Materialien zur buddhistischen Ethik

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"Güte (mettâ) und Mitgefühl (karu*nâ)"

Kapitel 10: Anwendungen buddhistischer Ethik


von Alois Payer

mailto:payer@well.com


Zitierweise / cite as:

Payer, Alois <1944 - >: Materialien zur buddhistischen Ethik.  --   Kapitel 10: Anwendungen buddhistischer Ethik. -- Fassung vom 7. März 1996. -- URL: http://www.payer.de/buddhethik/ethbud10.htm. -- [Stichwort].

Letzte Überarbeitung: 7. März 1996

Anlaß: Lehrveranstaltung Ethik des Buddhismus, Univ. Tübingen, SS 1993

©opyright: Dieser Text steht der Allgemeinheit zur Verfügung. Eine Verwertung in Publikationen, die über übliche Zitate hinausgeht, bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Verfassers.


Übersicht



1. Sri Lanka: Sarvodaya Shramadana Movement


Weiterführende Ressourcen:

Kantowsky, Detlef: Sarvodaya : the other development. - Delhi : Vikas, 1980

Gombrich, Richard ; Obeyesekere, Gananath: Buddhism transformed : religious change in Sri Lanka. - Princeton : Princeton Univ. Pr., 1988. - S. 243-255


Jetzt möchte ich auf ein Beispiel buddhistischer sozialer Gestaltung in Sri Lanka eingehen: das Sarvodaya Shramadana Movement.

Der Gründer dieser Bewegung, Ahangamane Tudor Ariyaratne, interpretiert diesen Namen als "Das Teilen seiner Zeit, Gedanken und Energien zur Erweckung aller".[Kantowsky, Sarvodaya S. 40] Diese Bewegung ist ein Versuch, genuin buddhistische Werte in die entwicklungspolitischen Bemühungen zu bringen. Die Bewegung geht zurück auf das Jahr 1958, als Ahangamane Tudor Ariyaratne, damals Lehrer für Naturwissenschft an einer High School, seine Schüler und einige andere mitnahm in ein Dorf mit outcasts, um dort 11 Tage auf dem Gebiet Dorfentwicklung tätig zu sein. Damit wollte er Mitgliedern der städtischen Oberschicht Einsichten in die wahren Lebensbedingungen ihrer outcast-Mitbürger geben. Die Bewegung ist gewiß mit beeinflußt durch M. Gandhi und Vinoba Bhave, will aber eine eigenständige buddhistische Entwicklung sein. Die Geschichte der Bewegung ist schwer zu rekonstruieren: einige Ereignisse mögen genügen: 1966 beschloß man, in hundert ausgewählten Dörfern in Sri Lanka ein sog. Gramodaya programm (Dorferweckung) durchzuführen, um so den 100. Geburtstag Gandhis (1969) zu feiern. Bei dieser Gelegenheit wurden auch die eigenen Vorstellungen klarer als bisher formuliert: Ziel des Sarvodaya ist es, in jedem Individuum eine doppelte Erlösung (Befreiung) zu erreichen:

Die Realisierung sollte auf drei Ebenen geschehen:

  1. durch Shramadana, dh. gemeinsames Arbeiten und Teilen, ein erzieherischer Erweckungsprozeß
  2. diese neue Atmosphäre und Selbstachtung wird genutzt durch die Sarvodaya Dorferweckung und Entwicklung
  3. durch Partizipation des Volkes in den verschiedenen Stadien der Planung und Ausführung entsteht ein gewaltloser Prozeß der Emanzipation.

Den Erziehungsprozeß durch Shramadâna zeigt folgendes Schema:

Shramadana Lager:

Tätigkeiten:

Erziehungsziel:

Erweckung des Individuums:

  1. Wohlwollen / Güte (mettâ)
  2. Mitgefühl (karu.nâ)
  3. Mitfreude (muditâ)
  4. Gelassenheit / Gleichmut (upekkhâ)

Erweckung der Gruppe

  1. Teilen (dâna)
  2. freundlicher Umgang in Worten (priyavacana)
  3. gemeinsame konstruktive Aktivität (arthacariya)
  4. Gleichheit (samanatmatâ) durch gemeinsames Essen, Wohnen usw. ohne Ansehen von Kaste, Klasse usw.

Von der erzieherischen Wirkung der Shramadana-Lager erwartet man:

  1. gegenseitiges Verstehen von Stadt und Land
  2. neues Selbstvertrauen und neue Selbsthilfe auf dem Land
  3. neue ländliche politische Führer

Der Entwicklungsprozeß durch Gramodaya: während des ersten Jahrs wollte die Bewegung in jedem der 100 Dörfer eine Reihe von Zielen verwirklichen [Liste s. Kantowsky S.51], was aber nicht immer gelang.

Das dritte oben genannte Mittel der Bewegung, die Partizipation des Volkes an den verschiedenen Entscheidungen geschieht in verschiedenen Gruppen [S. Kantowsky S. 54]. Durch die Partizipation soll das Individuum den Anreiz bekommen, in sich die vier Brahmavihâras zu entwickeln; dadurch beeinflußt er wieder seine Nachbarn: indem er seine Ichlosigkeit realisiert wird er bei konstruktiven Tätigkeiten mitarbeiten und teilnehmen. So entwickelt man positive Abläufe der Entstehung in Abhängigkeit. [Diagramme s. Kantowsky S. 55] In der Folgezeit entwickelte sich die Bewegung u.a. auch mit ausländisher Hilfe (aus Deutschland z.B. die F. Naumann-Stiftung der FDP). 1978 gehörten zur Bewegung über 2000 halb-professionelle Mitarbeiter und mehr als 2000 Dörfer hatten zumindest elementare Erfahrungen mit Sarvodaya-Aktivitäten.

Um die Entwicklungsziele in den Dörfern klarer zu machen hat man unter Mitwirkung von 660 Dorfbewohnern zehn elementare menschliche Bedürfnisse in den ländlichen Gebieten Sri Lankas identifiziert:

Zehn elementare menschliche Bedürfnisse nach der Sarvodaya-Bewegung

  1. eine saubere und schöne Umwelt (Umgebung)
  2. saubere und ausreichende Wasserversorgung
  3. ein Minimum an Kleidung
  4. ausgewogene Ernährung
  5. ein einfaches Haus zum Wohnen
  6. elementare Gesundheitsfürsorge
  7. einfache Kommunikationsmöglichkeiten
  8. ein Minimum an Energieversorgung
  9. ganzheitliche Erziehung
  10. geistliche und kulturelle Bedürfnisse

(Diese Grundbedürfnisse werden noch weiter gegliedert, sodaß schließlich 167 Punkte herauskommen).

Maßstab dafür, wo die Befriedigung der Bedürfnisse endet und Gier beginnt ist nach Kantowsky die buddhistische Lehre und langerprobte Standards des ländlichen Lebens, insbesondere "Mögen alle Wesen wohlauf und glücklich sein" (alle Wesen, nicht nur die Menschen).

Wenn man das ideologische Verhältnis der ceylonesischen Sarvodaya-Bewegung zum Buddhismus beschreiben will, dann könnte man mit Kantowsky sagen, daß diese Bewegung versucht, die Leute zum rechten Verständnis von anatta (Nicht-Ich) zu erwecken: die Vorstellung eins Ich führt ja zu den schädlichen Gedanken des Ich und Mein und den diesen Gedanken entsprechenden selbstischen Wünschen, zu Gier, Anhaften, Haß usw. Die ceylonesische Sarvodayabewegung fördert aber nicht das Ideal des heimlosen Mönchs, sondern versucht die buddhistischen Ideale (z.B. die brahmavihâras) in soziale Tätigkeit einzubringen. Sarvodaya ist überzeugt, daß man nicht nur durch Meditation anatta verwirklichen kann, sondern auch dadurch, daß man seine Zeit, Gedanken und Energie für die Erweckung aller gibt. [Diese Arten der Ichüberwindung haben im übrigen im Mahâyâna einen starken Ausbau gefunden.]

Noch einige Bemerkungen zur heutigen (1978) Praxis der ceylonesischen Sarvodaya-Bewegung (soweit es in unserem buddhistischem Zusammenhang interessant ist, den größeren Kontext findet man im Buch von Kantowsky zusammengefaßt):

Auf der Ebene der Ausbildungskurse für Freiwillige und Mitarbeiter auf Dorfebene möchte ich die Ausbildungskurse für Mönche hervorheben: 1977/78 wurden angeboten: einmonatige Kurse für junge Mönche: Grundorientierung in der Sarvodayaphilosophie und Entwicklungsarbeit. Zum selben Thema wurden für junge Mönche viermonatige Intensivkurse angeboten. 14 Mönche nahmen an einem viermonatigen Kurs über Gemeinschafts-Führung teil.

Zur Ausbildung der Mönche gibt es ein Bhikkhu-Trainig-Institute. Seine Aufgaben beschreibt sein Gründer Henpitagedera Gnanaseeha Thero so: junge Mönche, die eine bestimmte Ausbildung abgeschloßen haben, sich aber über ihren Platz in der Gemeinschaft unklar sind, sollen eine Ausbildung in sozialen Diensten erhalten, sodaß sie eine sinnvolle Rolle in der Entwicklung der Nation und der Religion, in der Erhaltung des Mönchsordens und buddhistischer Werte spielen können. Heutzutage sei die Beziehung zwischen Mönch und Dorfbewohner auf den Austausch von ein paar religiösen Pflichten beschränkt. Früher aber hätte die Dorfbevölkerung die Mönche als die aktiven Führer zu sozialem Fortschritt und als religiöse Berater betrachtet. Der Mönch habe auch heute die Möglichkeit, diese Stellung wieder einzunehmen. Seine Funktion umfaßt nicht nur die geistliche Entwicklung des Dorfes in der Emanzipation des Individuums, sondern auch die materielle Entwicklung der Gemeinschaft. Das Bhikkhu Training Institute in Pathakada, dessen Gebäude mit deutscher Entwicklungshilfe errichtet wurde, bietet Platz für 60 Mönche. Diese Zahl wurde aber bis 1978 nicht erreicht. Die Zahl der Teilnehmer an Viermonatskursen nahm von insgesamt 80 1976 über 43 1977 auf 30 1978 ab. Die Teilnehmer stammen aus den verschiedenen Nikayas. Um die Nachwuchsprobleme zu beheben plante man 1978, drei Trainingsinstitute für junge Mönche und Novizen zu errichten. Aber nicht nur die Nachfrage nach diesen Kursen ist nach den Augen der Sarvodayaanhänger unbefriedigend, auch der Output ist es: nur ca 27% derer die 1976 einen großen Kurs absolvierten, gingen auch wirklich in die Sozialarbeit; von den Absolventen der kurzen Kurse (1 Monat und weniger) waren es nur 47%. Ein Curriculum für den (ursprünglichen) Sechsmonatskurs findet sich bei Kantowsky auf S. 132.

Wenn mir eine persönliche Bemerkung zum ceylonesischen Sarvodaya bzw. zu Kantowskys Sicht davon erlaubt ist, so möchte ich doch fragen, ob die vielen Fehlschläge von Sarvodaya nicht doch auch daher kommen, daß man wieder einmal in der Weltgeschichte versucht, den guten Menschen zu erziehen. Der traditionelle Buddhismus hat zumindet gegenüber Kantowskys früherer Sicht viel mehr Geduld mit der menschlichen Schlechtigkeit und ist nicht der Meinung, daß es auf der Welt grössere Gemeinschaften von Erlösten geben kann, die frei von Verblendung, Gier und Haß sind.


2. Zur Ethik von Tierversuchen


Einleitung zum Referat der Biologiestudentin Shelby Baker: Ethik von Tierversuchen

Wir wollen uns heute mit einer Anwendung buddhistischer Ethik beschäftigen: mit der Ethik von Tierversuchen. Was gehen uns mit Ausnahme unserer Biologen-Kolleginnen - Tierversuche an? Ist das nicht wieder so ein Gebiet, wo man sich herrlich darüber unterhalten kann was andere tun und lassen sollten. Ist das nicht wieder die Sorte von Weltverbesserung nach dem Motto: mit uns selber werden wir nicht fertig, also verbessern wir die Welt!?

Ganz so ist es nicht: nach heutigem Stand werden ca. ein Drittel von uns irgendwann an Krebs erkranken. Dann werden wir vermutlich auch vom unsäglichen Leid tausender von Krebsmäuse, Krebsschweine, Krebsaffen usw. profitieren. Ein Zweck unserer heutigen Diskussion ist es, uns daran zu erinnern, wieviel wir, wenn wir unsere Krankheiten erfolgreich behandeln, dem Leid von Mitwesen verdanken. Dies könnte uns zu größerem Wohlwoolen, Mitleid und größerer Mitfreude mit eben diesen MItwesen bewegen,

Auf einen zweiten wichtigen Aspekt weist Shelby Baker in ihrem Paper sehr schön hin: die Problematik von Tierversuchen im Dienste der Medizin kann auch eine Anleitung zu rechter Achtsamkeit sein: "Man sollte sich deshalb bewußt sein, daß die Sorge für die eigene Gesundheit heute auch Sorge für andere Lebewesen bedeutet." (Shelby S. 10)

Im SPIEGEL vom Vorgestern (5. Juli 1993) wird auf S. 162-163 ein Buch vorgestellt, das einen wichtigen Punkt unseres Themas, Versuche an Primaten, beinhaltet:

The great ape project / Ed. by Paola Cavalieri and Peter Singer. - London : Fourth Estate, 1993. - 312 S.

In diesem Buch fordert der australische Bioethiker Peter Singer, den großen Menschenaffen (Schimpansen, Orang Utans und Gorillas) die Menschenrechte zu gewähren, insbesondere:

Der SPIEGEL schließt den Bericht mit folgenden Worten:

"Bei der Spezies Mensch hingegen kennt Singers Fürsorge Grenzen. Wütende Proteste erntete der affenliebende Bioethiker vor vier Jahren in Deutschland, als er sich öffentlich zur aktiven Euthanasie bekannte. Schwerstbehinderte Säuglinge, erklärte er damnals, seien `bis zu einem Monat nach der Geburt nicht als Menschen zu betrachten, die ein Recht auf Leben haben'.

In solchen Fällen, so Singer in einem Interview, sei es 'zulässig, die Interessen der anderen Betroffenen mit einzubeziehen. Die Eltern können sich gegebenenfalls gegen das Kind entscheiden`.

In seinem Buch "Should the baby live?" stellte Singer auch die Frage nach der Wirtschaftlichkeitt behinderten Lebens: "Es gibt eine Grenze für die Belastbarkeit jeder Gemeinschaft."

Als Begründung für seine haarsträubenden Thesen verwies der Euthanasie-Verfechter auf die soviel lebenswerteren Kreaturen der Fauna: Viele Tiere, so Singer 1989, hätten nun einmal "höhere Fähigkeiten im Hinblick auf Verstand, Selbstbewußtsein und Kommunikation" als ein schwerstbehindertes Kind." (SPIEGEL S. 163)

Wenn DER SPIEGEL Peter Singer richtig wiedergibt, dann erinnert mich das, was Herr Dr. Krochmalnik, Dozent an der jüdischen Hochschule in Heidelberg, über Tierschutz im Dritten reich sagte. In einem faszinierenden Vortrag, in dem er in einer rabbinischen Auslegung von 5. Mose 22,6 aus der Thora eine geradezu buddhistische Einstellung zur Mitwelt ableitete. Dabei sagte Dr. Krochmalnik:

"Die Nazis führten gleich nach der Machtübernahme eine vorbildliche Tierschutzgesetzgebung ein. Nur haben sie vergessen, diesen Tierschutz auf die Juden anzuwenden."

Zum Glück steht unsere Diskussion in keiner Weise unter dem Vorzeichen eines menschenverachtenden Tierschutzes. Ganz im Gegenteil: unsere Kollegin Shelby Baker hat uns eine ausgesprochen humane, sauber durchdachte, intelligente und engagierte Diskussionsgrundlage vorgelegt, die außerdem noch was sehr selten ist - beim Lesen großes Vergnügen bereitete.

Es folgte das Referat:

Baker, Shellby Ellen: Die Ethik von Tierversuchen


Zu Kapitel 11: Andere Ethikmodelle