia-Ausg., aktual. und bearb. -- München : Systhema; [Hamburg] : Hamburger Medienhaus [Vertrieb], 1999 -- 1 CD-ROM. -- Lizenz des Kindler-Verl., München. -- ISBN: 3-634-23231-5. -- s.v.]


»Bei irgend einem Volke« (so fing die schöne Nurmahal zu lesen an) »die Geschichte seines ältesten Zustandes suchen, hieße von jemand verlangen, dass er sich dessen erinnere, was ihm im Mutterleibe oder im ersten Jahre seiner Kindheit begegnet ist.

Die Einwohner von Scheschian machen keine Ausnahme von dieser Regel. Sie füllen, wie alle andre Völker in der Welt, den Abgrund, der zwischen ihrem Ursprung und der Epoche ihrer Geschichtskunde liegt, mit Fabeln aus; und diese Fabeln sehen einander bei allen Völkern so ähnlich, als man es von Geschöpfen vermuten kann, die sich auf der ersten Staffel der Menschheit befinden. Derjenige unter ihnen, der zuerst die Entdeckung machte, dass eine Ananas besser schmecke als eine Gurke, war ein Gott in den Augen seiner Nachkommen.

Die alten Scheschianer glaubten, dass ein großer Affe sich die Mühe genommen habe, ihren Voreltern die ersten Kenntnisse von Bequemlichkeit, Künsten und geselliger Lebensart beizubringen.«

»Ein Affe?« rief der Sultan: »eure Scheschianer sind sehr demütig, den Affen diesen Vorzug über sich einzuräumen.«

»Diejenigen, bei denen dieser Glaube aufkam, dachten vermutlich nicht so weit«, erwiderte die schöne Nurmahal.

»Ohne Zweifel«, sagte der Sultan: »aber was ich wissen möchte, ist gerade, was für Leute das waren, bei denen ein solcher Glaube aufkommen konnte.«
»Sire, davon sagt die Chronik nichts. Aber wenn es einer Person meines Geschlechts erlaubt sein könnte, über einen so gelehrten Gegenstand eine Vermutung zu wagen, so würde ich sagen, dass mir nichts begreiflicher vorkommt. Kein Glaube ist jemals so ungereimt gewesen, zu welchem nicht etwas Wahres den Grund gelegt haben sollte. Konnte nicht ein Affe die ältesten Scheschianer etwas gelehrt haben, wenn es auch nur die Kunst auf einen Baum zu klettern und Nüsse aufzuknacken gewesen wäre? Denn so leicht uns diese Künste jetzt scheinen, so ist doch viel eher zu vermuten, dass die Menschen sie den Affen, als dass die Affen sie den Menschen abgelernt haben.«

»Die schöne Sultanin philosophiert sehr richtig«, sagte Doktor Danischmend, derjenige von den Philosophen des Hofes, den der Sultan am liebsten um sich leiden mochte, weil er in der Tat eine der gutherzigsten Seelen in der Welt war, und der daher die Gnade genoss, nebst dem vorerwähnten Mirza diesen Vorlesungen beizuwohnen. »Es ist nicht zu vermuten«, setzte er hinzu, »dass die ersten Menschen in Scheschian scharfsinniger gewesen sein sollten als Isanagi No Mikotto, einer von den japanischen Götterkönigen, von welchem ihre Geschichte versichert, dass er die Kunst, mit seiner Gemahlin Ysanami nach der Weise der Sterblichen zu verfahren, von dem Vogel Isiatadakki abgesehen habe.«

[Ausgabe von 1795, S. 26f.]


»Nach dem Beispiele der Ägypter und andrer abgöttischen Völker, verehrten die Scheschianer einen Affen, als den besondern Schutzgott ihrer Nation; und, wie alle asiatischen Länder, wimmelte Scheschian von Bonzen, deren hauptsächlichste Beschäftigung war, das verblendete Volk in der gröbsten Verfinsterung des natürlichen Lichtes, und in einem ihnen allein nützlichen Aberglauben zu unterhalten. Unter den verschiedenen Gattungen derselben, welche Danischmend schildert, begnügen wir uns, nur zweier zu erwähnen, deren Institut uns Europäern unglaublich scheinen müsste, wenn wir nicht aus der Sammlung der so genannten Lettres edifiantes, und aus der Kompilation des P. Dü Halde benachrichtiget wären, dass sich wenigstens von der einen Gattung noch heutiges Tages eine zahlreiche Nachkommenschaft in der Tatarei und in Sina erhalten hat. Die ersten, sagt Danischmend, nannten sich Ya-faou, oder Nachahmer des Affen, und unterschieden sich von den übrigen Bonzen durch eine scheinbare Strenge, ein unreinliches Aussehen, eine große Fertigkeit sich in Begeisterung zu setzen, und eine Unwissenheit, welche nahe an die tierische grenzte. Wenn man den Feinden dieser Ya- faou glauben dürfte, so war kein Laster, welches sie unter dem Mantel von Sackleinwand, womit sie ihre Blöße deckten, nicht ungestraft ausgeübt haben sollten. Man beschuldigte sie der Betrügerei, der Ränkesucht, der Unmäßigkeit, und einer ungezähmten Lüsternheit nach dem Eigentume der Scheschianer; Untugenden, welche sie, wie man sagte, unter einer Maske von Einfalt, Redlichkeit, und Verachtung der irdischen Dinge künstlich zu verbergen wussten. Sie nähren, sagte man, unter dem Scheine der tiefsten Demut den unausstehlichsten Stolz; sie sind rachgierig und grausam bei dem Ansehen einer unüberwindlichen Sanftmut, und allgemeine Feinde der Menschen mit der Miene der Unschuld und Gutherzigkeit. »Diese Beschuldigungen sind zu hart« (fährt Danischmend fort), »als dass es billig wäre ihnen einen unbedingten Glauben beizumessen. Aber dies ist unleugbar, dass die Unnützlichkeit der Ya-faou der geringste Vorwurf war, der ihnen gemacht werden konnte. Sie hatten allem, was man Vernunft, Wissenschaft, Witz, Geschmack und Verfeinerung nennt, einen unversöhnlichen Krieg angekündiget; und ihren unermüdeten Bemühungen war es vornehmlich zuzuschreiben, dass Scheschian in so vielen Jahrhunderten nicht die mindeste Bestrebung zeigte, sich aus dem Wust einer die Menschheit entehrenden Barbarei empor zu arbeiten. In Betrachtung der nachteiligen Folgen einer solchen Tätigkeit, hätte man Ursache gehabt, sich ihnen noch verbunden zu achten, wenn sie sich hätten begnügen wollen, ganz und gar müßig zu sein. Gleichwohl war auch in diesem Falle die Last sie zu füttern keine Kleinigkeit. Denn man rechnete zu Sultan Azors Zeiten über zwölfmal hunderttausend Ya-faou, und sie waren überhaupt Leute von vortrefflichem Appetit. - - Es ist etwas Unbegreifliches, dass diese Nachahmer des Affen zu gleicher Zeit der Gegenstand der lebhaftesten Ehrfurcht und der öffentlichsten Verachtung waren. Man trug sich mit einer unendlichen Menge lächerlicher Erzählungen in Prose und Versen, worin man sich mit ihren Sitten und selbst mit ihrem Stande die größten Freiheiten nahm; man sprach und schrieb und sang auf öffentlicher Straße von ihnen als von dem verworfensten Auskehricht des menschlichen Geschlechtes; man beschuldigte sie ungescheut aller Übeltaten, wozu ihre herumschweifende Lebensart ihnen selbst Gelegenheit und ihren Feinden Vorwand gab. Kurz, derjenige würde lächerlich geworden sein, der in guter Gesellschaft ihren Namen mit dem geringsten Zeichen von Achtung ausgesprochen hätte; und alles dies zu eben der Zeit, da noch eine Menge von Leuten den Staub für heilig ansahen, in welchen ein Ya-faou seine Füße gesetzt hatte; da das gemeine Volk sich mit sklavischer Folgsamkeit in allen seinen Geschäften von ihnen regieren ließ, und viele nichts Angelegneres hatten, als dafür zu sorgen, dass alles, was von ihrem Vermögen nicht schon bei ihren Lebzeiten von diesen würdigen Leuten aufgegessen worden war, ihnen wenigstens nach ihrem Tode nicht entgehen möchte.

[Ausgabe von 1795, S. 119 - 121]


 »Die Gestalt«, sagt er, »welche der Nationalgeist von Scheschian unter der Regierung der Königin Lili annahm, war dem System und den Absichten der Bonzen nicht sehr vorteilhaft. Der Aberglaube, auf den ihr vormaliges Ansehen gegründet war, setzt eine gewisse Verfinsterung der Seele als eine notwendige Bedingung voraus, und nimmt also in der nämlichen Gradation ab, in welcher die Aufklärung eines Volkes zunimmt. Witz, Geschmack, Geselligkeit, Verfeinerung der Empfindung und der Sitten, sind seine natürlichen Feinde; ihre gegenseitige Antipathie ist unversöhnlich; und entweder gelingt es ihm sie zu unterdrücken, oder sie unterdrücken ihn. Die Bonzen von Scheschian sahen sich dem letztern Falle so nah, dass sie endlich, wie es scheint, an der Erhaltung ihres vormaligen Systems zu verzweifeln anfingen. Ein jeder war nun bloß darauf bedacht, anstatt für die gemeine Sache, für sich selbst zu arbeiten, und von seinen eigenen Talenten, körperlichen oder geistigen, so viel Vorteil zu ziehen, als er Gelegenheit dazu hatte.

In dieser Lage befanden sich die Sachen, als im zehnten Jahre der Regierung Azors ein Ya-faou, der sich durch seine Bemühungen um die scheschianischen Altertümer hervor getan hatte, mit einer Entdeckung auftrat, welche so wenig sie auch beim ersten Anblicke zu bedeuten schien, durch ihre Folgen das ganze Reich in Verwirrung setzte. Er hatte nämlich gefunden, oder glaubte gefunden zu haben, dass der Name des großen Affen auf den ältesten Denkmälern der Nation niemals Tsai-Faou (wie er seit einigen Jahrhunderten geschrieben und ausgesprochen wurde), sondern allezeit Tsao-Faou geschrieben sei. Da nun Tsai in der scheschianischen Sprache allezeit feuerfarben, Tsao hingegen, vermöge eines mit großer Gelehrsamkeit von ihm geführten Beweises, von jeher blau bedeutet hatte: so ergab sich der Schluss von selbst, dass der Name des blauen Affen eigentlich der wahre, uralte und charakteristische Name der Schutzgottheit ihres Landes sei.

Gorgorix (so nannte sich der Ya-faou), welcher, nach Art aller Altertumsforscher, eine ungemessene Freude über diesen Fund hatte, der ihm Gelegenheit gab, Dissertationen zu schreiben, worin er seinen in vielen Jahren mühsam gesammelten Vorrat von Kollektaneen, Lesarten, Verbesserungen, Ergänzungen, Mutmaßungen, Zeitrechnungen, etymologischen Untersuchungen, und dergleichen, anbringen konnte, - glaubte sich nicht genug beschleunigen zu können, der Welt eine so wichtige Entdeckung mitzuteilen. Wirklich hatten ihn die Untersuchungen, die er bei dieser Gelegenheit anstellen musste, auf die Spur so vieler andrer antiquarischer und grammatischer Entdeckungen gebracht, und eine jede derselben hatte ihm zu so vielen gelehrten und äußerst interessanten Digressionen Anlass gegeben, dass, ungeachtet des Titels seines Buchs, dasjenige was darin den blauen und feuerfarbnen Affen betraf, kaum den zwanzigsten Teil davon ausmachte. Seine Absicht scheint anfangs nichts weniger gewesen zu sein, als Neuerungen in der Religion seines Landes anzuspinnen; und vielleicht würde die Sache ohne Folgen geblieben sein, wenn seine Schüler und Freunde weniger eifrig gewesen wären, die Entdeckungen des großen Gorgorix (wie sie ihn nannten) in allen Zeitungen und Journalen von Scheschian als Dinge von der verdienstlichsten Wichtigkeit anzupreisen. Durch die unbescheidenen Bemühungen dieser Leute geschah es denn, dass sein Buch endlich die öffentliche Aufmerksamkeit rege machte. Verschiedene Bonzen, welche den Ruhm des großen Gorgorix mit scheelen Augen ansahen, traten mit kritischen Beleuchtungen seines Buches hervor, worin es ihnen nicht sowohl darum zu tun war, zu ergründen, ob Gorgorix recht oder unrecht habe, als der Welt zu zeigen, dass sie zum wenigsten einen eben so großen Vorrat von Kollektaneen besäßen, und noch scharfsinnigere und gelehrtere Ergänzungen, Verbesserungen, Mutmaßungen, Zeitrechnungen und Wortableitungen zu machen wüssten als Gorgorix. Bald gesellten sich auch einige Ya-faou zu ihnen, welche die Entdeckung dieses Antiquars aus einem ganz andern Gesichtspunkt ansahen, und über die Gottlosigkeit und Gefährlichkeit dieser Neuerung ein mächtiges Geschrei erhoben. Da es weder diesen noch jenen an Freunden mangelte, die aus mancherlei Ursachen und Absichten öffentlich ihre Partei ergriffen, so wurde der Streit immer hitziger und allgemeiner. Die Liebe zum Neuen zog den größten Teil der jungen Bonzen und Ya-faou auf die Seite des blauen Affen, und Gorgorix sah sich in kurzem an der Spitze eines ansehnlichen Teils der Nation.

Nun bekam er Mut, dasjenige, was er anfangs in einem bescheidenen und problematischen Tone vorgebracht hatte, mit dem herrischen Anstand eines gelehrten Diktators vorzutragen, und allen, welche die Bündigkeit seiner Beweise nicht so einleuchtend fanden als er selbst, mit einer Verachtung zu begegnen, die seinen Gegnern unerträglich war. 'Man muss entweder ein Dummkopf sein', sagte er, 'wenn man die Wahrheit meiner Entdeckungen nicht einsehen kann, oder sehr boshaft, wenn man sie nicht sehen will.' Diese unter den Gelehrten zu Scheschian sehr gewöhnliche Art zu disputieren, hatte auch hier ihre gewöhnliche Wirkung. Die Gemüter der Streitenden wurden immer mehr erbittert; die Streitfragen selbst vermehrten sich täglich durch die Wut einander nichts einzugestehen; und eine Menge von Leuten erklärte sich mit der größten Hitze für die eine oder die andere Partei, ohne untersucht zu haben wer recht habe, oder zu einer solchen Untersuchung geschickt zu sein.

Unvermerkt verwandelte sich diese Fehde aus einem Wortkrieg in einen weit aussehenden Religionsstreit, und jede Partei wandte alles an, sich zu vergrößern: als Kalaf, ein junger Bonze, welcher Mittel gefunden hatte sich bei Hofe in einiges Ansehen zu setzen, das bisher noch zweifelhafte Übergewicht durch seinen Beitritt auf die Seite des Gorgorix zog. Nicht, als ob er sich im geringsten für die Sache selbst interessiert hätte; denn er hatte sich nie die Mühe genommen, das Buch dieses Ya-faou zu lesen, und niemand in der Welt bekümmerte sich weniger als er, ob der große Affe blau, grün oder pomeranzengelb sei. Aber Kalaf war ehrgeizig; er hatte ein Auge auf die Würde eines Oberbonzen der Hauptstadt Scheschian, welche in kurzem ledig werden musste, und der blaue Affe konnte ihm zu einem Vorhaben beförderlich sein, wozu er sich in dem ordentlichen Laufe der Dinge wenig Hoffnung zu machen hatte. Sein gutes Glück hatte ihn zu dem Amte erhoben, eine persische Tänzerin, deren rühmliche Fesseln der Vertraute des ersten Günstlings der Sultanin Lili trug, von der Religion der Gebern, worin sie erzogen war, zu der scheschianischen, für welche ihr Liebhaber sich ungemein beeiferte, zu bekehren. Da die Tänzerin große Ansprüche an Witz machte, so war dies eben kein leichter Auftrag. Allein Kalaf war ein liebenswürdiger Mann, wenigstens in den Augen einer Tänzerin; er fand Mittel sich vor allen Dingen ihres Herzens zu bemeistern, nicht zweifelnd, wenn er einmal dieses gewonnen hätte, würde sich ihr Kopf nicht lange gegen seine Gründe halten können. Er wusste ihrer Eitelkeit so gut zu schonen, und die Augenblicke, welche seiner Unternehmung am günstigsten waren, so geschickt zu wählen, dass die Tänzerin endlich gestehen musste, dass er sie überzeugt habe: aber sie erklärte sich zu gleicher Zeit, wenn sie ja genötiget würde sich den großen Mithras unter dem Bilde eines Affen vorzustellen, so sollte es doch schlechterdings kein andrer als ein blauer sein; denn blau war ihre Lieblingsfarbe. Kalaf, zu klug, durch eine unzeitige Unbiegsamkeit in einem Punkte, woran ihm so wenig gelegen war, sich der Frucht so vieler mühsamen Nachtwachen zu berauben, und scharfsichtig genug, um beim ersten Blicke zu sehen was man aus einer Sache machen kann, versicherte sie, dass er selbst immer geneigt gewesen sei sich für den blauen Affen zu erklären, und dass er itzt um so eifriger für ihn arbeiten würde, da er das günstige Vorurteil seiner schönen Neubekehrten für nichts Geringeres als die Wirkung eines übernatürlichen Einflusses halten könne. Von dieser Stunde an hatte Gorgorix keinen stärkeren Verfechter als den Bonzen Kalaf. Der Vertraute des Günstlings, welcher es unmöglich fand seiner Tänzerin etwas abzuschlagen, war der erste unter den Hofleulen, der für die neue Meinung gewonnen wurde. Der Vertraute gewann den Günstling, der Günstling die Sultanin, die Sultanin den König ihren Sohn, und das Beispiel des Königs den ganzen Hof.

Die erste große Folge dieses glücklichen Fortgangs war, dass Kalaf bald darauf zur erledigten Würde eines Oberbonzen der Stadt Scheschian befördert wurde.
Huktus, ein Bonze von edler Geburt und großem Ansehen, hatte sich zu dieser Würde die meiste Hoffnung gemacht, und alles angewandt sie zu erlangen. Unter andern Umständen würde Kalaf kein furchtbarer Nebenbuhler für ihn gewesen sein; aber Kalaf  hatte sich einen Augenblick zu Nutze gemacht, da die persische Tänzerin alles vermochte. Es ist wahr, es kostete ihm die Mühe, sie zu einer kleinen Gefälligkeit gegen den Günstling der Königin zu überreden; und die ärgerliche Chronik sagte sogar, dass er in seinem eigenen Hause Gelegenheit dazu gemacht habe. Ein Beweggrund dieser Art konnte wohl dem Günstling hinreichend scheinen, Kalaffen, der keine andre als die Verdienste eines geschmeidigen Höflings aufzuweisen hatte, vor dem Bonzen Huktus, für den die Wünsche des ganzen Volkes sprachen, den Vorzug zu geben; nur war er nicht hinlänglich, diesen Vorzug vor den Augen der Nation zu rechtfertigen. Huktus verbarg seinen Unmut unter dem Scheine der vollkommensten Gleichgültigkeit; aber sein Herz kochte Rache. Die Streitigkeiten über Tsai und Tsao, an welchen er bisher aus Klugheit wenig Anteil genommen hatte, schienen ihm Gelegenheit darzubieten, diese Rache unter einem scheinbaren Vorwand auszuüben. Kalaf hatte sich an die Spitze der Partei der Blauen gestellt: Huktus bedachte sich also nicht lange, sich öffentlich für die Feuerfarbnen zu erklären. Der größte Teil der ältern Bonzen und Ya-faou war auf seiner Seite: und da sich bald darauf auch diejenigen unter den Großen von Scheschian, die mit der Regierung der Sultanin Lili nicht zufrieden waren, zu ihnen schlugen; so machten sie eine Gegenpartei aus, deren Absichten, Maßregeln und Bewegungen ernsthaft genug wurden, um den Staat mit gefährlichen Unruhen zu bedräuen.«
Hier lässt sich Danischmend in eine umständliche Entwicklung der verschiedenen Vorteile, Nebenabsichten und Leidenschaften ein, welche die eigentlichen Triebräder der öffentlichen Handlungen beider Parteien waren, und, wenn anders seine Erzählung zuverlässig ist, einen Beweis abgeben könnten, dass die Kunst, das Interesse der Religion und des Staats zum Deckmantel unedler Leidenschaften und eigennütziger Forderungen zu machen, nicht unter diejenigen gehöre, an deren Erfindung oder Vervollkommnung die Neuern einen gerechten Anspruch zu machen hätten.

»Bisher« (so fährt er fort) »hatte sich der geringere Teil der scheschianischen Nation in die Händel der Blauen und Feuerfarbnen (wie man die Parteien zu nennen anfing) wenig eingemischet, oder es waren doch nur wenige in ihren angeerbten Begriffen von dem großen Affen irre gemacht worden. Die meisten begnügten sich über die Neuerungen des Gorgorix und seiner Freunde den Kopf zu schütteln, und zu beklagen, dass eine so ausgemachte Sache, als der Name und die Farbe ihrer Schutzgottheit wäre, vorwitzigen Untersuchungen ausgestellt werden sollte. Aber Kalaf, dessen ungezähmter Ehrgeiz einen vollständigen Triumph verlangte, ruhete nicht, bis er auch den größern Teil des gemeinen Volkes von der Blauheit des großen Affen überzeugte. Was ihm die erwünschteste Gelegenheit dazu gab, war eine prächtige Pagode von blauem Porzellan mit goldnen Verzierungen, welche auf Veranstaltung der Sultanin Lili dem Tsao- Faou zu Ehren aufgeführt wurde. Der Eifer dieser Dame, der Nachwelt ein so schönes Denkmal ihrer Liebe für die Künste zu hinterlassen, verwandelte sich unvermerkt in einen Eifer für die Sache des blauen Affen selbst. Das Volk, unter dessen Augen dieser schöne Tempel empor stieg, wurde von den Anhängern Kalafs in rätselhaften Ausdrücken vorbereitet, außerordentliche Dinge zu erwarten. Die Blauen ließen in ihrem Gesicht und Ton eine große Zuversichtlichkeit sehen, ohne sich über die Ursache derselben zu erklären; und Huktus mit seinem Anhang zitterte ohne zu wissen wovor.

Endlich kam der Tag, welchem beide Parteien, jene mit ungeduldigem Verlangen, diese mit unruhiger Erwartung eines gegen sie geschmiedeten Anschlags, entgegen sahen; der Tag, da die blaue Pagode eingeweihet werden sollte. Sobald die Sonne aufgegangen war, führte Kalaf das versammelte Volk in einen nahe bei der Hauptstadt gelegenen Wald, der seit undenklichen Zeiten dem großen Affen heilig gewesen war. Mitten in diesem Walde war ein großer runder Platz, und in der Mitte des Platzes eine Art von Thron aufgerichtet, welchen Kalaf bestieg, um diese berühmte Anrede an das Volk zu halten, von welcher die Geschichtsschreiber seiner Partei versichern, dass sie niemals ihresgleichen gehabt habe. Kalaf sagte so erhabene und unbegreifliche Dinge, es strahlte eine so ungewöhnliche Begeisterung aus seinem ganzen Wesen, der majestätische Ton seiner Stimme, die Überzeugung, womit er sprach, die Figuren, wovon er Gebrauch machte, der Strom seiner Worte, rissen die Zuhörer mit solcher Gewalt dahin, dass man ihm Beifall geben musste, ohne das geringste von allem was er gesprochen begriffen zu haben. Die vornehmste Absicht seiner Rede war, das Volk in Erstaunen und in ein zitterndes Erwarten irgend einer wundervollen Entwicklung zu setzen. Niemals hatte ein Redner die Zauberkraft des Galimatias besser studiert als Kalaf. Die Wirkung davon starrte ihm aus jedem Aug entgegen; und um sie auf den höchsten Grad zu treiben, endigte er seine Rede mit einer feierlichen Apostrophe an den großen Affen, den er beschwor, sein Volk aus der Ungewissheit zu reißen, und durch irgend ein sichtbares Wunder zu zeigen, unter welcher Farbe ihm seine Verehrung am angenehmsten sei.

Kaum hatte Kalaf die letzten Worte ausgesprochen, so sah man auf einmal den Baum, an dessen Stamm der Thron des Oberbonzen befestiget war, in Flammen eingehüllt; und unter Blitz und Donner30 stieg vor den bestürzten Augen eines unzähligen Volkes ein großer blauer Affe herab, und setzte sich mit einer so majestätischen Miene auf dem Throne zurechte, dass die Hoffnung Kalafs selbst durch die Geschicklichkeit seines Zöglings übertroffen wurde.
Dieser Streich war, wie man leicht denken kann, entscheidend. Der hartnäckigste Anhänger des feuerfarbnen Affen sah sich gezwungen, dem Zeugnis seiner Sinne gewonnen zu geben. Sogar die Freidenker, welche bei diesem Schauspiele zugegen waren, wurden von dem allgemeinen Schwall mit fortgerissen, und die wenigen, die ihrer Vernunft noch mächtig genug blieben um durch ein so grobes Blendwerk hindurch zu sehen, waren aus kluger Furcht die eifrigsten, der Gottheit des blauen Affen zuzujauchzen. Er wurde mit einem alle Einbildung übersteigenden Triumph in seinen neuen Tempel eingeführt; und der König Azor selbst, der sich aus bloßer Gefälligkeit gegen die Launen seiner Mutter für die Meinung der Blauen erklärt hatte, konnte sich nicht erwehren, die Sultanin an der Spitze des ganzen Hofes zu begleiten, und das erste feierliche Opfer mit seiner Gegenwart zu zieren.

So schrecklich die Nachricht von dieser Begebenheit dem Bonzen Huktus und seinen Freunden war, so zeigte er doch in diesem entscheidenden Augenblicke, dass es ihm nicht an der wichtigsten Eigenschaft mangle, die zum Haupt einer Partei erfordert wird.« Außer vielen andern wohl ausgesonnenen Maßregeln, in deren Erzählung wir Danischmenden nicht folgen können, ließ er sich vornehmlich angelegen sein, den Eindruck, welchen Kalaf mit seinem blauen Affen auf den unaufgeklärten Teil der Nation gemacht hatte, von Grund aus zu vernichten. Seine Anhänger beschuldigten diesen Oberbonzen öffentlich der Zauberei, und eines geheimen Verständnisses mit den bösen Geistern. Dies war in der Tat ein Einfall, der seinem Erfinder Huktus Ehre macht. Hätten die Feuerfarbnen sich begnügt, dem Volke begreiflich zu machen, dass Kalaf ein Betrüger sei, so würden sie ihm wenig dadurch geschadet haben; denn wie schwach ist die Wirkung der Vernunft gegen Schwärmerei und Aberglauben! Aber dreist versichern, dass er die bösen Geister mit in seine Verschwörung gegen den Tsai-Faou gezogen habe, dies hieß ihm wirklich einen gefährlichen Streich beibringen. Eine solche Anklage hatte Wahrscheinlichkeit in den Augen des gemeinen Volkes: sie zog seine Neigung zum Wunderbaren auf Huktus' Seite; sie gab Gelegenheit zu einer unendlichen Menge unglaublicher Erzählungen, welche man, mitten unter der Versicherung dass sie unglaublich wären, begierig ausbreitete, mit selbst erfundenen Umständen glaublicher zu machen beflissen war, und zuletzt wirklich glaubte. Kurz, Huktus erhielt dadurch seine Absicht so vollkommen, dass der Pöbel in den meisten Provinzen des Reichs entschlossen war, es eher auf das äußerste ankommen zu lassen, als dem Glauben seiner Voreltern und dem feuerfarbnen Affen untreu zu werden.

»Vermutlich« (fährt Danischmend fort) »hätte Kalaf am weisesten gehandelt, wenn er diese Beschuldigungen mit kalter Verachtung angesehen, und durch eine zwar standhafte, aber ruhige und langsame Fortführung seines Plans, die Hindernisse, die er in den Vorurteilen der halben Nation fand, zu besiegen gesucht hätte. Aber sein Hochmut und seine Hitze vertrugen sich mit keinen so gelinden Maßnehmungen. Stolz auf seine Gewalt über den Geist der Sultanin Lili, welche damals noch das Steuerruder führte, und verwegen gemacht durch den schwärmerischen Eifer eines zahlreichen Anhangs, glaubte er stark genug zu sein, die Widerspenstigen durch Zwangsmittel zu unterwerfen. Eine königliche Verordnung, wovon er der Urheber war, erklärte alle diejenigen für Aufrührer, welche sich weigern würden dem blauen Affen zu huldigen. Die Bildnisse des Tsai-Faou wurden aus allen Pagoden weggeschafft, und mit andern von blauem Porzellan ersetzt, wovon in den Vorhöfen der blauen Pagode eine schöne Fabrik zum Vorteil derselben angelegt war. Alle Pagoden wurden mit Bonzen von Kalafs Anhang besetzt, und diejenigen abgedankt, welche lieber ihren Einkünften als dem feuerfarbnen Affen entsagen wollten. Diese Gewalttätigkeiten hatten den Erfolg, den ein weiserer Mann als Kalaf ihm vorher gesagt hatte, ohne Glauben zu finden. Tausend persönliche Beleidigungen, wodurch die Feuerfarbnen täglich zur Rache gereizt wurden, der Übermut, womit die Blauen, als die siegreiche Partei, mit ihren feuerfarbnen Mitbürgern verfuhren, und die öffentliche Verfolgung, welche zuletzt über diese verhängt wurde, erschöpften endlich ihre Geduld. Ganze Provinzen ergriffen die Waffen, und kündigten Azorn den Gehorsam auf, wofern er seinen Untertanen nicht zum wenigsten die Wahl lassen würde, ob sie blau oder feuerfarben sein wollten.

Zum Glück für das Reich Scheschian erfolgte um eben diese Zeit eine Veränderung bei Hofe, wodurch Lili von der Staatsverwaltung entfernt, und die schöne Alabanda, eine heimliche Gönnerin der Feuerfarbnen, die Vertraute oder vielmehr die unumschränkte Beherrscherin des Sultans Azor wurde. Dieser günstige Umstand machte den Feuerfarbnen Luft, und verhütete den gänzlichen Ausbruch eines allgemeinen Bürgerkrieges. Alabanda hatte zwar große Lust ihren Freunden eine vollständige Rache an den Blauen zu verschaffen; aber Kalafs Anhang war zu groß, und der Ausgang eines Bürgerkrieges zu ungewiss, als dass ein solcher Anschlag bei den Häuptern der Feuerfarbnen selbst Eingang gefunden hätte. Man begnügte sich also auf beiden Seiten einen Vertrag zu Stande zu bringen, wodurch die Sachen in eine Art von Gleichgewicht gesetzt wurden. Indessen zeigte sich in der Folge, dass der Altertumsforscher Gorgorix der Nation durch seine Entdeckung eine Wunde geschlagen hatte, welche zwar zugeschlossen, aber nicht von Grund aus geheilt werden konnte. Das immer währende Gezänke der Bonzen; der Abscheu, welcher natürlicher Weise beide Parteien gegen einander erfüllen musste, wenn sie dem Gegenstand ihrer Verehrung von der andern Partei mit Verachtung begegnen sahen; die Beeiferung sogar in den gleichgültigsten Dingen sich von einander zu unterscheiden: alles vereinigte sich, die Blauen und Feuerfarbnen mit einem unauslöschlichen Hasse gegen einander zu entzünden; mit einem Hasse, der nicht nur das zarte Gewebe der feinern Bande der Natur zerriss, sondern stark genug war, um von Zeit zu Zeit die gröbern Fesseln der bürgerlichen Verhältnisse zu zerbrechen. Er glich einem schleichenden Gifte, welches die ganze Masse des politischen Körpers ansteckte, und alle andre Gebrechen und Zufälle desselben bösartiger machte, als sie an sich selbst gewesen wären. Bei jeder Veranlassung brach das gärende Übel bald in diesem bald in jenem Teile des Reichs aus: und da der Hof weder mächtig genug war, eine von den Parteien gänzlich zu unterdrücken, noch weise genug, ein genaues Gleichgewicht zwischen ihnen zu erhalten; so drückte und verfolgte immer eine die andre wechselsweise, je nachdem sie in einer Provinz oder bei Hofe selbst die Oberhand hatte; und das Unglück der Nation wurde durch diese neue Klasse von Beschwerden, wie schimärisch auch die erste Quelle derselben war, so vollkommen gemacht, dass die Scheschianer sich endlich zum zweiten Male in der unseligen Lage befanden, das Ende ihres Elendes nur von einer gewaltsamen Staatsveränderung zu erwarten.«

Unter den Anmerkungen, womit der Sultan Gebal diese Erzählung etlichemal unterbrach, hat uns nur Eine wichtig genug geschienen, bemerkt zu werden. Er zweifelt nämlich, wie es möglich gewesen, dass eine Nation, die man uns (wenigstens von den Zeiten des Sultans Ogulan) in einem Zustande von Aufklärung und Verfeinerung vorstellt, dumm genug habe sein können, sich zum Opfer eines so albernen antiquarischen Streites machen zu lassen?

Die Auflösung, welche Danischmend von diesem Problem gibt, verdient wenigstens gehört zu werden. »Es ist wirklich eine klägliche Sache«, spricht er, »Geschöpfe unsrer Gattung ihres besten Vorzugs vor den übrigen Tieren auf eine so demütigende Art beraubt zu sehen. Und gleichwohl habe ich bisher von den Scheschianern nichts gesagt, was nicht, unter gewissen Voraussetzungen, so glaublich wäre als irgend eine andre natürlich Begebenheit. Diese Voraussetzungen sind zum Exempel - dass kein gewöhnlicheres Phänomen in der Welt ist, als Leute mit Vernunft rasen zu sehen; oder auch, zu sehen, dass sie bei tausend Gelegenheiten vernünftig, und in einer einzigen Sache unsinnig sind; - dass man zu allen Zeiten und auf allen Teilen dieses Erdenrundes sehr alberne Meinungen und sehr unsinnige Gebräuche im Schwange gesehen hat; - dass der Aberglaube, wenn er in Zeiten der Unwissenheit und der rohen Einfalt sich des Gehirns eines Volkes bemächtiget und etliche Jahrhunderte Zeit gehabt hat sich fest zu setzen, durch eine stufenweise zunehmende Aufheiterung zwar geschwächt, aber schwerlich anders als nach Verfluss eines langen Zeitraums, und durch eine ununterbrochene Fortdauer der Ursachen welche seinen Untergang befördern, so gänzlich vernichtet werden kann, dass die Überbleibsel davon nicht zuweilen in Gärung geraten, und wunderliche, auch wohl bösartige Zufälle veranlassen sollten. Überdies«, fährt er fort, »würde mir nichts leichter sein, als einen jeden Teil meiner Erzählung durch historische Beispiele dessen, was unter den abgöttischen Völkern des Erdbodens, und zum Teil unter den Moslemim selbst, vorgegangen ist, zu erläutern. Ich sehe nicht, warum die Scheschianer wegen ihrer Verehrung eines feuerfarbnen Affen mehr Vorwürfe verdienen sollten, als die weisen Ägypter wegen der Anbetung des Stiers Apis, und so vieler andrer Tiere, worunter auch Affen und Meerkatzen waren; und der Streit über die Frage, ob der große Affe blau oder feuerfarben sei, scheint mir jenen wohl wert zu sein, den die Stadt Oxyrynchus mit der Stadt Kynopolis, ihrer Nachbarin, über die Gottheit des Anubis und ich weiß nicht was für eines Meerfisches mit spitziger Schnauze, aus dem Geschlechte der Rochen, geführt haben soll, wenn wir einem der weisesten Männer des alten Gräciens glauben dürfen. Dieser Fisch, welcher der Schutzgott der Oxyrynchiten war, wurde von den Kynopoliten als ein bloßer Fisch behandelt, und also ohne Bedenken gegessen. Die Einwohner von Oxyrynchus, die dies natürlicher Weise sehr übel nahmen, glaubten ihren Gott nicht besser rächen zu können, als indem sie an den Hunden, welche zu Kynopolis heilig waren und auf gemeiner Stadt Unkosten unterhalten wurden, das Wiedervergeltungsrecht ausübten. Es entstand darüber ein so blutiger Krieg zwischen diesen beiden ägyptischen Städten, dass die Römer sich endlich genötigt sahen, die Wütenden mit Gewalt aus einander zu reißen.31 Im übrigen lässt sich vermuten, dass der denkende Teil der Nation, das ist (nach der billigsten Berechnung) unter tausend Einer, den ganzen Streit eben so ungereimt gefunden haben werde als wir. Hingegen ist nicht weniger zu glauben, dass die meisten von diesem tausendsten Teile sich darum nicht weniger für einen von beiden Affen interessierten. Es ist mit einem alten Aberglauben eben so wie mit andern alten und unvernünftigen Gewohnheiten beschaffen. Man sieht die Torheit davon ein, man lacht darüber, man beweist sich selbst mit vielen Gründen, dass es Missbräuche sind: aber gleichwohl beobachtet man sie nicht allein um der alten Gewohnheit willen; sondern man rechnet es noch demjenigen als ein Verbrechen an, der sich die Freiheit nehmen wollte davon abzugeben. Privatvorteile und Leidenschaften können wohl gar die Ursache sein, dass wir solche Missbräuche, bei der völligsten Überzeugung dass es Missbräuche sind, mit Eifer und Hitze verfechten. Man unterscheidet in solchen Fällen Theorie und Ausübung. Man behauptet einen nützlichen Missbrauch, und lacht bei sich selbst der Toren, welche betrogen zu werden verdienen, weil sie betrogen werden wollen.«

Wir schließen diesen Auszug mit den eigenen Worten des weisen Danischmend, und mit einer Betrachtung, die wir von Herzen unterschreiben. »Die Ränke und Kunstgriffe«, spricht er, »welche von beiden Parteien angewandt wurden, einander zu schwächen und zu unterdrücken, - einander wechselsweise das Vertrauen des Königs und das Ruder des Staates aus den Händen zu winden, - oder sich dem Hofe furchtbar zu machen, und allen seinen Unternehmungen, unter dem Vorwande des gemeinen Besten, unübersteigliche Hindernisse in den Weg zu legen; - die Künste, welche gebraucht wurden, tausend streitende Privatvorteile mit dem Interesse der Parteien in einen wirklichen oder doch anscheinenden Zusammenhang zu bringen; - der schändliche Missbrauch, den man zu Beförderung aller dieser Absichten mit den ehrwürdigen Namen der Religion, des königlichen Ansehens und des allgemeinen Besten trieb; - die unzähligen Auftritte von Ungerechtigkeit, Betrug, Verräterei, Undankbarkeit, Raubsucht, Giftmischerei, usw. welche unter diesen ehrwürdigen Masken gespielt wurden: alles dies würde überflüssigen Stoff zu einem ungeheuern Geschichtbuche geben, welches zu lesen nur die größten Verbrecher verdammt zu werden verdienen könnten. Unglücklicher Weise ist die Geschichte der polizierten Völker, wenn man ihre Kriege (einen andern Schauplatz von Abscheulichkeiten) abrechnet, beinahe nichts anders als dies. Für einen Menschen, der an den Schicksalen seiner Gattung wahren Anteil nimmt, ist es Pein, bei diesen ekelhaften und grauenvollen Gemälden zu verweilen. Das Herz des Menschenfreundes schaudert vor ihnen zurück. Ängstlich sieht er sich nach Szenen von Unschuld und Ruhe, nach den Hütten der Weisen und Tugendhaften, nach Menschen die dieses Namens würdig sind, um; und wenn er in den Jahrbüchern des menschlichen Geschlechtes nicht findet was ihn befriedigen kann32, flüchtet er lieber in erdichtete Welten, zu schönen Ideen, welche, so wenig auch ihr Urbild unter dem Monde zu suchen sein mag, immer Wirklichkeit genug für sein Herz haben, weil sie ihn (wenigstens so lange bis er durch Bedürfnisse oder unangenehme Gefühle in diese Welt zurück gezogen wird) in einen angenehmen Traum von Glückseligkeit versetzen, - oder, richtiger zu reden, weil sie ihn mit dem innigsten Gefühle durchdringen, dass nur die Augenblicke, worin wir weise und gut sind, nur die Augenblicke, die wir der Ausübung einer edlen Handlung, oder der Betrachtung der Natur und der Erforschung ihres großen Plans, ihrer weisen Gesetze und ihrer wohltätigen Absichten, - oder der Freundschaft und Liebe, und dem weisen Genusse der schuldlosen Freuden des Lebens widmen, - dass nur diese Augenblicke gezählt zu werden verdienen, wenn die Frage ist, wie lange wir gelebt haben.«

Der sinesische Herausgeber dieser wahrhaften Geschichte sagt uns, dass der Sultan über dem letzten Teile der Rede des weisen Danischmend eingeschlafen, und dieser also genötigt worden sei, mit weiterem Moralisieren einzuhalten; ein Umstand, der uns, wie er vermutet, verschiedene schöne Betrachtungen entzogen hat, welche der indostanische Philosoph über diesen Teil der Geschichte von Scheschian noch gemacht haben könnte.

Des folgenden Abends befahl ihm der Sultan, über den Rest der Regierung des unglücklichen Azors so schnell als nur immer möglich sein würde, hinweg zu glitschen. »Es gibt« (sprach er) »gewisse Leute, die gar zu dumm sind, wie sogar mein guter Oheim Schach-Baham irgendwo angemerkt hat; und gewiss ist dieser Azor einer aus dieser Klasse. Man kann nicht bald genug mit ihm fertig sein.«

[Ausgabe von 1795, S. 137 - 150]


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