Aktion "Rettet den Hausarzt"

Gesundheitsökonomie

6. Institutionalisierung und Ökonomie — der Arzt und die Utopie der Gegenwart


von Dr. med. Burkhard Gmelin


Fachliche Korrespondenz: mailto: hausarzt@payer.de
Anfragen zur Website: mailto: payer@payer.de  


Ich danke Dr. med. Burkhard Gmelin für die Genehmigung, diesen Vortrag hier wiederzugeben.

Mit freundlicher Genehmigung der Nürnberger Medizinischen Gesellschaft e.V.


Zitierweise / cite as:

Gmelin, Burkhard: Gesundheitsökonomie. -- 6. Institutionalisierung und Ökonomie — der Arzt und die Utopie der Gegenwart. -- (Aktion "Rettet den Hausarzt"). -- Fassung vom 2006-06-12. -- URL: http://www.payer.de/arztpatient/gesundheitsoekonomie06.htm             

Erstmals publiziert: Vortrag bei der Nürnberger Medizinischen Gesellschaft e.V., Herbst 2005

Erstmals hier publiziert: 2006-06-12

Überarbeitungen:

Anlass: Gesundheits"reform"

Copyright: Eine Verwertung in Publikationen, die über übliche Zitate hinausgeht, bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Verfassers.

Dieser Text ist Teil der Abteilung  Arzt und Patient von Tüpfli's Global Village Library


Übersicht



Institutionalisierung und Ökonomie - Arzt und die Utopie der Gegenwart

von Dr. med. Burkhard Gmelin


Dr. med. Burkhard Gmelin

Dr. med. Burkhard Gmelin, Facharzt für Innere Medizin / Nephrologie, ist 1. Vorsitzender der Nürnberger Medizinischen Gesellschaft e.V. Webpräsenz: http://www.dr-gmelin.de/


Die Anfänge der Ökonomisierung ärztlicher Tätigkeit


Vor nunmehr ca. 20 Jahren begann man zunächst fast unmerklich damit, neben den zahllosen Kostendämpfungsgesetzen die ärztliche Tätigkeit selbst ins ökonomische Visier zu nehmen. Hierzu war zunächst eine Kategorisierung erforderlich, die unsere Arbeit der Beschreibung und ökonomischen Bearbeitung überhaupt erst zugänglich machen soll. Und ich kann mich noch sehr gut an meine Empörung erinnern, als ich zum ersten Mal das Unwort vom Arzt als dem "Leistungsanbieter" vernahm. Empörung deshalb, weil mit diesem Begriff weder unsere Tätigkeit selbst, noch unser berufliches Selbstverständnis, noch das Arzt-Patienten-Verhältnis auch nur andeutungsweise beschrieben wird. Die Konsequenz war natürlich die ebenso unsinnige Eingruppierung der Patienten als "Kunden". Wiederholt wurde auf der Basis dieser Kriterien von ökonomischer Seite tiefes Unverständnis geäußert, warum sich Ärzte auch in scheinbar aussichtslosen Fällen so verhalten, wie sie es tun - so, als müsste es auch uns vor allem ums Geld bzw. die Bilanz gehen (was uns andererseits ständig pauschal vorgeworfen wird) und als gäbe es eine berechenbare Prognose im Einzelfall.

Bis in die achtziger Jahre hatten alle Beteiligten, Ärzte, Ökonomie und Verwaltung, im Gesundheitswesen im Grunde eine dienende Rolle gehabt. Das Prinzip: "Aegrotum salus suprema lex esto" (Das Wohl des Kranken sei höchstes Gebot) war bereits in der Nürnberger Medizinalordnung von 1592 festgelegt worden. Welchen ethisch vertretbaren Grund gäbe es heute, diesen Grundsatz zu verlassen? Bisher ging es also primär um Optimierung der Versorgung, und erst sekundär um Ökonomie. Diese Rolle hat sich umgekehrt. Von ärztlicher Seite befinden wir uns seither zunehmend in der Defensive, da wir fachlich und argumentativ auf diesen Einbruch völlig fachfremder Kriterien in unsere Berufsrealität nicht vorbereitet waren - und sind -, und da diese Kriterien mit scheinbar zwingender Logik und geschulter glatter Eleganz vorgetragen und durchgesetzt werden. Das ist Anlass genug für die Medizinische Gesellschaft sich dieses Themas und seiner den ärztlichen Alltag zunehmend bedrängenden Auswirkungen anzunehmen. Denn machen wir uns keine Illusionen: alle, ob als Patienten oder als Ärzte, werden wir davon persönlich betroffen sein (denn zumindest Patienten sind wir irgendwann alle).

Hier geht es, das sei zu Beginn noch vorausgeschickt, nicht um "noch mehr Geld für sowieso schon überbezahlte Ärzte". Dass hochqualifizierte Arbeit nach einem der anspruchvollsten Studiengänge überhaupt und anschließender jahrelanger Weiterbildung dem zeitlichen Aufwand und der Verantwortung des Arztes angemessen zu honorieren ist, steht nicht zur Diskussion. Das ist also nicht Thema der Medizinischen Gesellschaft. Wir bekennen uns ebenso zum wirtschaftlichen Umgang mit den Geldern der Solidargemeinschaft - hier ist Unterstützung durch betriebswirtschaftliche Kompetenz unverzichtbar und wertvoll, aber nicht in Fragen der Behandlung selbst. Wir unterstützen sinnvolle kooperative Versorgungsformen auch zwischen dem ambulanten und stationären Sektor und erwarten dabei aber Fairness aller Beteiligten. All das ist also nicht Thema dieses Aufsatzes. Die Frage, um die es heute geht, ist vielmehr, welche Auswirkungen die mit Macht neu entstehenden Rahmenbedingungen auf das berufliche Verhalten der Ärzteschaft haben, oder anders gesagt: Welche Ärzte wir für die Zukunft heranzüchten?!


Über berechtigte ärztliche Interessen jenseits der Ökonomie


Tatsächlich haben Ärzte Interessen. Diese Interessen ergeben sich zwingend aus ihrer beruflichen Aufgabenstellung und Verantwortung. Sie entsprechen also über weite Strecken den Interessen der Patienten, für die die Ärzte ja tätig werden sollen, das sei hier ausdrücklich betont. Und es ist Aufgabe der Politik, sicherzustellen, dass sie in diesem Sinne ihre Tätigkeit ausüben können. Das Problem in einem ökonomisierten Umfeld ist: diese Interessen, diese Loyalität mit den Patienten also, kosten Geld. Und in einem System, in dem dieses Geld aus den Lohnnebenkosten kommen soll, sind diese Interessen höchst unwillkommen. Als könnten die Ärzte etwas dafür, dass die Beiträge der Krankenversicherung als Teil der Lohnnebenkosten eingezogen werden. Das war und ist Entscheidung der Politik - nicht der Ärzte und übrigens auch nicht der Krankenkassen. Man könnte es also auch anders machen. Dennoch sind die Ärzte zunehmend gleichzeitig sowohl ins ökonomische als auch ins politische Schussfeld geraten. Denn aus ökonomischer Sicht sind wir nicht nur Leistungsanbieter, sondern damit eben auch Kostenverursacher. Und der Patient wird ab einer den statistischen Durchschnitt übersteigenden Komplexität seiner Erkrankung zum unerwünschten Kostenfaktor. Die Krankheit selbst kommt in der Diskussion kaum noch vor, in der es vorwiegend Schuldige, aber eigentlich kein Schicksal mehr gibt.

Folgerichtig werden Ärzte bei den Überlegungen zur Fortentwicklung unseres Gesundheitswesens kaum noch und wenn, dann nur mit deutlich spürbarem Widerwillen gehört. Mit dem gebetsmühlenartig vorgebrachten Verweis auf angeblich allgemein und ausschließlich profitorientierte Ärzte wurde leider auch von den meisten Medien die kritische Begleitung des Umbaus des Gesundheitswesens bisher erfolgreich vernebelt. Wer sollte aber die Patientennöte und die das ärztliche Selbstverständnis kompromittierenden Auswirkungen einer konsequenten Ökonomisierung realistischer beurteilen können als die beruflich davon Betroffenen selbst?!


Die ökonomische Begriffsarmut und ihre Folgen, oder: "Die Ehe des medialen Effekts mit der ökonomischen Phrase."


Die gesundheitsökonomische Umwidmung des Arztes zum "Leistungsanbieter" und des Patienten zum "Kunden" hat in ihrem anhaltenden Überraschungseffekt offenbar auch viele Kollegen argumentativ erschlagen, demonstriert aber eigentlich nur die Begriffsarmut der Ökonomen bezüglich der Beschreibung unserer Arbeit. (Das ist kein Vorwurf, denn jeder kann nur das wissen, was er gelernt hat. - Jeder sollte sich dessen aber auch bewusst sein!). Denn hätten Letztere die geringste Vorstellung von der Realität von Krankheit, ärztlicher Tätigkeit und dem von daher zu fordernden und unverzichtbaren Arzt-Patienten-Verhältnis, dann wüssten sie, dass all diese Dinge mit diesen Begriffen nicht andeutungsweise zu erfassen sind. Unser Problem ist also ganz aktuell, dass versucht wird, unsere Tätigkeit massiv zu beeinflussen unter Verwendung von Ordnungsbegriffen, die für die Abbildung dieser Tätigkeit völlig unzureichend und unzutreffend sind! Der Einbruch der Ökonomie in unsere Tätigkeit ist also kein Fortschritt, sondern - auch für viele Patienten - ein Unglück! (Auch wenn noch so viele gesunde (!) Verantwortungsträger und leider auch manche Kollegen davon offenbar regelrecht besoffen sind!). Denn wo ökonomische Forderungen im Zentrum stehen, ist gezielte Patienten-Selektion die logische, weil ökonomisch gebotene Folge,

Von ökonomischer Warte aus gesehen unterliegt nahezu jede berufliche Tätigkeit wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten. Das ist richtig. Deswegen steht es für das Selbstverständnis der Ökonomen außer Frage, dass sie im Grunde für alle Bereiche - vom Handel mit Bananen über Waffen bis hin zu Gesundheitsleistungen - optimale Konzepte einbringen können. Das ist falsch. Überall da, wo menschliche und mitmenschliche Belange und die maximale Komplexität der biologischen Abläufe im Vordergrund stehen, hört die Berechenbarkeit auf - und damit die Zuständigkeit und Kompetenz der Ökonomen. Wer glaubt, sich darüber hinwegsetzen zu können, wer hier dennoch mit ökonomischem Druck Zwang auszuüben versucht, wird sehr schnell zynisch und schlicht inhuman. Und: Er wird scheitern. Deswegen ist der gegenwärtige allumfassende Anspruch der Ökonomie eine Utopie. "Politischer Erfolg ist," wie es Jürgen Kaube (FAZ) jüngst sehr treffend formulierte, "kein Kind aus der Ehe des medialen Effekts mit der ökonomischen Phrase." Für die Versorgung unserer Patienten gilt das Gleiche! Auch die gesundheitspolitische Diskussion schwelgt derzeit geradezu in medial gut verkäuflichen ökonomischen Phrasen. "Wir haben eine Über-, Unter- und Fehlversorgung," gehört z.B. hierher. (Das Bewundernswerte an dieser Phrase ist ihre zeitlose Gültigkeit!). Inzwischen geht es jedoch längst um die Prioritäten, die bei der Organisation der Versorgungswirklichkeit gesetzt werden sollen, und nicht etwa um "Sozialromantik von gestern".


Die Abschaffung der "doppelten Facharztschiene", oder: der gesundheitsökonomische Traum von der Massenambulanz


Im Rahmen der Ökonomisierung mit ihrer überall zu beobachtenden Konzentrationstendenz wurden immer mehr Elemente unserer Tätigkeit "institutionalisiert: Dem Ambulatorium soll politisch und ökonomisch ganz offenbar die Zukunft der fachärztlichen Versorgung gehören. Wir erleben also gegenwärtig den grandiosen Versuch, aus einer aus guten Gründen noch immer höchst individuellen Beziehung, dem Arzt-Patient-Verhältnis, die Dienstleistung von anonymen Instituten mit scheinbar austauschbaren Akteuren zu machen.

Und so ist es nur konsequent, wenn es derzeit zu einer der Lieblingsphrasen der Gesundheitsökonomen gehört, dass wir uns angeblich "die doppelte Facharztschiene in Praxen und Kliniken nicht mehr leisten können." Es gibt in Nürnberg ein Facharztnetz, in dem sich ca. 10% der hier niedergelassenen Fachärzte zusammengeschlossen haben. In diesem Netz werden jedes Quartal ca. 60 000 Patienten betreut. Ich überlasse es hiermit Ihrer Fantasie, sich die Bedingungen auszumalen, unter denen diese Patienten (und natürlich die der restlichen 90% Fachärzte zusätzlich) in Zukunft in Klinikambulatorien versorgt werden sollen. Im immer wieder als leuchtendes Beispiel angeführten Holland, in dem es praktisch keine niedergelassenen Fachärzte gibt, müssen die Patienten mit Wartezeiten auf einen Ambulanztermin von bis zu ½ Jahr und ständig wechselnden ärztlichen Ansprechpartnern rechnen. Jährlich Tausende von Holländern begeben sich deshalb nach Deutschland zur fachärztlichen Behandlung - und das System ist zudem dennoch teurer als unseres, wie kürzlich zu lesen war. Holland liegt bei den Kosten seines Gesundheitswesens hinter den USA und der Schweiz an dritter Stelle. Großambulatorien machen also nichts billiger.

Die ersten Folgen dieser Planvorhaben sind längst eingetreten: Wenn nämlich ein junger Kollege weiß, dass seine berufliche Perspektive in die lebenslange Tätigkeit in einem Massenambulatorium mündet und dass er ansonsten als Facharzt politisch unerwünscht ist, wird er möglichst eine andere berufliche Laufbahn anstreben. Die Folge: Die Weiterbildungsassistenten in den Kliniken bleiben aus. Und genau das ist geschehen. Mehrere Tausend Assistenzarztstellen in den deutschen Krankenhäusern sind derzeit nicht zu besetzen, aktuell allein in Bayern 900, in Thüringen 1000, viele andere nur mit zuwandernden Kollegen aus dem ferneren Osten. Zu diesem zweifelhaften Erfolg kann man der Politik und ihren Beratern nur "gratulieren". Man sieht: Auch wenn die ökonomische Theorie noch so bestechend scheint, die Beteiligten darf man dabei nicht vergessen. Weder Patienten noch Ärzte dienen nämlich als willenlose ökonomische Verfügungsmasse.


Der neue "Arzt": Haftender Facharbeiter der Dienstleistungs-AG


Jerome Groopman, Immunologe in Harvard, zitiert einen seiner krebskranken Patienten, einen Unternehmer, im Gespräch mit seinem Arzt so: "Aber da gibt es einen Unterschied zwischen dem, was ich mache, und dem was Sie tun. Ich kümmere mich den Teufel um das Produkt. In Ihrer Welt ist es das Produkt, das zählt - neue Erkenntnisse können die Heilung einer Krankheit ermöglichen. Für mich bedeutet das Produkt überhaupt nichts. Es kann Öl sein, oder Platin oder Software oder Gesellschaftsspiele. Alles ist ein Glasperlenspiel, das wir um das große Geld spielen, und wenn ich einmal genügend gewinne, werde ich "Good-bye" winken." (J.Groopman, "The Measure of our Days", Penguin, New York, 1997).

Die Zeiten, in denen sich auch ökonomisch agierende Personen dieses entscheidenden Unterschiedes bewusst waren, sind offenbar vorbei. Was weitgehend abhanden gekommen ist, ist der Respekt vor der Kompetenz und damit der Zuständigkeit des Arztes. Das "Produkt", die medizinische Dienstleistung, ist dabei, zu einer ökonomisch scheinbar verfüg- und vermarktbaren Ware zu verkommen, um dessen Bedeutung man sich "den Teufel" kümmern muss.

Und so ist es nur konsequent, wenn sich entsprechende Phantasien entwickeln, die - ein konkretes Beispiel! - einen Immobilienmakler auf einem Kongress zur Zukunft des Gesundheitswesens im Dezember 2004 von der Etablierung von Gesundheitsketten träumen lassen, betriebswirtschaftlich geführten Institutionen also, bei denen Ärzte als (Zitat!) "Franchise-Nehmer und lächelnde Dienstleister" fungieren; als eine Art Facharbeiter also, die nach den Vorgaben des Unternehmers Leistungen durchzuführen haben, und diese auch dann den Patienten gegenüber positiv darzustellen haben, wenn sie mit ärztlichen Vorstellungen kollidieren (also z.B. den medizinischen Möglichkeiten nicht entsprechen) - "Weß' Brot ich eß', deß' Lied ich sing," das ist mit dem "lächelnden" Dienstleister gemeint. Derartige Strukturen drängen inzwischen auf den "Gesundheitsmarkt". In Nürnberg wurde erst kürzlich ein "integrierter Versorgungs-Vertrag" geschlossen, in dem eine Managementgesellschaft Behandlungspläne erstellt, nach deren Vorgaben die Ärzte zu verordnen haben (dafür braucht man sie noch...), während zugleich das volle Regressrisiko bei den Ärzten verbleibt. Wir sprechen also nicht etwa von nur theoretischen Gefahren in irgendeiner fernen Zukunft.

Es ist bekanntlich eines der Prinzipien von Managed Care-Unternehmen in den USA, dass dort vor allem die Vermeidung von Leistungen honoriert wird. Auch hierzulande gibt es viele Anhänger dieses Prinzips. Den größten wirtschaftlichen Erfolg hat der Arzt, der bis möglichst nahe an die Grenze der Justiziabilität den Patienten Untersuchungen und Therapien ausredet, bzw. sie gar nicht erwähnt. Wer nichts tut, ist logischerweise am billigsten. Nach einer Umfrage der Agency for Healthcare Research and Quality unter Managed Care-Ärzten vor einigen Jahren fühlen sich denn auch über 80% in ihrem ärztlichen Selbstverständnis kompromittiert. In einer Studie der - ärztlicher Standesinteressen gewiss unverdächtigen - Katholischen Fachhochschule Nordrhein-Westfalen wurde festgestellt: Wirtschaftlicher Druck verleitet zum "Weggucken". Denn wer die teure Krankheit nicht erkennt, muss sie auch nicht behandeln (und damit das wirtschaftliche Ergebnis des Betriebes gefährden). Man muss kein Prophet sein: Die so zwangsläufig erzeugten "lächelnden Dienstleister" der schönen neuen Welt der Gesundheitsökonomie werden auch noch das restliche Vertrauen in das zukünftige Gesundheitswesen verspielen. Unser oben genannter Immobilienhändler träumt nach eigenen Aussagen bereits von Renditen von 8% - für die Kapitaleigner (nicht etwa für Patienten, Ärzte oder das Pflegepersonal).


Gesundheitsökonomische Theorie und Patientenwirklichkeit: Über die Berechenbarkeit von Krankheit


Ein für den Internisten fast alltägliches Patientenschicksal als konkretes Beispiel aus diesem Jahr: 45 jährige Patientin, seit 15 Jahren Lupus erythematodes (LE), eine schwere Autoimmun-Erkrankung mit möglichem Befall aller Organe, vor 12 Jahren Nierenversagen und Einleitung der Dialyse-Behandlung (3x/Woche je 5 Stunden), vor 9 Jahren Nierentransplantation mit zunächst guter Funktion der Transplantat-Niere, LE-Befall der Transplantat-Niere und trotz intensiver immunsuppressiver Therapie erneut Nierenversagen und Dialysepflicht, auch dann weiterhin ständig schwelende Aktivität des LE trotz Therapie, zunehmend Muskelkontrakturen verbunden mit ständigen Schmerzen, im Oktober 2004 stationäre Aufnahme wegen eines Dialyseshunt-Defektes am rechten Oberarm, wenige Tage nach der Operation Lungenentzündung bei vorbestehender chronischer Bronchitis, anschließend hämatogene Infektion des operierten Shunts mit Abszessbildung, anschließend Prä-Infarkt-Syndrom bei drohendem Verschluss eines Herzkranzgefäßes, Herzkatheterisierung und ,,Aufdehnung" des Gefäßes, anschließend Sturz beim Toilettengang und Beckenringfraktur mit der Folge dauernder Bettlägerigkeit, anschließend erneut Lungenentzündung trotz ständiger, auch krankengymnastischer, Mobilisierungsbemühungen; während des Aufenthaltes trotz meist guten Appetits Gewichtabnahme auf 35kg, im Februar (also nach 5-monatigem Krankenhausaufenthalt!) schließlich Verlegung in ein Pflegeheim.

Angesichts dieser für ärztlich Tätige nicht ungewöhnlichen Verkettung von Problemen schicksalshaft schwerst geschlagener Patienten stellen sich hier einige entscheidende Fragen: Beschreibt der Begriff "Kunde" denn auch nur andeutungsweise die reale Situation eines Patienten? Welches "Produkt" wird hier von den betreuenden Pflegepersonen und Ärzten angeboten? Welche Wahl wird dem Patienten in der von niemandem zu verantwortenden Situation noch gelassen? Wie lässt sich ein solcher Verlauf im DRG-System statistisch eingruppieren? Welches ,"Disease-Management-Programm" ist für diese Patientin heranzuziehen, damit sie optimal behandelt wird (z.B. das für Koronare Herzerkrankung?), und wie ist dann mit ihren zahlreichen und nicht weniger wichtigen Problemen umzugehen, die von diesem Programm gar nicht erfasst werden? Sagt ein Qualitätsbericht eines Krankenhauses, in dem Ergebnisse von Einzelbehandlungen aufgeführt werden (z.B. Bypass-Operationen o.a.), über die Gesamtbehandlungsqualität des Hauses wirklich etwas aus? Wo hätten wir die Behandlung unterlassen sollen, weil die Kosten in keinem Verhältnis zum "Nutzen" stehen (die Patientin ist zwischenzeitlich verstorben)? Wie steht es mit Kliniken, die auf bestimmte Behandlungen (hier z.B. auf Herzkranzgefäßeingriffe) spezialisiert sind, diese fraglos medizinisch und wirtschaftlich optimal erbringen, wenn derartige Komplikationen eintreten? Sind nicht angesichts des Primats des wirtschaftlichen Erfolges diese Patienten hier systembedingt - und ab einer gewissen Häufung, die die Wirtschaftlichkeit des Betriebes infragestellt, auch tatsächlich unerwünscht? Werden darüber hinaus Ärzte, die ihrem ethischen Anspruch gerecht werden wollen, nicht zum wirtschaftlichen Risiko des Betriebes, da ihre - ethisch ohne Frage gebotene! - Behandlung nur unzureichend vergütet wird? (Wo ökonomischer Erfolg vorrangig ist, sind "Wohltaten" schließlich nur begrenzt zu verteilen). Ob sich mit anderen Worten das Gesundheitssystem weiterhin zur Versorgung dieser schicksalsmäßig schwer betroffenen Patienten bekennt, auch wenn sie sich nicht "rechnet"?

Fragen also an die Humanität des zukünftigen Systems, die nicht oft und laut genug gestellt werden können. Und wir dürfen keinesfalls hinnehmen, wenn die Protagonisten dieser Entwicklung versuchen, sich mit "Sachzwängen" herauszureden. Die Versorgung unserer Patienten ist der Sachzwang, und nicht die Bilanz! Der Patient mit seinem Problem steht vor uns und muss versorgt werden - unabhängig davon, ob das nun betriebswirtschaftlich willkommen ist oder nicht.

Die Behandlung multimorbider Patienten (die internistisch der "Normalfall" sind) ist in jedem System defizitär, also subventionsbedürftig gewesen. Die Frage, die sich heute zunehmend stellt, ist, wer diese Subventionen in Zukunft zu leisten bereit ist - wer also mit anderen Worten das Morbiditätsrisiko übernimmt.

Effizienzdenken ist fraglos ein wichtiges Mittel, die wirtschaftlichen Bedingungen einer Behandlungseinrichtung zu sichern. Aber es ist nicht der Zweck der Einrichtung selbst. Der Zweck ist die Versorgung. Krankheit lässt sich im konkreten Einzelfall nicht nach finanziellen Vorgaben planen oder gar steuern. Der Patient in seiner individuellen Not ist alles andere als eine statistische Größe. Zuwendung, Vertrauen, Engagement, Erfahrung sind statistisch (und ökonomisch) nicht erfassbar. Sie sind aber die entscheidenden Elemente ärztlicher Tätigkeit! Statistik gibt wertvolle Informationen, aber sie beschreibt nicht die Wirklichkeit. Dennoch wird sie von Gesundheitsökonomen und der Politik mit der Beschreibung der Wirklichkeit gleichgesetzt. Noch nie zuvor hat sich die Gesundheitspolitik so weit von den Patientenbedürfhissen und von der ärztlichen Realität entfernt wie heute.


Die Banalisierung der Komplexität als Mittel zur Macht - oder: Die Stunde des Dilettantismus


Die Politik ist auf Anraten der Gesundheitsökonomie derweil andere Wege gegangen. So wurden mit dem löblichen Ziel, die Versorgung chronisch Kranker für die Kostenträger wirtschaftlich attraktiv zu machen und vielleicht sogar qualitativ zu verbessern, zwischenzeitlich mehrere "Disease-Management-Programme" aufgelegt, u.a. zum Diabetes mellitus. Jeder in dieses Programm eingeschriebene Patient bedeutet für die Krankenkasse einen nicht unerheblichen Geldbetrag, den sie aus dem sogenannten "Risikostruktur-Ausgleichstopf" erhält. Inhaltlich entsprechen die Programme weitgehend den aktuellen Leitlinien der Fachgesellschaften, an denen wir sowieso unser Handeln ausrichten. Inhaltlich sind sie also nicht schlecht. Das Problem ist aber, dass der Eindruck erweckt wird, dass alle Patienten, bei denen möglichst alle Zielvorgaben erreicht sind, optimal behandelt sind. Dann könnte die Behandlung doch eigentlich auch ein Computer erledigen. Wozu also noch Ärzte? Die Stunde der Dilettanten hat geschlagen.

Auch hier stoßen wir nämlich sofort wieder auf die Patientenwirklichkeit. Denn kaum ein Patient hat nur allein einen Diabetes mellitus als behandlungsbedürftige Gesundheitsstörung. Ein einfaches Beispiel zur Illustration: Die Diabetes-Leitlinien und folglich auch das DMP fordern mit guten Gründen eine Einstellung des Blutdruckes unter Werte von 130/80 mmHg, bei zusätzlicher Nierenschädigung möglichst erheblich niedriger. Hat der Patient aber z.B. eine Verengung seiner Halsschlagadern, was nicht gerade selten vorkommt, bekommt er bei einer programmgemäßen Blutdrucksenkung einen Schlaganfall. Der Arzt aber, der es gut macht, und den Blutdruck bis zur Operation des Patienten höher toleriert, muss sich wegen Nichterfüllung der DMP-Vorgaben rechtfertigen.... Ich überlasse es der Beurteilung des Lesers, ob eine solche Regelung besonders weise ist. Denn die Patienten-Wirklichkeit ist im Allgemeinen noch weitaus komplexer als dieses noch immer banale Beispiel.


Die ersten Früchte der Ökonomisierung: Die uferlose Bürokratisierung der ärztlichen Tätigkeit


Als Arzt reibt man sich derzeit mehrmals täglich erstaunt die Augen. Nicht nur, dass man mit der Ökonomisierung genau die Denkweise zum Herrschaftswissen über das Gesundheitswesen gemacht hat, die man der Ärzteschaft so oft pauschal zum Vorwurf machte. Als wäre Gewinnstreben weniger verwerflich, nur weil es von Betriebswirtschaftlern anstelle von Ärzten praktiziert wird. Bisher sind wir alle (nicht nur die Ärzte) auch davon ausgegangen, dass unnötige Bürokratie ein ökonomisch schädlicher Kostenfaktor ist, der zudem zu einer zunehmenden Verkrustung eines Gemeinwesens führt. Seit die Gesundheitsökonomie das Heft in die Hand genommen hat, sieht es jedoch ganz anders aus. Unter der geradezu wahnhaften Vorstellung, alles müsse messbar, objektivierbar und "transparent" sein, wurde die Ärzteschaft in den letzten Jahren mit einem Wust von Dokumentationspflichten, Kontrollanfragen, aufwendigsten Formularen etc. überschwemmt, die nicht das Geringste mit der Patientenbehandlung zu tun haben. Und dazu kam noch die Verpflichtung zum Einzug der Praxisgebühr im Auftrag der Krankenkassen.

Beispiele: Im Rahmen von DMP's und Verträgen zur integrierten Versorgung ist jede einzelne Krankenkasse seit der letzten Gesundheitsreform berechtigt, Einzelverträge mit Ärzten und anderen Behandlungseinrichtungen abzuschließen. Bemerkenswerterweise ist bei den Verantwortlichen bisher keine Antwort auf die Frage zu erhalten, nach welchen Qualifikationsvoraussetzungen diese Verträge abgeschlossen werden. Es geht derzeit nur darum, wer den Verträgen beitritt (sind das immer die besseren Ärzte?) und wer nicht (sind das immer die schlechteren?). Das heißt aber auch im Umkehrschluss, nicht alle Ärzte, mit denen man bisher zusammengearbeitet hat, sind weiterhin Vertragsteilnehmer bei der Behandlung einer bestimmten Erkrankung. Es wird also Aufgabe des Arztes bei jeder Überweisung sein, zu überprüfen, welche Ärzte für welche Erkrankung mit welcher der 300 Krankenkassen einen Vertrag abgeschlossen haben. Denn nur zu diesen Kollegen soll er vertragsgemäß den Patienten überweisen. Allein in Baden-Württemberg gibt es inzwischen rund 120 Kleinverträge. Nach Auffassung von Walter Scheller, dem neuen Chef der Ersatzkassenverbände im Südwesten verheißt die Zukunft Tröstliches; "Nicht jeder Arzt ist mit 120 Verträgen konfrontiert. - Maximal 50 werden übrig bleiben." ...

Das Interessante ist dabei: Die Konkurrenz um die Patienten im niedergelassenen Bereich ist angesichts der noch hohen Arztdichte seit Jahren maximal, die Honorierung der einzelnen Leistung ist zugleich um ca. 50% zurückgegangen - bei zugleich (wie überall) erheblich gestiegenen Kosten. Die Patienten stimmen derzeit mit den Füßen ab, bei welchem Arzt sie sich am besten aufgehoben fühlen. Diese Konkurrenzsituation, von der die Patienten erheblich profitieren, wird von der Gesundheitsökonomie eigenartigerweise überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Wie wir gesehen haben, hat sich vielmehr die Politik entschlossen, die Patientenströme in Zukunft willkürlich zu steuern - und hebelt eben dadurch die Konkurrenz aus. Ökonomisierung bedeutet für uns derzeit auch: Die Kooperation zwischen Ärzten wird zum bürokratischen und planwirtschaftlichen Moloch.

Diese von den Gesundheitsökonomen massiv geforderte Entwicklung wird übrigens bereits von vielen Patienten kritisch hinterfragt. Denn die mit den Einzelverträgen logischerweise verbundene Einschränkung der freien Arztwahl wird erkannt und keineswegs als Fortschritt empfunden. Auch die Managed-Care-Unternehmen in den USA sind hier inzwischen erheblich zurückgerudert.

In Praxen und Kliniken nimmt der Aufwand für bürokratische Aufgaben mittlerweile 30-40% der Arbeitszeit in Anspruch - fast möchte man annehmen, dass die Ärzte von ihrer eigentlichen Arbeit abgehalten werden sollen. In der Klinik ist in den letzten Jahren vor allem der Aufwand für die Diagnosenverschlüsselung hinzugekommen, von der das wirtschaftliche Wohl und Wehe des Krankenhauses entscheidend abhängt: Die "Disease related Groops" (DRG), also die diagnosebezogene Zuordnung des Patienten zu einem stringent vorgegebenen Erlösbetrag. Zusätzlich ist eine Flut von Anfragen des medizinischen Dienstes zu bearbeiten, die den Grund für die stationäre Behandlung hinterfragen. In Bayern war im letzten Jahr jeder 6. Klinikaufenthalt betroffen, das macht allein in unserem Bundesland 250.000 Anfragen/Jahr! All diese Anfragen müssen gelesen, bearbeitet, beantwortet, ausgewertet, entschieden und archiviert werden... . Wie zukunftsträchtig ist Misstrauen als bürokratisches Prinzip?

Vielleicht ist es jetzt nachfühlbar geworden, wenn Ärzte auf die Straße gehen und Bürokratieabbau fordern. Denn es sei sanft daran erinnert: sie sind zur Patientenbetreuung angetreten und nicht zum Ausfüllen von Zetteln.


Missbrauch der Ethik als politisches Druckmittel


Ärztliche Ethik einzufordern ist richtig und ohne jede Frage berechtigt. Aber Ethik ist kein Privatproblem des Arztes. Ethisches Verhalten muss auch durch die politisch gesetzten Rahmenbedingungen gestützt werden. Das ist die Herausforderung, an der sich die Politik messen lassen muss. Wenn es in Zukunft Erkrankungen gibt, die sich für die dafür spezialisierten Einrichtungen "rechnen", und es zum erfolgreichen Geschäftsmodell gehört, sich der anderen Erkrankungen möglichst zu entledigen, hat das mit Versorgung im eigentlichen Wortsinne und mit Ethik nichts mehr zu tun. Dass es die sogenannten "Rosinenpicker"-Kliniken und -Praxen gibt, ist eine bekannte Tatsache, und dass man mit betriebswirtschaftlicher Lust ausgerechnet auf die Einrichtungen eindrischt, die den allgemeinen Versorgungsgedanken noch nicht aufgegeben haben und folglich ökonomisch weniger erfolgreich agieren, ebenfalls. Ethik ist auf dem Wege, zu einem reinen Totschlag-Argument gegenüber Ärzten zu werden, die unerwünschte, weil möglicherweise mit Kosten verbundene, Forderungen an Politik und Kostenträger stellen. Darauf sollten wir in Zukunft nicht mehr hereinfallen.


Ausblick


Das Ziel einer gesundheitsökonomisch dominierten Politik ist die Sachleistung zu möglichst minimierten Kosten. Etwas anderes ist mit betriebswirtschaftlichen Methoden gar nicht darstellbar. Das ist das Ziel der "Stärkung von Konkurrenzmechanismen", die derzeit lautstark gefordert wird. Die Aufgabe des Arztes geht aber über Sachleistungserbringung weit hinaus. Wenn sich die derzeit von ökonomischer und gesundheitspolitischer Seite favorisierten Konkurrenz-Vorstellungen durchsetzen, wird der Mediziner zu den wenigen Berufen gehören, die in zwei Richtungen zugleich konkurrieren: um die Patienten, wie schon jetzt, - und um die Lizenzverträge mit den Krankenkassen.

Die entscheidende Frage bei der Umgestaltung des Sozialsystems wird dagegen nicht gestellt.

Sie lautet: "Wer benötigt in welcher Situation wie viel Solidarität?"

Braucht z.B. der Patient zwischen Normalverdiener und Millionär die Unterstützung der Solidargemeinschaft, wenn er seine Bronchitis behandeln lässt? Solange beliebig im Einzelfall billige, aber in der Gesamtsumme Kosten in Milliardenhöhe verursachende Leistungen eingefordert werden können, nur weil man versichert ist (und nicht erst dann, wenn man andernfalls in finanzielle Not geraten würde), hat unser System mit einer Sozialversicherung im Grunde nichts zu tun. Das soll kein moralischer Vorwurf sein, denn wir alle verhalten uns lediglich systemkonform. Eine Änderung dieses Systems in Richtung des genuinen Versicherungsgedankens wäre also eben kein Sozialabbau, sondern im Gegenteil erst die Durchsetzung des wirklichen Sozialgedankens!

Freilich sieht es dafür schlecht aus: Denn mit diesem Gedanken lässt sich keine Wahl gewinnen... Daß wir derzeit längst in einem ethischen Dilemma stecken, indem wir über die Finanzierbarkeit teuerer Behandlungen diskutieren, während zugleich die ungleich höheren Gesamtkosten banaler Massenkrankheiten, die für jeden Einzelfall gering und von der Mehrzahl der Betroffenen selbst zu tragen wären, selbstverständlich durch die Kostenträger bezahlt werden, - dieses Dilemma wird nicht wahrgenommen.

Und so sucht man das Heil wohl weiterhin in der Durchökonomisierung des Systems. Wenn dieses Ziel erreicht ist, hat man den Arzt endgültig abgeschafft. Dann ist alles, was wir an berufsethischen Grundsätzen über Jahrhunderte erarbeitet haben, nur noch schöngeistiger Bailast. Denn dann endlich geht es wirklich nur noch ums Geld. Und wo's nur noch ums Geld geht hört bekanntlich die Liebe auf.


Dr. med. Burkhard Gmelin

1. Vorsitzender der Nürnberger Medizinischen Gesellschaft e.V.

Albrecht-Dürer-Pl. 11

90403 Nürnberg