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Blessing, Susanne <1957 - >: Hintergrund der Aktion "Rettet den Hausarzt". -- (Aktion "Rettet den Hausarzt"). -- Fassung vom 2006-01-08. -- URL: http://www.payer.de/arztpatient/hintergrund.htm
Erstmals publiziert: 2006-01-08
Überarbeitungen:
Anlass: Gesundheits"reform"
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Dieser Text ist Teil der Abteilung Arzt und Patient von Tüpfli's Global Village Library
Als Tochter eines "Praktischen Arztes" habe ich von Beginn an erlebt, mit welch physischen und psychischen Belastungen die Tätigkeit eines Hausarztes verbunden ist. Ich erlebte aber auch die große Befriedigung, die dieser Beruf bieten kann. So war ich mir voll bewusst, was mich erwarten würde, als mein Berufsziel "Hausärztin" schon sehr früh feststand. Zielstrebig und begeistert ging ich auf diese Lebensgestaltung zu. Ich hatte und habe ein ziemlich klares Berufsbild des Hausarztes, das ich bei aller menschlichen Unzulänglichkeit mit großem Engagement verwirklichen möchte.
Abb.: Dr. med. Susanne Blessing, geb. 1957, Fachärztin für Allgemeinmedizin
Trotz der vielen kleinen täglichen Ärgernisse brachte mir mein Beruf auch viel Freude. Leider musste ich aber feststellen, dass von Politikern und auch den eigenen Berufsfunktionären laufend neue und unsinnige Regelungen erfunden wurden, angeblich um das System "besser" und "gerechter" zu machen.
Immer neue Kostendämpfungsgesetze hilfloser Politiker und andere gesetzliche Maßnahmen vergrößern ständig den Verwaltungs- und Erklärungsaufwand in einem Maße, dass der eigentliche Kern der hausärztlichen Tätigkeit - Gespräch und Begleitung der Patienten in allen Lebenslagen - nur noch mit laufender Minimierung unserer ohnehin knappen Freizeit ausgeglichen werden kann, zumal uns ständig neue zeitlich aufwendige Vorgaben (mehr Fortbildung, EDV-Erweiterung, Qualitätsmanagement u.a. ) auferlegt werden. Auch finanziell werden wir Hausärzte durch Regressandrohungen (z.B. Malusregelung bei der Arzneimittelversorgung) immer stärker unter Druck gesetzt.
Gespräche mit Kollegen und eine Umfrage zeigten mir, dass meine immer größer werdende Unzufriedenheit nicht auf eine persönliche, depressive oder gar paranoide Weltsicht zurückzuführen ist, sondern tatsächlich der traurigen Realität entspricht.
So ergab im Juli 2005 eine Umfrage unter den Hausärzten im Kreis Tübingen u.a. folgende alarmierenden Ergebnisse:
Item Ja Nein Enthaltung Betrifft mich nicht Die Verwaltungsarbeit belastet mich immer mehr 100 1 0 0 Der zeitliche Aufwand für Qualitätszirkel belastet mich 53 41 4 3 Ich habe immer weniger Zeit für meine Patienten 82 16 3 0 Ich habe immer weniger Zeit für mich und meine Familie 84 14 3 0 Am DMP [Disease-Management-Programm] KHK [Koronare Herzkrankheit] will ich nicht teilnehmen 78 11 12 0 Ich überlege mir einen Rückzug aus dem DMP Diabetes 43 42 5 11 An weiteren DMPs bin ich nicht interessiert 95 4 2 0 Ich will meine Praxis nicht zertifizieren lassen 91 3 7 0 Ich halte nichts von den bisherigen I.V.-[Integrierte-Versorgung-] Modellen 81 3 17 0 Wir könnten selbst ein gutes Hausarztmodell erarbeiten 74 9 14 4 Ich möchte auch in 10 Jahren noch selbständig arbeiten 84 4 2 11 Die elektronische Gesundheitskarte bringt zusätzliche Belastungen 85 3 13 0 Ich habe erhebliche Datenschutzbedenken (e-Card) 91 6 4 0 Ich habe erhebliche Bedenken bezüglich der Praktikabilität der e-card 89 6 6 0 Ich möchte, dass die Öffentlichkeit informiert wird 97 1 3 0 Ich würde gerne selbst an Aktionen teilnehmen 45 41 15 0 Von insgesamt 100 Praxen beteiligten sich 85; Infolge der Beteiligung von Gemeinschaftspraxen kamen 101 Fragebögen zurück.
In einem Protestschreiben formulierten wir Hausärzte:
"Arbeitsgemeinschaft der Hausärzte des Kreises Tübingen
Tübinger Hausärzte protestieren gegen weitere Zunahme der Bürokratie
Nach einer internen Umfrage ist die überwältigende Mehrheit der Hausärzte im Kreis Tübingen frustriert angesichts der derzeitigen Arbeitsbedingungen. Ständig neue Vorschriften und Einschränkungen sowie deren laufende Anpassungen blähen unsere tägliche Verwaltungsarbeit auf. Wir arbeiten immer mehr, haben aber immer weniger Zeit für unsere Patienten. In den meisten Praxen droht bei der zunehmenden Formular- und Dokumentationsflut ein Verwaltungschaos. Unsere eigentliche Kernaufgabe, die individuelle Patientenberatung und -behandlung, tritt immer mehr in den Hintergrund. Pflichtweiterbildungen, Qualitätssicherungsmaßnahmen und unzählige weitere gesetzliche Vorschriften bewältigen wir nur noch in unserer ohnehin knappen "Freizeit".
Viele Krankenkassen werben - anstatt die Beitragssätze zu senken - mit Hochglanz-Prospekten um Einschreibungen für Rabatt-Programme und für "Chroniker"-Programme; dabei wird oft der Erlass der 10€-Praxisgebühr als Lockmittel verwendet. In Wirklichkeil sollen Patienten durch freiwillige Datenübermittlung "straffer" geführt und verwaltet werden mit dem Ziel der Kosteneinsparung. Für Patienten im Chroniker-Programm, z.B. Diabetes, erhalten die Kassen aus einem kasseninternen Finanzausgleichstopf eine Kopfpauschale von mehreren Tausend Euro, wobei nur ein Bruchteil wiederum an den Patienten weitergegeben wird. Mit den Geldern entstehen dagegen immer neue Verwaltungsgesellschaften zur Verarbeitung der sensiblen Patientendaten, wobei inzwischen als Ärgernis schon ein Datenversand zur Auswertung der Dokumentationsbögen bis Vietnam beobachtet wurde!
Ein weiteres Projekt, das Unmengen an Versichertengeldern verschlingt, ist die geplante Einführung der elektronischen Gesundheitskarte ( auf dem Weg zum gläsernen Patienten ). Die Datensicherheit und Praktikabilität (noch mehr geheime PIN-Nummern sind für viele Menschen unrealistisch ) werden bereits jetzt von Experten angezweifelt und von "Hackern" ausgehebelt.
Ein bewährtes hausarztzentriertes System, in dem der Mensch und nicht die Bürokratie im Mittelpunkt steht, sollte nicht leichtfertig aufgegeben werden. Mit den hohen Gütern freie Arztwahl, Therapiefreiheit und ärztliche Schweigepflicht muss sensibel umgegangen werden, ansonsten droht eine schematische Standardmedizin nach Risikoprofilen.
Wir Tübinger Hausärzte wollen unsere begrenzte Zeit auch in Zukunft unseren Patienten widmen, wir wollen uns nicht durch ein überbordendes Formularwesen und externe Behandlungsvorschriften entgegen den Interessen unserer Patienten bevormunden lassen."
Dies ist nicht das Lamento einer Interessengruppe, sondern leider ein (letzter?) Aufschrei einer Berufsgruppe, die wirklich überwiegend solidarisch und nicht egoistisch agiert.
Wie enttäuschend das Berufsleben gerade für junge, idealistische und engagierte Kollegen ist, zeigt folgende Meldung:
"Das Burn-out-Syndrom galt lange Zeit als typisches Leiden von Managern. Mittlerweile sind aber immer öfter auch Ärzte betroffen, wie Alfred Lange vom Dienstleistungscentrum medicen in Chemnitz berichtet. Ein Grund dafür sei, dass sie unter dem besonderen Druck stünden, es möglichst allen Recht machen zu wollen. Viele Ärzte erkennen zwar die Vorzeichen, wollen das Ausgebranntsein jedoch nicht wahrhaben. Langes Erfahrung ist, dass vor allem junge Ärzte gefährdet sind: engagierte Menschen, die enthusiastisch und voller Erwartungen an eine neue Aufgabe gehen. Man „brennt“ für eine Sache, eröffnet eine Praxis und ist vom Gedanken beseelt, kranken Menschen auf einfühlsame Weise helfen zu können. Der Praxisalltag, die bittere Erfahrung, manchmal an die Grenzen der medizinischen Leistungsfähigkeit zu stoßen, Zeitdruck, verzweifelte Patienten, das Auf und Ab in der Gesundheitspolitik und ökonomische Zwänge führen zunächst zu einer Steigerung des persönlichen Einsatzes – und dann zur Frustration. Es folgen Rückzug, Abkapselung, Vernachlässigung von Familie, Hobbys und Privatleben und schließlich Hoffnungslosigkeit, Apathie und Depression. Ein Gefühl der inneren Leere macht sich breit. Der Enthusiasmus ist verflogen, das Engagement sinkt. Darüber spricht niemand gerne. „Der Betroffene nimmt seinen Zustand meist zuletzt wahr“, berichtet Otto Fuksik von 11Concept in Jena."
[Quelle:
Madel, Michael: Burn-out-Syndrom: Junge Ärzte gefährdet. -- In.: Deutsches Ärzteblatt. -- 100. -- Ausgabe 43 (2003-10-24). -- Seite A-2820 / B-2348 / C-2204. -- Online: http://www.deutschesaerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?id=39041. -- Zugriff am 2006-01-04]
Statt zu resignieren, mich in die innere Emigration zurückzuziehen oder mich auf den privatärztlichen Bereich zu konzentrieren oder zu beschränken, wurde ich nach dem Vorbild meines Vaters, eines langjährigen ehrenamtlichen Ärztefunktionärs, gemeinsam mit Kollegen aktiv. Dabei mussten wir versuchen, nicht in berufspolitische Verbandsinteressen verwickelt zu werden. Wir wendeten uns an die lokale und überregionale Presse und versuchten, auch bei Bundestagsabgeordneten Gehör zu finden. Außerdem vertiefte ich mich trotz Zeitmangels in die Hintergründe der derzeitigen Veränderungen des Gesundheitssystems durch Betriebswirtschaftler, um der interessierten Öffentlichkeit die fatale Entwicklung besser aufzeigen zu können.
Einer meiner Patienten, Alois Payer, machte mir den Vorschlag, doch auch die Möglichkeiten des Internet zu nutzen, um durch sachliche Information mit Kritik aus der Sicht einer praktizierenden Allgemeinmedizinerin aufklärend zu wirken. Ich finde es der Mühe wert, einen solchen Versuch zu machen. Deshalb werde ich in der Abteilung "Arzt und Patient" von "Tüpfli's Global Village Library" unter dem Thema Aktion "Rettet den Hausarzt" unter einigen Stichworten zu Vorgängen kommentierend Stellung nehmen. Denn die derzeitige Ökonomisierung des Gesundheitswesens und die rein betriebswirtschaftliche Sicht der Arzt-Patient-Beziehung führt zu einer derartigen Entmenschlichung der Humanmedizin, dass ich befürchte, dass das bewährte (und erstaunlicherweise auch weiter propagierte) Berufsbild "Hausarzt" immer mehr (gewollt oder ungewollt?) behindert wird oder gar unmöglich gemacht wird. Und eines der größten Probleme im Hausarztbereich ist der Mangel an qualifiziertem Nachwuchs.
Bei meiner vollen Auslastung als Hausärztin wäre mir diese Internet-Aktion nicht möglich, würde mir nicht Herr Payer umfassend zu- und vorarbeiten. Dafür danke ich ihm ganz herzlich. Herr Payer arbeitete gerne mit, da er aus Erfahrung fest von der Notwendigkeit des "klassischen" Hausarztes überzeugt ist und den Erhalt dieses "Modells" auch aus humanitären und gesellschaftspolitischen Gründen für unbedingt nötig hält.
Das im Hintergrund stehende Berufsbild des Arztes hat der Kardiologe Bernard Lown meisterhaft beschrieben in seinem begeisternden Buch:
Abb.: Umschlagtitel
Lown, Bernard <1921 - >: Die verlorene Kunst des Heilens : Anstiftung zum Umdenken. -- 2., erweiterte und illustrierte Auflage. -- Stuttgart [u.a.] : Schattauer, 2004. -- XX, 307 S. ; 25 cm : Ill. + 1 Audio-CD. -- Originaltitel: The lost art of healing. -- ISBN 3-7945-2347-4. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch bei amazon.de bestellen}
Am Ende des Textes von Lown steht eine Checkliste für Patienten zur Auswahl des richtigen (Haus)arztes. Da die Inhalte dieser Checkliste auch Ärzte jederzeit leiten sollten, sei sie hier im vollen Wortlaut wiedergegeben.
"Den richtigen Arzt aussuchen
Es gibt ein paar praktische Richtlinien, die bei der Suche nach einem guten Arzt befolgt werden sollten.
- Ganz sicher möchte man einen in den medizinischen Wissenschaften gut ausgebildeten Arzt finden, der sich über die neuesten Fortschritte informiert hält. Jeder Absolvent einer erstklassigen Universität sollte mit den wesentlichsten medizinischen Grundlagen gut vertraut sein, eine heilbare Erkrankung zuverlässig erkennen und die besten Therapiemaßnahmen einsetzen können.
- Dies reicht jedoch kaum aus. Einige Ärzte haben zwar große Namen, können jedoch den Patienten erheblich vor den Kopf stoßen. Die Chemie zwischen Arzt und Patient muss stimmen. Der Patient muss sich dem Arzt gegenüber so entspannt fühlen wie in Anwesenheit eines engen Freundes.
Ein paar kleine Tipps können bei der Entscheidung helfen, ob es sich bei dem Arzt um jemanden handelt, bei dem sich der Patient gut aufgehoben fühlt, dem er Achtung entgegenbringen und dem er schließlich, wenn es um Leben oder Tod geht, voll vertrauen kann.
- Reicht ein Arzt dem Patienten bei der Begrüßung die Hand? Diese Geste ist ein kleines erstes Zeichen, dass der Arzt für den Patient erreichbar sein möchte. Das Ausbleiben eines Händedrucks ist zwar noch kein Grund, Vertrauen zu verlieren, es kann aber einen negativen Punkt in einer Checkliste davontragen.
- Pünktlichkeit sollte ein ganz wesentliches Kriterium bei der Beurteilung der menschlichen Qualitäten eines Arztes sein, da sie ganz fundamental die Achtung für einen anderen Menschen zum Ausdruck bringt. Respekt vor der Zeit eines Patienten ist ein wichtiger Hinweis auf Qualitäten, die für eine Partnerschaft beim Prozess des Heilens unerlässlich sind. Permanente Unpünktlichkeit weist im Allgemeinen auf organisatorische Nachlässigkeit, schlechte Planung, zu viele Patiententermine, inakzeptable Gleichgültigkeit der Zeit anderen gegenüber sowie auf eine unter Ärzten weit verbreitete Vorstellung hin, der Patient werde annehmen, dass sein Arzt unaufschiebbar von einem weitaus kränkeren Patienten aufgehalten worden sei. Echte Notfälle sind jedoch nur selten der Grund für gewohnheitsmäßiges Zuspätkommen der Ärzte.
- Man muss einem Arzt auch dann mit Misstrauen begegnen, wenn er sich während eines Patientengesprächs von Telefonanrufen unterbrechen lässt. Ich habe es meiner Sekretärin untersagt, mich zu stören, es sei denn, es handele sich um einen ausgesprochenen Notfall. Interessanterweise können Monate ohne eine einzige Störung vergehen. Es ist immer noch ausreichend Zeit, zwischen den Patientenbesuchen auf echte Notfälle zu reagieren.
- Auftreten und Benehmen eines Doktors sollten meiner Meinung nach ein entscheidend wichtiger Faktor bei der Auswahl eines Arztes sein. Dieser sollte Sicherheit und Optimismus ausstrahlen. Vor drei Jahrhunderten riet Jonathan Swift: »Die besten Ärzte der Welt sind Doktor Ernährung, Doktor Ausgeglichenheit und Doktor Fröhlichkeit.« Man sollte immer Zuspruch erwarten können, auch wenn eine Heilung nicht in Sicht ist und der Krankheitsverlauf von zunehmender Verschlechterung geprägt wird. Es gibt immer und zu jeder Zeit Mittel und Wege, mit denen die heftigen Schmerzen einer Erkrankung im Endstadium gelindert werden können. Auch wenn die Schwerkranken sich nicht durch falschen Optimismus täuschen lassen, so sehnen sie sich jedoch nach einer liebevollen Berührung und nach einer zärtlichen Geste menschlicher Anteilnahme.
- Ein wichtiges Kriterium ist, ob ein Arzt willens und bereit ist, dem Patienten zuzuhören. Etliche Untersuchungen haben gezeigt, dass Ärzte ihre Patienten typischerweise alle fünfzehn bis dreißig Sekunden unterbrechen. Damit wird eine Botschaft der Ungeduld, des Zeitdrucks und des fehlenden Interesses an dem, was den Patienten am meisten beschäftigt, vermittelt. Unvoreingenommene Fragen zeigen die Bereitschaft an, drückenden Sorgen auf den Grund zu gehen. Der Arzt, der das Gesagte dann wiederholt und zusammenfasst, bestätigt damit, dass er ein gut unterrichteter und aufmerksamer Zuhörer ist.
- Das Vertrauen zu einem Arzt wird auch durch die Gründlichkeit der Anamneseerhebung, durch Fragen nach der Arbeit und anderen relevanten sozialen Aspekten, durch Mitgefühl angesichts kleiner Verluste und durch den Ausdruck von Besorgnis bei schwerwiegenden Problemen gefördert. Der Arzt sollte Pluspunkte gewinnen, wenn er so handelt, als habe er alle Zeit der Welt, auch wenn dem Patienten durchaus bewusst ist, dass noch viele andere Kranke darauf warten, ärztlich betreut zu werden.
- Man sollte jenem Arzt gegenüber wachsam sein, der gleich zu Beginn einem Patienten Schuldgefühle einimpft durch Redensarten wie »Warum haben Sie so lange gewartet?«, »Hätte ich Sie doch nur früher gesehen!«, usw. Den Heilkünsten eines solchen Arztes gegenüber könnte man zu Recht Vorbehalte hegen. Ein Arzt, der sich - wenn auch nur im Spaß - verletzender Worte bedient, sollte ganz niedrig eingestuft werden. Frau N., fast neunzig Jahre alt, war eigentlich immer vergnügt. Eines Tages jedoch erschien sie zum ersten Mal in meiner Sprechstunde in depressiver Stimmung. Sie kam gerade von einem Gynäkologen. »Hat er irgendetwas Ernstes festgestellt?«, fragte ich. »Oh nein«, antwortete sie, »es ist nur, was er gesagt hat.« Sie führte dies näher aus. Der Arzt habe sie gefragt, was sie hier eigentlich tue, worauf sie ihm entgegnet habe: »Wo sollte ich sonst sein?« Er darauf, mit einem Lachen: »In Ihrem Alter sollten Sie tot sein.«
- Ein Arzt, der einen Patienten sich vollständig entkleiden lässt, ist wahrscheinlich ein Muster an Gründlichkeit. Wenn die Untersuchung die Spiegelung des Augenhintergrunds und das Abtasten der Arterien beider Füße umfasst mit einer Pause auf dem Weg von Kopf zu Fuß zwecks Palpation und Auskultation noch anderer Organe, dann handelt es sich bei diesem Arzt wahrscheinlich um einen kompetenten Praktiker.
- Aber noch viel wichtiger als alle Gründlichkeit bei der körperlichen Untersuchung ist die Bereitschaft eines Arztes, eventuelle Irrtümer und Fehler ohne jede Ausflüchte einzugestehen. Einem intelligenten Patienten sollte klar sein, dass die Ausübung der Medizin keine exakte Wissenschaft ist. Fehler sind unvermeidlich. Dies gilt auch für die gewissenhaftesten und professionellsten Ärzte, welche die allerhöchsten Standards anlegen. Das offene Eingeständnis von Fehlern ist der beste Weg, um ihre Wiederholung zu vermeiden. Gewöhnlich ist es ein Zeichen erstklassigen Arztseins.
- Das Problem häufiger Überweisungen zu Spezialisten verdient ebenfalls der Erwähnung. Hierbei handelt es sich um nichts Neues. Schon ein Jahrhundert zuvor beklagte sich Dostojewski in »Die Brüder Karamasow«: »Und heutzutage haben sie die Angewohnheit, einen zu einem Spezialisten zu schicken: >Ich kann lediglich Ihr Problem diagnostizieren, aber wenn Sie diesen oder jenen Spezialisten aufsuchen, so wird er wissen, wie es beseitigt werden kann.< Ich sage Ihnen, der gute alte Doktor, der Sie noch von jeder Krankheit befreien konnte, ist vollkommen von der Bildfläche verschwunden, und Sie finden heutzutage nur noch Spezialisten, und diese bieten ihre Dienste sogar in Zeitungen an.«
Wenn das Problem zu jener Zeit noch in den Kinderschuhen steckte, so ist es heutzutage außer Kontrolle geraten. Wenn ein Arzt nur sparsam Maßnahmen einsetzt und zahllose Überweisungen zu Subspezialisten vermeidet, aber dennoch bereit ist, die Grenzen seines Wissens zuzugeben, dann hat er eine sehr gute Beurteilung
verdient. Der moderne Arzt, der in technischer Hinsicht aufs Beste ausgebildet ist, sollte nicht allein als Verkehrspolizist tätig sein, der den Strom der Patienten zu verschiedenen Spezialisten lenkt. Die meisten medizinischen Probleme sind alltäglicher Natur und können leicht von einem niedergelassenen Arzt bewältigt werden.
Wann aber sollte man einen Spezialisten aufsuchen? Ganz sicher dann, wenn einem ein vertrauenswürdiger Hausarzt empfiehlt, man würde von einem anderen Arzt mit größerer Erfahrung profitieren. Leidet der Patient an einer eindeutig identifizierten Krankheit, die der Langzeitbehandlung bedarf, dann ist ein Spezialist im Umgang mit dieser Erkrankung besser geschult als ein Allgemeinarzt. Eine Überweisung ist angezeigt, wenn der Patient an hartnäckigen Symptomen leidet, welche die Lebensqualität untergraben und wenn der Internist oder der Allgemeinarzt die Ursache nach einer ausreichend langen Zeit nicht herauszufinden vermochte. Bestimmte Probleme wie jene auf dem Gebiet der Dermatologie, Gynäkologie, Neurologie, Ophthalmologie, Orthopädie und Urologie sind besser bei den entsprechenden Spezialisten aufgehoben.
- Letzten Endes sucht man nach einem Arzt, bei dem es einem leicht fällt, seine Klagen zu schildern, ohne Angst zu haben, anschließend zahlreichen Prozeduren unterzogen zu werden. Man hält Ausschau nach einem Arzt, für den der Patient niemals nur eine statistische Größe ist, nach einem Arzt, der keine das Leben gefährdenden Maßnahmen empfiehlt mit der Absicht, das Leben zu verlängern, nach jemandem, der weder die Risiken von harmlosen Erkrankungen übertreibt noch sich von schweren Krankheiten irritieren lässt.
- Vor allen Dingen aber sucht man nach einem Anteil nehmenden menschlichen Wesen, dessen Sorge für seine Patienten geleitet ist von einer Freude am Dienen, die in seinen Augen ein unvergleichliches Privileg ist."
[Quelle: Lown, Bernard <1921 - >: Die verlorene Kunst des Heilens : Anstiftung zum Umdenken. -- 2., erweiterte und illustrierte Auflage. -- Stuttgart [u.a.] : Schattauer, 2004. -- XX, 307 S. ; 25 cm : Ill. + 1 Audio-CD. -- Originaltitel: The lost art of healing. -- ISBN 3-7945-2347-4. -- S. 297 - 300. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch bei amazon.de bestellen}]
Abb.: Prof. Dr. med. Bernard Lown, geb. 1921 in Utena, Litauen, 1985
Friedensnobelpreis für IPPNW
[Bildquelle:
http://www.int-med.de/lown/lown/lown.html. -- Zugriff am 2006-01-02]
"Bernard Lown Initiator und Mitbegründer der IPPNW [International Physicians for the Prevention of Nuclear War], Präsident 1980-1982, Co-Präsident 1982-1993, Prof. emeritus der Kardiologie der Harvard-Universität in Boston, USA, Erfinder der lebensrettenden Elektro-Defibrillation, Empfänger des Friedens-Nobelpreises 1985 für die IPPNW, gemeinsam mit Evgenij Chazov [Евгений Иванович Чазов, geb. 1929].
"Die höchste Pflicht der Ärzte im nuklearen Zeitalter ist die Einführung professioneller Hilfsmittel für die Arbeit an der Verhinderung der letzten und endgültigen Seuche. Der Kampf für menschliches Überleben erfordert keine Rechtfertigungen. Dies befindet sich in Einklang mit den heiligsten Traditionen der Medizin." Bernard Lown, 1985
Bernard Lown wurde am 7. Juni 1921 in Utena, Litauen, als Sohn eines Schuhmachers geboren. Die Familie emigrierte 1935 in die USA. Das Studium der Medizin absolvierte Lown an der University of Maine, wo er den ersten wissenschaftlichen Ausbildungs-Abschnitt 1942 mit Auszeichnung bestand. Er promovierte 1945 an der John Hopkins University School of Medicine.
Schon während der Studienzeit engagierte sich Lown in studentischen Gruppen, die wegen ihrer Forderung nach verstärkter Zulassung von Farbigen, Frauen und Juden zum Medizin-Studium als "linksgerichtet" angesehen wurden. Zeitweise war er vom akademischen Unterricht suspendiert, da er die von ihm als unsinnig betrachtete Verwendung von "farbigen" und "weißen" Blutkonserven für die jeweilige Rasse ignoriert hatte. In den Jahren 1945 bis 1950 arbeitete er als Assistent in verschiedenen Krankenhäusern und Fachdisziplinen, von 1950-1953 in der Kardiologie des Peter Bent Brigham Hospitals in Boston.
Während der Ära des US-amerikanischen Kommunisten-Jägers [Joseph] McCarthy [1909 - 1957] zu Beginn der 50er Jahre hatte man Lown als Arzt für den Einsatz im Korea bestimmt und wollte ihn veranlassen, aus einer Liste von 400 "subversiven" Organisationen diejenigen anzugeben, denen er angehört hatte. Er lehnte ab und plädierte für die Abschaffung dieser diskriminierenden Gesetze. Es folgte prompt die Degradierung vom Captain zum einfachen Dienstgrad und die Strafversetzung in ein Militär-Hospital nach Tacoma, Washington, wo er ein ganzes Jahr (1954) mit der erniedrigenden Tätigkeit verbringen musste, morgens die Krankenhaus-Gänge mit dem Besen zu kehren und nachmittags Sprechstunde abzuhalten. Schließlich wollte ihn kein ziviles Krankenhaus mehr beschäftigen; erst die Initiative seines ehemaligen Lehrers ermöglichte die Einstellung als Assistenz-Arzt wieder am berühmten Peter Bent Brigham Hospital. Lown beurteilte diese Zeit selbst folgendermaßen: "Sie ruinierte mein Leben ein Jahr lang und verzögerte meine Karriere um ein Jahrzehnt, aber sie machte mich zu einem besseren Arzt."
Lown hätte auch den Nobelpreis für Medizin verdient: Er ist der Erfinder der Elektrodefibrillation (1961), mit der das tödliche Kammer-Flimmern, die häufigste Ursache des "sudden death", unterbrochen werden kann. Weltweit ist seither mit dieser Methode Hunderttausenden von akut Zusammen-Gebrochenen das Leben gerettet worden. Lown hatte über die Ursachen und Verläufe von Herzrhythmus-Störungen klinisch und tier-experimentell gearbeitet, bereits 1952 die Sonderform des Präexcitations-Syndroms LGL-Syndrom (Lown-Ganong-Levine-Syndrom) und 1967 das "sick sinus syndrome" (Sinusknotensyndrom) beschrieben. Zur Unterbrechung gefährlicher Extrasystolie-Salven ("Lown-Klassifikation der Ventrikulären Extrasystolie" 1971) führte Lown die Lidocain- Therapie ein.1962 beschrieb Lown die "Elektro-Cardioversion" zur Beendigung tachykarden Vorhof-Flimmerns und richtete 1966 die erste kardiologische Intensiv-Station (am Peter Bent Brigham Hospital) ein.
Über 300 wissenschaftliche Publikationen und mehrere Bücher und Buchbeiträge wurden von Lown erarbeitet. Er wurde mit über 20 Promotionen, Titeln und Mitgliedschaften von amerikanischen und internationalen Universitäten und Akademien geehrt.
Die Arbeit der folgenden Jahre war bis zu seinem Emeritieren von zwei Schwerpunkten gekennzeichnet: Einerseits verfolgte Lown seine Arbeit als Kardiologe an der Harvard School of Public Health konsequent weiter. Anderseits engagierte sich Lown seit den 60er Jahren für die Verantwortlichkeit des Arztes im Zeitalter der nuklearen Bedrohung. Er trat für den ärztlichen Auftrag im Sinne der Lebens-Erhaltung, für die Verhinderung des Atomkriegs sowie für die medizinische Kooperation über die Grenzen politischer und ideologischer Macht-Blöcke hinaus ein. Er war einer der ersten Mediziner, die die Gruppe Physicians for Social Responsibility (PSR) 1960 ins Leben riefen, die der nuklearen Kriegsgefahr der folgenden Jahre entgegen wirken wollte. Die Bürgerrechts-Bewegung und der Vietnamkrieg unterbrachen dann aber bis in die späten 70er Jahre hinein die Weiter-Entwicklung der PSR, sie führte zunächst nur noch ein Schattendasein.
Die Initiierung der medizinisch-wissenschaftlichen Kooperation mit der Sowjetunion durch ein Abkommen im Jahr 1972 führte Lown mit Prof. Evgenij Chazov [Евгений Иванович Чазов, geb. 1929], Direktor des Nationalen Herzforschungs-Instituts in Moskau und ebenfalls Kardiologe, zusammen. Das Thema von drei folgenden internationalen Konferenzen war der plötzliche Herztod, ein Arbeitsgebiet, in dem Lown 1971 eine Klassifikation ventrikulärer Extrasystolen als Ergebnis seiner Untersuchungen entwickelte; sie lieferte einen wichtigen Beitrag zur Abschätzung des Herztod-Risikos.
Die Wiederbelebung der PSR durch junge ÄrztInnen um Dr. Helen Caldicott [geb. 1938] 1979 im Zusammenhang mit dem Reaktor-Unglück von Three Mile Island rückte auch Lown wieder in das öffentliche Interesse. Lown appellierte an seinen sowjetischen Kollegen Chazov, die Ärzteschaft in Ost und West dürfte angesichts eines drohenden Atomkriegs nicht schweigen: "Es gibt nur eine fundamentale Gewissheit im nuklearen Zeitalter: die Zukunft, das Schicksal der amerikanischen, der sowjetischen und der europäischen Gesellschaft sind unauflösbar verbunden. Entweder wir leben zusammen oder wir sterben zusammen."
Abb.: ®LogoChazov stimmte zu, man traf sich in Genf 1980. Mit einer gemeinsamen Erklärung sechs sowjetischer und US-amerikanischer Ärzte folgte die Gründung der internationalen Organisation International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW). Es wurde verabredet, eine Konferenz von sowjetischen, japanischen und US-amerikanischen ÄrztInnen einzuberufen. Eine Fülle von Telefonaten und Reisen folgte, immer wieder nach Moskau, Genf, London u.a., und bereits am 23. März 1981 konnte die erste Konferenz mit 73 ärztlichen TeilnehmerInnen aus 12 Ländern in Airlie/Virginia, USA unter der Präsidentschaft von Bernard Lown stattfinden. In seiner Rede sagte Lown: "Unser Ziel ist es, die Ärzte weltweit auf die tödlichen Gefahren des atomaren Wettrüstens hinzuweisen. Es ist unsere Hoffnung, dass die Ärzte helfen werden, die Bevölkerung aufzuklären, denn nur eine stark gewordene öffentliche Meinung kann den schicksalhaften Ablauf zur Katastrophe noch abwenden."
Ab April 1982 wurde die IPPNW gemeinsam von Lown und Chazov als Co-Präsidenten geführt. Lown begab sich unermüdlich auf Reisen in viele Länder, um die internationale Ärzteschaft, die Öffentlichkeit, die Weltgesundheits-Organisation, das Internationale Rote Kreuz, die Vereinten Nationen und mehrere Regierungschefs in überzeugenden und zündenden Reden über die immensen Gefahren des atomaren Wettrüstens und der Politik der Androhung zu gegenseitiger Vernichtung zwischen den USA und der Sowjetunion aufzuklären. Lown und Chazov erhielten 1985 stellvertretend für die 145.000 ÄrztInnen der IPPNW aus 41 Ländern den Friedens-Nobelpreis.
Lown traf sich mehrmals mit Präsident Michail Gorbatschow [Михаил Сергеевич Горбачёв], um über die atomare Abrüstung zu reden. Er schreibt in einem Brief an Lown, dass sein politisches Handeln, so auch das von ihm bestimmte einseitige Atomtest-Moratorium, wesentlich durch die IPPNW beeinflusst worden sei. In seinem Buch "Perestroika" (München 1987) resümiert Gorbatschow die Gespräche mit Lown und dem IPPNW-Vorstand: "Die internationale Vereinigung "Ärzte für die Verhinderung des Atomkriegs" hat innerhalb einer kurzen Zeitspanne immensen Einfluss auf die Meinung der Welt-Öffentlichkeit erlangt... Ich habe Professor Lown schon früher kennengelernt, aber diesmal nach dem Kongress in Moskau (1987) traf ich alle Führer der Bewegung. Man kann nicht ignorieren, was die Leute sagen... Im Licht ihrer Argumente und der streng wissenschaftlichen Daten, über die sie verfügen, scheint kein Raum mehr für müßiges Politisieren. Und kein Politiker, der es ernst meint, hat das Recht, ihre Schlüsse zu missachten oder sich nicht um die Ideen zu kümmern, mit denen sie die Meinung der Weltöffentlichkeit einen Schritt nach vorn bringen..."
Auf allen IPPNW-Weltkongressen bis 1996 und auf vielen regionalen IPPNW-Konferenzen in diversen Ländern (u.a. mehrfach in Deutschland) hielt Lown wegweisende und mutmachende Ansprachen. 1993 in Mexiko-Stadt sprach Bernard Lown das letzte Mal als Co-Präsident. In dieser Rede mahnte Lown, die vielen Kriege und deren Ursachen nicht zu übersehen, sondern sie auch als IPPNW-Aufgabe zu begreifen. Er entwarf eine "IPPNW-Triangel" dessen eine Seite "Umwelt oder Umwelt-Zerstörung", die andere Seite "Entwicklung oder Armut" bezeichneten, die Basis "Krieg oder Frieden". Der Frieden ist in stetiger Gefahr, wenn Armut und Umwelt-Zerstörung walten.
Neben seiner vollen Tätigkeit als Kardiologie-Professor und Leiter des Forschungs-Instituts sowie als Kliniker und als IPPNW-Copräsident entwickelte und gründete Lown weiterhin ein Satelliten-System, das den Ärzten Afrikas und anderer Länder der sogenannten Dritten Welt einen Kontakt untereinander sowie zu den Bibliotheken des Westens schaffte: Er nannte es SATELLIFE, "Satelliten für das Leben" (1987), die innerhalb weniger Stunden die erbetenen Informationen sendeten. Dies in einer Zeit, in der Satelliten vorwiegend für Zwecke der militärischen Aufklärung und "Star Wars" in den Himmel geschossen wurden. In den letzten drei Jahren nahm Lown ein spezielles kardiologisches Informations-Programm hinzu, das den Namen "Procor" trägt. Die notwendigen Finanzierungen erwarb Lown durch großzügige Spender.
Nach mehr als 30 Jahren intensiver Arbeit für soziale Gerechtigkeit und gegen Atomwaffentests im Rahmen der PSR, für Frieden in der Welt und für die Verhütung eines Atomkriegs im Rahmen der IPPNW, übergab Lown sein Amt in die Hände seines neu gewählten Nachfolgers Vic Sidel.Im April 1997 ernannte die deutsche IPPNW-Sektion Bernard Lown zu ihrem Ehrenmitglied. In seinem Dankesbrief schrieb Lown an Prof. Ulrich Gottstein: "Der Höhepunkt meiner Aufenthalte in Deutschland war der Kölner Kongress 1986. Ich erinnere mich an einen unangenehmen Brief, den mir ein jüdischer australischer Arzt zuvor geschrieben hatte: wie könne man einen IPPNW-Kongress in Deutschland abhalten; das sei aus ethischen und humanitären Gründen abzulehnen. Ich schrieb ihm damals einen langen Brief und bat ihn, nicht zu urteilen, bevor er den Kongress besucht habe. Ich wusste nicht, ob er kommen wurde, bis nach Ende der Schluss-Veranstaltung ein Mann mit tränen-feuchten Augen zu mir kam und sagte: "Ich bin der australische jüdische Kollege, der an dich geschrieben hatte. Diese jungen deutschen Ärzte haben für mich Deutschlands Humanität wiedergewonnen. Danke, dass Du mich drängtest, zum Kongress zu reisen."
Lown gründete 1997 mit gleichmeinenden KollegInnen ein "Ad-Hoc-Committee to defend Health Care", weil er betrübt über die Entwicklung in der US-amerikanischen Medizin war. Das Komitee engagiert sich für eine sozialere Medizin und für Versicherungs-Systeme, die vorrangig den PatientInnen und nicht der Technologie und dem Profit dienen sollen.
Lown war seit seiner Jugend nicht nur ein beobachtender und scharf denkender Student, Arzt, Forscher und Lehrer, sondern immer ein mitfühlender und sozial eingestellter Mensch. Er sah es als seine Pflicht an, gegen Unrecht zu kämpfen und das Gewissen der Mitmenschen aufzurufen. Er blieb der "spiritus rector", der Visionär, der Diplomat, der nicht aufgebende Kämpfer, der begeisternde Arzt und Humanist, unermüdlich für das Ziel arbeitend: "wir müssen die größte Menschheits-Katastrophe verhüten, die letzte Epidemie".
"Wir dürfen nicht unsere Augen schließen, auf das Gute hoffen und passiv bleiben. Hoffnung ohne Aktion ist hoffnungslos. Überleben bedarf des Protestes, nicht der Resignation. Wir müssen eine Gefühlsregung in brennender moralischer Entrüstung wecken. Um Leben auf der Erde zu retten, brauchen wir nicht nur eine neue Art des Denkens, sondern eine neue Art des Fühlens, eine Sympathie mit der zerbrechlichen Blume, mit dem flatternden Schmetterling, mit dem nestbauenden Vogel, denn alle teilen unser Schicksal und sind in der gleichen Gefahr." Bernard Lown, Frankfurt/Main 1987"
[Quelle: http://www.ippnw.de/20jahre/personen/lown.htm. -- Zugriff am 2006-011-02]
"4. Januar 2006, Neue Zürcher Zeitung Frustration in der Hausarztpraxis
Die Grundversorger sehen sich als «bedrohte Spezies»Unter den Hausärzten gärt es. Die Arbeitsbedingungen haben sich in den Augen der Grundversorger in den letzten Jahrzehnten schleichend verschlechtert: Die Patienten seien fordernder, die regulatorischen Vorschriften anspruchsvoller geworden. Vertreter der Allgemeinärzte sehen bereits die Institution des Hausarztes als gefährdet an.
Abb.: "So kann es nicht mehr weitergehen! Deshalb haben die Schweizerische Gesellschaft für Allgemeinmedizin und das Kollegium für Hausarztmedizin eine Petition lanciert und laden am 1.4. zur Kundgebung nach Bern ein." -- Demoaufruf der Schweizerische Gesellschaft für Allgemeinmedizin
[Bildquelle: http://www.sgam.ch/. -- Zugriff am 2006-01-04]Mt. Den Hausärzten ist der Kragen geplatzt. Für den 1. April dieses Jahres rufen sie zu einer Demonstration auf, anlässlich deren eine Petition «Gegen die Schwächung der Hausarztmedizin und den drohenden Hausärztemangel» eingereicht werden soll. Was wie ein Aprilscherz klingt, ist offenbar bitterer Ernst, wie Rolf Nägeli, Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin, bestätigt. Unmittelbarer Auslöser der Unzufriedenheit war der Entscheid Bundesrat Couchepins vom vergangenen November, die Vergütungen für Laborleistungen um zehn Prozent zu kürzen; eine Maßnahme, die von der Verbindung schweizerischer Ärztinnen und Ärzte FMH als «Angriff auf die Grundversorger» interpretiert wurde, die ohnehin eine «bedrohte Spezies» seien.
Burnout-SymptomeDie Frustration unter den Hausärzten ist allerdings kein neues Phänomen, sondern in dem Berufsstand gärt es seit längerem. Wie Ueli Grüninger, Geschäftsführer des Kollegiums für Hausarztmedizin, sagt, zeigte die Reaktion auf die Kürzung der Labortarife bloß, wie dünn die Haut mittlerweile geworden ist. Bereits vor drei Jahren habe das Kollegium eine Untersuchung über die Befindlichkeit der Schweizer Grundversorger in Auftrag gegeben. Deren Ergebnisse hätten ihm schon zu Denken gegeben, sagt der besonnen wirkende Internist. Bei einem Drittel der ärztlichen Grundversorger hätten sich mäßige bis starke Zeichen von Burnout gezeigt; diese Ärzte seien schlecht gelaunt, niedergeschlagen und fühlten sich nicht frisch an der Arbeit.
Interessant sind für Grüninger die Ursachen dieser Symptome. Sie lägen nicht etwa in der fachlichen Überforderung oder im Umgang mit schweren menschlichen Problemen der Patienten. Vielmehr klagten ausgebrannte Ärzte mehrheitlich über den Umfang der administrativen Arbeit und die Vielzahl der regulatorischen Vorschriften, die sie erfüllen müssten. Gleichzeitig erführen die Ärzte politisch und sozial nicht mehr dieselbe Anerkennung wie früher, ist Grüninger überzeugt. Früher hätten im Dorf der Pfarrer, der Lehrer und der Arzt etwas gegolten. Heute sei der Pfarrer verschwunden, auf die Lehrer werde nicht mehr gehört, und jetzt sei eben auch der Arzt an der Reihe, vom Podest gestoßen zu werden.
Patienten mit vorgefassten MeinungenAuch wer nicht bereut, dass die Zeiten der «Halbgötter in Weiß» definitiv passé sind, bestätigt den Wandel in der Rolle des Arztes. Die Patienten hätten sich verändert, sagt Christian Weber, ein Basler Allgemeinmediziner, der vor bald dreißig Jahren seine Praxistätigkeit aufgenommen hat. Sie seien weit besser informiert als früher. Dadurch sei das Verhältnis Arzt - Patient zwar partnerschaftlicher geworden, aber für die Ärzte sei die Arbeit nicht unbedingt einfacher. Mehr Information bedeute eben nicht immer bessere, sondern manchmal auch falsche Information. Manche Patienten hätten eine fordernde Haltung. Einige kämen mit einer festen Vorstellung von Diagnose und Therapie in die Praxis, und er brauche viel Zeit, bis er diese zum Teil im Fernsehen oder Internet aufgeschnappten Ideen relativiert und in einen realistischen Rahmen gestellt habe. Von manchen Patienten werde er auch nur noch bei leichten Erkrankungen konsultiert oder wenn es eilig sei. Sonst gelangten sie direkt an den Spezialisten, «ihren» Dermatologen, Hals-Nasen- Ohren-Arzt oder Orthopäden. Das sei manchmal frustrierend - vor allem wenn man bedenke, dass dem Patienten durch die ganzheitliche Sichtweise des Grundversorgers oft besser gedient sei. Hinzu komme, dass diese Spezialisten mehr verdienten und beruflich oft ein bequemeres Leben hätten. Trotz allem befriedigt ihn seine Arbeit, versichert er. Er würde auch wieder den Beruf des Allgemeinarztes wählen, denn dieser habe ihm im Verlauf seiner Tätigkeit neben der Vertiefung in psychosomatische und psychosoziale Bereiche auch die Möglichkeit vieler Weiterbildungen in allen möglichen Richtungen erlaubt.
Unter den jungen Ärzten entscheiden sich allerdings derzeit nur noch wenige für die klassische Tätigkeit als Hausarzt. Laut Angaben der Fachzeitschrift «Primary Care» haben in den vergangenen Jahren durchschnittlich 127 Hausärztinnen und Hausärzte eine Praxistätigkeit aufgenommen. Gleichzeitig wurden im Jahr 2004 über 430 Nachfolger für eine Praxis gesucht. Gerade in ländlichen Orten mit bloß zwei bis vier Grundversorgern (bekannte Beispiele sind Grindelwald oder Evolène) lassen sich kaum junge Ärzte nieder, da die Arbeitsbelastung einschließlich der Notfalldienste am Abend und am Wochenende viel größer als in den Städten ist.
Peter Tschudi, Vorsteher des Instituts für Hausarztmedizin an der Universität Basel, der selber auch als Hausarzt tätig ist, hält das Problem für dramatisch. Die Hausarztmedizin habe ein Riesenproblem, sagt er. «Uns gehen die Hausärztinnen und Hausärzte aus.» Wenn man die heutige Hausarztdichte aufrechterhalten wolle, brauche man jährlich 200 Neuzugänge, rechnet er vor. Im ersten Halbjahr 2005 seien es in der ganzen Schweiz aber bloß 36 gewesen. Die Jungen wollten eben heute lieber im Spital arbeiten, moniert er, wo sie einen gesicherten Arbeitsplatz mit einem Riesenapparat an Spezialisten und Technik hinter sich hätten. In der Praxis trage man die Verantwortung halt allein, auch die wirtschaftliche - wie ein Kleinunternehmer. Die Banken unterstützten einen bei der Praxiseröffnung nur noch schlecht, und mit politischen Maßnahmen schraube man auch noch die Einkommen herunter. Für ihn geht die Entwicklung gesundheitspolitisch in die falsche Richtung. Die Hausärzte behandelten 90 Prozent aller Krankheitsfälle und beanspruchten dafür etwa 15 Prozent aller (über die Krankenversicherung abgerechneten) Kosten. Nur 1 bis 2 Prozent der Fälle benötige ein Spitalbett, verschlinge dort aber 50 Prozent der Gesundheitsausgaben. Wenn man also sparen wolle, solle man in den Spitälern ansetzen, anstatt den Hausärzten das Leben schwer zu machen.
Reformbedürftiger BildungssektorNach Ansicht von Tschudi sollte auch die Aus- und Weiterbildung weiter reformiert werden. Angehende Mediziner müssten früh im Studium erleben, wie die Tätigkeit in einer Hausarztpraxis aussehe. In Basel habe man mit dem Einzeltutorat im dritten und vierten Studienjahr den Anfang gemacht. Da verbringen die Studierenden einmal wöchentlich einen Nachmittag in einer Hausarztpraxis. Diese Lehrveranstaltung sei in den Augen der Studenten der Höhepunkt des gesamten Curriculums, wie eine unabhängige Evaluation ergeben habe, sagt Tschudi. Auch die Weiterbildung zum Facharzt Allgemeine Medizin FMH dürfe stärker praxisbezogen sein, fordert er. Angehende Hausärzte müssten möglichst häufig mit dem nicht selektionierten Patientengut einer Hausarztpraxis konfrontiert werden, wo sie lernten, Entscheide unter Unsicherheit zu fällen. Dafür geeignet wäre die Praxis-Assistenz, die unbedingt weiter gefördert und anständig bezahlt werden sollte. Die Weiterbildung müsse auch stärker auf neue Lebensformen ausgerichtet sein. Das heißt, es müsse möglich sein, die Arbeit mit der Familiengründung zu vereinen und Teilzeit zu arbeiten - sind doch heute zwei Drittel der Studierenden Frauen.
An einer Stärkung der Hausarztmedizin hat die Öffentlichkeit jedes Interesse, denn Hausärzte erbringen eine kostengünstige Medizin. «Stellen Sie sich vor, was ein Patient mit Kopfweh in einem Unispital auslöst», sagt Grüninger zur Illustration dieses Umstands. Die Krankenkassen haben dies längst erkannt und versuchen, dem mit Hausarztmodellen und HMO-Gemeinschaftspraxen Rechnung zu tragen, wo die Patienten verpflichtet sind, ihren Hausarzt immer als erste Anlaufstelle zu konsultieren. Die bisherigen Erfahrungen sind gut, gerade aus Sicht betroffener Ärzte: Stefan Klarer, Internist in der HMO-Gemeinschaftspraxis in Basel, erzählt zum Beispiel enthusiastisch von den Möglichkeiten einer Großpraxis. Man treffe sich ein bis zwei Mal wöchentlich, um Diagnostik und Therapien zu diskutieren, und könne so vom Wissen der anderen profitieren. Jeder in der Gruppe erarbeite auch praxisinterne Behandlungsrichtlinien und betreue kleinere Projekte. Er zum Beispiel sei dabei, ein Programm zur elektronischen Erfassung der Patientengeschichte einzuführen. Solche Arbeiten könne man in einer Gemeinschaftspraxis leichter organisieren, weil sie sich auf mehrere Leute verteilten.
HMO profitierenMit dieser teamorientierten Arbeitsweise und der Möglichkeit von regelmäßigeren Arbeitszeiten kommt eine Gruppenpraxis sicher vielen Bedürfnissen jüngerer Mediziner entgegen. Vorläufig werden HMO-Gruppenpraxen aber nicht als Arbeitsform der Zukunft angesehen; zu groß sind die Vorbehalte vieler Ärzte, sich vermeintlich vor den Karren einer Versicherung spannen zu lassen. Im Moment herrsche die totale politische Konzeptionslosigkeit, kommentiert Klarer die Situation. Das Gesundheitswesen sei für Patienten, Ärzte und Kassen ein einziger Selbstbedienungsladen. Für die Basler HMO sei dies aber nicht ungünstig, fügt er lakonisch an. Bisher hätten sie vom Kostendruck nur profitiert. Seit der Gründung hätten sie mit jeder Prämienerhöhung mehr Patienten gewonnen."
[Quelle: ©Neue Zürcher Zeitung. -- Internationale Ausgabe. -- Nr. 2 (2006-01-04). -- S. 32]
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