Ausgewählte Erzählungen aus Somadeva's
Ozean der Erzählungsströme

1. Einleitung


verfasst von Somadeva

übersetzt und erläutert von Alois Payer

mailto:payer@payer.de


Zitierweise / cite as:

Somadeva <11. Jhdt. n. Chr.>: Kathāsaritsāgara : der Ozean der Erzählungsströme : ausgewählte Erzählungen / übersetzt und erläutert von Alois Payer. -- 1. Einleitung. -- Fassung vom 2006-10-22. -- http://www.payer.de/somadeva/soma01.htm 

Erstmals publiziert: 2006-10-14

Überarbeitungen: 2006-10-23 [Ergänzungen]; 2006-10-19 [Ergänzungen]

Anlass: Lehrveranstaltung WS 2006/07

©opyright: Dieser Text steht der Allgemeinheit zur Verfügung. Eine Verwertung in Publikationen, die über übliche Zitate hinausgeht, bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Verfassers

Dieser Text ist Teil der Abteilung Sanskrit  von Tüpfli's Global Village Library


Falls Sie die diakritischen Zeichen nicht dargestellt bekommen, installieren Sie eine Schrift mit Diakritika wie z.B. Tahoma.


In Dankbarkeit


(Foto von Hartmut-Ortwin Feistel, 1978)

Prof. Dr. Paul Thieme
1905 - 2001

Professor der Indologie in Tübingen

Professor Thieme hat mich mit seiner Begeisterung für altindische Sprachen angesteckt. Er war ein immer anregender Lehrer, der einen Text mit seinen Schülern auch noch beim hundertsten Mal mit der gleichen Neugier und Begeisterung las, als ob es das erste Mal wäre. Was ich ihm verdanke, ist mir Verpflichtung, zu versuchen, den Funken seiner Begeisterung an künftige Generationen weiterzugeben.


0. Übersicht



1. Der Kathāsaritsāgara / von Moritz Winternitz, 1920


In seiner bis heute unübertroffenen Geschichte der indischen Literatur schreibt Moriz Winternitz <1863 - 1937> zum Kathāsaritsāgara:

"Die kaschmirische Rezension der Bṛhatkathā ist uns in zwei wahrscheinlich kurz nacheinander entstandenen Bearbeitungen erhalten. Die ältere von beiden ist die Bṛhatkathāmañjarī, »Blütenstrauß (vom Baum) der Bṛhatkathā«, des Kṣemendra,  wahrscheinlich um 1037 verfasst. Wie es von diesem Vielschreiber nicht anders zu erwarten ist, zeigt er in seiner Wiedergabe der kaschmirischen Bṛhatkathā wenig Geschmack. Trotzdem es seine eigentliche Absicht ist, eine abgekürzte Version des Werkes zu geben, und er manchmal tatsächlich so kürzt, dass er fast unverständlich wird, ist er doch andererseits oft wieder geschwätzig und gefällt sich besonders in der Ausmalung erotischer Szenen und in der Erweiterung von Stücken religiösen — sei es śivaitischen, viṣṇuitischen oder buddhistischen — Inhalts. Ob Kṣemendra oder Somadeva ein treueres Bild der verloren gegangenen Bṛhatkathā gibt, lässt sich mit Sicherheit nicht entscheiden, da wir eben das Grundwerk nicht kennen2. Das wichtigste aber für uns ist, dass weder Somadeva von Kṣemendra, noch dieser von Somadeva abgeschrieben hat, sondern dass beide auf ein und dasselbe Grundwerk zurückgehen, nämlich eine in Kaschmir verbreitete, durch Zusätze stark vermehrte Rezension von Guṇāḍhyas Bṛhatkathā3.


Abb.: Johannes Hertel (1872 - 1955), ab 1919 Prof. der Indologie in Leipzig

2 Lacôte meint, dass der als Dichter unbedeutendere Kṣemendra doch ein getreueres Bild von seiner Vorlage gebe. Mankowski glaubt, dass Somadeva den Inhalt, Kṣemendra die Anordnung des Stoffes getreuer wiedergegeben habe. Vgl. Mankowski a.a.O. 167 f. und Hertel, Tantrākhyāyika, Übers. I, 42.

3 Bosch a. a. O. 85 ff. bestreitet die Berechtigung der Annahme einer kaschmirischen Rezension und nimmt an, dass Bṛhatkathāmañjarī und Somadeva unmittelbar auf Guṇäḍhyas Bṛhatkathä zurückgehen. Da aber Bṛhatkathām. und Kathāsarits. so viel miteinander gemein haben, dass sie unbedingt auf eine und dieselbe Quelle zurückgehen, aber Bṛh.-Ślokasaṃgraha von beiden sehr stark abweicht, ist die Annahme eines Zwischengliedes doch kaum zu umgehen. Wenn Grierson recht hat, steht die Paiśācī dem Dialekt von Kaschmir nahe genug, so dass auch die kaschmirische Rezension als »Paiśācī Bṛhatkathā« bezeichnet werden konnte.

Da Somadeva sein Werk zwischen 1063 und 10811, also etwa 30 Jahre später als Kṣemendra geschrieben hat, könnte er ja die Arbeit von Kṣemendra benutzt haben. Er überragt aber seinen Vorgänger an dichterischer Begabung so gewaltig, dass er ihn wohl nur gekannt hat, um ihn verächtlich beiseite zu schieben.

1 Somadeva schrieb sein Buch zur Unterhaltung der Sūryamatī, der Großmutter des Königs Harṣa von Kaschmir; s. oben S. 53 A. 3.

Kathāsaritsāgara2, »Ozean der Erzählungsströme«, ist wohl der passendste Titel, den man sich für Somadevas Werk denken kann3. Denn es ist tatsächlich ein Meer, in das sich alle Ströme von Erzählungen ergossen haben, und die Haupterzählung von Naravāhanadatta bildet hier nur den Rahmen für die Erzählungsströme, die aus allen möglichen Quellen in diesen einen Ozean zusammengeflossen sind. Diesen Charakter hatte aber schon das kaschmirische Grundwerk, nach welchem Somadeva gearbeitet hat. Das erfahren wir von dem Dichter selbst, der keinen Anspruch erhebt, die Geschichten selbst erfunden zu haben, sondern erklärt (I, 10—12):

2 Das I. bis V. Buch ist mit einer deutschen Übersetzung herausgegeben von H. Brockhaus, Leipzig und Paris 1839; die Bücher VI bis zum Schluss (nur der Sanskrittext) von demselben in AKM II und IV (1862 und 1866). Textkritische und exegetische Bemerkungen zu dieser Ausgabe von H. Kern, JRAS III, 1, 1867, p. 167 ff. Neuere und bessere Ausgabe von Durgāprasād, Bombay, NSP 1889 (2nd Ed. 1903). Inhalt der ersten fünf Bücher mitgeteilt von H. H. Wilson (1824) in Works III, 156—268. Vollständige englische Übersetzung von C. H. Tawney in Bibl. Ind., 2 Vols., Calcutta 1880—1884. Auswahl in deutscher Übersetzung von J. Hertel, Bunte Geschichten aus dem Himalaya, München 1903. Von einer vollständigen deutschen Übersetzung (aus dem Sanskrit?) von A. Wesselski ist der erste Band (Berlin 1914/15) erschienen. Das X. Buch ist übersetzt von H. Schacht, Indische Erzählungen, Lausanne und Leipzig 1918. Textkritische und literarhistorische Untersuchungen gibt J. S. Speyer, Studies about the Kathāsaritsāgara (Verh. der kon. Akademie van Wetensch. te Amsterdam, Afd. Lett., N. R., VIII, 5) Amsterdam 1908. Vgl. C. H. T(awney), JRAS 1908, 907 ff. und Lacôte, Essai p. 67 ff.

3 Ich glaube daher nicht, dass der eigentliche Titel des Werkes, wie Lacôte (Essai p. 63 ff,) beweisen will, Bṛhatkathāsaritsāgarasāraślokasaṃgraha gelautet hat. In der Einleitung sagt der Verfasser nur, dass er sein Werk mit dem Titel Kathāsaritsāgara als »eine kurze Zusammenfassung der Quintessenz der Bṛhatkathā« (Bṛhatkathāsāra-saṃgraha) aufgefasst wissen will. Nicht unwahrscheinlich ist, dass schon die dialektische kaschmirische Rezension den Titel oder Untertitel Kathāsaritsāgara oder Bṛhatkathāsaritsāgara hatte (s. Lacôte a. a. O.).
 

Wie das Grundwerk, so ist dieses mein Buch; ich habe mir nicht die geringste Abweichung erlaubt. Nur den großen Umfang des Werkes habe ich kürzer zusammengefasst, und die Sprache ist verschieden. Nach Kräften habe ich mich bemüht, einerseits die Angemessenheit des Ausdrucks und den Zusammenhang (der Erzählungen) zu bewahren und andrerseits ein Element von Kunstpoesie hineinzubringen, ohne die Stimmung der (ursprünglichen) Erzählungen zu beeinträchtigen. Dabei war mein Bestreben nicht darauf gerichtet, die Begierde nach dem Ruhm des Scharfsinns zu befriedigen, sondern nur darauf, zu bewirken, dass sich das bunte Netz der Erzählungen dem Gedächtnis (des Lesers) leichter einpräge1.

1 Die verschiedenen Erklärungen dieser Verse hat Lacôte, Essai p. 123 ff. zusammengestellt.

In der Tat ist Somadevas Kathāsaritsāgara ein Werk der Dichtkunst, das alle Vorzüge einer in gewissem Sinne volkstümlichen Dichtung, wie es die kaschmirische Bṛhatkathā gewesen sein muss2, mit den Vorzügen einer Kunstdichtung verbindet. Die edle, kunstvolle, aber nie gekünstelte Sprache, die maßvolle Verwendung von Schmuckmitteln, wie Wortspielen und Vergleichen, die gleichfalls nur bescheiden verwendeten künstlicheren Versmaße3 sind durchaus dem Stoffe angemessen. Während in Romanen wie Subandhus »Vāsavadattā« oder Bāṇas »Kādambarī« ein arges Missverhältnis zwischen dem einfachen Märchenstoff und der gekünstelten Form besteht, hat es Somadeva verstanden, die Form stets dem Stoffe anzupassen, und niemals ist ihm die Form die Hauptsache. Er gehört unstreitig zu den gefälligsten und gewandtesten Dichtern Indiens.

2 Als Volksdichtung im strengen Sinne des Wortes kann die Bṛhatkathā schwerlich bezeichnet werden. Das Werk war niemals eine Sammlung von Volksmärchen (wie etwa die »Kinder- und Hausmärchen« der Brüder Grimm), sondern es war ursprünglich eine selbständige Dichtung, in welche nach und nach immer mehr Erzählungen aufgenommen wurden, von denen manche im Volke im Umlaufe gewesen sein werden, während andere aus verschiedenen literarischen Werken stammten. Immerhin war das Werk im Laufe der Zeit in ähnlicher Weise volkstümlich geworden wie Mahābhārata und Rāmāyaṇa.

3  Nur 761 von den 21388 Versen des Kathāsaritsāgara weisen künstliche Versmaße auf, im übrigen ist der epische Śloka verwendet. Vgl. Speyer, Studies about the Kathās., p. 174 ff.

Wenn uns Somadeva versichert, dass er seinem Vorbild möglichst treu gefolgt sei, so dürfen wir ihm dies nicht nur glauben, sondern auch die wesentlichen Mängel seines Werkes diesem Umstand zuschreiben. Ein solcher Mangel ist vor allem die Anordnung des Stoffes. Dass schon in dem kaschmirischen Grundwerk die Haupterzählung von dem übrigen Erzählungsstoffe überwuchert wurde, ist wohl der Grund, dass wir sehr oft Erzählungen an Stellen finden, wo sie sehr schlecht hinpassen, und dass zuweilen dieselben Erzählungen in verschiedenen Fassungen zweimal, ja sogar dreimal an verschiedenen Stellen des umfangreichen Werkes erzählt werden. Auch das dürfte schon dem Grundwerk zuzuschreiben sein, dass die Haupterzählung von dem zum Herrscher der Vidyādharas auserkorenen Prinzen Naravāhanadatta so viel weniger interessant ist als die meisten der eingefügten Erzählungen1. Es ist im Grunde etwas langweilig , wenn uns erzählt wird, wie dieser Märchenprinz, der vom Don Juan eigentlich recht wenig an sich hat, eine Frau nach der andern erobert. Denn alle diese Frauen sind ihm schon von Anfang her bestimmt und werfen sich ihm mit aller Macht an den Hals. Und die Schwierigkeiten, die sich der Vereinigung oder Wiedervereinigung entgegenstellen, wollen meist nicht viel besagen. Allerdings trifft das nicht nur für die Haupterzählung, sondern auch für viele der eingelegten Erzählungen zu, dass sie — wenigstens für uns — sehr viel an Reiz dadurch verlieren, dass gleich zu Beginn der Geschichte alles und jedes bis ins einzelne schon durch einen Fluch oder eine Vorhersagung vorausbestimmt ist2.

1 Diese beiden Mängel hatte wahrscheinlich die dem Werke Budhasvāmins zugrunde liegende Rezension nicht; s. oben S. 316 f.

2 Manchmal hören wir von dieser Vorherbestimmung erst am Schluss der Geschichte, was entschieden besser wirkt. Richtig ist auch, was Hertel (Über das Tantrākhyāyika, ASGW 1904, S. 124) sagt, dass Somadeva »wenig Sinn für das Wesen des Märchens hat und häufig, wenn ihm etwas unglaublich erscheint, eine realistische Erklärung sucht«.

Aber es kann gar keine Frage sein, dass es dem Somadeva selbst nicht so sehr um den Märchenroman von Naravāhaṇadatta zu tun war, als um das »bunte Netz der Erzählungen«, das in diesen Roman hineingewoben worden ist. Viel interessanter als die Geschichten von Naravāhanadatta sind schon die als Einleitung vorausgeschickten Geschichten von seinem Vater Udayana, dem klugen und treuen Minister Yaugandharāyaṇa und den beiden Frauen Vāsavadattā und Padmāvati. Obwohl in manchen Zügen mit den buddhistischen Erzählungen1 von Udayana übereinstimmend, sind doch die Abweichungen im einzelnen sehr groß, und als Roman ist die Fassung bei Somadeva entschieden vorzuziehen.

1 Vgl. Lacôte, Essai p. 247 ff., ferner A. Schiefner, Mahākātyāyana und König Tschaṇḍa-Pradyota (Mémoires de l'Acad. imp. des sciences de St. Petersbourg, t. XXII, no. 7, 1875). Hier findet sich auch (S. 35 ff.) wie in Kathās. 12 die Geschichte von dem dem »trojanischen Pferd« entsprechenden hölzernen Elefanten; s. oben II, 155 und III, 199.

Die (ungefähr 350) eingeschalteten Erzählungen sind zum Teil solche, welche als Episoden der Haupterzählung gelten können und zu dieser in irgendeiner natürlichen Beziehung stehen oder doch mehr oder weniger in Zusammenhang gebracht werden können, zum weitaus größten Teil aber solche, welche nur ganz lose in den Rahmen der Haupterzählung eingefügt worden sind oder mit dieser in gar keinem inneren Zusammenhang stehen. Es gibt aber kaum irgendeine Klasse von Geschichten, die wir nicht im Kathāsaritsāgara vertreten finden. Wohl überwiegen die Märchen, und märchenhafte Züge — wie die Begegnung mit himmlischen Jungfrauen, das Eingreifen von Göttern und Dämonen in die Menschengeschicke, Geschenke von Wunderdingen nach Art eines »Tischlein, deck' dich« u. dgl., Hexen und Zauberer, Goldsucher und Schatzgräber, Verwandlung von Menschen in Tiere, Zauberschlösser usw. — begegnen uns auch in Erzählungen, die eigentlich nicht zur Klasse der Märchen gehören. Aber in ebenso bunter Mischung, wie wir dies im Jātakabuch gesehen haben, finden wir neben eigentlichen Märchen auch

  • novellistische Erzählungen,
  • Seefahrergeschichten mit Schiffbrüchen und wunderbaren Palästen auf dem Grunde des Meeres,
  • Geschichten von abenteuerlichen Reisen zu Lande,
  • romantische Liebesgeschichten, in denen sehr oft die Liebe durch Träume oder Bilder erweckt wird,
  • Räubergeschichten,
  • Schelmengeschichten,
  • Narrengeschichten,
  • witzige Anekdoten,
  • Geschichten von überaus klugen Menschen,
  • aber auch einzelne mythologische Erzählungen,
  • epische Sagen und
  • buddhistische, jinistische und brahmanische Legenden.

Ganze Bücher, wie Pañcatantra und Vetālapañcaviṃśatikā, sind in den »Ozean der Erzählungsströme« aufgenommen worden, ebenso selbständige größere Novellen, in die wieder andere kleinere Erzählungen eingeschaltet wurden, so die Padmāvatīkathā im XVII. und die Vikramādityakathā im XVIII. Buch. Es hat aber wahrscheinlich auch ein Buch von »Narrengeschichten« (mugdhakathā) und vielleicht auch ein Buch von »Weibergeschichten« (strīkathā) gegeben, die in unser Buch hineingearbeitet worden sind.

In sehr geschickter Weise hat entweder unser Dichter oder schon seine Vorlage zwischen die Nīti-Erzählungen des Pañcatantra eine Anzahl Narrengeschichten eingeschoben1, um eine Kontrastwirkung zu erzielen, schwerlich, um auch durch sie politische Klugheit (nīti) zu lehren. Das konnten sie wohl nicht, aber sie konnten — was sie zu allen Zeiten und bei allen Völkern getan haben — die Lachmuskeln in Bewegung setzen. Keinen anderen Zweck verfolgte Somadeva2. Manche der hier erzählten Narrenstreiche sind nicht nur in der indischen, sondern auch in der Weltliteratur wohlbekannt. So die Geschichte von dem hungrigen Wanderer, der sieben Kuchen isst, bis er satt ist, und dann bedauert, dass er nicht den siebenten Kuchen zuerst gegessen habe, dann wäre er gleich satt geworden; oder von dem Diener, der die Tür, auf die er achtgeben soll, aus den Angeln hebt und mit ihr ins Theater geht; oder von dem Narren, der sich brüstet, dass sein Vater sein Leben lang Keuschheit bewahrt habe usw.

1  Kathäs. 60—63. In der Bṛhatkathāmañjarl stehen die Narrengeschichten hinter dem Pañcatantra-Auszug alle beisammen, XVI, 568—584. Einzelne Narrengeschichten stehen auch Kathās. 65, 140 ff. J. Hertel (Ein altindisches Narrenbuch, BSGW 64. Bd., Leipzig 1912) hat nachgewiesen, dass wenigstens die. Hälfte der von Somadeva im 11. Jahrhundert erzählten Narrenstreiche aus einem altindischen Narrenbuch stammt, das um 450 n. Chr. von einem Mönch Ārya Saṃghasena verfasst und von dessen Schüler Guṇavṛddhi im Jahre 492 ins Chinesische übersetzt worden ist. (Aus dem chinesischen Po Yu King sind sie von E. Chavannes in den »Cinq cents contes« ins Französische übersetzt worden.) Dass es derartige Geschichten mindestens schon im 2. Jahrhundert v. Chr. gegeben hat, beweist ein zum Jātaka Nr. 46 gehöriges Relief auf dem Stūpa von Bharhut (s. oben II, 108).

2 Anders Hertel a. a. O., der auch das Narrenbuch als ein Nīti-werk auffasst.

So wie diese Geschichten vor allein um de» Lachens willen erzählt werden — manche von ihnen schließen mit den Worten, dass »selbst die Steine lachten, als sie diese Rede hörten« —, so auch die Schelmengeschichten, in denen in witziger Weise die Gaunereien eines Meisterdiebes, eines Spielers oder sonst eines Erzschelms erzählt werden. Sehr bezeichnend ist die Geschichte von dem Schelm, der den König besticht, damit er mit ihm jeden Tag ein Gespräch beginne. Dadurch werden die Minister auf ihn als einen einflussreichen Mann aufmerksam und bestechen ihn, damit er beim König zu ihren Gunsten spreche. Auf diese Weise häuft er große Reichtümer an, die er schließlich dein Könige anbietet, worauf ihn dieser zu seinem ersten Minister macht (66, 110 ff.). Eine der geistvollsten Schelmengeschichten ist die von dem Meisterschelm Mūladeva und seiner klugen Frau, die ihm einen Sohn schenkt, der den Vater noch durch Schlauheit und Witz übertrumpft1. In manchen dieser Schelmengeschichten kommen die Religion und noch mehr ihre Vertreter schlecht weg. Ziemlich harmlos ist noch die Geschichte von dem Spieler, der den Todesgott betrügt. Für seine bösen Taten soll er auf ein Weltzeitalter (kalpa) in die Hölle kommen. Aber dafür, dass er einmal in seinem Leben einem frommen Mann ein Goldstück gegeben hat, soll er einen Tag lang Indra sein. Der Todesgott Yāma stellt ihm frei, was er zuerst wolle: das Kalpa Hölle oder den einen Tag Indra. Er wählt das letztere. Kaum ist er Gott Indra, so lässt er alle seine Freunde und Freundinnen in den Himmel kommen, vergnügt sich mit ihnen, lässt sich aber von den Göttern mit ihnen zu allen Wallfahrtsplätzen der Erde tragen. Dadurch werden seine Sünden weggewaschen, und er bleibt dauernd Indra (121, 188ff.). Boshafter ist die Geschichte von den beiden Gaunern, von denen der eine Śiva und der andere Mādhava (d. i. Viṣṇu) heißt. Der eine von ihnen spielt die Rolle eines viṣṇuitischen Asketen, sein Spießgeselle die eines Rajputen, und mit gefälschtem Gold und falschen Edelsteinen reizen sie die Habsucht des geizigen Purohita und bringen ihn um sein ganzes Vermögen. (24, 82 ff.) Asketen sind nicht selten Schwindler und Betrüger. Ein solcher wird einmal (15, 30 ff.) auch selbst betrogen. Um sich in den Besitz eines schönen Mädchens zu setzen, hat er dem Vater eingeredet, dass seine Tochter unter einem bösen Stern geboren sei und ausgesetzt werden müsse. Der Vater steckt sie in eine Kiste und setzt sie aus. Aber ein Prinz findet das schöne Mädchen und der Asket — einen Affen, der ihm Nase und Ohren abbeißt.

1 124, 132 ff., übersetzt von F. von der Leyen in Preuß. Jahrb. 99, 1900, S. 88 ff. Mūladeva erscheint als ein berühmter Zauberer in Kap. 89 (Vetālap. 15). Über diesen in der indischen Literatur ganz einzigartigen Charakter — er ist Zauberer, Meisterdieb, Lehrer der Diebskunst wie der Liebeskunst, ein leidenschaftlicher Spieler und bei alldem ein geistvoller und liebenswürdiger Teufelskerl — vgl. M. Bloomfield, The Character and Adventures of Mūladeva (Proceedings of the American Philosophical Society, Vol. LH, Nr. 212, 1913).

Zahlreich sind die Weibergeschichten, unter denen die von den treulosen und bösen Weibern im Kathāsaritsāgara ebenso wie im Jātaka überwiegen. Ein König hat z. B. einen wunderbaren weißen Elefanten, der sich verletzt hat und gefallen ist. Eine Götterstimme verkündet, der Elefant werde sich nur erheben, wenn er von einer keuschen Frau berührt werde. Sämtliche 80000 Frauen des Königs und alle Frauen der Stadt kommen und berühren den Elefanten, aber er erhebt sich nicht. Nur eine arme Magd findet sich, die eine so treue und keusche Frau ist, dass der Elefant sich bei der Berührung von ihrer Hand erhebt. Nun heiratet der König die Schwester dieser tugendhaften Frau, sperrt sie in einen Palast auf einer einsamen Insel ein und — wird schließlich auch von dieser betrogen. (36, 9 ff.) Die Kapitel 58, 64 und 65 enthalten ganze Reihen solcher Geschichten1. Zu den weltweit verbreiteten Geschichten dieser Art gehören die von dem Wassergeist, der seine Frau in seinem Leibe herumträgt und dennoch von ihr betrogen wird2, die von der undankbaren Gattin3 u. a. m.

1 S. aber auch 34, 182 ff.; 60, 3 ff.; 61, 193 ff. (zugleich auch eine Narrengeschichte); 66, 29ff.; 71, 22ff.; 77, 48ff.; 124, 104ff.

2 63, 6 ff. Vgl. 64, 154 ff.; Jātaka 436 und Chavannes, Cinq cent contes I, XIII f., 377 ff.; Tausend und eine Nacht I, 8 (Weil).

3 65, 2 ff. Vgl, Jātaka 193; Benfey, Pantschatantra I, 436 ff.; Gaston Paris, ZW XIII, 1903; Pavolini, GSAI XI, 1897/8; JRAS 1898. 375.

Den Geschichten von bösen und treulosen Frauen steht auch eine allerdings kleinere Anzahl von Geschichten von wackeren, treuen Frauen gegenüber. Auch für die Weltliteratur nicht unwichtig ist die Geschichte von der ebenso schlauen als treuen Devasmitā, die den jungen Männern, die ihre Verführung beabsichtigen, zum Schein ein Stelldichein gewährt, aber nur, um sie mit einem Brandmal auf der Stirn zu entlassen4. Ein Idyll, das mit Recht als ein würdiges Gegenstück zur Geschichte von Philemon und Baucis bezeichnet worden ist5, wird 27, 79 ff. erzählt:

4  Hertel, Bunte Geschichten, S. 73 ff. Eine teilweise Dublette ist die Geschichte von Upakośā (4, 28 ff., Hertel a. a. O., S. 95 ff.). Ich habe im »Globus« Bd. 92, 1907, S. 78 f. eine Parallele zur Geschichte der Devasmitā, die eine Vorläuferin der Portia ist, in einer südarabischen Erzählung (bei D. H. Müller, Die Mehri- und Soqotri - Sprache III, Wien 1907, S. 30 ff., 78 ff., 162) nachgewiesen. S. auch 56, 171 ff.;
61, 300 ff.; 64, 34 ff.

5 J. S. Speyer, Die indische Theosophie, Leipzig 1914, S. 98.

Es war einmal ein König, Dharmadatta mit Namen, Herrscher von Kosala. Dieser hatte eine Gemahlin, die ihren Gatten wie einen Gott verehrte. Einst erinnerte sie sich plötzlich ihrer früheren Geburt und sprach zum Gemahl: »O König, ganz von ungefähr erinnere ich mich heute meiner früheren Geburt. Unlieb wäre es mir, es dir nicht zu erzählen; wenn ich es dir aber erzähle, muss ich sterben. Heißt es doch: wenn man sich seiner früheren Geburt plötzlich erinnert und von ihr erzählt, so muss man sterben. Darum, mein königlicher Gemahl, bin ich überaus betrübt.« Der König erwidert, dass auch er sich eben seiner früheren Geburt erinnert habe, und fordert sie auf, zu erzählen, was immer auch kommen möge. Darauf erzählt die Königin: »Hier in diesem Lande war ich im früheren Dasein die tugendhafte Sklavin eines Brahmanen namens Mādhava. Und ich hatte da einen Gatten namens Devadāsa. Der war ein vortrefflicher Diener im Hause eines Kaufmanns. Wir lebten da, nachdem wir uns ein eigenes, für uns passendes Heim gegründet hatten, von den Speisen, die wir jedes aus dem Hause unseres Herrn heim brachten. Drei Paare waren wir: Wasserfass und Krug, Besen und Bettstelle, ich und mein Gatte. In dem Hause, in dem es niemals Streit gab, lebten wir glücklich und zufrieden, indem wir das wenige aßen, das übrig blieb, nachdem wir den Göttern, Manen und Gästen gespendet. Hatten wir, der eine oder der andere von uns beiden, ein überflüssiges Kleidungsstück, so ward es einem Armen gegeben. Nun entstand da eine schwere Hungersnot, und deswegen wurde die Speise, die zu unserem Unterhalt dienen sollte, von Tag zu Tag geringer. Da — unser Leib war von Hunger schon abgezehrt, und unsere Stimmung war allmählich ganz verzagt geworden — kam eines Tages zur Essenszeit ein müder Brahmane als Gast. Diesem gaben wir beide, obwohl es uns selber ans Leben ging, den letzten Rest unserer Speise, so viel wir eben noch hatten. Als dieser gegessen hatte und fortgegangen war, da verließen auch die Lebensgeister meinen Gatten, wie aus Zorn darüber, dass man auf jenen Bettler und nicht auf sie Rücksicht genommen hatte. Dann errichtete ich meinem Gatten einen würdigen Scheiterhaufen und bestieg ihn, und auch die Last meines Unglücks ward auf ihn abgeladen. Nachher wurde ich im Palaste eines Königs wiedergeboren und wurde deine Gemahlin. Der Baum der guten Werke erzeugt ja niegeahnte Frucht für die Frommen.« Nachdem die Königin also zu König Dharmadatta gesprochen hatte, sagte dieser: »Komm, Geliebte, ich bin eben dieser dein Gemahl deiner früheren Geburt. Jener Kaufmannsdiener Devadāsa war ich selbst. Auch ich habe mich heute an diese meine frühere Geburt erinnert.« Nachdem der König also gesprochen und sich zu erkennen gegeben hatte, ging er, betrübt und erfreut zugleich, mit seiner Gemahlin alsbald in den Himmel1.

1 Andere Geschichten von Frauentreue und treuer ehelicher Liebe werden 56, 171 ff.; 61,300 ff.; 64, 34 ff.; 111, 24 ff.; 112, 111ff. erzählt. Von einem glücklich vereinten Kleeblatt, einem Brahmanen und seinen zwei Frauen, erzählt 73, 417 ff. Dass selbst Hetären treue Liebe nicht fremd ist, erfahren wir aus 38, 3 ff. und 58, 2 ff.

Die oben erwähnten Erzählungen von der Schlechtigkeit der Frauen stammen zum Teil wenigstens aus buddhistischen Quellen2. Aber auch sonst finden sich buddhistische Erzählungen in nicht geringer Zahl im Kathāsaritsāgara, wenn auch Benfeys Behauptung3, dass »fast alle» Märchen Somadevas buddhistisch sind, gewiss unrichtig ist. Es ist aber bezeichnend für die Treue, mit der Somadeva seinen Quellen gefolgt ist, dass die buddhistischen Geschichten, trotzdem der Dichter selbst kein Buddhist war, ihren buddhistischen Charakter völlig beibehalten haben. Buddhistisch1 sind z. B. im 27. und 28. Kapitel eine Reihe von Karman-Geschichten, ferner die Geschichte von dem durch Todesfurcht bekehrten Kaufmannssohn, von dem Prinzen, der Mönch wird und sich ein Auge ausreißt, weil eine Frau dessen Schönheit bewundert, u. a. Eine ganze Kette von Bodhisattva-Geschichten zur Erläuterung der sechs Pāramitās wird im 72. Kapitel erzählt. Auch die Vetālapañcaviṃśati-Geschichten verraten deutlich buddhistischen Einfluß2. Anspielungen auf den Buddhismus kommen auch sonst vor3.

1 So ohne Zweifel die in Kap. 64 erzählte Reihe von Geschichten, deren Helden alle die Erfahrung machen, dass es Treue unter den Weibern nicht gibt, und die deshalb Mönche werden. In den Geschichten 65, 2 ff., 45 ff. wird der Held ausdrücklich als eine Teilinkarnation des Bodhisattva bezeichnet.

3 Pantschatantra I, 148 f.

1 Warum Hertel, Bunte Geschichten, S. 155 ff., hier Saugata (gewöhnliche Bezeichnung für »Buddhist«) durch »Jaina« übersetzt, ist mir nicht klar.

2 So die Erwähnung des Māra in der 10. und 17. Vetālageschichte. Auch das Benehmen des Knaben in der 20. Vetālageschichte ist das eines Bodhisattva. Andere buddhistische Geschichten sind 33, 36 ff.; 41.9 ff.; 63, 53 ff.; 65, 132 ff. (eine Klosteranekdote von einem dummen Mönch); 56, 141 ff. (Variante des Mittavindaka-Jātaka, s. oben II, 106). Buddhistisch ist wohl auch die Geschichte von Unmādinī (15, 63 ff.; 33, 62 ff; 91 , 3 ff. — Vetālap. 16), die dem Jātaka Nr. 527 entspricht (s. oben II, 114). Rājataraṅgiṇī 4, 17 ff. wird eine ähnliche Geschichte von einem historischen König erzählt; vgl. Zachariae, Bezz. Beitr. IV, 1878, 360 ff.

3 So 65, 46; 117, 32; 75; 120, 50; 116.

Trotzdem ist aber die religiöse Atmosphäre, die das Werk des Somadeva durchdringt, eine ganz andere. Es ist die Verehrung des Śiva und. seiner Gemahlin (Pārvatī, Gaurī, Durgā, Devī usw.), die weitaus überwiegt. Wenn eine wunderbare Rettung aus Not und Gefahr erforderlich ist, tritt Śiva selbst oder die große Göttin auf. Selbst der Bodhisattva Jīmūtavāhana geht in einen Tempel der Gaurī, um die Göttin zu verehren4. Ungemein häufig ist von Menschenopfern die Rede, die der Durgā dargebracht oder (häufiger) angeboten werden, sei es, um irgendeine Zauberwissenschaft oder Nachkommenschaft oder sonst eine Wunscherfüllung zu erlangen. Die Bhillas, wilde, räuberische Waldbewohner, bringen der Göttin regelmäßig Menschenopfer dar und überfallen zu diesem Zweck Menschen, um sie in ihren Tempel zu schleppen5. Auch der Liṅgakult wird ziemlich häufig erwähnt. Insbesondere sind es Frauen und Mädchen, die in Liṅgatempeln ihre Andacht verrichten6. Der Mütterkult und tantrische Riten spielen in manchen Geschichten eine Rolle. So in den nicht seltenen Hexengeschichten, die an wildem Zauberspuk den europäischen Erzählungen dieser Art nichts nachgeben. Das Tun und Treiben der Hexen wird oft sehr anschaulich geschildert1. Trotzdem aber Śiva weitaus überwiegt, kommen doch auch andere Götter zu Ehren. So wird z. B. Naravāhanadatta selbst nach Śvetadvīpa, dem Himmel des Viṣṇu, gebracht und singt dort einen Hymnus auf diesen Gott2.

4 Dass die Jīmūtavāhanalegende (22, 16 ff.; 90, 3 ff.) in ihrer ursprünglichsten Form überhaupt nicht buddhistisch war, sondern dass in ihr ein brahmanischer Tugendheld erst in einen Bodhisattva verwandelt worden ist, hat Bosch a. a. 0. 143 ff. gezeigt; s. auch oben S. 231.

5 So wird 51, 59 ff. sogar in der Rāmasage Lava von Lakṣmaṇa für ein Menschenopfer, das Rāma darbringen will, gefangen.

6 So 37, 3 ff.; 43, 158 ff.; 51, 95 ff. u. ö.

1  So z. B. 56, 76 ff.; 121, 72 ff.; 123, 207 ff. u. ö.

2 54, 19 ff., 29 ff. Auch 71, 67 ff.; 72, 23 ff. wird Viṣṇu verehrt.

Dieses bunte Gemisch von weltlichen und religiösen Erzählungen hat Somadeva aller Wahrscheinlichkeit nach schon in der kaschmirischen Bṛhatkathā vorgefunden. Sein Werk ist aber die hübsche und liebenswürdige Art, in der er die Geschichten erzählt, die schöne Sprache, die geistvollen Wendungen und die dichterischen Schilderungen. Die schon gerühmte Einfachheit der Sprache, die den schlichten Erzählungen so angemessen ist, muss dem Somadeva um so höher angerechnet werden, als er mit dem Kāvyastil wohl vertraut ist. Manche Geschichten, z. B. in dem Vetālapañcaviṃśati-Abschnitt, sind in einem sehr künstlichen Stil erzählt3. Und wo es am Platze ist, wird seine Sprache auch sonst oft schwungvoll.

3 Ganz im Kāvyastil ist auch die Geschichte 55, 26 ff. geschrieben, ebenso die (in Brockhaus' Ausgabe fehlenden) Schlussstrophen (praśasti)

So vor allem, wenn er von seiner geliebten Heimat Kaschmir, dem »Scheiteljuwel der Erde«, spricht:

»Im Süden vom Himālaya gibt es ein Land,
Kaschmir geheißen, das der Schöpfer geschaffen hat,
Den Menschen die Sehnsucht nach dem Himmel zu benehmen,«4 usw.

4 63, 53 ff.; 65, 214; 73, 79 ff.

In der Anwendung von Gleichnissen und Wortspielen nimmt es Somadeva, wenn er will, mit den besten Dichtern auf. Hier nur ein Beispiel (87, 29 ff.):

Der Brahmane Harisvāmin, der seine Frau verloren hat, irrt in allen Wallfahrtsplätzen umher, sie zu suchen. »Und während er umherirrte, kam der grimme Löwe Sommer, dessen Rachen die furchtbare Sonne und dessen Mähne die flammenden Strahlen waren. Glühend heiße Winde wehten, als wäre in ihnen die Hitze der Seufzerhauche der durch die Trennung von ihren Geliebten gequälten Wanderer aufgespeichert. Die Teiche, deren Wasser ausgetrocknet und in denen der Schlamm weiß und trocken war, lagen da wie mit gebrochenen Herzen. Und die Bäume am Wege schienen ob der Trennung von dem herrlichen Frühling mit dem Knistern ihrer Rinde laut zu weinen, während ihre Lippen, die Blätter, von der Hitze (Qual) welk waren.«

Für die Geschichte der indischen Literatur ist Somadevas Kathāsaritsāgara auch deshalb von der größten Wichtigkeit, weil wir in ihm viele Geschichten finden, die von verschiedenen anderen Dichtern bearbeitet worden sind1, zwar nicht auf Grund von Somadevas Werk, sondern nach dem Grundwerk Guṇāḍhyas oder irgendeiner älteren Rezension der Bṛhatkathā, die uns aber doch nirgends so gut erhalten sind als eben bei Somadeva. Von großer Wichtigkeit ist aber das Werk auch für die Weltliteratur, denn nicht wenige Geschichten, die wir bei Somadeva finden, die aber in der Tat viel älter sind und vielleicht schon in Guṇāḍhyas Bṛhatkathā standen, gehören zu den beliebtesten und bekanntesten Erzählungen der Literaturen des Abendlandes. Freilich ist die Frage, ob die betreffenden Erzāhlungen indischen Ursprungs sind, nicht immer mit Sicherheit zu entscheiden. Oft sind es nur einzelne Züge, welche die indischen Geschichten mit denen anderer Literaturen gemeinsam haben, so in der Geschichte von dem Fisch, der lachte2, oder von der Prinzessin und den Dieben3 u. a. m. Andere Erzählungen kehren mit nur geringen Abweichungen bei anderen Völkern wieder, so die Geschichte von Harisarman, dem indischen »Doktor Allwissend«4. In manchen Fällen mag es zweifelhaft sein, ob wir es mit märchenhaften Zügen zu tun haben, die unabhängig voneinander bei verschiedenen Völkern entstehen konnten, oder ob auch diese Züge auf Entlehnung beruhen. Hierher gehören die Märchen von den Zauberdingen, wie das dem »Tischlein, deck' dich« entsprechende Gefäß, das sich von selbst füllt, von der Wünschelrute und den Wunderschuhen (»Siebenmeilenstiefeln«1, oder das öfter wiederkehrende Motiv von Menschen, die von einem großen Fisch verschluckt und aus diesem wieder lebendig herausgeholt werden2, oder das Motiv von der Frau des Potiphar3 u. a. m.4

1 Hierher gehören z. ß. die reizende Geschichte 104, 17 ff., die der Fabel von Bhavabhūtis Mālatīmādhava zugrunde liegt, und die Geschichte vom König Sumanas und dem gelehrten Papagei (59, 22 ff,), auf der Bāṇas »Kādambarī« beruht; vgl. Mankowski, WZKM 15,1901, 213 ff.; 16, 1902, 147 ff.

2 5, 14ff. Vgl. F. Liebrecht in Orient und Occident I, 341 ff.; Pentamerone 36; Straparola IV, I.

3 64, 43 ff., schon von H. H. Wilson mit der von Herodot erzählten Sage von Rhampsinit verglichen. Aus dem Indischen wurde die Geschichte schon 516 n. Chr. ins Chinesische übersetzt; s. E. Huber in BEFE0 4, 1904,698 ff. Eine Variante auch im tibetischen Kandschur. Vgl. Forke, Die indischen Märchen, S. 66 f.

4 30, 92 ff. Vgl. Grimm, Kinder- und Hausmärchen Nr. 98; Benfey, Orient und Occident I, 374 ff.; Th. Zachariae, ZVV 15, 1905, 373 ff.

1 3, 47 ff. Vgl. J. J. Meyer, Daśakumāracarita-Übersetzung, Einleitung, S. 67ff.; Forke, Die indischen Märchen, S. 55ff.; Hertel, Jinakīrtis »Geschichte von Pāla und Gopāla«, S. 60, 67, 76, 110.

2 25, 47 ff.; 74, 192 ff.; 123, 105 ff.; vgl. Rājataraṅgiṇī IV, 504; Weber in AKM I, 4, S. 32 (Śatruñjayamāhātmya X); Hertel, ZDMG 65, 440. In der Jonassage vermutet H. Gunkel (Kultur der Gegenwart I, VII, S. 56) eine phönizische Schiffersage.

3 49, 4 ff., ähnlich 33, 36 ff. Auch im Buch Sindbad. Vgl. Tawney I, 464 n.; Hertel, Jinakīrtis »Geschichte von Pāla und Gopāla«, S. 141., 48f.; Temple, Legends of the Panjāb, I, XIV, 11-13; II, XV, 396 ff. Über eine ähnliche Erzählung in Firdusis Schāhnāmeh s. Jivanji Jamshedji Modi, JBRAS 18, 206 ff.; über die griechische Sage s. U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Griechische Tragödien I, 108 f.; über die biblische Erzählung s. H. Gunkel, Internat. Monatsschrift 12. 1918, S. 442 f.

4 Zahlreiche Parallelen zu Erzählungen und Motiven im Kathās. hat Tawney in den Anmerkungen zu seiner Übersetzung gesammelt, einige auch im Journal of Philology 12, 1883, 122 ff. S. auch oben S. 325 A., 329 A.

Endlich soll nicht unerwähnt bleiben, wie sehr durch Soma-devas Kathāsaritsāgara unsere Kenntnis der indischen Kulturverhältnisse bereichert wird. Wir haben schon gesehen, wieviel uns das Werk über die Religionen Indiens und über die Stellung der Frau lehrt. Aber auch über das Kastenwesen, über die ethnographischen Verhältnisse, über Kunst und Künstlerleben, über das Hofleben, über die Trinksitten, das Würfelspiel und vieles andere erhalten wir aus Somadevas Werk reichliche, dem wirklichen Leben entnommene Aufschlüsse."

[Quelle: Winternitz, Moriz <1863 - 1937>: Geschichte der indischen Literatur. Stuttgart : Koehler. -- Band 3: Die Kunstdichtung, die wissenschaftliche Literatur, neuindische Literatur. - 1920. -- S. 318 - 330]


2. Über das Zeitalter des kaśmīrischen Dichters Somadeva / von Georg Bühler, 1886



Abb.: Georg Bühler
[Bildquelle: Wikipedia]

Quelle:

Bühler, Georg <1837 - 1898>: Über das Zeitalter des kaśmīrischen Dichters Somadeva. -- In: Sitzungsberichte der philosphisch-historischen Classe der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. -- Wien : Gerold. -- Bd. 110. -- 1886. -- S. 545 - 558.

Über das Zeitalter des kaśmīrischen Dichters Somadeva.

Von

Prof. Dr. G. Bühler,

wirkl. Mitgliede der kaiserl. Akademie der Wissenschaften.

Es sind bisher, so viel mir bekannt ist, zwei verschiedene Ansichten über die Zeit aufgestellt, in welcher Somadeva, der Sohn des Rāma, sein berühmtes Märchenbuch, den Kathāsaritsāgara, verfasst haben soll. Die ältere wenig beachtete Bestimmung seines Datums gehört Professor H. H. Wilson1 welcher Somadeva und den Kathāsaritsāgara zuerst dem Europäischen Publikum im Oriental Quarterly Magazine, Calcutta, March 1824 bekannt machte. Nach der Ansicht dieses Gelehrten ist, der 'Ocean der Märchenflüsse' zwischen den Jahren 1059-1071 p. Chr. oder vielleicht etwas früher geschrieben. Professor Wilsons Gründe für seine Behauptung sind folgende.

1 H. H. Wilson, Works (ed. R. Host), Literary Essays vol. I, p. 156—268.
 

,Somadeva sagt am Ende seines Werkes, dass er es verfasst habe zur Belustigung der Großmutter des Königs Harṣadeva von Kaśmīr, einer frommen alten Dame, welche die Brahmanen sehr in ihren Schutz nahm und eine eifrige Verehrerin des Gottes Śiva und seiner Gattin war. Er nennt, außer Harṣa dessen drei Aszendenten Kalaśa, Ananta und Saṃgrāmarāja. Diese letzteren regierten alle nach einander und herrschten, wie Abu'l Fazl [ابو الفضل] im Ayīn Akbarī [آئین اکبری] berichtet, zusammen etwa dreißig Jahre lang über Kaśmīr. Wir wissen aus andern zuverlässigen Quellen, dass Samgrāmarāja, um 1027 p. Chr. zu Regierung kam. Folglich muss Harṣadeva den Thron um 1059 bestiegen und, da. seine Regierungszeit nach Abu'l Fazl zwölf Jahre dauerte, bis 1071 p. Chr. geherrscht haben.1 Somadevas Werk kann also nicht später verfasst sein. Wahrscheinlich datiert es aber noch einige Jahre früher, da es, wie gesagt, der Großmutter jenes Königes gewidmet ist, und diese der Dedikation zufolge einen bedeutenden Einfluss besessen haben muss, ja vielleicht, so lange Harṣadeva unmündig war, die Regentschaft führte.'

1 Sämtliche hier angegebene historische Daten sind ungenau. Doch fallen diese Irrtümer nicht Professor H. Wilson, sondern den ihm zugänglichen Quellen zur Last.

Eine andere Ansicht wurde von dem Herausgeber des Kathāsaritsāgara, Herrn Professor H. Brockhaus aufgestellt. Derselbe sagt, Kathāsaritsāgara, Vorrede p, VIII :

,Über den Verfasser unseres Werkes, Somadeva kann ich wenig berichten. Am Schlusse des Gedichtes nennt er sich den Sohn des Rāma und einen Eingeborenen des Landes Kaśmīr, und erwähnt zugleich, dass er diese Sammlung begonnen habe, um die Königin Sūryavatī über den Verlust ihres Enkels, des Königes von Kaśmīr, Harṣa Deva, zu trösten. Dieser König, dessen Regierung zu den glänzendsten, wenngleich nicht zu den glücklichsten Epochen der Geschichte von Kaśmīr gehört, kam in einem Aufruhr um, im Jahre 1125 nach Chr. Geburt.'

Diese Behauptungen, für welche Professor Brockhaus keine Beweise aus den Quellen gibt, sind weiterhin von allen Sanskritisten unbedenklich angenommen und auch von mir selbst in meinem Report of a Journey to Kaśmīr, p, 50 wiederholt worden. Ich habe dort nur die Angabe, dass Harṣadeva um 1125 p. Chr. getötet sein soll, berichtigt, und das wahre Datum 1101 p. Chr. gegeben. Vor Kurzem ging mir durch die Güte meines verehrten Freundes, Herrn Professor A. Weber, ein Aushängebogen des zweiten Bandes seines Katalogs der Berliner Sanskrit-Handschriften zu, auf welchem die Schlussverse des Kathāsaritsāgara nach den von Professor Brockhaus für seine Ausgabe benutzten Manuskripten abgedruckt sind. Der erste Blick belehrte mich, dass die Angaben Brockhaus'  — wie auch Herr Professor Weber gesehen hatte — zum guten Teile irrtümlich sind und dass Wilsons Zeitbestimmung der Wahrheit viel näher kommt, obschon auch sie nicht ganz richtig ist. Ich halte es unter diesen Umständen für meine Pflicht meinen früheren Fehler, der durch ein ungerechtfertigtes Vertrauen auf Herrn Professor Brockhaus' Genauigkeit veranlasst wurde, wieder gut zu machen und unter Veröffentlichung der authentischen Angaben des Autors eine neue Untersuchung über die Frage anzustellen, Da die Berliner Manuskripte des Kathāsaritsāgara moderne Devanāgari Kopien sind, denen man nicht immer ganz trauen kann, so bat ich Herrn Professor R. G. Bhāṇḍārkar in Puna mir eine Kopie der in Betracht kommenden Schlussverse des Kathāsaritsāgara nach den im Deccan College aufbewahrten Śāradā - Handschriften herstellen zu lassen. Derselbe hat meinem Wunsche freundlichst willfahrt und durch seinen Sohn Mr. Śrīdhar R. Bhāṇḍārkar, eine Abschrift der Praśasti mich Nr. 112, sowie der Varianten der Nr. 111, 113, 115 der Govt. - Collection of 1876/1877 machen lassen. Diese vier Handschriften enthalten, ähnlich wie die Berliner Manuskripte, zwei verschiedene Redaktionen der Schlussverse. Ich folge der in Nr. 111 und 115 gegebenen, welche mir die beste und ursprüngliche zu sein scheint und führe die Lesarten der zweiten in den Noten an.


Abb.: Vers 1 - 3

Abb.: Vers 4 - 10


Abb.: Vers 11 - 13

Übersetzung.

1. Es war ein König, Saṃgrāmarāja, ein Pārijātabaum, dem Meer-gleichen Geschlechte des erlauchten Śātavāhana entsprossen; durch ihn zu dem nach seiner Menschwerdung Weise (vibudha) vieler Art sich drängten, ward das Land der Kaśmīrer zum (Garten) Nandana gemacht.1

1 Metrum: Vasantatilaka, Dieselbe Abstammung wird dem Könige Saṃgrāmarāja in der Rājataraṅginī VI, 367 - 368 zugeschrieben. Der König wird, seiner Freigebigkeit halber, als eine Inkarnation Pārijāta, eines der fünf Paradiesbäume, gefeiert, die Kostbarkeiten statt Früchte tragen und alle Wünsche befriedigen. Für das volle Verständnis des Verses ist es wichtig zu beachten, dass der Pārijāta-Baum beim Quirlen dos Nektar aus dem Milch-Ozeane hervorkam, bei seiner Entstehung von den vibudha, den Göttern, umringt ward und in Indras Garten Nandana seinen Platz hat. — Nach der zweiten Rezension
lautet der erste Halbvers: ,Es war ein König, Saṃgrāmarāja, der in den Schlachten (saṃgrāma) sich ein Ruhmes-Baldachin, hellglänzend
Wie der Mond, erwarb'.

2. Als sein Sohn ward der erlauchte Kaiser Ananta geboren; den Bittenden (wie) ein Paradiesbaum (Gewährer ihrer Wünsche), des Heldenmutes vorzüglichster Hort, machte er den Schemel seiner Füße zum Prüfstein der Rubinenmenge auf den Häuptern aller huldigenden Herrscher.1

1 Metrum wie oben. Die huldigenden Fürsten beugten ihre Stirnen auf Anantas Fußschemel und dieser ward zum Prüfstein für die Juwelen ihrer Diademe.

3. Auf dem Plane vor seiner Pforte wälzte sich Rāhu, dessen Kehle durchschnitten, ohne Leib mit seinem Haupte, bereit ihm zu dienen, sich gleichsam begnügend mit der Kunde von (des Herrschers) herrlichem Ruhme der (an Glanz) die große Scheibe des Mondes und des großen Hari Diskus übertrifft.2

2 Metrum wie oben. Der Dämon Rāhu trank bei dem Quirlen des Ozeans von dem Unsterblicheitstranke. Viṣṇu durchschnitt ihm mit seinem Diskus die Kehle, noch ehe der Nektar in seinen Leib gelangte. Der unsterbliche Kopf irrt seitdem am Himmel umher und verursacht, indem er den Mond zu verschlingen trachtet, die Mondfinsternisse. Anantas Ruhm übertraf den Mond an Glanz; und erregte deshalb die Begierde Rāhus. Doch als Rāhu fand dass der Ruhm des Königs auch den Diskus des Hari übertraf, der König also mächtiger als Viṣṇu war, ergab er sich ihm zum Diener, eingedenk der früheren Bestrafung durch den Gott. Bei dieser Erklärung besagt der Vers nichts weiter als dass Anantas Ruhm glänzender als der Mond war und dass Ananta Viṣṇu an Macht noch übertraf. Es ist aber immerhin möglich, dass in dem Verse noch eine Anspielung auf ein Abenteuer mit einem menschlichen Feinde, der aus irgend welchem Grunde den Beinamen Rāhu hatte, stehen mag. Doch ist nichts von einer solchen Erzählung aus den Geschichtsquellen bekannt. — Die oben angegebene Variante °kīrtisraveṇa gibt auch einen guten Sinn. Nimmt man dieselbe an, so muss man folgendermaßen übersetzen: ,sich gleichsam begnügend mit dem Strome des herrlichen (Nektar-gleichen) Ruhmes' u. s. w.

4. Darauf führte dieser Mond unter den Fürsten die Tochter Indu's, des Herrn von Trigarta, heim als seine Königin, — Sūryavatī, Abwehrerin der Nacht (des Unglücks) von ihren Untertanen, von allen zu verehren wie die Dämmerung am Morgen.3

3 Metrum: Upajāti. Trigarta ist der ältere Name der Provinz Jālandhara (Jullundur) im Panjāb. Sūryavatī bedeutet ,mit Sonnen(-glanz) vorsehen'. Während der Morgendämmerung ist eines der wichtigsten Gebete von jedem Arier zu verrichten. Saṃdhyā, ist auch eine Göttin, eine Personifikation der Morgendämmerung.

5—6. Diese Königin schmückte Kaśmīr durch die Erbauung von schönen Bursen. Die gleichen den heiligen Lehren, da Hunderte von Brahmanen, verschiedenen Ländern entstammt, sie verehren; die gleichen Ozeanen da, voll von Perlen, sie selbst den furchtsamen Trägern der Erde Zuflucht gewähren; die gleichen den Bäumen des Paradieses, da sie, herrlich (zu schauen), täglich die von Hoffnungen gelockten Besucher ihrer Qual entreissen.1

1  Das Metrum der beiden Verse, welche ein sogenanntes Yugalaka bilden, ist Gīti. — Maṭha sieht, wie die Parallelstellen, Vikramāṅka-devacarita XVIII, 40—40 und Rājataraṅgiṇī VII, 130 — 181 zeigen, für vidyāmaṭha und entspricht genau der Burse der alten deutschen Universitäten und dem englischen College. Āmnāya, ,heilige Lehren', bezieht sich wohl zunächst auf die Veden, von denen jeder von Brahmanen aller Länder studiert wird. Das Wortspiel in sevyaiḥ, wörtlich ,zu verehren' und ,zu bewohnen', lässt sich im deutschen nicht gut wiedergeben. Die Perlen in den Bursen sind ausgezeichnete Gelehrte und schöne Manuskripte. Urvībhṛtāṃ ,Trägern der Erde' bedeutet in Bezug auf den Ocean ,den Bergen', da dieselben sich der indischen sage zufolge vor Indra in das Meer flüchteten. Mit Beziehung auf die Bursen bedeutet es ,den Fürsten'. Wie wir aus der Rājataraṅgiṇī lernen, dienten die Maṭhas den unterliegenden Häuptlingen bei politischen Unruhen oft als Asyle.

7. Die Häuser der Götter, von ihr erbaut am breiten Gestade des reinen Stromes der Vitastā, gleichen, weißglänzend von der Tünche der Söller, vollständig den Gipfeln des Himālaya, deren äußerste Spitzen die himmlische Gaṅgā umfliesst.2

2 Metrum: Vasanlatilaka. Bezüglich der von Sūryavatī gebauten Tempel vergleiche auch Rājataraṅgiṇī VII, 180.

8. Durch Gaben von unzählbaren Juwelen, Gold, großen Agrahāras, Fellen schwarzer Antilopen, Bergen von (allerhand) Gut und Tausenden von Kühen erhält diese ehrwürdige (Königin) alle (Menschen), der all-erhaltenden (Erde vergleichbar) . . . .3

3 Metrum wie oben. Agrahāras sind den Brahmanen geschenkte, mit, gewissen Immunitäten und einer besonderen Verfassung ausgestattete Dörfer. Nach Rāj. VII, 184—185, war die Zahl der durch die Königin geschenkten Agrahāras sehr groß. Bezüglich der Schenkungen von schwarzen Antilopenfellen siehe Viṣṇusmṛti, Cap. 87, Sacred Books of the East VII, p, 263—264. Die Schenkung eines draviṇaparvata ,eines Berges von (allerhand) Gut' ist bei Hemādri im Dānakhaṇḍa nicht beschrieben, dort kommt nur ,ein Berg von Getreide' vor. Kühe werden jetzt und sind wahrscheinlich schon seit langer Zeit nicht in natura gegeben, Dafür treten verschiedene konventionell angesetzte Werte, von 50 Kreuzern aufwärts, ein.

9. Ihr erlauchter Sohn (ist) der König Kalaśadeva. Obschon der vornehmste Stirnschmuck des Erdenrundes, hängt er doch nicht am alīka (der Unwahrheit, oder einer Stirne); obschon ein Genosse der mit guṇas (Tugenden, oder Banden des Saṃsāra) behafteten, besteht er doch aus reiner Unsterblichkeit; obschon ungnädig (aśiva) gegen die Scharen seiner Feinde, ist er doch eine Inkarnation des gnädigen (Gottes Śiva).1

1 Metrum wie oben. Eine getreue und allgemein verständliche Wiedergabe der ersten beiden Virodhālaṃkāras im Deutschen gebt über meine Kräfte. Jeder derselben enthält zwei Komplimente für den König Kalaśa, die aber so ausgedrückt sind, dass der Wortlaut sich scheinbar widerspricht. Bei dem ersten will der Dichter sagen, dass Kalaśa der ausgezeichnetste Fürst der ganzen Erde ist und nie die Unwahrheit spricht. Zur Bezeichnung des Begriffes ,ausgezeichnet' wählt er das Wort tilaka ,Stirnschmuck' und nur Bezeichnung der zweiten Eigenschaft das Kompositum analīkalagnaḥ, welches sowohl ,nicht an der Unwahrheit hängend' als auch ,nicht an einer Stirne hängend' bedeutet und in letzterer Bedeutung dem Begriffe ,Stirnschmuck' widerspricht. Im zweiten Falle will er sagen, dass Kalaśa rein und leidenschaftslos wie ein Jīvanmukta, d. h. ein in diesem Leben erlöster Heiliger, ist und zugleich nur ausgezeichnete Männer zu Freunden hat. Hier steht die zweite Bedeutung von guṇibāndhavaḥ, ,(Genosse der mit den Fesseln (des Saṃsāra) behafteten d. h. der nicht erlösten', im Widerspruche mit der Behauptung, dass er ein Erlöster ist.

10. Ihr ausgezeichneter Enkel ist der erlauchte Harṣadeva, welcher von den Göttern als ein neuer Kalaśa-Sohn (Agastya) geschaffen ward; wie Agastya alle emporstrebenden Berge (urvībhṛtah) zu beugen und selbst die sieben Ozeane zu leeren (pātum) vermochte, so ist dieser Tapfere fähig, alle hochfahrenden Fürsten (urvībhṛtah) zu beugen und sogar die sieben Ozeane zu beschützen (pātum).2

2 Metrum wie oben. Der Seher Agastya wurde aus einem Topfe, gewöhnlich kumbha, hier kalaśa genannt, geboren. Der Dichter benutzt diese Sage um einen Vergleich zwischen diesem Kalaśa-Sohne und dem Sohne Kalaśadevas anzustellen. Für die Erklärung der folgenden Worte, die oben mehr paraphrasiert als übersetzt sind, ist zu beachten, dass Agastya andern Sagen zufolge den Vindhya verhinderte in den Himmel zu wachsen und, wie der nordische Thor, den Ocean zum Teil austrank.

11. Um das Herz dieser Königin, die sich stets abmüht die verschiedenen Hauptgebote (zu erfüllen), Giriśa zu ehren und Brandopfer zu bringen, und die ihre Ohren täglich mit (dem Anhören der) heiligen Lehrbücher ermüdet, für einen Augenblick etwas zu ergötzen,1

1 Metrum wie oben.

12. Hat Soma der Sohn des ausgezeichneten, mit vielen Tugenden geschmückten Brahmanen Rāma, diese Sammlung der aus dem Nektar vieler Märchen bestehenden Quintessenz der Bṛhatkathā veranstaltet; wie der Vollmond das Meer (bewegt sie mächtig) die Herzen edler Menschen.2

2 Metrum wie oben. Wegen der Bṛhatkathā ist der Anfang von Somadevas Werk I, 3, 10-13 zu vergleichen.

13. Möge dieser ,Ocean der Märchen-Flüsse' der von dem mit reinem Glanze begabten Soma in großen Taraṅga (genannten) Abteilungen geordnet ist (ganz wie durch den mit reinem Glänze begabten Mond |Soma| der Ocean in große Wellen [taraṅga] gebrochen wird), die Herzen der Edlen er freuen.3

3 Metrum: Āryā. Die genaue Erklärung des Titels Kathāsaritsāgara 'Ozean der Märchenflüsse' würde sein 'ein Werk welches alle Märchen ebenso in sich vereinigt wie der Ozean alle Flüsse'.

Diese Verse, welche, so geschmacklos sie uns scheinen mögen, gewiss ihrem Verfasser wegen der im Alaṃkāra gezeigten Fertigkeit bei seinen Zeitgenossen den Titel eines mahā-kavi eingetragen haben werden, lehren uns folgende Tatsachen. Der König Saṃgrāmadeva aus dem Geschlechte Śātavāhana's, war der Vater des Königs Ananta von Kaśmīr. Ananta heiratete Sūryavatī, die Tochter des Herrschers von Trigarta oder Jālandhara. Ihr Sohn war der König Kalaśadeva und ihr Enkel Harṣadeva. Der Kathāsaritsāgara wurde von Soma, d. h. Somadeva, dem Sohne des Brahmanen Rāma, zur Unterhaltung der Königin Sūryavatī verfasst. Beachtet man nun, dass Harṣadeva zwar wegen seiner Tapferkeit gerühmt wird, aber nicht den Titel König, sondern śrī, der Erlauchte, erhält, so lässt sich daraus mit Sicherheit schließen, dass er zur Zeit, als Somadeva schrieb, erwachsen, aber nicht Inhaber des Thrones war. Der regierende König muss sein Vater Kalaśadeva gewesen sein, da er der Letzte in der Reihe der männlichen Familienmitglieder ist, welcher den Titel eines Regenten (kṣitīsa) bekommt. Soviel muss Jedem der einigermaßen mit der Ausdrucksweise der Inder vertraut ist, klar sein.

Da wir für die Geschichte von Kaśmīrs in Kalhaṇas Rājataraṅgiṇī1 eine Chronik besitzen, auf welche man sich in der Periode, um die es sich hier handelt, vollständig verlassen kann, so ist es möglich, nicht bloß die Richtigkeit der obigen Schlussfolgerung darzutun, sondern auch noch genauere Bestimmungen über den Zeitpunkt der Abfassung des Kathāsaritsāgara zu geben. Die hier in Betracht kommenden Nachrichten, welche die Rājataraṅgiṇī über die in unserer Praśasti genannten fürstlichen Personen gibt, sind folgende.

1 Dies werk wurde, wie der Autor selbst I, 52 sagt, im Jahre 1070 der Śaka-Ära oder 1148 - 1149 p. Chr. begonnen.

Saṃgrāmadeva wurde von der Königin Diddā zum Thronfolger ernannt und bestieg den Thron2 im Jahre 79 des Lokakāla, der in Kaśmīr gebräuchlichen, volkstümlichen Ära,3 bei der man gewöhnlich bloß die Jahre von 1—100 angibt, die verflossenen Hunderte und Tausende aber auslässt. Er starb im Jahre 4 des nächsten Saeculum des Lokakāla nach einer Regierung von nicht ganz 25 Jahren.4 Ihm folgte sein Sohn Harirāja, der aber schon nach einer Regierung von 22 Tagen den Nachstellungen seiner eigenen Mutter erlag.5 Nach seinem Tode wurde sein unmündiger Bruder Ananta oder Anantadeva zum Könige ausgerufen.6 Dieser heiratete später auf Antrieb seines Günstlings Rudrapāla, Sūryamatī, die jüngere Tochter Inducandras, des Königs von Jālandhara.7 Sūryamatī, welche auch den Namen Subhaṭā führte,8 wird von Kalhaṇa, sowie von Bilhaṇa, einem anderen Dichter ihrer Zeit, wegen ihrer Frömmigkeit und Wohltätigkeit ebenso hoch gepriesen wie von Somadeva. Ananta dagegen wird in der Rājataraṅgiṇī wiederholt als sehwach von Verstand, heftig und unbesonnen, aber bis zur Tollkühnheit tapfer geschildert.1 In Folge dieser Schwäche bekam Sūryamatī ihren Gemahl schließlich ganz in ihre Gewalt und bewog ihn, trotz der Warnungen seines Ministers Haladhara, im Jahre 39 des Lokakāla dem Throne zu entsagen und seinen Sohn Kalaśadeva zum Könige zu salben.2 Kurze Zeit darauf bereute Ananta seinen übereilten Schritt und bemächtigte sich, von Haladhara angestiftet, wiederum der Regierung.3 Kalaśadeva aber ergab sich bald, von schlechten Rathgebern und Günstlingen verleitet, einem lasterhaften Lebenswandel, dessen Einzelheiten vom Chronisten sehr eingehend beschrieben werden.4 Schließlich kam ein besonders schmachvolles Abenteuer zu den Ohren seiner Eltern, welches dieselben in solchen Zorn versetzte, dass sie beschlossen ihn ins Gefängnis zu werfen und seinem ältesten Sohn Harṣa, ,einem Schatze alles Wissens', das Reich zu übergeben.5 Aus dieser Gefahr befreite ihn die Geistesgegenwart eines seiner Anhänger, der ihn zu seinem Vater begleitete und letzteren durch eine mutige Verteidigung mit ,bittersüßen' Worten bethörte.6

2 Rājataraṅgiṇī VI, 355-365

3 Dieselbe heißt ebenso gewöhnlich Saptarṣisaṃvat, die Ära der sieben Seher.

4 Rājataraṅgiṇī VII, 127.

5 Rājataraṅgiṇī VII, 131. 133.

6 Rājataraṅgiṇī VII, 135.

7 Rājataraṅgiṇī VII, 150 - 151. Wenn Kalhaṇa die Königin Sūryamatī, nicht Sūryavatī nennt, so erklärt sich das durch die Bedeutungsgleichheit der Suffixe mat und vat. Die Inder haben die üble Angewohnheit in geschichtlichen Werken und Dokumenten ein und dieselbe Person durch gleichbedeutende Namen zu bezeichnen, z.B. Vikramārka für Vikramāditya zu setzen. Die Namensform Inducandra, welche hier statt Indu (oben Vs. 4) erscheint, ist die vollständigere. Über die Abkürzung, welche wie Inder sagen, bhīmavat gemacht ist, siehe Zachariae, Lexicographische Beiträge, p. 35 — 36.

8 Rājataraṅgiṇī VII, 180 und  Vikramāṅkadevacarita XVIII, 40-46.

1 Rājataraṅgiṇī VII, 143. 189. 219. 229.

2 Rājataraṅgiṇī VII, 230 - 233.

3 Rājataraṅgiṇī VII, 240 - 245

4 Rājataraṅgiṇī VII, 273 - 318

5 Rājataraṅgiṇī VII, 318 - 320.

6 Rājataraṅgiṇī VII, 321 - 329

Kalaśa wurde unbestraft entlassen und verbarg sieh in seinem Palaste. Ananta aber beschloss kurz darauf sich ganz von der Regierung zurückzuziehen und führte diesen Vorsatz im Jahre 557 des Lokakāla aus, indem er mit seinem Hofstaate, Anhängern und Schätzen nach Vijayakṣetra, dem heutigen Bijbrör, übersiedelte. Dort lebte er noch etwas länger als zwei Jahre, bald in heimlichem, bald in offenem Kriege mit seinem Sohne, den Sūryamatī noch wiederholt begünstigte und einmal vor der Vernichtung in offener Feldschlacht bewahrte. Am Vollmondstage des Monates Kārttika, im Jahre 571 des Lokakāla fiel Ananta im zweiundsechzigsten Lebensjahre2 durch seine eigene Hand. Kurz vorher war es Kalaśa gelungen, die Stadt Vijayakṣetra in Brand zu stecken und seinen Vater des größten Teiles seiner Habe zu berauben. Diese Unbilde war der letztere nicht im Stande zu ertragen und wählte, da er keinen andern Ausweg sah, den Tod. Sūryamatī aber wollte ihren Gatten nicht überleben. Sie verbrannte sich mit seinem Leichnam zwei Tage später. Bei dieser Gelegenheit war auch Harṣadeva zugegen, der, vor seinem Vater geflüchtet, einen großen Teil der letzten zwei Jahre bei den Grosseltern verbracht hatte und dieselben schließlich bestattete und beerbte.3

7 Rājataraṅgiṇī VII, 363

1 Rājataraṅgiṇī VII,  453

2 Rājataraṅgiṇī VII, 485

3 Rājataraṅgiṇī VII, 394. 460 - 461. 487.

Mit Hilfe dieser Data ist es leicht die Fehler, welche Wilson und Brockhaus gemacht haben, zu korrigieren und die Grenzen der Periode, innerhalb welcher der Kathāsaritsāgara geschrieben sein kann, genau zu bestimmen. Es kann gar keine Rede davon sein, dass das Buch aus der Regierungszeit Harṣadevas, wie Wilson meint, oder aus der Zeit nach Harṣadevas Tode, wie Brockhaus behauptet, stammen könnte. Da Somadeva sagt, dass Kalaśadeva zur Zeit der Vollendung seines Werkes König war und dass Sūryavatī noch lebte, so muss er nach dem Jahre 39 und vor dem Jahre 57 des Lokakāla geschrieben haben. Vielleicht darf man diese Grenzen aber noch etwas enger ziehen, indem die Schilderung Somadevas darauf hinzudeuten scheint, dass zu seiner Zeit der Zwist zwischen Kalaśadeva und Ananta noch nicht ausgebrochen war. Bei dieser Annahme müsste man das Jahr 55 als den terminus ad quem ansetzen. Sicher ist dies jedoch nicht, da bei der Schönfärberei der indischen Hofpoeten oft sehr unliebsame Vorgänge in den Familien ihrer Beschützer verschwiegen oder anders dargestellt werden als sie wirklich sind.

Versuchen wir die Jahre unserer Ära zu finden, Welche den im Obigen genannten Jahren des Lokakāla entsprechen, so hat das jetzt, da der Anfangspunkt des Lokakāla oder der Saptarṣi-Ära bekannt ist, keine große Schwierigkeit und es ist gar nicht nötig, auf die älteren chronologischen Bestimmungen Wilsons, Lassens und Cunninghams zurückzugreifen. Dem von mir in Kaśmīr gefundenen Verse zufolge1 begann diese Ära, nachdem 25 Jahre des Kaliyuga verflossen waren, oder 3101—25 ante Chr. Man kann zunächst mit Hilfe der von Kalhaṇa, Rāj. 1.52, gegebenen Gleichung Lokakāla 24 = Śakasamvat 1070, sowie der im siebenten und achten Kapitel der Rājataraṅgiṇī gegebenen historischen Daten die ausgelassenen Tausende und Hunderte des Lokakāla ergänzen. Kalhaṇas Lokakāla-Datum ist vervollständigt das Jahr 3154 + 1070 oder 4224. Kalhaṇa verfasste sein Werk unter der Regierung des Königs Jayasiṃha oder Siṃhadeva. Dieser kam nach seinen Angaben im Jahre 3 desjenigen Saeculum zur Regierung, welches auf das des Ananta und Kalaśadeva folgte. Letzteres erhellt aus folgenden Angaben:

Rājataraṅgiṇī VII, 725 Kalaśadeva stirbt
Rājataraṅgiṇī VII, 730 Utkarṣa, sein Sohn wird König
Rājataraṅgiṇī VII, 862 Utkarṣa tötet sich nach 22 Tagen
Rājataraṅgiṇī VII, 871 Harṣadeva, K.'s Sohn wird König
65 Lokakāla
Rājataraṅgiṇī VII, 1726 Harṣadeva ermordet
Rājataraṅgiṇī VII, 1734 Ucchala, schon früher gekrönt (Vs. 1386) folgt
77 Lokakāla
Rājataraṅgiṇī VIII, 344 Ucchala wird ermordet
Rājataraṅgiṇī VIII, 345 Raḍḍa, Usurpator, am selbigen Tage getötet
Rājataraṅgiṇī VIII, 380-1 Salhaṇa gekrönt
87 Lokakāla
Rājataraṅgiṇī VIII, 485 Sussala, Ucchalas Bruder nimmt Salhaṇa gefangen und wird König 88 Lokakāla
Rājataraṅgiṇī VIII, 1357 Sussala ermordet; Siṃhadeva alias Jayasiṃha, S.'s Sohn wird König 3 Lokakāla

1 Kaśmīr Report p. 46 (Journ Bo. Br. Roy. As. Soc. vol. XII).

Das letzte Datum aus der Regierung Jayasiṃhas, welches Kalhaṇa gibt, ist das Jahr 33, Rāj. VIII, 3193 (Troyer). Da es neun Jahre später fällt als das, welches er im Anfange seines Werkes anführt, zeigt es, wie lange er ungefähr an seiner Chronik schrieb.

Nach dem eben Gesagten sind die oben angegebenen Zahlen aus Anantas und Kalaśadevas Regierungszeit die Jahre 4104, 4139, 4155 und 4157 des Lokakāla. Die Entfernung des Anfangspunktes des Lokakāla von dem der christlichen Ära beträgt etwa 3076 Jahre. Man erhält also für die beiden in Betracht kommenden Daten, den Regierungsantritt Kalaśadevas und den Tod Ananas und Sūryamatīs, die Jahre 1063—1064 und 1081—1082 p. Chr., innerhalb welcher der Kathāsaritsāgara verfasst sein muss. Dieses Resultat zeigt, dass Somadeva entweder genau zu derselben Zeit schrieb, als Kṣemendra-Vyāsadāsa seine Bṛhatkathāmañjarī verfasste, oder nur wenig später. Kṣemendra sagt in mehreren seiner Werke, dass er unter dem Könige Ananta schrieb.1 Eines derselben ist aber im Jahre 41, d. h. 4141 unter der Regierung des Kalaśadeva datiert. Es ist jedenfalls ein merkwürdiges Zusammentreffen, dass zwei kasśmīrische Dichter um dieselbe Zeit das alte Buch Guṇāḍhyas aus dem Paiśācī-Dialecte ins Sanskrit übersetzten. Es sieht beinahe so aus als ob sie Rivalen gewesen wären.

1 Samayamātṛkā: saṃvat 25 (4125) unter Ananta: Aucityavicāracarcā unter Ananta.

 

Über Georg Bühler:

"Bühler, Georg, Sanskritist, geb. 19. Juli 1837 in Borstel bei Nienburg in Hannover, gest. 8. April 1898 (bei Lindau im Bodensee ertrunken), studierte in Göttingen Philologie und orientalische Sprachen, besonders Sanskrit, unter Benfey, promovierte daselbst 1858, folgte 1863 einem Ruf nach Indien als Professor der orientalischen Sprachen an dem Elphinstone College in Bombay. Er bearbeitete dort mit R. West das indische Erbrecht auf Grund der Originalstellen in den Sanskritgesetzbüchern (»A digest of Hindu law«, Bomb. 1867–69, 2 Bde.; 3. Aufl. 1880), gründete 1868, zum Educational Inspector (Oberschulrat) befördert, zahlreiche neue Primär- und Sekundärschulen und kaufte auf seinen Visitationsreisen eine sehr bedeutende Anzahl von wichtigen alten Sanskrithandschriften teils für die indische Regierung, teils für die Bibliotheken von Oxford, Cambridge und Berlin, teils auch für sich selbst an. Über die in Kaschmir, in Zentralindien, Gudscharat und der Radschputana erworbenen Handschriften, über 5000 an der Zahl, gab er wertvolle Kataloge heraus, von denen der besonders interessante kaschmirsche 1877 als Extranummer des »Journal of the Royal Asiatic Society« von Bombay erschien. Auch als Herausgeber von Sanskrittexten war Bühler vielfach tätig, namentlich für die »Bombay Sanskrit Series«, die er zusammen mit Kielhorn gründete. Sie umfaßt jetzt eine bedeutende Zahl Sanskritwerke, die größtenteils von indischen Gelehrten (wie Bhandarkar, Telang, Shankar Pandit u. a.) ediert worden sind, wie überhaupt das Studium des Sanskrits im westlichen Indien durch Bühler einen bedeutenden Aufschwung nahm. Für die von Max Müller herausgegebene Sammlung »Sacred Books of the East« übersetzte er die Gesetzbücher des Apastamba, Gautama, Vasischtha, Baudhâyana (Oxf. 1879–82, 2. Aufl. 1897). Auch an der Entzifferung und Erklärung indischer Inschriften nahm Bühler lebhaften Anteil. Ferner schrieb er Sanskritschulbücher. Im September 1880 nahm Bühler aus Gesundheitsrücksichten seinen Abschied aus dem indischen Dienst und wurde schon einen Monat später zum Professor des Sanskrits und der indischen Philologie in Wien ernannt. Dort entfaltete er die umfassendste Wirksamkeit und bildete zahlreiche Schüler heran. Er veröffentlichte in dieser Zeit außer zahlreichen Abhandlungen über indische Altertumskunde einen »Leitfaden für den Elementarkursus des Sanskrits, mit Glossaren« (Wien 1883). Sein außerordentliches Wissen, mehr über die jüngere indische Literatur als über die des Veda sich erstreckend, seine tiefe Kenntnis Indiens und der Inder verlieh ihm eine Autorität, die ihn als den Berufenen zur Begründung des großartigen »Grundrisses der indoarischen Philologie und Altertumskunde« erscheinen ließ (Straßb. 1896ff.), in dem er selbst sein Werk »Indische Paläographie« (1896) veröffentlichte. Die Herausgabe dieses Grundrisses, an dem etwa 30 europäische, amerikanische, indische Gelehrte mitarbeiten, wird nach seinem Tode von Kielhorn (s.d.) geleitet. Vgl. I. Jolly, Georg B. (Straßb. 1899)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]


3. Textausgaben


Nur eine Auswahl:


Abb.: Hermann Brockhaus (1806 - 1877), ab 1841 Professor für ostasiatische Sprachen in Leipzig

Somadevabhaṭṭa <11. Jhdt.>: Katha Sarit Sagara : die Mährchensammlung des Sri Somadeva Bhatta aus Kaschmir ; erstes bis fünftes Buch / Sanskrit und Deutsch herausgegeben von Hermann Brockhaus. -- Leipzig [u.a.] : Brockhaus, 1839. -- XIV, 469, 157 S. -- Erste gedruckte Ausgabe. -- "Seiner Majestät Friedrich August König von Sachsen u.s.w. in ehrfurchtsvoller Ergebenheit gewidmet von dem Herausgeber"

"Vorrede.

Wie hier zum erstenmale gedruckte Sammlung Indischer Mährchen und Erzählungen übergebe ich dem Publikum als einen nicht unwichtigen Beitrag zur Literaturgeschichte. Die tiefen Forschungen des verstorbenen Sylvestre de Sacy über die Fabelsammlung des Bidpai führten auf Indien als ursprüngliches Vaterland dieser sinnreichen Fabeln zurück, die dann in mannichfaltiger Umwandlung ganz Asien und Europa durchwanderten; denselben Ursprung glaubte man den Mährchen, die in der Tausend und Einen Nacht und ähnlichen arabischen und persischen Werken uns aufbewahrt sind, zuschreiben zu dürfen. Einige Auszüge, die Herr H. H. Wilson in einem Calcuttaer Journale aus der vorliegenden Sammlung mittheilte, lieferten dazu mehrere Beweise, und die ganze Frage regte so mein Interesse an, dass ich mich zu der Bearbeitung des Originals entschloss. Meine Kenntniss aber dieses Zweiges der mittelalterlichen Literatur des Orients und Occidents ist zu wenig ausgedehnt, um die einzelnen Züge der Übereinstimmung der hier gegebenen Indischen Erzählungen mit entsprechenden in den verschiedenen Mährchen- und Novellensammlungen des Mittelalters angeben zu können; ich hätte nur solche berühren können, die keinem Freunde der Poesie unbekannt sind, sehr dankbar aber werde ich für alle dergleichen Nachweisungen sein, die, späterhin vielleicht zu einem Ganzen vereinigt, eine belehrende Übersicht des Gemeinschaftlichen und wieder nationell Eigenthümlichen gewähren könnten. *)

*) Sehr schätzbare Vorarbeiten zu einem solchen Werke finden sich in der Einleitung zu der trefflichen Ausgabe des „Roman des sept sages" von Dr. H. A. Keller; Tübingen 1836; sowie in den Arbeiten des Herrn A. Loiseleur Deslongchamps: „Essai sur les fables Indiennes", und „Essai historique sur les contes Orientaux", Paris 1838.

Über den Verfasser unseres Werkes, Somadeva, kann ich wenig berichten. Am Schluss des Gedichtes nennt er sich den Sohn des Rāma und einen Eingeborenen des Landes Kaschmir, und erwähnt zugleich, dass er diese Sammlung begonnen habe, um die Königin Sūryavatī über den Verlust ihres Enkels, des Königs von Kaschmir, Harscha Deva, durch heitere Erzählungen zu trösten. Dieser König, dessen Regierung zu den glänzendsten, wenngleich nicht glücklichsten Epochen der Geschichte von Kaschmir gehört, kam in einem Aufruhr um im Jahre 1125 nach Chr. Geb. Somadeva ist demnach ein ziemlich junger Schriftsteller, aber die Elemente seines Werkes sind unbedingt älter, da er selbst eingesteht, dass er blos eine frühere ausführlichere Sammlung, die sogenannte Vrihat Kathā (d. h. „die ausgedehnte Erzählung"), bearbeitet habe, um so dieses „Meer der Mährchenströme" zu bilden. *) Sein Verdienst beruht wol hauptsächlich in der gleichmässigen stylistischen Redaction des früher unter mancherlei Formen in Prosa und Versen Zerstreuten.

*) Die einzelnen Bücher nennt der Verfasser lambaka, wahrscheinlich eine Woge, wie Im Englischen a surge, die kleineren Abtheilungen oder Capitel aber taranga, das heisst Welle.

Die vollständigen Handschriften dieses Buches sind in Indien ziemlich selten, doch war ich so glücklich, deren mehrere in London und Oxford benutzen zu können. Es sind die folgenden:

A. (Nr. 2212—2214 des Catalogs der Sanskrit-Handschriften in der Bibliothek des East India House) 3 Bände in 4., aus der Sammlung von Johnson. Die Handschrift gehört zu den schönsten der ganzen Bibliothek; sie ist sehr deutlich mit glänzender Dinte auf wechselnd gelbem, blauem, grünem und anderm bunten Papiere geschrieben, und wahrscheinlich nach einer älteren Bengali-Handschrift copirt. Der Text ist den Worten nach bei weitem der beste, wenn auch sonst voll Fehler und Nachlässigkeiten des Copisten; er bildet die Grundlage meiner Ausgabe.

B. (Nr. 159 der Sammlung von Taylor) 3 Bände in 4. Zum Gebrauch dieses verdienstvollen Gelehrten abgeschrieben, ziemlich correct, weicht aber öfters von A. ab; stammt aus dem westlichen Indien.

M. Ein Fragment, nur die 5 ersten Bücher enthaltend, aus der Sammlung des Obersten Mac Kenzie. Ein Band in Folio.

C. (Nr. 352 und 361) aus Colebrooke's Sammlung; leider sehr incorrect geschrieben und auch nicht ganz vollständig.

W. Die Handschrift, die Herr Professor H. H. Wilson in Benares copiren liess, 4 Bände in 4. Der Text stimmt meist mit A. überein. — Der ebengenannte ausgezeichnete Gelehrte, dessen wohlwollende Freundschaft und Liberalität in der Mittheilung der herrlichen Schätze seiner Bibliothek ich nicht genug rühmen kann und wofür ich ihm hier öffentlich meinen wärmsten Dank wiederhole, war so gütig, mir noch eine Abschrift des ganzen Werkes aus Calcutta besorgen zu lassen, D. Diese stammt aus der Handschrift, die der verstorbene Oberst Wilford dem Sanskrit-College in Calcutta geschenkt hat; sie ist sehr deutlich und für eine Devanagari-Handschrift ziemlich correct geschrieben. *)

*) Den Theil dieser Handschrift, der hier gedruckt vorliegt, habe ich der königlichen Bibliothek zu Dresden geschenkt.

Nach meinen Kräften habe ich mich bemüht, den grammatisch-correctesten und dem Sinne nach besten Text aus den verschiedenen Lesarten der angeführten Handschriften zu construiren. Nicht überall ist mir dies gelungen, viele Stellen sind mir undeutlich oder ganz unerklärlich geblieben, doch habe ich es als strengen Grundsatz durchgeführt, keine Conjecturen in den Text aufzunehmen, sondern nur durch Handschriften autorisirte Lesarten. Ich selbst kann meine Arbeit nur einen Versuch zu einer Ausgabe und Übersetzung nennen. Jeder aber, der aus Indischen Handschriften ein Werk zuerst herausgegeben hat, ohne dass ein Calcuttaer Textabdruck oder eine Übersetzung die Arbeit erleichterte, ohne von irgend einer Glosse oder Commentar unterstützt zu sein, oder des mündlichen Unterrichtes einheimischer Gelehrten geniessen zu können, — jeder, sage ich, wird mit Nachsicht die vielen Mängel meiner Arbeit beurtheilen, die mir nicht verborgen sind. Belehrung und Verbesserungen werden Niemanden willkommener sein als mir, da kein Leser gewiss an den schwierigen Stellen, deren das Buch manche enthält, so mühselig arbeiten wird, um sie zu erklären, als eben ich selbst. — Die Varianten und sonstigen Hülfsnüttel zur Rechtfertigung meines Textes musste ich leider weglassen; diese Zugaben, für so wichtig und nothwendig ich sie auch halte, würden den Umfang des Werkes und somit die Kosten auf eine zu bedeutende Weise vermehrt haben. — Die Übersetzung macht auf weiter nichts Anspruch, als den des Sanskrit unkundigen Freunden volkstümlicher Dichtung den Inhalt dieser Sammlung zu erschliessen. Ob ich in der Bearbeitung der folgenden Bücher, die noch manches Werthvolle und Schöne enthalten, fortfahren kann, hängt von der Vereinigung mancher glücklicher Umstände ab; doch soll es mir genügen, auf diese reiche Quelle der Belehrung über Indische Zustände aufmerksam gemacht und denjenigen, die es erfreut, die feineren Beziehungen der Völker zu einander durch Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch zu verfolgen, den Faden nachgewiesen zu haben, der zu sicheren Resultaten führen kann.


Abb.: Franz Bopp (1791 - 1867), 1821 - 1864 Prof. für orientalische Literatur und allgemeine Sprachkunde in Berlin

Noch muss ich dankbar des Herrn Prof. Bopp in Berlin erwähnen, der sich aus reinem Interesse an der Wissenschaft freiwillig der Revision der Correcturbogen unterzogen hat.

Denen ich unter Allen am liebsten aber dieses Buch gesendet hätte, meine beiden Freunde Friedrich Rosen und Robert Lenz, die mit steter Theilnahme lange Zeit hindurch in England meine Arbeit förderten, mit denen ich im innigsten geistigen und freundschaftlichen Verkehre gelebt habe, — beide, in der Blüthe der Jahre den Wissenschaften und ihren Freunden und Altern entrissen, deckt ein frühes Grab. Friede sei ihrer Asche!

Jena, September 1839.

Der Herausgeber."

[a.a.O., S. VII - X.]

Somadevabhaṭṭa <11. Jhdt.>: Kathā Sarit Sāgara : die Märchensammlung des Somadeva ; Buch VI., VII. VII. / hrsg. von Hermann Brockhaus. -- Leipzig : Brockhaus, 1862. -- (Abhandlungen der Deutschen morgenländischen Gesellschaft ; Bd. II. No. 5). -- Nur Sanskrittext.

"Vorwort.

Nach langer Unterbrechung wird es mir endlich möglich, hiermit die Fortsetzung meiner Textausgabe des Somadeva den Freunden indischer Literatur vorzulegen. Der Mangel ausreichenden kritischen Materials trägt wesentlich die Schuld der langen Verzögerung; erst seit einem Jahre ist dieser in so weit beseitigt, dass ich eine billigen Ansprüchen entsprechende Recension des Textes wagen durfte.

Diese Ausgabe beruht auf der Autorität der folgenden Handschriften:

1) W. Handschrift des verstorbenen II. H. Wilson, die jetzt sich in der Bodleyana in Oxford befindet. Aus ihr habe ich cap. 27—61 copirt.

2) D. Vollständige Abschrift des ganzen Werkes, die mir der genannte Gelehrte aus Indien verschaffte. In der Mitte fehlen cap. 93—104.

3) H. Vollständige Kopie des ganzen Werkes, die ich gleichfalls der gütigen Vermittlung Wilson's verdanke. Auch diese Handschrift ist leider in der Mitte lückenhaft, es fehlen cap. 57—74.

4) G. Fragment, cap. 75 — 103, das mir Herr Dr. Röer in Indien copieren liess.

5) S. Vollständige Abschrift vom VI. Buche an bis zu Ende des Werkes, die ich durch die Güte des Herrn Dr. Fitz-Edward Hall aus Saugore in Centralindien erhielt.

6) R. Fragment, cap. 57—104, das Herrn Dr. Röer gehörig mir von diesem gefälligst zur Benutzung überlassen wurde.

Aus diesen Angaben der mir zu Gebote stehenden Handschriften ergiebt sich, dass ich für einzelne Theile des Werkes vier, durchgängig wenigstens drei Handschriften benutzen konnte. Die Vergleichung dieser Handschriften hat es möglich gemacht, einen im Ganzen lesbaren Text herzustellen, doch verkenne ich die vielen Mängel meiner Arbeit nicht; bei dem entsetzlich zerstörten Zustande des Textes, wie er sich in den Handschriften leider findet, bedarf es noch weiterer sorgfältiger Vergleichungen anderer Codices, um einen durchaus correcten Text herzustellen.

Eine vollständige Uebersetzung des Ganzen liegt nicht in meinem Plane; nach Vollendung des Textes werde ich aber eine Auswahl der interessanteren und wichtigeren Erzählungen übersetzt mittheilen. Da jedoch das Werk des Somadeva vom literarhistorischen Standpunkte aus sehr wichtig ist, und daher auch von Forschern, die des Sanskrit unkundig sind, benutzt werden muss, so lasse ich eine Analyse der einzelnen Bücher immer zugleich mit dem Texte erscheinen; die des VI. Buches ist bereits gedruckt in den Berichten der Kgl. Sächsichen Gesellschaft der Wissenschaften. Philologisch-historische Classe. 12. Band. 1860. S. 101-162; die des VII. Buches ebendaselbst. 13. Bd. 1861. S. 203-250.

Ich kann diese Vorrede nicht schliessen, ohne noch einmal mit tief gefühltem Danke die Namen derer zu nennen, die durch ihre Unterstützung mir die Arbeit ermöglichten: der verstorbene H. H. Wilson, ein Mann von edelster Gesinnung, der auf das bereitwilligste jedes wissenschaftliche Streben in freundlichster Weise förderte, und dessen Andenken in mir und Jedem, der mit ihm verkehrte, in warmer Verehrung fortleben wird; Herr Dr. Röer, der während eines langjährigen segensreichen Wirkens in Indien den deutschen Namen in jenem fernen Lande zu Ehre und Ansehen zu bringen wesentlich beigetragen hat; und Herr Dr. Fitz-Edward Hall, der mir, dem ihm persönlich ganz Unbekannten, als er vor einigen Jahren in seine hohe amtliche Stellung nach Indien zurückkehrte, unaufgefordert es anbot, eine Abschrift des Werkes zu besorgen.

Ist meine Arbeit eine nicht ganz unwürdige Bereicherung der indischen Studien, so sind die Kenner derselben wesentlich jenen Männern zum Danke verpflichtet.

Leipzig, August, 1862.

Hermann Brockhaus."

[a.a.O., S. III - IV.]

Somadevabhaṭṭa <11. Jhdt.>: Kathā Sarit Sāgara : die Märchensammlung des Somadeva ; Buch IX - XVIII. / hrsg. von Hermann Brockhaus. -- Leipzig : Brockhaus, 1866. -- (Abhandlungen der Deutschen morgenländischen Gesellschaft ; Bd. IV. No. 5). -- Nur Sanskrittext.

Somadevabhaṭṭa <11. Jhdt.>: Kathāsaritsāra / ed. by Durgāprasād and Kāśīnāth Pāṇḍurāṅg Parab. -- 4. ed. / revised by Wāsudev Laxman Śāstrī Paṇśikar. -- Bombay : Nirnaya-Sagar Press, 1930, -- 597 S. -- [in Devanāgarī]

Somadevabhaṭṭa <11. Jhdt.>: Kathasaritsagarah / Sampadita: Jagadīśalālaśāstrī. - 1. samskarana, [repr.]. - Dilli : Motilala Banarasidasa, 1977. - 8, 596 S. -- [in Devanāgarī, scheint textidentisch mit der vorhergenannten Ausgabe]


4. Übersetzungen


Nur eine Auswahl:

Somadevabhaṭṭa <11. Jhdt.>: Katha Sarit Sagara : die Mährchensammlung des Sri Somadeva Bhatta aus Kaschmir ; erstes bis fünftes Buch / Sanskrit und Deutsch herausgegeben von Hermann Brockhaus. -- Leipzig [u.a.] : Brockhaus, 1839. -- XIV, 469, 157 S. -- Erste gedruckte Ausgabe. -- "Seiner Majestät Friedrich August König von Sachsen u.s.w. in ehrfurchtsvoller Ergebenheit gewidmet von dem Herausgeber". -- Siehe oben.


Abb.: Einbandtitel

Somadevabhaṭṭa <11. Jhdt.>: The ocean of story : being C.H. Tawney’s translation of Somadeva’s Kathāsarit sāgara, or, ocean of streams of story / now edited with introduction, fresh explanatory notes, and terminal essay by N.M. Penzer [Norman Mosley Penzer <1892 - 1960>].  -- London : Privately printed for subscribers only by Chas. J. Sawyer, 1924 - 1928. -- 10 Bde. ; 26 cm. -- Die Übersetzung (ohne die zahlreichen Anmerkungen Penzers) erschien erstmals 1880 - 1884.

"CHARLES HENRY TAWNEY

1837-1922

[The following account of the life and labours of Mr Tawney has been prepared chiefly from the obituary notices which appeared in " The Times," "Journal of the Royal Asiatic Society" and " The Calcutta Review"]

CHARLES HENRY TAWNEY was the son of the Rev. Richard Tawney, vicar of Willoughby, whose wife was a sister of Dr Bernard, of Clifton. From Rugby, which he entered while the great days of Dr Arnold were still a recent memory, he went to Trinity College, Cambridge, where he greatly distinguished himself. He was Bell University Scholar in 1857, and Davies University Scholar and Scholar of Trinity in the following year. In 1860 he was bracketed Senior Classic and was elected a Fellow of his college.

For the next four years he worked as a Fellow and Tutor at Trinity, but though he had obviously excellent prospects of academical work at home, considerations of health induced him to seek employment in India.

In 1865 he was selected to occupy the Chair of History in the Presidency College, just then vacated by Professor E. Byles Cowell. Mr Tawney filled this Chair with great credit from 1866 to 1872 ; in the latter year he was appointed Professor of English.

In 1875 he officiated as Principal in the place of Mr James Sutcliffe, and on the latter's death, in the following year, his position as Principal was confirmed. This office he held from 1876 to 1892, with breaks for short periods, during which he either went home on leave or was called upon to officiate as Director of Public Instruction in the then undivided province of Bengal.

He also held the position of Registrar of the Calcutta University from 1877 to 1881, 1884 to 1885, and again in 1886 and 1889.

He was awarded the CLE. in 1888 and retired from the Education service at the end of 1892.

Mr Tawney had a happy familiarity with the literature of his own country, and published in Calcutta (1875) The English People and their Language, translated from the German of Loth. His acquaintance with Elizabethan literature was remarkable, while in Shakespearean learning he had no living rival in India. In this connection it is to be regretted that, except for editing Richard III (1888), he left no record of his great learning in this particular field of knowledge.

There was little scope in Calcutta for the display of Mr Tawney's knowledge of Latin and Greek, and so almost as soon as he arrived in India he threw himself heart and soul into the mastering of Sanskrit. This he achieved with the greatest credit, as the numerous works which he has left clearly show. His first publications were prose translations of two well-known plays, the Uttara-rāma-carita of Bhavabhūti (1874) and the Mālavikāgnimitra of Kālidāsa (1875). In Two Centuries of Bhartṛihari (1877) he gave a skilful rendering into English verse of two famous collections of ethical and philosophico-religious stanzas. But his magnum opus, to which he devoted some later years of his Indian career, was his translation of Somadeva's Kathā Sarit Sāgara, which was published by the Asiatic Society of Bengal in their Bibliotheca Indica series (two volumes, 1880-1884). Considering the date of the appearance of this great translation it was well annotated by most useful notes drawn from a wide reading in both classical and modern literature. The extreme variety and importance of the work, together with the recent strides made in the study of comparative folklore, religion and anthropology, are the raison d'etre of the present edition.

The same interests which prompted Mr Tawney to produce his magnum opus also led him, during his official life in London, to the study of the rich stores of narrative connected with the Jain doctrine, resulting in his translations of the Kathākośa (Oriental Translation Fund, N.S., ii, 1895) and Merutunga's Prabandhacintāmaṇi (Bibliotheca Indica, 1899-1901), both works of considerable difficulty and interest. At the same time he was engaged in superintending the preparation and printing of catalogues issued from the India Office Library, the Catalogue of Sanskrit Books by Dr Rost (1897), the Supplement to the Catalogue of European Books (1895), the Catalogue of Sanskrit MSS. by Professor Eggeling, of Persian MSS. by Professor Ethe, of Hindustani books by Professor Blumhardt (1900), and of Hindi, Punjabi, Pushtu and Sindhi books by the same (1902), of the Royal Society's Collection of Persian and Arabic MSS. by E. D. Ross and E. G. Browne (1902). He was himself joint-author of a catalogue of the Sanskrit MSS. belonging to the last-named collection (1903).

Mr Tawney's services to Sanskrit scholarship were therefore both varied and extensive.

Apart from Sanskrit and European languages, Mr Tawney knew Hindi, Urdu and Persian.

As an Anglo-Indian he was a worthy successor to men like Jones, Wilson and Colebrook. He genuinely loved India through its learning and literature. The great influence that he had upon his Indian students was amazing. It was due, in a large measure, to his elevated moral character, his impartiality, his independence of judgment and his keen desire to do justice to all who came into contact with him.

In this connection it is interesting to read the opinion of one of his old pupils.

At the unveiling of his portrait at the Presidency College, Calcutta, Professor Ganguli speaks of his wonderfully sympathetic nature, and adds: " What struck me most in my master was his utter indifference to popularity, which, unfortunately, in some cases magnifies the artful, and minimises the genuine. I consider him to be an ideal teacher who combined in himself the best of the East and the best of the West, and I look upon him as a never-failing source of inspiration to me."

After his retirement from the Education service at the close of 1892 he was made Librarian of the India Office. He held this post till 1903, when he was superannuated.

Mr Tawney married in 1867 a daughter of Charles Fox, M.D., and the union extended over fifty-three years, Mrs Tawney dying in 1920. They had a large family.

In concluding this short account of Mr Tawney's life, the following lines from his own translation of Bhartrihari seem especially relevant:—

"Knowledge is Man's highest beauty,
Knowledge is his hidden treasure,
Chief of earthly blessings, bringing
Calm contentment, fame and pleasure.""

[Quelle: a.a.O., Bd. 1, 1924. -- S. VII - X.]


Abb.: Umschlagstitel

Somadevabhaṭṭa <11. Jhdt.>: Der Ozean der Erzählungsströme / Somadeva. Hrsg. von Johannes Mehlig [<1928 - >]. [Aus dem Sanskrit nach den Bombayer Ausg. von 1889 und 1930 und mit einem Nachw. vers. von Johannes Mehlig]. -- Leipzig [u.a.] : Kiepenheuer, 1991. -- 2 Bde ; 1116 S. ; 856 S. ; 21 cm. -- Originaltitel: Kathāsaritsāgara. -- ISBN: 3-378-00437-1

Zu Johannes Mehlig siehe:

Mehlig, Johannes <1928 - >: Wendezeiten : die Strangulierung des Geistes an den Universitäten der DDR und dessen Erneuerung. -- Bad Honnef : Bock und Herchen, 1999. -- 465 S. ; 25 cm. -- (Hochschule und Gesellschaft). -- ISBN 3-88347-207-7. -- Auf S. 93 ist aufgrund einer Gerichtsentscheidung ein Text überklebt.


5. Zur vergleichenden Perspektive


Für die Sanskritliteratur gibt es eine umfangreiche einheimischen traditionelle Literaturwissenschaft: zahlreiche, oft sehr subtile Werke des Alaṃkāraśāstra, Nātyaśāstra, Chandas sind überliefert. Diese einheimische Wissenschaft bietet zunächst die Paradigmen und die Terminologie für eine literaturwissenschaftliche Behandlung des Kathāsaritsāgara. Dennoch ist dieser Ozean der Erzählströme auch für den Vergleich usw. mit außerindischen Erzählungen ein wahrer Ozean. Deshalb ist es wichtig, dass von indologischer Seite die Fragestellungen, Paradigmen und die Terminologie z.B. der europäischen Erzählforscher verstanden wird. Als Anregung dazu dienen die wenigen Angaben hier.


5.1. Hilfsmittel


Enzyklopädie des Märchens : Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung / begr. von Kurt Ranke. Hrsg. von Rolf Wilhelm Brednich zusammen mit Hermann Bausinger ... -- Berlin [u.a.] : de Gruyter, 1977ff. -- 25 cm. -- Bisher erschienen bis Bd. 12, Lieferung 2: Seelentier - Speckdieb. -- Grundlegend und unentbehrlich zur Erzählforschung

"Die Enzyklopädie des Märchens (Abkürzung: EM) ist ein von Kurt Ranke begründetes, deutschsprachiges Nachschlagewerk zur internationalen Erzählforschung, das am Ende insgesamt 14 Bände umfassen soll.

Es erscheint (wie die Fachzeitschrift Fabula) im Verlag Walter de Gruyter und wird von einer Arbeitsstelle an der Universität Göttingen als Projekt der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen bearbeitet.

Der Vorläufer des Werkes war das Handbuch des deutschen Märchens, von dem bis 1940 nur zwei Bände veröffentlicht wurden.

2004 lagen elf Bände vor, der erste Artikel "Aarne, Antti Amatus" erschien 1975, der erste Band 1977.

Die rund 3800 alphabetisch sortierten Artikel von ca. 800 Autoren aus über 60 Ländern bieten einen Überblick über folgende Themen:

  • Darstellungen von Theorien und Methoden, Gattungsfragen, Stil- und Strukturproblemen
  • Kurzmonographien über wichtige Erzähltypen und -motive
  • Fragen der Biologie des Erzählguts
  • Biographien von Forschern, Sammlern und Autoren bedeutender Quellenwerke
  • Nationale und regionale Forschungsberichte

Ungeachtet seines Titels befasst sich das Werk, dessen Artikel meist mit ausführlichen Anmerkungen in Form von Endnoten versehen sind, nicht nur mit Märchen, sondern auch mit den anderen Gattungen der Volkserzählung wie Sagen oder Schwänken.

Hauptherausgeber ist seit 1982 Rolf Wilhelm Brednich.

Die Auflage umfasst ca. 2600 Exemplare, die aufgrund des hohen Preises des Werkes zumeist in Bibliotheken stehen."

[Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Enzyklop%C3%A4die_des_M%C3%A4rchens. -- Zugriff am 2006-10-12]


Abb.: Einbandtitel

Braak, Ivo <1906 - 1991>: Poetik in Stichworten : literaturwissenschaftliche Grundbegriffe ; eine Einführung / von Ivo Braak. -- 8., überarb. und erw. Aufl. / von Martin Neubauer. -- Berlin ; Stuttgart : Borntraeger, 2001. -- 351 S. : graph. Darst. -- (Hirts Stichwortbücher). -- ISBN 3-443-03109-9. -- Eine sehr brauchbare Einführung in die europäische (deutsche) Terminologie. Empfehlenswert. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}

Lüthi, Max <1909 - 1991>: Märchen / Max Lüthi. Bearb. von Heinz Rölleke [<1936 - >]. -- 10., aktualisierte Aufl. -- Stuttgart ; Weimar : Metzler, 2004. -- XIV, 136 S. ; 19 cm. -- (Sammlung Metzler ; Bd. 16). -- ISBN 3-476-20016-7. -- Klassiker. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}

"Max Lüthi (* 11. März 1909 in Bern; † 20. Juni 1991 in Zürich) war ein schweizerischer Literaturwissenschaftler und herausragender Märcheninterpret des 20. Jahrhunderts.

Leben

Zwischen 1928 und 1935 studiert Lüthi Germanistik, Geschichte sowie englische Literaturwissenschaft an den Universitäten Bern, Lausanne, London und Berlin, wo er in seinem letzten Studienjahr die Gymnasiallehrerprüfung ablegt. Ab 1936 ist er Hauptlehrer für Deutsch an der Zürcher Töchterschule. In Bern promoviert er 1943 mit der Arbeit Die Gabe im Märchen und in der Sage. 1968 wird er Professor für Europäische Volksliteratur an der Universität Zürich, 1979 wird er emeritiert.

Preise und Auszeichnungen
  • 1988 Europäischer Märchenpreis der Märchenstiftung Walter Kahn
Werke (Auswahl)
  • Die Gabe im Märchen und in der Sage. Ein Beitrag zur Wesenserfassung und Wesensscheidung der beiden Formen. Bern 1943.
  • Das europäische Volksmärchen. Form und Wesen. Eine literaturwissenschaftliche Darstellung. Bern 1947.
  • Shakespeares Dramen. Berlin 1957.
  • Volksmärchen und Volkssage. Zwei Grundformen erzählender Dichtung. Bern ; München 1961
  • Es war einmal. Vom Wesen des Volksmärchens. Göttingen 1962 (Kleine Vandenhoeck-Reihe; 136/137).
  • Märchen. Stuttgart 1962 (Sammlung Metzler. Realienbücher für Germanisten. Abt. E. Poetik; 16).
  • Shakespeare. Dichter des Wirklichen und des Nichtwirklichen. Bern 1964 (Dalp-Taschenbücher; 373).
  • So leben sie noch heute. Betrachtungen zum Volksmärchen. Göttingen 1969 (Kleine Vandenhoeck-Reihe; 294/295/296).
  • Volksliteratur und Hochliteratur. Menschenbild, Thematik, Formstreben. München [u.a.] 1970.
  • Das Volksmärchen als Dichtung. Ästhetik und Anthropologie. Düsseldorf 1975 (Studien zur Volkserzählung; 1).
  • Max Lüthi - Vom Wesen des Märchen. Heilbronn 1989 (Troubadour; 1989,1)."

[Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Max_L%C3%BCthi. -- Zugriff am 2006-10-19]

Mayer, Mathias <1958 - > ; Tismar, Jens <1942 - >: Kunstmärchen. -- 4., Aufl. -- Stuttgart ; Weimar : Metzler, 2003. -- IX, 166 S. ; 19 cm. -- (Sammlung Metzler ; Bd. 155). -- ISBN 3-476-14155-1. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}


5.2. Erzählforschung


"Die traditionelle Erzählforschung (auch Volksprosa-Forschung genannt) beschäftigt sich mit den von André Jolles als Einfache Formen bezeichneten Textsorten (z.B. Märchen, Sage, Schwank, Witz). Die moderne Erzählforschung schließt darüber hinaus auch die folgenden Erzählformen der Gegenwart mit ein: Alltagsgeschichte, Alltagserzählung, Arbeitserinnerungen, autobiografische Erzählung, Familien-Erinnerungsgeschichte, Krankheitserlebnisse und Krankenhauserinnerungen, Reiseberichte, moderne Sagen.

Finnische Schule

Wenngleich sich das Märchen aufgrund seiner einzigartigen Popularität für viele Jahrzehnte der mit Abstand größten Aufmerksamkeit erfreuen konnte, lässt sich heute selbst zu den weniger bekannten Gattungen - wie Exempel, Facetie oder Ortsneckerei – einiges an Sekundärliteratur finden. Grund dafür sind in erster Linie eine (für die gesamte Folkloristik institutionalisierte) internationale Zusammenarbeit sowie eine vergleichende Methodik seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hier ist besonders die Finnische Schule hervorzuheben, die mit ihrer geografisch-historischen Methode ab den 1880-er Jahren auf die irrationalistischen, mythologischen und romantischen Schulen des 19. Jahrhunderts reagierte und den Weg zu einer wissenschaftlichen Erzählforschung ebnete. Diese Methode sah vor, dass alle Varianten eines konkreten Erzähltyps miteinander verglichen werden sollten, um dadurch analytisch auf Alter, Ursprungsland, Wanderwege und Verbreitung schließen zu können. Als Begründer gelten die drei finnischen Erzählforscher Julius Krohn, sein Sohn Kaarle Krohn sowie Antti Aarne, auf dessen Arbeit auch der Aarne-Thompson-Index beruht. Der einflussreichste Vertreter wurde jedoch Walter Anderson, insbesondere aufgrund seiner hervorragenden Modelluntersuchung Kaiser und Abt von 1923.

Heutige Fragestellungen

Da die Finnische Schule nicht einmal theoretisch dazu in der Lage war, den an sie gestellten Anforderungen gerecht zu werden, wurde sie immer wieder scharf kritisiert. So entwickelten sich mit der Zeit mehr und mehr pluralistische Forschungsfragen, die vor allem kulturwissenschaftlich, literaturwissenschaftlich, psychologisch, religionswissenschaftlich, soziologisch oder auch strukturalistisch geprägt sind und von denen zwei im Folgenden kurz angerissen werden sollen.

Mündlichkeit/Schriftlichkeit

Mündliche Überlieferungen lassen sich aufgrund ihrer relativen Kurzlebigkeit höchstens bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts nachweisen; was die zahlreichen Jahrhunderte davor angeht, so ist man auf literarisch-schriftliche Quellen angewiesen. Was die Forschung nun beispielsweise unternimmt, ist die kritische Interpretation älterer Schriften mit Hilfe neuerer Aufzeichnungen aus der oralen Überlieferung. Ferner ergeben sich Fragen nach den Vermittlungsstellen zwischen mündlicher und schriftlicher Kultur, nach den Ursachen für die – teilweise bemerkenswerten – Traditionsfestigkeiten sowie den jeweiligen Auswahlprozessen.

Performanz

Im Gegensatz zur traditionellen Erzählforschung, der es lediglich um die Texte an sich ging, interessiert sich die neuere Folkloristik insbesondere für die so genannten Erzählerpersönlichkeiten: Wer genau ist eigentlich dieser Mann oder jene Frau, der bzw. die auf ein beträchtliches Repertoire an Märchen, Sagen, Witzen o.ä. zurückgreifen kann? Was lässt sich über deren soziale Stellung und was über ihre Kreativität sagen? Ebenso wichtig kann die Frage nach den Orten des Erzählens sein; bekommt man die Geschichten ausschließlich im familiären Kreis zu hören oder finden die Erzählvorgänge auch in öffentlichen Räumen statt?"

[Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Erz%C3%A4hlforschung. -- Zugriff am 2006-10-12]


5.3. Aarne-Thompson-Index / Aarne-Thompson-Uther


"Aarne-Thompson-Index, (Abkürzung im deutschen Sprachgebiet: AaTh) ist eine von Antti Aarne [1867 - 1925] für die internationale Erzählforschung entwickelte und von Stith Thompson [1885 - 1976] ergänzte Klassifikation von Märchen- und Schwankgruppen. Die englische Abkürzung lautet AT, was im Deutschen zur Verwechslung mit dem Alten Testament geführt hätte.

Entstehung und Aufbau

1910 schrieb Aarne das Verzeichnis der Märchentypen mit Hilfe von Fachgenossen, welches auf finnischen Sammlungen, auf den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm sowie auf der dänischen Sammlung Sven Grundtvigs basierte. Im Jahr darauf veröffentlichte er das Buch Finnische Märchenvarianten. Verzeichnis der bis 1908 gesammelten Aufzeichnungen. 1927 erfolgte die erste Erweiterung des Systems durch Thompson, 1961 mit The Types of the Folktale. A classification and bibliography die zweite. Im Jahr 2004 bearbeitete Hans-Jörg Uther [geb. 1944] von der Enzyklopädie des Märchens den Katalog neu (Aarne-Thompson-Uther bzw. ATU).

Abb.: Einbandtitel


Die Einteilung der Märchen- und Schwankgruppen folgt dem folgenden Schema (in Klammern jeweils die deutschen Bezeichnungen von Aarne aus dem Jahr 1910):

  • Animal Tales (Tiermärchen) lassen sich unter den Nummern 1–299 finden,
  • Tales of Magic (Zaubermärchen) unter 300-749,
  • Religious Tales (Legendenartige Märchen) unter 750-849,
  • Realistic Tales (Novellenartige Märchen) unter 850-999,
  • Tales of the Stupid Ogre (Märchen vom dummen Teufel/Riesen) unter 1000-1199,
  • Anecdotes and Jokes (Schwänke) unter 1200-1999,
  • Formula Tales [nicht bei Aarne] unter 2000-2400,
  • Unclassified Tales [nicht bei Aarne] schließlich unter 2401-2500.
Bedeutung und Kritik

Alle großen Erzählarchive der Welt sind nach diesem Index geordnet (z.B. in Bloomington, Kopenhagen, Marburg, Göttingen, Rostock). Er ist bis heute international verbindlich, trotz der häufigen Kritik, die sich sowohl in Eurozentrismus-Vorwürfen (wegen der Beschränkung auf europäische Varianten) als auch darin äußert, dass andere Erzähltypen (Sagen, Legenden etc.) ausgeklammert werden.

Literatur
  • Antti Aarne: Verzeichnis der Märchentypen mit Hülfe von Fachgenossen. Helsinki 1910 (Folklore Fellows' communications 3).
  • Antti Aarne: Finnische Märchenvarianten. Verzeichnis der bis 1908 gesammelten Aufzeichnungen. Hamina 1911 (Folklore Fellows' communications 5).
  • Antti Aarne, Stith Thompson: The types of the folktale. A classification and bibliography. Helsinki 1961 (Folklore Fellows' communications 184).
  • Hans-Jörg Uther: The types of international folktales. A classification and bibliography. Based on the system of Antti Aarne and Stith Thompson. Helsinki 2004.
    • Band 1: Animal tales, tales of magic, religious tales, and realistic tales, with an introduction. ISBN 951-41-0955-4
    • Band 2: Tales of stupid ogre, anecdotes and jokes, and formula tales. ISBN 951-41-0961-9
    • Band 3: Appendices. ISBN 951-41-0963-5
  • Hans-Jörg Uther: Zum neuen internationalen Typenkatalog. In: Märchenspiegel, November 2004. (S. 10-14)"

[Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Aarne-Thompson-Index. -- Zugriff am 2006-10-12]


5.4. Vladimir Jakowlewitsch Propp (Владимир Яковлевич Пропп): Morphologie des Märchens (Морфология сказки)


"Vladimir Yakovlevich Propp [Владимир Яковлевич Пропп] (St Petersburg, April 29, 1895 – Leningrad August 22, 1970) was a Russian structuralist scholar who analysed the basic plot components of Russian folk tales to identify their simplest irreducible narrative elements. His Morphology of the Folk Tale [Морфология сказки] was published in Russian in 1928; although it represented a breakthrough in both folkloristics and morphology and influenced Claude Lévi-Strauss and Roland Barthes, it was generally unnoticed in the West until it was translated in the 1950s.

Morphology

Propp extended the Russian Formalist approach to the study of narrative structure. In the Formalist approach, sentence structures in narrative had been broken down into analysable elements, or "morphemes". Propp used this method by analogy to analyse folk tales. Ignoring narrative tone or mood, or extraneous decorative detail, and breaking down a large number of Russian folk tales into their smallest narrative units, which he called functions, and some of his modern followers like to call "narratemes", Propp was able to arrive at a typology of narrative structures. By analysing types of characters and kinds of action in a hundred tales, Propp was able to arrive at the conclusion that there were just thirty-one generic "narratemes" in the traditional Russian folk tale. While not all are present in every tale, he found that all the tales he analysed displayed the functions in unvarying sequence. He claimed that “[F]ive categories of elements define not only the construction of a tale, but the tale as a whole.”:

  1. Functions of dramatis personae (see below)
  2. Conjuctive elements (ex machina, announcement of misfortune, chance disclosure – mother calls hero loudly, etc.)
  3. Motivations (reasons and aims of personages)
  4. Forms of appearance of dramatis personae (the flying arrival of dragon, chance meeting with donor)
  5. Attributive elements or accessories (witch’s hut or her clay leg)

“Morphologically, a tale (сказка) may be termed any development proceeding from villainy (A) or a lack (a), through intermediary functions to marriage, or to other functions employed as a dénouement. Terminal functions are at times a reward, a gain or in general the liquidation of misfortune, en escape from pursuit, etc. This type of development is termed by us a move (ход). Each new act of villainy, each new lack creates a new move. A tale can have several moves, and when analyzing a tale one must first determine the number of moves of which it consists. One move may directly follow another but they can also interweave.”

The summation of a typical Proppian analysis consists of an alphanumeric string representing the functions in the tale, for example:

αa5D1E1MF1Ta5BKNToQW*

As well as finding the 31 narrative functions of Propp's theory he also discovered that there are ONLY 8 broad character types in the one hundred tales he analysed:

  1. The villain (struggles against the hero)
  2. The donor (prepares the hero or gives the hero some magical object)
  3. The (magical) helper (helps the hero in the quest)
  4. The princess (person the hero marries, often sought for during the narrative)
  5. Her father
  6. The dispatcher (character who makes the lack known and sends the hero off)
  7. The hero or victim/ seeker hero, reacts to the donor, weds the princess
  8. False hero/ anti-hero/ usurper — (takes credit for the hero’s actions/ tries to marry the princess)
Criticism

This analysis has been criticized for entirely removing all verbal considerations from the analysis, despite the folktale's usual form being oral, and also all considerations of tone, mood, character, and, indeed, anything that differentiates one fairy tale from another."

[Quelle: http://en.wikipedia.org/wiki/Vladimir_Propp. -- Zugriff am 2006-10-12]


5.5. "Gattung" / Textsorte


"Die Gattung ist in der Literaturwissenschaft ein aus der Poesiediskussion übernommenes Konzept einer grundsätzlichen und systematischen Gliederung der ehemals poetischen, jetzt literarischen Werke unter produktionstechnischen und aufführungspraktischen Gesichtspunkten. Die zumeist vertretene Gliederung definiert im Rückgriff auf die aristotelische Poetik die Felder Epik, Lyrik und Dramatik, die ihrerseits traditionell in "hohe" ernste und "niedere", komische Gattungen geschieden werden, in denen die Verwendung von Prosa und Vers für eine weitere Untergliederung der Stilhöhe sorgt.

Ergänzt wurde das sehr unscharfe und abstrakte Konzept, das für viele literarische Traditionen der Neuzeit, wie etwa für den Roman, im Grunde keinen Platz hat, durch ein vielfältig untergliederndes Sprechen von Moden, Genres, und, jünger, Textarten und Textsorten.

Geschichte

Gattungskonzepte und Optionen der Poesie respektive Literaturkritik

Der wichtigste Ort von Aussagen über die Gattungen waren bis weit in das 18. Jahrhundert hinein die Poetiken - Werke, die dem eigenen Vorgeben nach über die Regeln in der Poesie unterrichteten. Kunden dieser Werke sollten (so die Vorreden) die Autoren poetischer Werke sein. Sie sollten hier Anleitungen erhalten, wie sie in den Gattungen zu arbeiten hätten. Von geringerem Belang war dagegen die Benennung von Gattungen auf den Titelblättern von Romanen und Dramen. Die Kunden poetischer Werke erhielten die weit genaueren Informationen darüber, was sie erwarben, in den Kurzabrissen der Handlungen auf den Titelblättern, in Aussagen zum Lesegenuss, den der Text erlaube, in Auskünften über den Stil, in dem der Autor schrieb. Titelblätter waren ausführlich in all diesen Punkten, die weit mehr sagten als ein Gattungsbegriff hätte sagen können.

Zwischen Poetiken und den poetischen Werken tat sich durchgängig eine Kluft auf: Poetiken notierten zwar, wie Tragödien und Komödien abzufassen seien - auf dem Markt bestand dagegen ein weitgehend ungeregeltes Spiel der Genres, das der Autor erlernte, indem er die laufende Produktion verfolgte. Poetiken und ihre Aussagen zu Gattungen erschienen demgegenüber unter Gesichtspunkten der Gelehrsamkeit. Ihre Aufgabe wurde effektiv die Kritik der laufenden, sich an die Vorgaben kaum haltenden Produktion.

Der Kritik eröffneten sich mit den Gattungen und den zu ihr bestehenden Informationen flexible Optionen, mittels derer sie auf aktuelle Werke eingehen konnte: Stücke konnten

  • die Regeln der Gattungen einhalten und deswegen gut sein,
  • schlecht sein, obwohl sie die Regeln einhielten,
  • schlecht sein, weil sie (derart sklavisch) Regeln befolgten, statt poetisches Talent zu beweisen, sie konnten endlich nicht minder
  • gut sein, weil sie die Regeln verletzten, und einem poetischen Genie folgten.

Die Kritik selbst konnte sich spalten zwischen Parteigängern, die eine Modifikation des Gattungskanons einklagten und Kritikern, die eine Rückkehr zu einem klassischen Gattungssystem verlangten.

Während im 17. und 18. Jahrhundert Poetiken die Vorstellung verteidigten, dass die einzelnen Gattungen prinzipiell nach Regeln zu verstehen seien, setzte sich in der Literaturwissenschaft des 19. Jahrhunderts eine Historisierung des Gattungskanons und eine kulturelle Differenzierung durch: die Theorie, dass das Gattungsgefüge vielfältige kulturelle und historische Ausprägungen fand. Der Literaturkritik des 19. Jahrhunderts eröffnete diese Relativierung Freiräume: Werke konnten nun den Konventionen einer Zeit oder Kultur folgen - oder diese verletzen, das ließ sich von nun an mit Fortschrittsgedanken und Reflexionen der Literaturgeschichte verbinden: Werke konnten "antiquiert" oder "epigonal" alten Gattungskonventionen verpflichtet sein, sie konnten "Klassizität" erlangen, indem sie Traditionen wiederbelebten, sie konnten in den Augen der Kritik ausländischen und fremden Vorbildern folgen oder unterliegen, sowie mit alten Vorgaben im Rahmen neuer "Bewegungen" und "Strömungen" brechen. Die Literaturkritik stellte im selben Moment zur Diskussion, wie sich das besprochene Werk in die Literaturgeschichte einordnete - innerhalb des Austauschs, der nun die Literatur schuf.

Das Gefüge der Gattungen im Wandel

Das Spektrum der gegenwärtig von der Literaturwissenschaft verhandelten literarischen Gattungen bildete sich weitgehend im 19. Jahrhundert heraus. Vorangegangen war dem heutigen Spektrum der literarischen Gattungen das der poetischen, das mit dem späten 17. Jahrhundert in eine intensive Diskussion geriet. In Frankreich beherrschte die von Nicolas Boileau herausgegebene Poetik die gelehrte Diskussion, im deutschen Sprachraum gewann in den 1730ern Johann Christoph Gottscheds Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen (Leipzig 1730) eine größere Bedeutung mit der Forderung einer Rückkehr zum Schema der Gattungen nach Aristoteles.

Die Rufe, zum aristotelischen Gattungsspektrum zurückzukehren, standen von Anfang im Zeichen einer scharfen Auseinandersetzung mit dem aktuellen Marktgeschehen. Angriffe zog hier vor allem die Oper auf sich, die unter Autoren des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts als das hohe Drama der Moderne im Raum stand. Der Debattenschub der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bewegte die Oper erfolgreich aus der Poesiediskussion - sie gehört seitdem eher zur Musikgeschichte. Ein zweiter Diskussionsschub setzte Mitte des 18. Jahrhunderts ein und führte zum Bruch mit der aristotelischen Poetik: Mit dem bürgerlichen Trauerspiel wurde die Position der antiken Tragödie im Gattungsschema relativiert: Das moderne Trauerspiel konnte anders als das der Antike durchaus auch in Prosa verfasst sein - in Sprache der bislang "niederen" Stilebene. Gleichzeitig war mit dem neuen Trauerspiel das Gesetz der Fallhöhe des tragischen Helden aufgehoben: Der Held oder die Heldin einer Tragödie konnten bürgerlichen Standes sein.

Die Neudefinition auf dem Gebiet der Dramatik hatte Mitte des 18. Jahrhunderts Einfluss auf das Gebiet der Epik. Bislang lag hier ein Vakuum: Das Epos der Antike kannte ein hohes und ein satirisches Genus - in der Moderne hatten sich heroische Epen fast nur noch in der Panegyrik antreffen lassen. Anfang des 18. Jahrhunderts hatte man vorübergehend diskutiert, ob nicht der Roman das Epos der Moderne war - die Veröffentlichung von Fénelons Telemach (1699/1700) legte den Gedanken nahe: Fénelons Roman konkurrierte mit den Epen Vergils und Homers und überbot diese nach allgemeiner Sicht im Stilbewusstsein, wie in der Beachtung der Gattungsregeln - dem Telemach fehlte allein die Abfassung in Versen. Der Roman blieb am Ende weiterhin außerhalb des Spektrums poetischer Gattungen, da Fénelons Werk deutlich eine Ausnahme blieb. Diese Situation änderte sich in dem Moment, in dem das bürgerliche Trauerspiel Mitte des 18. Jahrhunderts als vollwertige Tragödie anerkannt wurde. Die Werke Gotthold Ephraim Lessings zeigten sich dem Roman Samuel Richardsons verpflichtet. Wenn Sarah Sampson eine Tragödie war, dann waren die Romane der Gegenwart die korrespondiere epische Produktion. Der Roman verließ darauf hin das Feld der dubiosen Historien und wechselte in das Feld der poetischen Gattungen, das in den nächsten Jahrzehnten eine neue Benennung erhielt: aus ihm wurde das Feld der literarischen Gattungen.

Das 19. Jahrhundert brachte die klassische Neuaufteilung des Feldes in dramatische, epische und lyrische Gattungen. ("Poetry" wurde im Englischen und anderen umliegenden Sprachen der Dachbegriff für alle kleineren Gattungen in gebundener Sprache.) Das Feld des dramatischen erweiterte sich mit der Farce und dem Melodram um populäre Gattungen, das Feld der epischen Gattungen erweiterte sich mit der Novelle, der Erzählung und der Kurzgeschichte um ungebundene Kleingattungen.

Der Diskurs über die Gattungen, bislang Domäne der Poetiken wurde Aufgabenfeld der Literaturgeschichtsschreibung. Diese gestand den Kulturen und den Epochen eigene Gattungsspektren zu. Das Sprechen von Gattungen verlor im selben Moment an Kontur, da von nun an beliebige Varianten von Gattungen definierbar waren. Literaturwissenschaftliche Arbeiten bündelten nach Belieben Werke und schufen dabei Gattungen wie das den Artusroman, die Spielmannsdichtung oder das absurde Theater. Ein weiterer Diskurs über Genres und Moden erlaubte die eingehenderen Blicke auf den sich entwickelnden Markt und die flexible Auseinandersetzung mit dem Marktgeschehen.

Aktuelle Interessen an einer Definition der Gattungen

Ein neues Interesse an der alten Gattungsdebatte kam im 20. Jahrhundert mit dem russischen Formalismus und den von ihm ausgehenden Diversifikationen des Strukturalismus auf. Die Frage war und ist hier, ob nicht ungeachtet der Flexibilität, die sich im Sprechen über Gattungen herstellte, wissenschaftlich bestimmbare Kategorien bestanden. Die hier einsetzende Debatte erwies sich in Brückenschlägen in die Linguistik und die linguistische Texttheorie fruchtbar. Moderne Richtungen der Computerphilologie unterstellen heute, dass die automatische Spracherkennung eines Tages in die Lage kommen könnte, literarische Sprechweisen zu erkennen. Eine allenfalls neue Gliederung der textlichen Produktion in Textsorten oder, konventioneller ausgedrückt, in Gattungen würde dann mit statistischen Verfahren wie PCA automatisch passieren. Die resultierenden Gattungen könnten vom Menschen benannt und verwendet werden. Eine Gattung wäre dann vielmehr eine Dimension, und jeder Text gehörte zu einem gewissen Teil zu jeder Gattung. Entsprechende Arbeiten gibt es bereits in der Musik, wo Musikstücke dann von einer Gattung in eine andere transformiert werden können. Aus einem Jazzstück wird eine klassische Oper, aus einem Popsong eine Symphonie.

Ein etwas anders gelagertes Interesse an den Gattungen besteht demgegenüber in den historischer ausgerichteten Zweigen der Literaturwissenschaft wie der Buchgeschichte und den Forschungsfeldern des New Historicism: Hier interessieren vor allem Produktionsbedingungen, Rezeptionshaltungen des Publikums, Modalitäten im Austausch zwischen der Kritik und dem sich entwickelnden Buchmarkt und Bühnenbetrieb. Die Gattungen und Genres interessieren dabei als Konzepte, über die Ware ins Angebot kam und kommt, mittels derer Erwartungshaltungen angesprochen werden, innerhalb derer Konfrontationen zwischen Autoren, Kritikern und Lesern stattfinden."

[Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Gattung_%28Poesie/Literatur%29. -- Zugriff am 2006-10-12]

"In der Sprachwissenschaft, bzw. Textlinguistik ist der Begriff Textsorte nicht einheitlich definiert, grundsätzlich kann die Textsorte jedoch als eine Gruppe (siehe Gattung) von Texten (schriftliche, wie auch mündliche) angesehen werden, die sich durch bestimmte Bündel von Merkmalen auszeichnen.

Textsortenforschung

Die Textsortenforschung verfolgt das Ziel, Texte an Hand ihrer jeweils charakteristischen Merkmale einer Textsorte zuzuordnen und diese zu beschreiben. Dabei werden sowohl innere als auch äußere Faktoren der Texte analysiert: die Klassifizierung erfolgt nach Form und Gebrauch eines Textes. Dabei können Unterschiede zwischen schriftlichen und mündlichen, Literatur- und Gebrauchstexten, wissenschaftlichen und nicht wissenschaftlichen Texten u. a. erschlossen werden. Die Forschung stellt sich dabei auch der Problematik, ob Textsorten einer generellen Typologie von Texten unterliegen oder ob sie diese im Einzelfall erst schaffen.

Kriterien zur Textsortenbestimmung

Einen Text anhand gewisser Merkmale einer bestimmten Textsorte zuzuordnen fällt uns im Alltag leicht, in der Linguistik ist jedoch die theoretische Begründung solcher Kriterien zur Textsortenbestimmung schwierig. Allgemein kann aber zwischen textinternen und textexternen Kriterien unterschieden werden :

Die textinternen Kriterien sind an die Text-Oberfläche und an die Text-Tiefenstruktur gebunden. An die Text-Oberfläche gebundene Kriterien sind beispielsweise lautlich-paraverbaler (bzw. graphischer) Natur (im schriftsprachlichen Bereich wird z.B. zwischen Handschrift, Maschinenschrift und Druck unterschieden), der Wortschatz und das Satzbaumuster (so ist es unwahrscheinlich in Liebesbriefen geballte Nominalkonstruktionen und gehäufte Partizipialgefüge vorzufinden). An die Text-Tiefenstruktur gebundene Kriterien sind unter anderem das Thema (deutlich sichtbar an der Benennung von Textsorten z. Bsp. Kochrezept), die Themenbindung und der Themenverlauf (z.B. wird bei einem Vortrag meist ein einziges Thema durchgehalten, beim Privatbrief variiert es oft).

Die textexternen Kriterien sind an den Kommunikationszusammenhang gebunden. Dazu gehören hauptsächlich die Textfunktion (z.B. Urteil vs. Gesuch), das Trägermedium (z.B. Brief vs. Telefonanruf) und die Kommunikationssituation, in die ein Text eingebettet ist (bestimmt durch Faktoren wie Zeit, Ort, Umstände und soziales Umfeld).

Forschungsinteresse

Eine Zuordnung von Texten zu Textsorten vermittelt in der Sprach- und Literaturgeschichte Erkenntnisse über die Entstehung von Texten, ihre historischen Formen und ihre Entwicklung unter sich verändernden sprachlichen, sozialen u. a. Einflüssen. Ein weiteres Interesse der Textsortenforschung in Hinblick auf die Wissenssoziologie ist die Verknüpfung von Textsorten mit Medien und Kommunikationsmitteln sowie deren Verwendung und Verbreitung."

[Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Textsorte. -- Zugriff am 2006-10-12]


Zu Kathāsaritsāgara I,1