Karl Bernhard Seidenstücker (1876-1936) : Leben, Schaffen, Wirken

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Kapitel 14: Auslegung der Lehre durch Seidenstücker


von Ulrich Steinke

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Steinke, Ulrich: Karl Bernhard Seidenstücker (1876-1936) : Leben, Schaffen, Wirken. -- Kapitel 14: Auslegung der Lehre durch Seidenstücker. -- Fassung vom 28. Juni 1996. -- URL: http://www.payer.de/steinke/steink14.htm. -- [Stichwort].

Letzte Überarbeitung: 28. Juni 1996

Anlaß: Magisterarbeit, Universität Tübingen, 1989

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14.0. Übersicht



In den beiden Artikeln Frühbuddhismus und Zur Heilsweg-Lehre im Frühbuddhismus, in den beiden letzten Nummern der Zeitschrift für Buddhismus, seiner letzten Publikation, legte Seidenstücker nochmals ausführlich sein Verständnis von der Lehre des Buddhismus dar. [Zeitschrift für Buddhismus 9 (1931), S. 193-259, 291-356]. (Es war ihm jedoch nicht vergönnt, seine Ausführungen vollständig darzulegen da die Zeitschrift einging. Erst dreißig Jahre später erschien die Fortsetzung, die wesentlich eine Vertiefung bildete, in Die Einsicht [13 (1960). -- S. 103-120, 129-149]):


14.1. Zum Frühbuddhismus


Gleich allen anderen großen indischen Lehren, geht die buddhistische aus von der Voraussetzung der Wiedergeburt, Samsâra, Karma und einem unzerstörbaren Wesenskern, der Wirklichkeit des Menschen. Buddha sah dieses flüchtige Erdenleben als nur winzig kleines Glied in einer unübersehbaren Kette von Existenzen, das sich von den Verstrickungen (upadhi) in die Werdeprozesse (sa.nkhârâ) lösen kann. Dies ist keinesfalls eine radikale Vernichtung.[228]

Höchstes Ziel (paramattha) der Buddha-Lehre (wie auch der anderen altindischen Lehren) ist es, das Todlose zu finden. So begann Buddha seine Lehrtätigkeit mit den Worten: »Leihet Gehör, ihr Mönche, das Todlose (amata) ist gefunden!« (Mv 1,6; M 26). In den alten buddhistischen Texten - also vor allem im Sutta- und Vinaya-Pitaka, sooft diese Überlieferungen auch von den Theravâdins durchgesiebt und in ihrem Geiste redigiert worden sein mögen, ist die ursprüngliche Lehre zu finden. Buddha war keineswegs pessimistisch sondern unübertroffener Meister im Ausmalen der lichten Seiten des Lebens [231], nur gilt es, zu erkennen, daß körperliches Labsal aufgrund der Vergänglichkeit in Leiden endet. Buddha nahm Leiden (dukkha) zum Thema seines vierfachen Satzes, weil die Empfindungs- und Gefühlsseite den Menschen am meisten anspricht. Die Verstrickung (upadhi) in der Welt ist die Voraussetzung für das Zustandekommen dieses Lebens und Leidens. Um dies genauer zu zeigen, verkündete der Buddha den Paticcasamuppâda. Dieser sollte nur bedingt als zeitliches Nacheinander gesehen werden, dann aber (entsprechend der Theravâda-Auslegung) in der zwölfteiligen Form drei Existenzen umfassend, oder in der zehnteiligen Version zwei Existenzen. Allerdings bedingen sich nâma-rûpa und viññâna gegenseitig wie Licht und Wärme. Die samskârâ sind -- wie anderswo auch -- im Sinne von karman zu verstehen. Nach Anguttaranikâya X, 208 ergab sich für Seidenstücker die Auffassung, daß bei der Wiedergeburt der gandhabba das citta, in welchem die karmische Saat ruht, mit hinübernimmt. [341]

Der Buddhismus scheidet aufgrund der meditativen Erfahrungen die Welt in Sinnenlust-Region, Form-Welt und Nichtform-Welt (Dî 33,1 u.a.). Diese letzteren verwirklicht der Meditierende und überwindet sie dadurch. Er erlangt den nirodha-Bereich, ein reales Element (dhâtu), ein Reich, das dem Sterben entrückt ist (amaccudheyya) (M 34). Dies offenbarte Buddha in feierlichen Aussprüchen: »Es ist (atthi!), ihr Mönche, jenes Gebiet (âyatana)...« (Ud.8,1). Diese höchste Realität ist unfaßbar, diesbezügliche Fragen führen nur zu Grübeleien und werden deshalb abgewiesen und auch die feinstoffliche Leiblichkeit, die es gibt (M 77 u.a.), hat nichts mit unserem tiefsten Wesen zu tun. Für den Buddha gehörte das Irrationale zur Realität. Die Unwilligkeit des Buddha's, über den Atta zu reden, sieht Seidenstücker in der vielfachen Verwendung und den verschiedenen Auslegungen des Wortes zu Buddha's Zeit. Aber die Tatsächlichkeit des Erlösten nach seinem letzten Tode ist außer Zweifel, davon zeugen zahlreiche Stellen: »Von dem, was man körperliche Form, Empfindung, Wahrnehmung, Gemütsregungen, Bewußtsein nennt, freigeworden, ist der Erlöste (tathâgata) gar tief, unermeßlich, unergründlich, wie das große Meer.« (M 72) »Für den Heimgegangenen (atthamgatassa) gibt es kein Maß...« (Sn 1076). Der Begriff »parinibbuta, vollkommen erloschen« darf nicht als perfekte Zerstörung betrachtet werden, sondern muß im kulturellen Zusammenhang verstanden werden: Das Feuer-Element tritt aus seiner zeitweiligen Erscheinungsform zurück in den latenten ursprünglichen Element-Zustand. Genauso hört der Erlöste, wenn er völlig erlischt, auf sinnfällig, als Erscheinungsform feststellbar (na upeti samkham) (Sn 209) zu sein, er heißt deshalb einfach der Heimgegangene (attha.mgata). Auf den Einwand, daß Buddha das Sein nach dem Tode niemals bejaht habe, stellt Seidenstücker zunächst klar, daß es nirgendwo heißt: »atthi [ist] tathâgatho parammaranâ«, sondern stets »hoti [wird]...« Die jenseitige Realität war immer unbestritten, die Werdeprozesse, also Lebensvorgänge irgendwelcher Art waren umstritten. Es gibt verschiedene Stellen, in denen der Mensch "atta" genannt wird: »Was meint ihr, Jünglinge, ist besser: wenn ihr das Weib sucht oder wenn ihr euer Selbst (attâ) sucht?« (Mv 1,14). Anatta wird ferner in den alten Texten vorwiegend als Substantiv gebraucht und sollte dementsprechend als "Nicht-Selbst" übersetzt werden, nicht adjektivisch als "wesenlos" ("wesensfremd" ginge zur Not). Es gibt zahlreiche Stellen, in denen Buddha durch die Betonung von anatta, amama, akiñcana den ahamkâra-Gedanken niederzuzwingen bestrebt ist. Und amata wird nach Seidenstücker von Buddha synonym mit zahlreichen Ausdrücken dargestellt: nibbâna, anuttara yogakkhema etc. Zwei Stellen des Alagaddûpama-Sutta (M 22), die nach Anschauung von Dahlke oder Pischel den Atta unverblümt leugnen, weist er zurück: Daß der Atta nicht erfaßbar ist heißt nicht, daß er nicht existiert.

An anderen Stellen heißt es, daß der Tathâgata ebenfalls nicht erfaßbar ist, doch dessen Existenz ist unbestritten. Und wenn der Atta im Zusammenhang mit dem falschen Persönlichkeitsglauben (sakkâyaditthi) verurteilt wird, so bezieht sich dies auch darauf.


14.2. Zum Nirvâna


Über das Nirvâna hatte sich Seidenstücker bereits früher in seiner Abhandlung über das Udâna klar geäußert. Dort nimmt Seidenstücker Bezug auf seinen früheren Lehrer Pischel, der das Nirvâ.na nihilistisch aufgefaßt hatte als "ewigen Tod". [Pischel, Richard: Leben und Lehre des Buddha. -- Leipzig, 1906. -- 2. Aufl. -- 1910. -- S. 74; -- In: Buddhistische Warte 3 (1911/12). -- S. 45f. hatte Seidenstücker dieses Buch und Pischel noch uneingeschränkt gelobt]. Seidenstücker widerspricht ihm.

"Wie die indische Spekulation vielfach ihre eigenen, oft seltsamen Wege gegangen und zu Ergebnissen gelangt ist, die uns fremdartig genug anmuten, - so dürfen wir uns auch bei der Beurteilung des Parinibbâna-Problems nicht einseitig von Gesichtspunkten leiten und zu Schlüssen verleiten lassen, die unserm modernen Vorstellen und Empfinden entspringen; denn der Inder vermag unter Umständen selbst da noch begriffliche oder außerbegriffliche Möglichkeiten zu sehen, wo für den realistisch denkenden Abendländer das Nichts gähnt. Und ich meine, die Pitaka-Texte sprechen deutlich genug. Wenn Buddha z.B. in Majjhima 72 die vier Paramar.nâ-Thesen als »nicht zutreffend« ablehnt und den Postmortem-Zustand des Erlösten»tief, unermeßlich, unergründlich wie das große Meer« nennt, -- so beweist allein schon diese Stelle, daß für die altbuddhistische Vorstellung abseits und neben den innerhalb des Samsara liegenden Existenzmöglichkeiten noch etwas anderes vorhanden war, das gänzlich außerhalb der fünf Daseinsarten (pañca gatiyo) liegend und als von diesen grundverschieden gedacht wurde. *(Anm....) Eben dies - das Parinibbâna oder die Anupâdisesa-Nibbâna -- ist, worauf die ihm beigelegte Bezeichnung »asankhatâ dhâtu« schließen läßt, ein Einheitliches, Verharrendes und unbedingt Reales [126] im Gegensatz zu dem »sa.nkhata« und »anicca«, dem Bedingten, Zusammengesetzten und beständig Wechselnden innerhalb der Welt (vergl.A.nguttara 3,47). *(Anm....) Und das Verhältnis dieser einheitlichen, wechsellosen Wirklichkeit zur Welt resp. zum Kreislauf der Existenzen kann nur so aufgefaßt werden, daß der Abschluß und Stillstand des Sa.msâra und das Zurruhekommen der Sa.nkhâraszugleich das Offenbarwerden oder Sichenthüllen der Anupâdisesanibbâna-dhâtu bedeutet.

Da nun das Parinibbâna als außerhalb aller Daseinsformen (dhammâ) und aller uns gegebenen Vorstellungsmöglichkeiten liegend gedacht werden muß (...), so ist es für Buddha das Undefinierbare, Unbestimmbare und Bestimmungslose, für welches unsere Begriffe sämtlich »nicht zutreffen«, und das niemals positiv mit Worten beschrieben, sondern nur im Samâdhi erlebt werden kann. Daher alle die negativen Termini in den erwähnten Udânas; daher wohl auch letzten Grundes die beharrliche Weigerung Gotamas, das Parinibbâna positiv zu definieren.

Die Anupâdisesa-nibbâna-dhâtu im Sinne Buddhas darf also, wenn wir uns mit den Pitaka-Texten nicht direkt in Widerspruch setzen wollen, keinesfalls als »der ewige Tod«, d.h. als absolute Vernichtung gedeutet werden; sie kann nur als die jenseits von Welt und Individuum liegende und von jener durch eine unendlich tiefe Kluft geschiedene unbestimmbare und bestimmungslose transzendentale Realität verstanden werden, über deren »tiefes, unergründliches, unermeßliches, meergleiches« Wesen in positiven Worten selbst ein Tathâgata keinen Aufschluß zu geben vermag.Daß nach der kanonischen überlieferung Buddha an eine solche alles Begriffsvermögen übersteigende Realität geglaubt hat,wird durch die angeführten Pi.taka-Texte expressiv verbis bestätigt.**(Anmerkung: Man beachte namentlich das »atthi bhikkave tad-âyatana.m« in Ud.VIII,1 und das »atthi bhikkave ajâta.m abhûta.m« usw. in Ud.VIII,3)"
[Das Udana : eine kanonische Schrift des Pali-Buddhismus. -- Leipzig : Kommissionsverlag H.Tränker, 1913. -- Erster Teil: Allgemeine Einleitung. - S. 126f.]

Zusammenfassend ergibt sich für Seidenstücker über den Frühbuddhismus:

  1. " Der Erlöste (tathâgata) jenseits des Todes als eine Wirklichkeit wird ausdrücklich behauptet.
    Damit ist
  2. der eigentliche Mensch als Wirklichkeit sichergestellt.
  3. Der eigentliche Mensch ist nicht in der Persönlichkeit (Geist-Leiblichkeit) bestanden, wohl aber im unerlösten Zustande in diese und damit in die Welt verstrickt.
  4. Das Wesen des Menschen ist gedanklich und begrifflich nicht zu erfassen, nicht begreifbar zu machen; der Erlöste ist seiner Natur nach »tief, unermeßlich, unergründlich, meergleich.«
  5. Daher ist es unmöglich festzustellen, welcher Art die Verstrickung unseres Wesens in den ihm wesensfremden Komplex von »Beilegungen« im Einzelnen ist.
  6. Aus 1 folgt, daß der Zustand des Erlösten jenseits des Todes (parinibbâna...) unmöglich »der ewige Tod«, d.h. absolute Vernichtung (Pischel), noch auch eine bloße Negierung der Werde-Prozesse innerhalb des Samsâra, etwa »ein schlichtes Nicht-mehr« (Dahlke) sein kann."

[Zeitschrift für Buddhismus 9 (1931). -- S. 217].


14.3. Auslegung des Pfades


Ungeachtet dieser Auslegung ist der vierfache Weg vom Leiden, von dessen Entstehung, Aufhebung und dem zu begehenden Weg die eigentliche Lehrverkündigung der Erwachten (buddhâna.m sâmukka.msikâ dhammadesanâ). Das Ziel des Weges ist Nibbâna bzw. alle Synonyma: Aufhebung der Persönlichkeit, Loskommen vom Werden, Geisteserlösung (cetovimutti) u.a. Es wird keineswegs durch einen Erkenntnisakt schlechthin erwirkt, sondern ist bedingt durch sittliche Zucht. Seidenstücker unterteilt verschiedene Darstellungen des edlen mittleren Weges dreifach:

Der Mittelpunkt des achtteiligen Weges ist sammâsamâdhi, zunächst ein großer Sammelplatz, der mannigfache »Konzentration« in sich begreift. Samâdhi ist Vorbedingung für jedes Jhâna, die ihrem Wesen nach Samâdhi in stärkster Ausprägung sind. Weiter ist Samâdhi der Gesamtname für die mannigfachen geistigen übungen, die sonst als Bhâvanâ oder Adhicitta-sikkhâ bezeichnet werden. Sammâsamâdhi differenziert Seidenstücker als sâsava und ariya.

Der Sâsavasamâdhi reift noch innerhalb des upadhi und gereicht den Weltmenschen zu günstigerer Wiedergeburt. Der Ariyasamâdhi, zu dessen Rüstzeug das sechste und siebente Glied des Pfades gehören (sammâvâyâma und sammâsati), ist für den Pfadjünger gedacht: Samâdhi stellt die Form der Kontemplation dar, Sati ihre Materie und Vâyâma die erforderliche Kraftentfaltung. [315] Anhand des Cattârîsaka Sutta (M 117) erklärt Seidenstücker die acht Glieder, die als Begleiterscheinung die vier Grundlagen magischer Kräfte (iddhipâdâ), die fünf geistigen Fähigkeiten (indriyâni), die fünf geistigen Kräfte (balâni) und die sieben Weisheitsmale (sambojjhangâ) haben. [322] Dem mit den acht Tugenden des Pfades ausgestattetem Schüler (sekha) eignet das rechte Wissen und die rechte Erlösung, damit wird er zum mit zehn Eigenschaften ausgestatteten Arahat.

Das Cûlavedalla-Sutta (M 44) gibt Auskunft, wie die vierteilige Sekhapatipadâ als Zusammenfassung des achtfachen Pfades zu verstehen ist: Als erstes Glied umfaßt sittliche Zucht (sîla) die Glieder 3, 4, 5 (rechtes Reden, Handeln und Lebenführen);zweitens umfaßt die Sammlung (samâdhi) die Glieder 6, 7, 8 (rechter Kampf, Gedenken und Sammlung), drittens umfaßt Weisheit (paññâ) die Glieder 1 und 2 (rechte Sicht und Gesinnung). Als viertes erfolgt die Erlösung (vimutti). Näher betrachtet ist es nötig, daß, nachdem ein Mensch Glauben (saddhâ) gefaßt hat, er sich zunächst in sîla übt: Zufriedenheit (santu.t.thi), Bewachung der Sinnentore (indriyesu guttadvâratâ) und Maßhalten beim Essen (bhojane mattaññatâ) führen zu Wachen (jâgariyâ) und Vollbewußtheit (sati-sampajañña) und damit ist die Voraussetzung für Geistesentfaltung (bhâvanâ) oder Sammlung (samâdhi) erreicht. Die Loslösung (vimutti) von der Verstrickung (upadhi) mit der Erscheinungswelt (papañca) geschieht auf zwei Wegen: einmal zeitweilig durch eine Niederzwingung des Durstes (ta.nhâ) als zeitweilige volle Beruhigung (samatha), offensichtlich durch Yoga geprägt, [340] und weiter durch Einsicht (vipassanâ) in die wahre Natur der Verstrickung (upadhi), die unstet (anicca), leidvoll (dukkha) und Nicht-Selbst (anatta) ist und der darausfolgenden vollständigen Aufhebung der Durstursache.

Die vier Vertiefungen (jhânâ) sind objektunabhängig und stellen nur einen vierfach sich staffelnden geistigen Zustand dar, dersich einstellt, sobald der Samâdhi nach dem Zurruhekommen der fünf Hemmungen die größte Stärke erreicht hat. Diese auch hohe Geistesschulung (adhicittasikkhâ) genannte zweite Stufe des Heilsweges hat die Pflege des inneren Organs (citta, cetas) zum Gegenstande. Citta ist - wie in der gesamten altindischen Schau - ein feinstoffliches gestalt- und formbares Gebilde. Hauptaufgabe des Kontemplanten ist es, citta in seine Gewalt zu bekommen. Für jeweils verschiedene Charaktere gibt es besonders geeignete übungen (z.B. für begehrliche Naturen die Leichenbetrachtungen etc.). Doch der Großteil dieser Ausführungen gelangte erst später in den Kanon und ist widersprüchlich, deshalb wäre es vergebliche Liebesmühe, sie in ein festes System bringen zu wollen. Die wichtigsten sind die Vipassanâ-Kontemplationen, die Betrachtungen des Unreinen (asubhabhâvanâ), Atemkontrolle, Selbstprüfung (paccavekkhanâ), Verkostung der Weltabkehr und Aufhebung (virâga- und nirodhasaññâ) und die »vier großen Betrachtungen« (satipa.t.thânâ), die so wichtig sind, das sie als siebtes Glied des Pfades (sammßati) exemplifiziert sind. Die vier Durchstrahlungen (phara.na.m), unter denen die Brahma-Zustände (brahmavihârâ), Unermeßlichkeiten (appamaññâ), oder Erweckungen/Entfaltungen (bhâvanâ) zusammengefaßt sind, dienen der Erbauung des Gemüts vor allem. Die vier Vertiefungen (jhânâ) ausführlich zu beschreiben verwehrte sich Seidenstücker, da dies nur einem Menschen vergönnt ist, der diese »leibhaftig« (kâyena) erfahren hat. ("Das Betreten dieses geistigen Neulandes wurdeschon in älterer Zeit von den Buddhisten selbst als nicht ganz ungefährlich für den nicht genügend Vorbereiteten angesehen [Anm...] Und wenn irgendeine Epoche jhânafeindlich genannt werden kann, so ist es die Zeit, in der wir leben.") [354] Wir erfahren, daß in der ersten Vertiefung die sinnliche Wahrnehmung, in der zweiten die Reflexion, in der dritten die Verzückung und in der vierten Ein-und Ausatmen zur Aufhebung gelangen.


14.3.1. Kritik an Seidenstücker's Auslegung


Zu dieser Auslegung schrieb Fritz Würffel (1891-1951) einen Offenen Brief an Seidenstücker, der drittletzten Ausgabe von Der Buddhaweg und wir Buddhisten [4. Jg. Nr. 4 (Dez. 1931). -- S. 44-47] veröffentlicht wurde, und als möglicher Auftakt zu einer "lehrreichen Debatte" beschrieben wurde. Die Diskussion wurde jedoch öffentlich nicht weitergeführt, sondern endete in einem Briefwechsel zwischen Grimm und Würffel, nachdem Würffelim folgenden Heft einen Syllogismus aufgestellt hatte, mit dem er die Unmöglichkeit einer Transzendenz beweisen wollte.

Würffel gab zu bedenken, daß Seidenstücker durch seineAuslegung einen Atta postulierte und damit einen Dualismus schaffe welcher dem Gegensatz des Unbedingten und des Bedingtenentspreche. Die beiden Gegensätze könnten nur durch die Einführung eines Theismus zueinander in Beziehung treten und diese "Transmutation des Vollkommenen ins Unvollkommene" kann nicht gedacht, sondern nur geglaubt werden. Warum sollte in dem "kristallklaren Lehrgebäude" der "Ausweg in die Mystik" gesucht werden?

"Was sich mit Karma beladen kann, ermangelt eben aller Qualitäten, die für Vollkommen -- Seiend -- atta in Frage kommen und es bleibt eben -- anatta."

Darüber hinaus hieße diese Einführung eines "eigentlichen, seienden Wesenskerns", daß die Nidânakette in Abhängigkeit eines Atta hätte entstehen müssen. Solch ein Schöpfungsakt aber sei unbefriedigend und unzulänglich. Weiter folgte, daß einem bedingt entstandenen Wesen dessen Verantwortung für seine Erlösung von einem "eigentlichen Wesen, das Jenseits des anatta-Wirkekomplexes keinerlei Leiden wirkt, und damit auch nicht kennen kann", abgenommen würde. Würffel schloß, daß Werdendes sich nicht zum Seienden weiterentwickeln könne, wohl aber aufhören könnte zu sein. Bliebe nur noch die"Befreiung vom stärksten Wähnen, dem Ichwahn".

Bezüglich des Pfades brachte Würffel keine Einwände.


14.4. Kosmosophie


Mit seinen Veröffentlichungen im Buddhistischen Weltspiegel 2 und 3 (1921-23) wagte sich Seidenstücker in gefährliches Neuland.

Er versuchte, die buddhistische Mythologie für die Wissenschaft salonfähig zu machen, wobei ihm seine eigenen außergewöhnlichen Erfahrungen sicher geholfen haben (siehe oben).

Kosmosophie definierte Seidenstücker als

"das Weltbild, wie es der prophetisch-hellsichtige Tiefblick einer überragenden religiösen, seherischen Persönlichkeit aufnimmt und in Worten zum Ausdruck bringt".

[Buddhistischer Weltspiegel 2 (1920). -- S. 322].

Sie ist ein religions-psychologisches Problem, das auch Wissenschaftler untersuchen sollten. Seidenstücker spricht über die Weltzeitalter-Lehre, die Teil des dreifachen Wissens des Buddha ist, der sich an abgelaufene Kalpas erinnern kann. Diese Fähigkeit hat zur Voraussetzung, daß sich das subjektive Zeitmaß ändern kann, nur so können große Zeiträume in einer kurzen Spanne durchlebt werden. Das hält Seidenstücker für erwiesen aufgrund von Erlebnissen, die Leute hatten, denen im Anblick des Todes sich ihr gesamtes Leben innerhalb von Sekunden abspulte, außerdem ist es in der Literatur vielfach bezeugt. In Analogie an die Atomforschung, wo der Mikrokosmos immer weiter reicht, können auch die erinnerten Zeiträume riesige Ausmaße erlangen. Die Erinnerung ist möglich, weil bei der Wiedergeburt nur unser empirisches Bewußtsein, nicht aber die "grundlosen Tiefen unseres ureigensten Wesens" verloren gehen. Durch die enorme Konzentrationskraft, die die indischen Asketen entfalten können, "quellen die Bilder aus dem Abyssus unseres Wesens hervor". [Buddhistischer Weltspiegel 2 (1920). -- S. 337].

Das räumliche Pendant zur Kalpa-Lehre ist das Weltsystem (lokadhâtu, später cakkavâ.la), das Seidenstücker differenziert beschreibt, unter anderem geht er auf die vier Majestäten = Welthüter ein, die die vier Himmelsrichtungen überwachen. (N: Vessavana, O: Dhatarattha, S: Virûlha, W: Virûpakkha.) Das cakkavâla-Weltbild wird durch Chiliokosmen, "Tausendwelten" erweitert, die man sich auf einem

"unübersehbaren horizontalen Plan" vorzustellen hat und die vertikal durch Himmel und Höllen ergänzt werden. Dieses "kosmosophische Weltsystem [war] ursprünglich, seinem innersten Wesen nach, gar kein Mythologem...".
[Buddhistischer Weltspiegel 2 (1920). -- S. 395].

Für Seidenstücker steht fest, (wie für Ânanda Metteyya), daß es während der Jhânas als Visionsobjekt erscheinen kann. Während die westliche Wissenschaft objektive Visionen leugnet, hält Seidenstücker sie dennoch für möglich, und zwar als Objekte der feinstofflichen (sukhuma) Leiblichkeit im Menschen [431f], die eben im Verlauf der Meditation wahrgenommen werden können. In diesen Visionen stellen sich, analog zur Traum-Symbolik, einige Bilder bei allen gleich dar, andere zeigen sich in verschiedenen Ausprägungen. Diese Visions-Symbolik zu deuten verwehrt sich Seidenstücker, da sie ein äußerst subtiles Gebiet ist,

"auf dem zu tummeln nicht ratsam ist, wenn anders einem daran liegt, nicht zu Fall zu kommen und sich dem Gelächter der Zuschauer preiszugeben... Was in aller Welt wäre denn auch damit gewonnen, wenn ich hier meinen in ihrer Richtigkeit nicht zu beweisenden persönlichen Meinungen Ausdruck geben ... wollte?"
[Buddhistischer Weltspiegel 2 (1920). -- S. 438].

Seidenstücker geht ein auf die Weltumwälzungen, (die Zerstörung und Wiedererschaffung am Ende eines Kalpas). Er beruft sich auf das Satta-Sûriya-Sutta in Ang.7, 62 in dem die Vernichtung der Welt durch Feuer beschrieben wird. Da über die Bewohner darin nichts ausgesagt wird, zieht er dazu noch das Brahmajâla-Sutta (Dî 1), herbei: Solange die Leere anhält, werden die Wesen zumeist Abhassaras, Geistwesen die in Licht und Wonne leben. Seidenstücker schließt, daß also bei einem "allgemeinem Hochstand des Karma" [Buddhistischer Weltspiegel 3 (1921). -- S. 25]. die Wesen sich aus den niederen Sinnenwelten zurückziehen und damit das restlose Erlöschen der materiellen Welt verursachen. In einem kurzen Exkurs lobt er diesen vergleichsweise milden Weltuntergang gegenüber den blutrünstigen Eschatologien anderer Religionen. Seidenstücker geht ein auf die überlieferung des Buddhaghosa, der die Weltzerstörung zwar säuberlich systematisiert hat,

"aber daß das Weltsystem und die Weltzerstörung ursprünglich in der Vision gemachte Erlebnisse waren, daß sich hinter dem farbenprächtigen Bilde des Cakkavâ.la eine tiefe Symbolik verbirgt, davon hat der Mann wie auch die übrigen zeitgenössischen Kommentatoren offenbar gar keine Ahnung mehr."
[Buddhistischer Weltspiegel 3 (1921). -- S. 62].

So stellt Seidenstücker fest, daß sich der Buddhismus des Buddhaghosa erheblich von den von Buddha gesteckten Grenzen entfernt und damit auch der südliche Buddhismus längst keine reine Lehre mehr ist. Es folgt eine Beschreibung des Aggama-Sutta (Dî 27). Die darin behandelte Entwicklung der Abhassara-Wesen zu Brahma und dann zum Menschen betrachtet Seidenstücker als Gedanken, die religiösen Genien wie Buddha oder Jesus "in der Divination und Inspiration zuflossen" [Buddhistischer Weltspiegel 3 (1921). -- S. 114]..

Im zweiten Teil seiner Abhandlung, "die nichtmenschlichen Welten und ihre Bewohner", errichtet Seidenstücker sein Fundament auf Autoritätsbeweisen:

"Führende Geister wie Goethe, Kant, Schopenhauer, haben sich nie dazu verstiegen, die der Dämonologie zu Grunde liegenden Tatsachen a priori zu leugnen und die Berichte glaubwürdiger Personen über solche in Zweifel zu ziehen."
[Buddhistischer Weltspiegel 3 (1921). -- S. 347].

Dann führt er aus:

"Jenseits der Schwelle dieses normalen Tagesbewußtseins liegt eine abgrundtiefe Region, in die das Sinnenbewußtsein normalerweise überhaupt nicht, unter bestimmten Bedingungen aber eine gewisse Strecke hinabzuleuchten vermag. In dieser Religion [sic] vollziehen sich -- für uns unbewußt -- die animalischen und vegetativen Funktionen; in ihr ruhen alle je aus der Außenwelt gewonnenen Eindrücke und Vorstellungskomplexe, um unter bestimmten Bedingungen über die Empfindungsschwelle in das Licht des Tagesbewußtseins in der Form von Erinnerungen einzutreten; in ihr wurzeln ferner jene dem zergliedernden Denken so schwer zugänglichen Beziehungen von Mensch zu Mensch, die man Sympathie und Antipathie zu nennen pflegt, und aus diesen dunklen Tiefen empfängt auch der Genius seine schöpferischen Kräfte. Diese Region ist in der Terminologie des Pâli-Buddhismus der eigentliche Bereich der Sa.nkhâras; *(Anm...) der Mahâyâna-Buddhismus hat für diesen Bereich unseres Wesens einen neuen Ausdruck: âlayavijñâna: »Reservoir-Bewußtsein« geprägt."
[Buddhistischer Weltspiegel 3 (1921). -- S. 347].

Seidenstücker möchte diesen Bereich am treffendsten mit "Subliminar-Region (sub limine = unter der Schwelle)" bezeichnen. Dann klassifiziert er die in dieser Region herrschenden von der Sinnenwelt verschiedenen Kräfte als "magische Phänomene" anhand verschiedener Gesichtspunkte, die im Objekt liegen; anschließend die entstehenden Visionen nach Gesichtspunkten, die im Subjekt liegen. Danach geht er dazu über, Beispiele anzuführen, in denen überwiegend der Tod sich ankündigte. Hier erzählt er auch seine eigenen Erlebnisse. Zu den "objektiven Visionen" gehören die sogenannten Sterbeklänge oder die Versuche der Pariser Professoren G. Geley und C. Riquet, die in dem Buch "Materialisationsexperimente mit M .Franek-Kluski" dokumentiert sind und weitere Beispiele, die jeder Kritik standhalten sollten.

[Geley, Gustave (1868-1924): Materialisations-Experimente mit M.Franek-Kluski / In dt. übers. mit einem Anhang »Die neuere Okkultismusforschung im Lichte der Gegner« von Freiherr von Schrenck-Notzing <prakt. Arzt>. -- Leipzig : Oswald Mutze, 1922. -- 113 S.].

Ferner klassifiziert Seidenstücker die verschiedenen Spukarten und die Wesen, die spuken, dies können sein Petas, Yakkhas und Devas. Deren Reiche sind nicht räumlich sondern psychisch von uns getrennt.

"Die Trennung liegt lediglich in der Schwelle es Empfindungsreizes; verschiebt sich die Schwelle, so ist die Möglichkeit eines gegenseitigen Einwirkens für die verschiedenen Welten und ihre Bewohner gegeben."

Aus alledem folgt:

"Wir müssen uns darüber klar werden, daß die okzidentale Weltanschauung tatsächlich am Sterbelager des alten Atomismus steht und sich mit Riesenschritten der altindischen Auffassung nähert, in deren Licht das, was wir Materie nennen, letzten Endes als eine Vortäuschung, ein Trug, eine Illusion (mâya) erscheint..."
[Buddhistischer Weltspiegel 3 (1921). -- S. 435].

Es wurde Seidenstücker geraten, die Finger von solch okkultistischem Gebiet zu lassen, um nicht Leute vom Buddhismus zurückzuschrecken. Seidenstücker verteidigte seine Forschung:

"Es hilft nun einmal nichts: Die Tatsächlichkeit des zeitlichen Voraussehens und der Prophetie, so unerklärlich und rätselhaft das Phänomen an sich ist, steht absolut fest; wer Fälle dieser Art selbst erlebt hat, kann höchstens schweigen; sobald er aber, dem herrschenden Zeitgeist zuliebe, das, was er erlebt und was wohl verbürgt ist, ableugnet, vergreift er sich wider besseres Wissen an der Wahrheit und ist damit vor sich selbst gerichtet.... Gehören aber die mystischen Erscheinungen der Wirklichkeit an, so verschlägt es gar nichts, wenn Menschen, die den Buddhismus lediglich als Feigenblatt zur Deckung ihrer rationalistischmaterialistischen Blöße zu benutzen für gut befinden, durch meine Ausführungen sich abgeschreckt fühlen... Wenn mich aber der »aufgeklärte« Bildungspöbel ... bespöttelt und »wissenschaftlich nicht mehr ernst nimmt«, so ist mir das, mit Verlaub zu sagen, Wurst."
[Buddhistischer Weltspiegel 3 (1921/22). -- S. 438f.].


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