Dharmashastra : Einführung und Überblick

8. Manu IX: Sitte und Recht von Ehe und Familie

1. Einleitung und Einstimmung


von Alois Payer

mailto: payer@payer.de


Zitierweise / cite as:

Payer, Alois <1944 - >: Dharmashastra : Einführung und Überblick. -- 8. Manu IX: Sitte und Recht von Ehe und Familie. -- 1. Einleitung und Einstimmung. -- Fassung vom 2003-12-13. -- URL: http://www.payer.de/dharmashastra/dharmash081.htm -- [Stichwort].

Erstmals publiziert: 2003-12-13

Überarbeitungen:

Anlass: Lehrveranstaltung 2003/04

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Dieser Teil ist ein Kapitel von: 

Payer, Alois <1944 - >: Dharmashastra : Einführung und Übersicht. -- http://www.payer.de/dharmashastra/dharmash00.htm

Dieser Text ist Teil der Abteilung Sanskrit von Tüpfli's Global Village Library


0. Übersicht



1. Einleitung


 


Abb.: [Bildquelle: http://www.womeninworldhistory.com/cartoon-2.html. -- Zugriff am 2003-12-03]

Wegen der herausragenden Bedeutung, die die Manusmrti in Indien hatte, gebe ich in diesem Kapitel einen großen Teil von Manu, Kapitel IX wieder. So soll gleichzeitig ein Eindruck von der Manusmrti anhand eines größeren zusammenhängenden Stücks gegeben werden als auch der wohl in Indien bekannteste und am meisten polarisierende Text zur Stellung der Frau.

Übersetzungen der Manusmrti (siehe auch Kapitel 3):

Manu: The laws of Manu / transl. with extracts from 7 commentaries by G. Bühler. -- Oxford : Clarendon, 1886. -- CXXXVIII, 620 S. -- (The sacred books of the East ; 25). -- Online: http://hinduwebsite.com/sacredscripts/laws_of_manu.htm. -- Zugriff am 2003-11-11

Manu: Manu-smrti : the laws of Manu ; with the Bhasya of Medhathiti / transl. by Ganganatha Jha. - Calcutta : University of Calcutta, 1920 - 1926. -- 5 vol. in 8 parts + Notes in 3 parts. -- [Unentbehrlich!!!]

Manu: The laws of Manu / with an introd. and notes transl. by Wendy Doniger with Brian K. Smith - 1. publ.. - London : Penguin Books, 1991. - LXXVIII, 362 S. -- (Penguin classics). -- ISBN 0-14-044540-4

Damit wir dabei nicht dem Exotismus verfallen, beginne ich mit einigen Daten zur Geschichte der zivilrechtlichen Stellung der Frau in der modernen Schweiz. Aus anderen europäischen Ländern könnte man Ähnliches anführen.


2. Zur Einstimmung: zur Geschichte der zivilrechtlichen Stellung der Frau in der modernen Schweiz


Aus dem Bericht der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen. -- URL.: http://www.frauenkommission.ch/pdf/d_3_0_recht.pdf. -- Zugriff am 2003-12-07

"Frauen im Zivilrecht: Mündigkeit, Ehe, Scheidung / [Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen]

Einleitung

Im 1848 entstandenen liberalen Staat blieben die Frauen nicht nur von der politischen Mitbestimmung ausgeschlossen. Auch im Bereich des Zivilrechts versagte man ihnen die Rechtsgleichheit. So unterschiedlich die kantonalen Gesetze des 19. Jahrhunderts waren, in der Entmündigung der verheirateten Frauen stimmten sie überein. Die Ehefrau stand unter der Vormundschaft des Ehemannes; sie hatte keine Verfügungsmacht über ihr eingebrachtes Vermögen und ihre Einkünfte, und sie war in ihrer Handlungsfähigkeit stark eingeschränkt. Einige Kantone stellten bis ins späte 19. Jahrhundert auch die volljährigen ledigen, verwitweten und geschiedenen Frauen unter die sogenannte Geschlechtsvormundschaft. Dazu kamen fast überall erbrechtliche Benachteiligungen für Frauen.

1882 wurde die Geschlechtsvormundschaft durch ein Bundesgesetz beseitigt. Dadurch erlangten die nichtverheirateten Frauen die volle Rechts- und Handlungsfähigkeit. Die «Bevormundung» der Ehefrau durch ihren Gatten blieb dagegen für weitere hundert Jahre erhalten. Das schweizerische Zivilgesetzbuch (ZGB), das 1912 an die Stelle des kantonalen Privatrechts trat, beseitigte zwar die eheliche Vormundschaft als rechtliche Einrichtung. De facto blieben die verheirateten Frauen in ihrer Handlungsfähigkeit aber massiv eingeschränkt.

Erst im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts führten das gewandelte Selbstverständnis der Frauen und die stark veränderten Formen des Zusammenlebens dazu, dass im Ehe- und Familienrecht das hierarchische Führungsmodell durch ein neues, partnerschaftliches Leitbild von Ehe und Familie abgelöst wurde. Als erstes wurde in den 1970er Jahren das Adoptions- und das Kindsrecht revidiert und dabei auch die Stellung der Mutter verbessert. 1988 trat das revidierte Ehe- und Ehegüterrecht in Kraft, das auf dem Grundsatz der Gleichberechtigung von Frau und Mann beruht. Das Prinzip der partnerschaftlichen Ehe floss auch in die Revision des Erbrechts ein. Die traditionelle Vorrangstellung des Ehemannes blieb jedoch bei der rechtlichen Regelung des Familiennamens und des Bürgerrechts der Familie erhalten. Mit einer Revision des Namensrechts hätte die Gleichstellung auch in diesen beiden Punkten verwirklicht werden sollen. Das Parlament lehnte eine entsprechende Gesetzesänderung jedoch in der Sommersession 2001 ab. Das revidierte Scheidungsrecht, das für Frauen insbesondere eine gerechtere Regelung der beruflichen Altersvorsorge bringt, trat auf Anfang 2000 in Kraft. Den Abschluss der langjährigen Familienrechtsrevision soll die Erneuerung des Vormundschaftsrechts bilden.

Das neue Eherecht von 1988 hat mit rund hundertjähriger Verspätung die meisten Forderungen erfüllt, die von der frühen Frauenbewegung bei den Vorarbeiten zum ZGB erhoben worden waren. Im bestehenden Recht nicht berücksichtigt sind die vielfältigen Formen familialen Zusammenlebens außerhalb einer traditionellen Ehe. Zu den heutigen Forderungen an ein zeitgemäßes Zivilrecht gehören deshalb zivilstandsunabhängige Regelungen, die diesen neuen (und alten) Familienformen Rechnung tragen. Sie werden zurzeit vor allem im Zusammenhang mit der rechtlichen Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften diskutiert.

Chronologie

Schon früh fordern Frauen die Verbesserung ihrer Stellung im kantonalen Privatrecht. Vorrangiges Ziel dieser oft vermögenden Bäuerinnen, Gewerbetreibenden und Frauen der Oberschicht ist die Abschaffung der in einigen Kantonen noch bestehenden Geschlechtsvormundschaft, die sie in ihrer Rechtsund Handlungsfähigkeit beschränkt. Auf eidgenössischer Ebene kristallisieren sich die Bemühungen der ersten Frauenrechtlerinnen um 1870: In der Verfassungsrevision und den Bemühungen für eine Rechtsvereinheitlichung sehen sie einen geeigneten Ausgangspunkt, um ihre zivilrechtliche Benachteiligung zu beseitigen. Zu einer breiten Politisierung der Frauen und zur Koordination ihres Kampfes für eine bessere zivilrechtliche Position kommt es in den 1890er Jahren, als die Vereinheitlichung des Familien- und Eherechts nach längeren Verzögerungen an die Hand genommen wird.

1846/47

Erfolgreiche Petition von 157 Bernerinnen zur Abschaffung der Geschlechtsbeistandschaft im Kanton Bern. Dank des 1847 erlassenen Emanzipationsgesetzes können volljährige ledige und verwitwete Frauen im Kanton Bern fortan ohne männlichen Vormund über ihr Vermögen verfügen.

1851/52

Zwei Petitionen zur Verfassungsrevision im Kanton Basel-Landschaft verlangen u. a. für Frauen das Recht zur freien Vermögensverwaltung. Sie bleiben ohne Wirkung.

1862

Im Rahmen der Baselbieter Verfassungsrevision petitionieren 30 Frauen aus Sissach für ein gerechteres Erbrecht und bessere Bildungsmöglichkeiten. Frauen aus dem Waldenburger-Tal doppeln nach und verlangen zusätzlich die wirtschaftliche Handlungsfähigkeit. Sie haben keinen Erfolg.

1868

Zahlreiche Eingaben an den Zürcher Verfassungsrat weisen auf die Benachteiligung der Frauen im Ehe- und Erbrecht sowie in der Ausbildung hin.

1868/70


Abb.: Marie Goegg-Pouchoulin, Gründerin der Association internationale des femmes [Bildquelle: http://www.sozialarchiv.ch/Webthema/2001/Chronik1.html. -- Zugriff am 2003-12-07]

Die in Genf gegründete Association internationale des femmes setzt sich im Rahmen der Totalrevision der Bundesverfassung für die Vereinheitlichung des Zivilrechts ein: In zwei Bittschriften an den Nationalrat verlangt sie die zivilrechtliche und wirtschaftliche Gleichstellung der Frauen.

1872

Die Bernerin Julie von May von Rued (1808–1875) schaltet sich mit ihrer Schrift «Die Frauenfrage in der Schweiz» in den Abstimmungskampf um die Verfassungsrevision ein. Sie beruft sich auf den Gleichheitsartikel 4 der Bundesverfassung und fordert die privatrechtliche und wirtschaftliche Gleichstellung von Frau und Mann.

1873

Das Lausanner Lokalkomitee der Association pour la défense des droits de la femme verlangt in einer Petition an den Grossen Rat die Aufhebung der gesetzlichen Vormundschaft über unverheiratete Frauen. Der Forderung wird stattgegeben.

1874

Die zweite Vorlage für die Totalrevision der Bundesverfassung wird vom Stimmvolk gutgeheißen. Anders als die erste, 1872 in der Volksabstimmung gescheiterte Vorlage verzichtet sie auf die Vereinheitlichung des gesamten Zivil- und Strafrechts. Damit fällt ein wichtiger Ansatzpunkt für die Rechtsgleichheit der Frauen weg.

Das Bundesgesetz betreffend Feststellung und Beurkundung des Zivilstands und die Ehe («Civilstandsgesetz») vom 24. Dezember führt die obligatorische Zivilehe ein, lässt die Ehescheidung zu und beseitigt alle konfessionellen Ehehindernisse. Es präzisiert damit die in der totalrevidierten Bundesverfassung garantierte Ehefreiheit und die Verstaatlichung des Zivilstandswesen.

1882

Das Bundesgesetz über die persönliche Handlungsfähigkeit tritt am 1. Januar in Kraft und garantiert den ledigen, verwitweten und geschiedenen Frauen die volle Rechts- und Handlungsfähigkeit. Die in den Kantonen Appenzell, Graubünden, St. Gallen, Uri und Wallis noch bestehende Geschlechtsvormundschaft ist damit abgeschafft. Die eheliche Vormundschaft im kantonalen Recht wird davon nicht tangiert.

1887

Bei den Beratungen zur Revision des Zürcher Privatgesetzbuchs erntet der Kantonsrat und Pfarrer Philipp Heinrich Wolf ungläubiges Gelächter, als er die Streichung des Satzes «Der Ehemann ist das Haupt der Familie» beantragt. Erfolglos bleibt auch eine Frauenpetition, die das Recht zur Vormundschaftsausübung auch auf die Frauen übertragen wollte.

Der vom Bundesrat mit der Ausarbeitung eines neuen Zivilgesetzbuches (ZGB) beauftragte Jurist Eugen Huber legt ab 1893 die ersten Teil- und Vorentwürfe für ein Zivilgesetzbuch vor. Als Vorbild dient ihm das zürcherische Privatrecht (1853–56, revidiert 1887), eine Schöpfung des konservativen Zürcher Juristen Johann Kaspar Bluntschli, das hinsichtlich der Rechtsstellung der Frau sehr rückständig ist: Im Familien- und Eherecht ist sie dem Mann untergeordnet, im Vormundschafts- und Erbrecht massiv benachteiligt. Nach intensiver Bearbeitung des zweiten Vorentwurfs (1900) durch eine große Expertenkommission und nach eingehender Beratung genehmigen die eidgenössischen Räte am 10. Dezember 1907 den bereinigten Gesamtentwurf zum ZGB. Die Frauenbewegung, die sich in diesen Jahren auf gesamtschweizerischer Ebene organisiert, mischt sich von Anfang an aktiv in die Gesetzgebungsarbeiten ein. Die Möglichkeiten der Einflussnahme sind jedoch sehr beschränkt. Von der politischen Mitbestimmung ausgeschlossen, können die Frauen ihre Anliegen nur durch einen männlichen Vertreter oder mittels Petitionen und Eingaben in die politischen Männergremien einbringen.

1892/94


Abb.: Emilie Kempin Spyri [Bildquelle: http://www.sozialarchiv.ch/Webthema/2001/Chronik1.html. -- Zugriff am 2003-12-07]

Die erste Schweizer Juristin, Emilie Kempin-Spyri (1853–1901), setzt sich in ihrer Zeitschrift «Frauenrecht» kritisch mit der zivilrechtlichen Stellung der Frau auseinander und macht Vorschläge für das künftige ZGB. Hauptzweck der 1892 gegründeten Zeitschrift «Frauenrecht» ist es, die öffentliche Meinung und damit indirekt die Gesetzgebungsarbeiten zugunsten der Frauen zu beeinflussen.

1894

Am Schweizerischen Juristentag, der im September in Basel stattfindet, manifestiert sich erstmals das starke Interesse der Frauen an den Zivilgesetzgebungsarbeiten. Rund 15 Frauenvereine, aber auch einzelne Frauen aus der ganzen Schweiz verlangen in zahlreichen Eingaben eine bessere Stellung der Frau, insbesondere im Ehegüterrecht.

Als erste Frauenorganisation gelangt das Berner Frauen-Komitee  am 21. November mit einer Eingabe an das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement. Darin wird die Besserstellung der Frauen im Zivilrecht verlangt. Dem Vorstoß des Frauen-Komitees folgt bis 1905 eine lange Serie weiterer Petitionen von Frauenorganisationen. Die Frauenforderungen an das ZGB zielen auf ein gerechtes Ehegüterrecht, ein verbessertes Selbstbestimmungsrecht in der Ehe, Scheidungserleichterungen, das Recht auf Vormundschaftsausübung für Frauen, eine verbesserte Rechtsstellung der Mutter sowie auf eine bessere Prozessposition der nichtverheirateten Mutter. Nicht thematisiert wird die innereheliche Aufgabenteilung. Das gesetzlich festgeschriebene Modell, das die Ehefrau zur Führung des Haushalts und den Ehemann zur Erwerbstätigkeit verpflichtet, wird nie grundsätzlich in Frage gestellt. Unter den Frauenorganisationen, die als Fernziel die rechtliche und politische Gleichstellung von Frau und Mann anstreben, ist der 1900 gegründete Bund Schweizerischer Frauenvereine (BSF) besonders aktiv. Unterstützt wird er vom Arbeiterinnenverband. Einen eigenen Weg gehen die gemeinnützigen und moralreformerischen Frauenvereine, die statt gleicher Rechte vermehrten Schutz für Frauen und Kinder fordern (z. B. Erhöhung des Heiratsalters für Frauen auf 18 Jahre, besseren Schutz des nichtehelichen Kindes).

1897

Als einzige Frauenorganisation beantragt die Zürcher Union für Frauenbestrebungen in ihrer Eingabe vom 17. Juni die Streichung des eherechtlichen Grundsatzes, wonach der Mann das Haupt der ehelichen Gemeinschaft sei.

1898

Annahme von Artikel 64 Absatz 2 der Bundesverfassung in der Volksabstimmung vom 12. November. Der Bund erhält damit die Kompetenz zur Gesetzgebung im gesamten Zivilrecht.

1904

Die Forderung des BSF nach einer Frauenvertretung in den vorberatenden Kommissionen des National- und Ständerats wird abgewiesen, angeblich um keinen Präzedenzfall zu schaffen.

1912


Abb.: Einbandtitel einer Ausgabe von 1911

Das Schweizerische Zivilgesetzbuch (ZGB) tritt am 1. Januar in Kraft. Es wird allen (männlichen) Stimmbürgern zugestellt, den Frauen nur auf Verlangen. Die Frauenorganisationen protestieren vergeblich.

Die Stellung der verheirateten Frau ist im neuen ZGB nicht wesentlich besser als unter den alten kantonalen Gesetzen. Die Möglichkeiten, individuelle Eheverträge abzuschließen, sind zwar erweitert worden, doch hat man die Güterverbindung als ordentlichen Güterstand eingeführt. Das in die Ehe eingebrachte Vermögen der Frau bleibt weiterhin der männlichen Verfügungsmacht unterstellt. Auch in ihren sonstigen Entscheidungs- und Mitsprachekompetenzen bleibt die Ehefrau massiv eingeschränkt. So verfügt sie nur für ihre ganz persönlichen Belange über die volle Handlungsfähigkeit. Über die Geschicke der ehelichen Gemeinschaft bestimmt dagegen weitgehend der Ehemann, der als «Haupt der Familie» gesetzlich bestätigt wird. Er gibt der Familie Namen und Bürgerrecht; er entscheidet über den ehelichen Wohnsitz und die Berufstätigkeit der Frau; er vertritt die Familie gegen außen. Die Ehefrau wird zur Führung des Haushalts verpflichtet. Ihre Vertretungsbefugnis beschränkt sich auf die laufenden Haushaltsbedürfnisse. Diese Schlüsselgewalt kann ihr bei Missbrauch oder «Unfähigkeit» vom Ehemann entzogen werden. Ihm obliegt auch die alleinige Verwaltung und Nutzung des ehelichen Vermögens. Die vermögensrechtliche Position der Ehefrau gleicht jener eines unmündigen Kinds. Bei Auflösung der Ehe erhält die Ehefrau einen Drittel, der Ehemann dagegen zwei Drittel des während der Ehe Ersparten.

Das Scheidungsrecht des neuen ZGB entspricht dem patriarchalen Eherecht. Damit eine Ehe geschieden werden kann, müssen bestimmte gesetzliche Voraussetzungen erfüllt sein. Nur das Gericht, nicht das Ehepaar selbst, kann darüber befinden, ob die Voraussetzungen für eine Ehescheidung tatsächlich gegeben sind. Die vermögensrechtlichen Scheidungsfolgen bemessen sich hauptsächlich nach dem Verschulden. Dieses «Sanktionensystem» zeitigt für Frau und Mann im Alltag höchst ungleiche Folgen: Die von ihrem Ehemann zumeist ökonomisch abhängige Frau kann sich kein eheliches Fehlverhalten leisten: Unterhalt erhält sie nach einer Scheidung nur, wenn der Ehemann der überwiegend Schuldige ist.

Einige von Anfang an unbestrittene Neuerungen im ZGB erfüllen auch Frauenpostulate. Dazu gehören: Zulassung der Frauen zur Vormundschaft; Teilhabe der verheirateten Mütter an der elterlichen Gewalt; Ausscheidung des Arbeitserwerbs berufstätiger Ehefrauen als gesetzliches Sondergut (Eigentum der Frau). Einen wirklichen Erfolg können die Frauen nur bei den Schutzforderungen verbuchen: Erhöhung des Heiratsalters für Frauen auf 18 Jahre; Verlängerung der Frist für Vaterschaftsklagen auf ein Jahr; Gleichstellung der Geschlechter bei der Wiederverheiratung des erziehungsberechtigten Elternteils: nicht nur bei der Mutter, sondern auch beim Vater wird geprüft, ob das Kind zu seinem Schutz einen Vormund bzw. eine Vormundin erhalten soll.

In den späten 1950er Jahren kommt es zu ersten Bestrebungen, das Ehe- und Familienrecht zu revidieren. Verschiedene Frauenorganisationen (BSF, Sozialdemokratische Frauengruppen, Schweizerischer Katholischer Frauenbund SKF) erneuern ihre langjährige Forderung nach einem partnerschaftlichen Ehegüterrecht. Auf parlamentarischer Ebene werden ebenfalls Vorstöße zu diesem Thema eingebracht.

1957

 In den Verhandlungen des Schweizerischen Juristenvereins wird die güterrechtliche Stellung der Ehefrau als problematisch beurteilt. Daraufhin setzt das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) eine fünfköpfige Studienkommission ein, der mit Elisabeth Nägeli (BSF) und Lotti Ruckstuhl (Schweizerischer Verband für Frauenstimmrecht SVF) auch zwei Frauenvertreterinnen angehören.

1962/65

Die Studienkommission des EJPD legt in zwei Berichten Vorschläge für eine punktuelle Revision des Familienrechts vor. Sie schlägt u. a. vor, die hierarchische Organisation der Ehe (Ehemann als Haupt der Familie) aufzuheben und den Entscheid über die Berufsausübung der Ehefrau allein zu überlassen. Als neuen Güterstand stellt sie die Eigenverwaltung zur Diskussion.

Die 1966 eingeleitete Vernehmlassung zu den Kommissionsberichten macht deutlich, dass das Familienrecht einer umfassenden Prüfung unterzogen werden muss. Der Bundesrat beschließt deshalb ein etappenweises Vorgehen: Zuerst sollen das Adoptions- und das übrige Kindsrecht revidiert werden, danach die allgemeinen Wirkungen der Ehe und das Ehegüterrecht, schließlich das Scheidungs- und Eheschließungsrecht und zuletzt das Vormundschaftsrecht.

Trotz eher negativen Reaktionen in der ersten Vernehmlassung weicht die Expertenkommission, die für die Eherechtsrevision zuständig ist, nicht von ihrem partnerschaftlichen Konzept ab, sondern baut es in der Folge weiter aus. In der zweiten Vernehmlassung von 1976 manifestiert sich dann weitgehende Zustimmung zum partnerschaftlichen Eherechtskonzept – ein Zeichen für den sich seit den 1970er Jahren beschleunigenden Wandel im Geschlechterverständnis. Dieser schlägt sich 1981 verfassungsrechtlich nieder, als in Art. 4 Abs. 2 BV die Gleichberechtigung der Geschlechter verankert wird.

1973

Das neue Adoptionsrecht tritt in Kraft.

1978

Das neue Kindsrecht tritt auf den 1. Januar in Kraft. Damit werden Kinder verheirateter und nichtverheirateter Eltern juristisch gleichgestellt. Die Stellung der Frau als Mutter ist wesentlich verbessert worden: Die Eltern üben die elterliche Gewalt über die Kinder während der Ehe gemeinsam aus. Gestrichen ist die bisherige Zusatzbestimmung, wonach bei Uneinigkeit der Eltern dem Vater der Stichentscheid zustehe. (Die entsprechende Bestimmung im Eherecht tritt erst zehn Jahre später in Kraft.) Wenn die Eltern nicht verheiratet sind, steht die elterliche Gewalt neu der Mutter zu. (Zuvor erhielt sie diese nur durch die Vormundschaftsbehörde ausdrücklich übertragen.)

1976–79

Die Expertenkommission für die Revision des Familienrechts, die sich aus 18 Männern und 11 Frauen zusammensetzt, legt 1976 einen Vorentwurf für die Revision des Eherechts und des Ehegüterrechts vor. Er geht von der gleichberechtigten Partnerschaft als neuem Eheleitbild aus. In der Vernehmlassung werden trotz grundsätzlicher Zustimmung Bedenken laut, ob das Gleichberechtigungsprinzip den Schutz von Ehe und Familie nicht zu stark konkurrenziere (Kritikpunkte: partnerschaftliche Wahl des Wohnsitzes; keine explizite Verpflichtung zu gemeinsamem Wohnsitz; Wahlrecht der Brautleute beim Familiennamen; Ehefrau kann ihr angestammtes Bürgerrecht behalten). Der Bundesrat nimmt in seinem Entwurf diese Kritikpunkte auf (Botschaft über die Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches [Wirkungen der Ehe im allgemeinen, Ehegüterrecht und Erbrecht] vom 11. Juli 1979).

1981


Abb.: Abstimmungsplakat des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes [Bildquelle: http://www.sozialarchiv.ch/Webthema/2001/Chronik4.html. -- Zugriff am 2003-12-07]

Der Grundsatz der Gleichstellung von Frau und Mann wird in der Bundesverfassung verankert. Der neue Artikel 4 Absatz 2 BV wird am 14. Juni mit 60% Ja-Stimmen angenommen.

1981–84

Der Entwurf zum neuen Eherecht wird von den eidgenössischen Räten behandelt. In beiden Kammern erhält die Revision starke Unterstützung.

Ein rechtsbürgerliches «Komitee gegen ein verfehltes Eherecht» um Nationalrat Christoph Blocher (SVP, Zürich) ergreift dennoch das Referendum gegen das neue Eherecht, das angeblich die Bedürfnisse der Familie zugunsten der individuellen Bedürfnisse der Eheleute übergehe.

1985

In der Volksabstimmung vom 22. September wird das neue Eherecht mit 54.7% Ja- Stimmen angenommen. Hohe Ja-Stimmenanteile verzeichnen die welschen Kantone (65.7%) und das Tessin, die Städte (58%) und die stark mobilisierten Frauen (61%). Mit einem Nein-Stimmenanteil von 52% lehnen die Männer die Vorlage mehrheitlich ab.

1988

Das neue Eherecht tritt auf den 1. Januar in Kraft. Es basiert auf dem Grundsatz der Gleichberechtigung von Frau und Mann. Im Zentrum steht die gleichberechtigte Partnerschaft sowie die gemeinsame Verantwortung der Ehegatten für die Pflege und Erziehung der Kinder und für den Familienunterhalt. Die beiden Aufgabenbereiche gelten prinzipiell als gleichwertig, und die Arbeitsteilung bleibt der freien Entscheidung der Eheleute überlassen. Neuer ordentlicher Güterstand ist die Errungenschaftsbeteiligung. Die erbrechtliche Stellung der Eheleute wurde verbessert: Der überlebende Teil erhält neu die Hälfte der Erbschaft, wenn Nachkommen da sind. Mit dem Gleichstellungspostulat nicht vereinbar sind noch die Bestimmungen über den Familiennamen, das Bürgerrecht, den Freibetrag bei Übernahme der Familienarbeit oder Mitarbeit im Unternehmen sowie den Entschädigungsanspruch bei außerordentlicher beruflicher Unterstützung des andern Eheteils.

Die dritte Etappe der Familienrechtsrevision, die Änderung des Eheschließungs- und Scheidungsrechts, wird Anfang der 1990er Jahre an die Hand genommen. Im Zentrum der Revision des Scheidungsrechts, das noch aus dem Jahr 1907 stammt, steht die Abkehr vom Verschuldensprinzip: Die weit verbreitete Konventionalscheidung soll auch im Gesetz den Regelfall darstellen, und die ökonomischen Folgen der Scheidung sollen weitgehend verschuldensunabhängig gestaltet werden. Eine zentrale gleichstellungspolitische Forderung ist die je hälftige Aufteilung der Altersvorsorgegelder, die in der zweiten Säule angespart werden. Unbestritten sind die vorgeschlagene Änderung der für Frauen bisher längeren Wartefrist bei einer Wiederverheiratung und die Gleichbehandlung von Frau und Mann beim Ehemündigkeitsalter. Ein entsprechender Gesetzesentwurf geht 1992 in die Vernehmlassung.

1991


Abb.: Aufruf zum Frauenstreiktag 1991  [Bildquelle: http://www.sozialarchiv.ch/Bestaende/ksbsp.html. -- Zugriff am  2003-12-07]

Das neue Eherecht wirkt sich bei einer Scheidung oft negativ für die Frauen aus. Dies zeigen drei von der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen in Auftrag gegebene Studien in den Kantonen Zürich, Basel, Waadt und Genf. Die Gerichte sprechen den Frauen bei der Scheidung nicht nur tiefere, sondern auch kürzere Renten zu. Den Frauen wird rascher als früher eine Erwerbstätigkeit zugemutet. Zudem wird das Einkommen der Ehefrau bei der Festsetzung von Unterhaltsbeiträgen voll angerechnet, der Einsatz für die Kinderbetreuung dagegen nicht berücksichtigt.

Eine Rüge des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist Mitte der neunziger Jahre der Auslöser für eine Revision der ZGB-Bestimmungen über den Familiennamen der Ehegatten. Die Gleichstellung von Frau und Mann soll gewährleistet werden. Gleichstellung fordern verstärkt auch die gleichgeschlechtlichen Paare: Ihre Lebensform soll durch das Recht ebenso anerkannt und geregelt werden wie die Ehe.

1994

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte rügt am 22. Februar einen Entscheid des Bundesgerichts, das einem Mann das Recht verwehrte, seinen angestammten Namen dem Familiennamen voranzustellen. Das Paar hatte den Namen der Frau zum Familiennamen gewählt. Bei seinem Entscheid hatte sich das Bundesgericht darauf berufen, dass auch mit revidiertem Ehe- und Namensrecht gesetzlich bei Heirat der Geburtsname des Mannes Familienname werde, dem die Ehefrau auf Wunsch ihren Namen voranstellen könne. Der Geburtsname der Braut könne nur mittels Namensänderungsgesuch zum Familiennamen werden, und in diesem Fall sei gerade nicht vorgesehen, dass der Mann seinen Namen voranstellen könne. – Der Bundesrat reagiert auf das Urteil des Gerichtshofs mit einer Änderung der Zivilstandsordnung: Machen die Brautleute mittels Namensänderungsgesuch den Geburtsnamen der Frau zum Familiennamen, so kann der Mann seinen Namen voranstellen. Damit bleibt im schweizerischen Recht jedoch die Differenz, dass der Männername bei Heirat automatisch zum Familiennamen wird, während ein spezielles Gesuch notwendig ist, wenn der Frauenname Familienname werden soll. Nach wie vor ist es nicht möglich, dass bei Heirat jede Person ihren angestammten Familiennamen als solchen behält.

1995

Der Bundesrat leitet dem Parlament am 22. November seinen Entwurf zur Revision des Scheidungsrechts zu. Zentraler Punkt ist der Verzicht auf die Verschuldensfrage. Die Konventionalscheidung soll die Regel werden. Neu vorgesehen ist die Möglichkeit des gemeinsamen Sorgerechts der geschiedenen Eltern für ihre Kinder bei entsprechendem Antrag beider Eltern. Den Kindern wird ein Mitwirkungsrecht im Scheidungsverfahren zugestanden. Die Eltern werden grundsätzlich zur Ausübung des Besuchsrechts verpflichtet. Die während der Ehe angesparten Vorsorgegelder (Pensionskasse) sollen hälftig geteilt werden. Damit soll der gesellschaftlichen Entwicklung und Gerichtspraxis der letzten Jahre Rechnung getragen werden.

1996

Frauen stehen nach einer Scheidung materiell überwiegend schlechter da als ihre Ex- Gatten. Zwei Drittel der Frauen, die während der Ehe nicht oder nur geringfügig erwerbstätig waren, verfügen nicht über das Existenzminimum. Dies zeigt eine im September veröffentlichte Untersuchung (Binkert / Wyss 1997).

Als Erstrat befasst sich der Ständerat im September mit dem neuen Scheidungsrecht.

Der Bundesrat soll prüfen, wie die rechtlichen Probleme von gleichgeschlechtlichen Paaren gelöst werden können. Der Nationalrat überweist ein entsprechendes Postulat, das auf die Petition «Gleiche Rechte für gleichgeschlechtliche Paare» zurückgeht. (vgl. 1995)

1997

Die Rechtskommission des Nationalrats schickt am 15. Juli einen Entwurf zur Gleichstellung im Namensrecht in die Vernehmlassung.

Der Nationalrat beginnt Mitte Dezember mit den Beratungen über die Reform des Scheidungsrechts.

1998

Das Parlament verabschiedet am 26. Juni das neue Scheidungsrecht. Es entspricht im wesentlichen dem Entwurf des Bundesrates (vgl. 1995).

2000

Nachdem kein Referendum zustande gekommen ist, wird auf Anfang Jahr das neue Scheidungsrecht in Kraft gesetzt. Es bringt als wichtigste Neuerung die hälftige Teilung der während der Ehe erworbenen Ansprüche an die berufliche Vorsorge sowie die Möglichkeit des gemeinsamen elterlichen Sorgerechts.

2001

Die Gleichstellung bei der Wahl des Familiennamens (vgl. 1994, 1997) lässt weiterhin auf sich warten. In der Schlussabstimmung der Sommersession lehnt das Parlament das neue Namensrecht ab, dem zuvor beide Räte zugestimmt hatten. Die Gesetzesrevision hatte vorgesehen, dass Brautleute bei der Heirat den eigenen Namen behalten können oder den Namen der Frau oder des Mannes als gemeinsamen Familiennamen wählen. Auch die Möglichkeit eines amtlichen Doppelnamens hätte weiterhin bestanden. Damit bleibt die bisherige Regelung in Kraft: Bei der Heirat wird der Name des Mannes automatisch zum Familiennamen, den auch die Kinder tragen. Nur auf ein Gesuch hin kann der Name der Frau als Familienname gewählt werden. Dass Frau und Mann ihre bisherigen Namen behalten (getrennte Namensführung) ist nicht möglich.

[Quelle. http://www.frauenkommission.ch/pdf/d_3_0_recht.pdf.. -- Zugriff am 2003-12-07]


Zu Kapitel 8.2.: Manu IX, 1-55