Dharmashastra : Einführung und Überblick

8. Manu IX: Sitte und Recht von Ehe und Familie

ANHANG A: Frieda Hauswirth: Die indischen Frauen und die Nationalbewegung (1935)


herausgegeben von Alois Payer

mailto: payer@payer.de


Zitierweise / cite as:

Payer, Alois <1944 - >: Dharmashastra : Einführung und Überblick. -- 8. Manu IX: Sitte und Recht von Ehe und Familie. -- ANHANG A: Frieda Hauswirth: Die indischen Frauen und die Nationalbewegung (1935). -- Fassung vom 2003-12-14. -- URL: http://www.payer.de/dharmashastra/dharmash08a.htm -- [Stichwort].

Erstmals publiziert:  2003-12-14

Überarbeitungen:

Anlass: Lehrveranstaltung 2003/04

Unterrichtsmaterialien (gemäß § 46 (1) UrhG)

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Dieser Teil ist ein Kapitel von: 

Payer, Alois <1944 - >: Dharmashastra : Einführung und Übersicht. -- http://www.payer.de/dharmashastra/dharmash00.htm

Dieser Text ist Teil der Abteilung Sanskrit von Tüpfli's Global Village Library



Abb.: Frieda Hauswirth-Das

[Bildquelle: Hauswirth, Frieda <= Mrs. Sarangadhar Das>: Meine indische Ehe / [Von] Frieda Hauswirth, Mrs. Sarangadhar Das ; Autorisierte Übertragung aus dem Engl. von Jeanne Krünes und Hans Hauswirth. -- Erlenbach-Zürich ; Leipzig : Rotapfel-Verlag, [1933].  -- 357 S. : Ill.  -- Originaltitel: A marriage to India.(1931) -- Vortitelblatt]

Quelle:

Hauswirth, Frieda <= Mrs. Sarangadhar Das>: Schleier vor Indiens Frauengemächern / [Von] Frieda Hauswirth (Mrs. Sarangadhar Das). --.  Erlenbach-Zürich ; Leipzig : Rotapfel-Verlag, 1935.  -- IV, 333 S.  -- S. 251-268. -- Originaltitel: Purdah: the status of Indian women (1932)

Frieda Hauswirth ist von Geburt Schweizerin, ist in den USA aufgewachsen und heiratete einen Inder (Sarangar Das). Zu ihrer indischen Ehe siehe:

Hauswirth, Frieda <= Mrs. Sarangadhar Das>: Meine indische Ehe / [Von] Frieda Hauswirth, Mrs. Sarangadhar Das ; Autorisierte Übertragung aus dem Engl. von Jeanne Krünes und Hans Hauswirth. -- Erlenbach-Zürich ; Leipzig : Rotapfel-Verlag, [1933].  -- 357 S. : Ill.  -- Originaltitel: A marriage to India (1931)


Die Frauen und die National Bewegung

Nur ein verschwindend kleiner Bruchteil der indischen Frauen hat bis jetzt eine Hinsicht in den verwickelten Mechanismus und die vielfältigen Probleme der Verwaltung oder eine Ahnung von der großen Schwierigkeit, mit der eine Land und Volk so fremd gegenüberstehende Regierung naturgemäß zu kämpfen hat. Wäre Indien z. B. während der letzten fünfzig Jahre autonom regiert, worden, dann hätte die Reform wahrscheinlich viel schneller eingesetzt, doch dann wäre auch kein Mittel dagewesen, mittels dessen man aus den unteren Schichten heraus Interesse und Tatkraft hätte ins Leben rufen können, keine Möglichkeit, die Frage der Regierungsform in irgend einen lebendigen Zusammenhang mit dem Dasein des noch ungebildeten .Durchschnittsinders, männlichen oder weiblichen Geschlechts, zu bringen. Jeder Umschlag würde sich einzig in der Weise vollzogen haben, dass aus der dünnen Schicht der Intellektuellen von oben her ein langsames Durchsickern ihrer Ideen in die Massen hinein stattgefunden hätte. Generationen wären in solchem Falle vonnöten gewesen, um in der großen Masse der männlichen Bevölkerung ein politisches Bewusstsein zu wecken, und noch länger hätte dies bei der Großzahl der von diesen Männern abhängigen Frauen gedauert. Allein der scharfe Gegensatz in Rasse, Interessen und Anschauungen zwischen Regierenden und Regierten in Indien führte zu einem raschen Erstarken des politischen Bewusstseins und Strebens in den Reihen der Intelligenz. Daraus entstand unvermeidlich der immer drängendere Wunsch, die Landesverwaltung in eigene Hände zu bekommen und so die Freiheit zurückzugewinnen.

Eine Zeitlang knüpfte das politisch gesinnte Indien seinen Zukunftsglauben an die konstitutionellen Möglichkeiten zur Erlangung der Autonomie, wie britische Versprechungen sie hatten erhoffen lassen. Doch bald empfanden die meisten, dass diese Art des Vorwärtskommens viel zu langsam und unberechenbar sei; wie ein Bleiklotz stemmte sich ihnen die Opposition des Britischen Weltreichs entgegen, zu schwer, um durch konstitutionelle Mittel aus dem Wege geräumt werden zu können. Ob mit Recht oder Unrecht — Indien verlor den Glauben an die politische Aufrichtigkeit Großbritanniens und seine Versprechungen, das Land der Selbstverwaltung entgegenzuführen, oder zum mindesten begann man, eine bewusste Politik der unerträglichen Verschleppung zu argwöhnen. Während das Streben nach konstitutioneller Reform nur die Intelligenz auf den Plan gerufen hatte, bedurfte ein direkter Versuch zur Erringung der Freiheit Indiens auch der Mithilfe sämtlicher Klassen, um Stoßkraft und Gewicht genug zu entfalten. Was war, um die Massen zu gewinnen, die so wenig Begriff von Verwaltungsschwierigkeiten und behördlicher Schwerfälligkeit hatten, einfacher, als der Schrei „Swaraj!". Für alles, das an dem kranken Körper des indischen Lebens schmerzte, sich eingeengt und bedrängt fühlte, war Swaraj das Heilmittel, an allem trug das fremde Raj die Schuld. Gab es etwas, das auch für die des Lesens und Schreibens unkundige Bäuerin leichter zu begreifen gewesen wäre, oder was augenblicklich wirksamer den Nationalzielen gedient hätte? Ganz sicher war an dieser Agitation und Taktik vieles unfair im Hinblick auf die aufbauenden Tendenzen der fremden Regierung, doch kann man daraus nur die herbe Antwort heraushören, die jedes unterjochte Volk schließlich irgendwann einmal auf imperialistische Herrschermethoden geben muss. Überdies hatte die ausländische Regierung die Nationalisten noch mit einigen höchst brauchbaren Ansatzhebeln versehen, denn obschon der Bauer nichts von Verwaltung verstand, leuchtete es ihm doch sehr ein, wenn man ihm sagte, alle vom Volke in den Großen Rat von Delhi gewählten indischen Mitglieder seien für billige Salzpreise, der weiße Sirkar aber habe über ihre Köpfe hinweg

einfach den Preis verdoppelt. Der Bauer wusste, dass er Salz, billiges Salz, notwendig brauchte, und hatte naturgemäß mehr Vertrauen zu der Führung und den Versprechungen von seinesgleichen als zu einem Mlechcha Sahib. Doch diese materielle Erwägung würde an sich nicht genügt haben, die Massen zu gewinnen und sie — zumal die tief religiösen Frauen — zum Handeln zu treiben. Dazu bedurfte es eines erhabeneren Motives, und das fand seine Verkörperung und seinen Ausdruck in der Person Gandhis, des typischen indischen Heiligen und Führers. Der Aufruf zum Dienen, der in seinen Worten lag und durch das Beispiel seines Lebens gestützt ward, sprach das schlichte indische Herz auf dem geradesten Wege an: der alte ideale Weckruf zum Leiden und zur Läuterung.

Abb.: Sanskrittext von Vande Mataram

Abb.: Mutter Indien [Bildquelle: http://www.freeindia.org/vmataram/. -- Zugriff am 2003-12-13]


„Dient der Mutter, befreit die Mutter": „Bande Mataram!" — das war ein Ruf, der wie kein anderer alle die an Mutterkomplexen leidenden indischen Jünglinge, alle die Frauen, deren einzige Hoffnung und Tröstung in der Mutterschaft lag, zu packen vermochte. „Dienet der Großen Mutter!" Dieser Ruf trat mit lebendig flammender Unmittelbarkeit an die Stelle des gewohnten Rufes zur Verehrung der alten Göttinnen; er trat für die weiblichen Gemüter an die Stelle der alten Pflicht des Gattendienstes und der Gattenverehrung. „Die Mutter liegt in Ketten — opfert euch für sie, leidet für sie!" Es war ein von machtvollen Idealen getragener Aufruf, der geradeswegs in die Herzen der durch Zeitalter hindurch Bedrückten mündete — in die der indischen Jugend und der indischen Frauen. Je schlichter das Gemüt, um so mitreißender der Ruf. Sie waren bereit, allen Edikten zum Trotz zu marschieren, gleich jenen Frauen des Altertums, die die Tore ihrer eigenen Stadt gestürmt hatten, um dem nahenden Buddha entgegenzuziehen.

Gandhis tiefes Wissen um Herz und Gemüt seines Volkes erwies sich nie deutlicher als in dem Aufruf, den er ganz besonders an die Frauen richtete — dem Aufruf, vor die Öffentlichkeit zu treten, um zu dienen. Er wusste, dass Indiens Stärke in den Frauen liegt, und zwar wegen der großen Macht, die sie über ihre Söhne haben, und wegen deren Mutteridealisierung. Gandhi hatte vorher über einen langen Zeitraum hin dadurch ungeheuren Einfluss ausgeübt, dass er sich für die Abschaffung des Purdah eingesetzt und so für die Empfänglichkeit des letzten großen Aufrufs vorgearbeitet hatte. Er forderte die Frauen auf, sich insbesondere in den Dienst der Bekämpfung der Trunksucht und des Boykotts ausländischer Stoffe zu stellen — Dinge, die die Frauen hoher Kasten besonders interessierten. Mit Ausnahme der kleinen Gruppe abendländisch beeinflusster Nachahmerinnen europäischer Lebensart, die nur vorübergehend während des letzten Teiles des 19. Jahrhunderts in Erscheinung trat, waren die indischen hohen Kasten dem Genuss von Rauschmitteln jeder Art stets aus strengster Überzeugung abhold gewesen. Nur äußerst selten wird man auf eine Familie von hoher Kaste stoßen, in deren Haus Alkohol in irgend einer Form, selbst als Arzneimittel, zu finden ist. Leider haben sich jedoch mit ihrer zunehmenden Verarmung die niedrigen Kasten dem armseligen Tröste des Toddygenusses immer mehr ergeben. Es war leicht, Frauen zur entschlossenen Bekämpfung dieses Übels zu mobilisieren, um so leichter, als die Schuld daran dem fremden Raj in die Schuhe geschoben werden konnte, denn der Verkauf von Alkohol ist ein Regierungsmonopol.


Abb.: Gandhi am Spinnrad, gemalt von Frieda Hauswith

[Bildquelle: Hauswirth, Frieda <= Mrs. Sarangadhar Das>: Meine indische Ehe / [Von] Frieda Hauswirth, Mrs. Sarangadhar Das ; Autorisierte Übertragung aus dem Engl. von Jeanne Krünes und Hans Hauswirth. -- Erlenbach-Zürich ; Leipzig : Rotapfel-Verlag, [1933].  -- 357 S. : Ill.  -- Originaltitel: A marriage to India.(1931) -- Nach S. 208]

Mit dem Boykott der ausländischen Stoffe war es schwieriger; zahlreiche indische Intellektuelle haben keinen rechten Glauben an die Khaddar- oder einheimische Spinnbewegung. Anderseits aber hat sich unter den gebildeten Inderinnen im Laufe unseres Jahrhunderts eine ausgeprägte Neigung geltend gemacht, von neuem die indischen Textilien zu würdigen, und eine Vorliebe für Saris mit dem echt-altindischen eingewobenen Rand, anstelle des Streifens Spitze oder Maschinenstickerei, der, auf importierte Seide aufgenäht, eine kurze Zeitlang „chic" gewesen war. Dies und der Umstand, dass sie sich als „im Dienste der Mutter" stehend, als „Kämpferinnen für die vaterländische Sache" betrachteten, brachte selbst solche, die von der Wirksamkeit der Khaddarbewegung nicht völlig überzeugt waren, dazu, aus Haus und Verschleierung hinauszutreten in die Öffentlichkeit, um vor den ausländischen Stoffläden Boykottposten zu stehen, denn Gandhi und der Nationalkongress erwarteten es von ihnen.

Bei diesem Postenstehen entwickelten die Frauen eine unerhörte Ausdauer und entschlossene Kraft. Am 9. September 1930 sollten z.B. die Wahlen zum Gesetzgebenden Rat in Bombay stattfinden. Die Gandhipartei wollte, dass sie boykottiert würden, da sie eine Form der Zusammenarbeit mit der Regierung darstellten, die sie auf der Höhe der Nonkooperationsbewegung nicht zu dulden gesonnen war. Innerhalb von sechsunddreißig Stunden fielen etwa 43 cm Regen, nichtsdestoweniger aber begaben sich die Frauen zu Hunderten vor die Wahllokale, um Boykottposten zu stehen. Sie taten es mit solchem Erfolg, dass die Wahlen an jenem Tage verschoben werden mussten. Am nächsten Tag standen sie noch einmal zwölf Stunden regelrecht Posten, während eine ausgezeichnete Organisation dafür sorgte, dass frische Gruppen die alten regelmäßig ablösten. Doch mittlerweile war die Polizei in Bereitschaft getreten und hatte 400 Frauen festgenommen, die nach ihrer baldigen Freilassung mit ungeheurem Jubel begrüßt wurden.

Am Tage der Versteigerung von Konzessionen für den Alkoholausschank in Bombay bildeten Frauen, einander die Hände reichend, eine geschlossene Schutzkette um das ganze Gebäude, in dem die Auktion stattfinden sollte. Der von ihnen organisierte Boykott war so wirksam, dass die Regierung nur Angebote in der Höhe eines kleinen Bruchteils der Einkünfte früherer Jahre erhielt. Im Jahre darauf musste die gleiche Versteigerung dreimal angekündigt werden, weil die Interessenten, die die Vorgänge vom vorhergehenden Jahre nicht vergessen hatten, sich schämten oder fürchteten und einfach wegblieben. Schließlich musste man sich mit hinter geschlossenen Türen unterzeichneten Privatverträgen über Konzessionsabtretungen begnügen, denn der Frauenboykott machte die Abhaltung einer öffentlichen Ausbietung einfach unmöglich.

Was den Warenboykott betrifft, so gingen die Frauen, die bisher streng Purdah beobachteten, unbegleitet zu allen Stunden des Tages in alle Stadtteile. Bezeichnenderweise kamen hierbei Belästigungen seitens der männlichen Bevölkerung äußerst selten vor. Obwohl die Frauen sich oft in die berüchtigtsten und gefährlichsten Viertel wagen mussten, hatten sie nur eine Gefahr zu befürchten: die Polizei. Sogar Ladenbesitzer, deren Geschäft sie doch zugrunde richteten, schritten selbst häufig ein, um zu verhindern, dass Frauen um ihretwillen beleidigt und verhaftet würden. Wenn Boten kamen, um vor dem Nahen der Polizei zu warnen, schlössen die Besitzer oft ihre Läden, um die Frauen, meist gegen deren eigenen Willen, zu schützen; denn wo keine offenen Läden und keine Kläger da waren, konnte die Polizei unmöglich zu Verhaftungen schreiten. In solchen Fällen schalten die Frauen, die sich gern verhaften lassen wollten, auf die ihre Läden schließenden Händler ein: „Ihr Heuchler, schämt euch doch! Haltet eure Bude jetzt, wo die Polizei kommt, offen oder schließt sie ein für allemal und stellt den Verkauf des ausländischen Zeugs ein!" Eine dieser Postensteherinnen sagte mir, dass ein Ladenbesitzer, vor dessen Geschäft sie stundenlang alle Kunden zurückgescheucht hatte, sie buchstäblich durch die Türe in den Laden hinein schob und diese von außen hinter ihr verschloss, um ihre Verhaftung durch die erwartete Polizei zu verhindern. Was spricht schlagender für die Macht, durch die die freie Inderin das Beste in den indischen Männern auszulösen imstande ist?


Abb.: Gandhi und Sarojini Naidu auf dem Salzmarsch, 1930 [Bildquelle: http://www.pbs.org/weta/forcemorepowerful/india/analysis.html. -- Zugriff am 2003-12-13]

Gandhis Lehre von der Gewaltlosigkeit wurde von seinen Anhängerinnen sehr ernst genommen; sie selbst waren entschlossen, Schlechtes nicht mit Schlechtem zu vergelten, ließen sich jedoch durch Gewaltandrohung von Seiten anderer nicht zurückschrecken. In Borsad schritten z. B. einmal 1500 Frauen in einem ruhigen und geordneten Aufzug durch die Straßen, als die Polizei ihnen plötzlich mit dem Lathi entgegentrat. Die Führerin wurde verwundet, schritt aber in ihrem blutgetränkten Sari trotzdem vorwärts, bis sie unter weiteren Schlägen zusammenbrach. Glücklicherweise machten aber die Frauen nicht immer so schlechte Erfahrungen bei ihrem Hinauswagen in das öffentliche Leben. So führte Sarojini Naidu einmal während eines Angriffes gegen die Salzwerke von Darsana den Zug an. Durch die Polizei aufgehalten, setzte sie sich samt allen Nachfolgenden ruhig in den Straßenstaub nieder und weigerte sich, auch nur zollbreit vom Fleck zu weichen. Ein weiteres Vordringen wäre den Frauen unmöglich gewesen angesichts der Mauer von Polizisten, die den Weg versperrte; umzukehren weigerten sie sich. Ohne Wasser und Essen saßen sie in dem sonnendurchglühten Staub während all der heißen Tagesstunden, ließen gelassen den Faden über ihre Handspindeln gleiten und verspotteten die hilflosen Polizisten gutmütig. Bei anderen Gelegenheiten mussten die Frauen auch ohne jede Provokation ihrerseits sehr viel Schweres erdulden, doch auch in solchen Fällen bewiesen sie die gleiche unnachgiebige Geduld. In Virangam trugen zweihundert von ihnen Trinkwasser nach dem Bahnhof, um den Durst einer Gruppe von Gandhis „Freiwilligen" zu stillen, die, verhaftet und stundenlang ohne Labung, dort auf Weiterbeförderung harren mussten. Es war dies eine Handlung einfachster Menschenfreundlichkeit. Nichtsdestoweniger griff die Polizei diese Frauen an und schlug erbarmungslos auf sie ein.

Doch all das schreckte die Frauen nicht zurück; es verlieh im Gegenteil ihrer ganzen Bewegung für Freiheit einen ungeheuren Ansporn. Dieselben Frauen, die schon einmal gelitten hatten, erboten sich freiwillig zu neuem Dienst, sobald ihre Wunden geheilt waren oder sie aus dem Gefängnis entlassen wurden. Und durch ihr Beispiel wirkten sie unwiderstehlich auf andere. Ich kenne einen Fall, der für hundert andere typisch ist. Einer Frau, die in einer Purdahstadt lebte, war von ihrer Schwiegermutter streng untersagt worden sich zu beteiligen, obwohl mehrere ihrer Verwandten und viele ihrer Freundinnen mitten im Kampf standen. Eines Tages griff die Polizei einen Zug von Frauen an, der eben an ihrem Hause vorbeikam. Hinter dem Fensterladen beobachtete sie, zitternd vor Erregung, den Vorgang. Plötzlich vermochte sie den Anblick nicht länger zu ertragen, stieß einen Schrei aus, stürzte aus dem Zimmer und gesellte sich zu den Frauen auf der Straße — zum erstenmal in ihrem Leben ihr Gesicht öffentlich zeigend. Das Erstaunlichste aber war vielleicht, dass in der nachfolgenden heftigen Auseinandersetzung in der Familie ihr Mann tatsächlich die Partei seiner Frau gegen seine eigene Mutter ergriff, etwas durchaus Ungewöhnliches. Neue Tage ziehen wahrlich für Indien herauf, wenn solche Dinge geschehen können.

Jeder Tag des Nonkooperationskampfes erschloss den Frauen neue Möglichkeiten der Freiheit und Selbstentfaltung. Sie fanden Gelegenheiten ohnegleichen, ihre organisatorischen Fähigkeiten und ihre Opferbereitschaft, jene Kräfte, die in der Stille im Schöße der Familiengemeinschaft reiften, draußen in der Arbeit für die Allgemeinheit zu bewähren. So wurden in den Tagen, bevor der Indische Nationalkongress für ungesetzlich erklärt wurde, Tag für Tag über 1000 im Boykottdienst stehende Leute im Bombayer Hauptquartier des Kongresses gespeist. Diese ganze Arbeit wurde von Frauen, meist Angehörigen der hohen Kasten, getan, die es nicht unter ihrer Würde fanden, eigenhändig zu scheuern, zu kochen, aufzuwaschen,, und zu bedienen. Nach der Kaste der Leute zu fragen, die sie bedienten oder mit denen sie speisten, kam ihnen gar nicht in den Sinn. Es war ein wunderbar lehrreiches Zusammenarbeiten. Eine solche „Schule" und solche Erfahrungen werden nicht vergessen sein, wenn einmal die Zeit da ist, sie sich in friedlicher Arbeit zunutze zu machen. Es ist auch sehr interessant zu beobachten, welche Wirkung die Inhaftnahme auf die Frauen gehabt hat: Hunderte gingen durch die Gefängnisse, wenn auch meist nur auf eine oder zwei Nächte, da die Behörden es auf die Dauer nicht mit den Tausenden aufzunehmen vermochten, die ihre Verhaftung provozierten. Viele erhielten jedoch auch ein langes Strafmaß als Gefangene erster, zweiter oder dritter Klasse. Dass die Urteile oft ungerecht und zu hart waren, kann nicht geleugnet werden. Die Schwägerin von Gandhis erstem Nachfolger, eine Frau von einundsechzig Jahren, wurde für friedliches Boykottpostenstehen zu dreiviertel Jahr strenger Gefangenschaft in der dritten Klasse verurteilt. Diese erhalten nur zwei Mahlzeiten täglich, um 10 Uhr morgens und vier Uhr nachmittags. Morgens bekommen sie roti und dal (ungesäuertes Flachbrot und Erbsensuppe), nachmittags roti und ein Gemüse, und als Getränk nur Wasser. Frau Hansa Mehta aus Bombay bürgt für die folgenden Angaben: Oftmals wurden Frauen über Nacht im Polizeigewahrsam gehalten, zu ebener Erde und auf Steinfliesen, ohne Betten oder Bettzeug und hinter vergitterten Fenstern ohne Läden, durch die Vorübergehende zu jeder Tagesund Nachtzeit hineinschauen konnten. Als sie selbst mit zwei Genossinnen in die „erste" Klasse eines Gefängnisses kam, wurde sie mit fünf anderen in einen Raum von knapp 24 Quadratmetern eingesperrt. In der nächsten, gleichgroßen Zelle saßen zehn Frauen, in der übernächsten zwölf. Für die letzteren war nur eine Latrine da. Das ereignete sich während des heftigsten Monsunregens, der durch die scheibenlosen Fenster eindrang und große Pfützen auf dem Boden bildete, der doch den Frauen als Nachtlager zu dienen hatte. Große Teile von Bombay waren überschwemmt; dennoch kam an jenem Tage niemand, um nach den Gefangenen zu sehen, und die Türen wurden trotz der Hochwassergefahr erst am nächsten Morgen um 10 Uhr geöffnet. Die Latrinenabläufe funktionierten nicht, dennoch kam niemand, um nachzuschauen. Erst um fünf Uhr nachmittags erschienen zwei Chaprasi, die Nahrung brachten, aber keine Erleichterung der unerhörten Zustände schaffen konnten. Ein Brief, den die Frauen mit der Bitte um Hilfeleistung hinauszuschmuggeln versuchten, wurde beschlagnahmt. Zu gleicher Zeit wurden in Puna Frauen unter ähnlichen Umständen von fünf Uhr nachmittags bis sechs Uhr morgens regelmäßig in ihre Zellen eingeschlossen, und während dieser Zeit war es ihnen nicht erlaubt, ihre Notdurft zu verrichten. Erst am nächsten Morgen wurde jeder von ihnen eine ganz ungenügende Zeit zur Benutzung der Latrinen eingeräumt, so dass ernste Erkrankungen nicht ausbleiben konnten. In einem der Gefängnisse überhörte eine in ihr Buch vertiefte Frau den Eintritt des Gefängniswärters in die Zelle und unterließ daher den vorgeschriebenen Gruß; zur Strafe wurde sämtlichen Frauen der Abteilung für 14 Tage jeder Lesestoff vorenthalten. Und dennoch ließen sich Hunderte von Frauen nicht an diesen furchtbaren Erfahrungen genügen, sondern provozierten ihre Wiederverhaftung, sobald sie entlassen wurden. Diese Beispiele werden hier nicht etwa aufgeführt, um Recht oder Unrecht solcher Gefängniszustände zur Erörterung zu stellen, sondern um zu zeigen, aus welchem Stoff die Inderinnen gemacht sind, und welch ein erstaunliches Maß von Kraft und Ausdauer sie sich angeeignet haben.

Über die gewaltige Zahl der Frauen, die infolge der Gandhibewegung den Schleier ablegten, soll nur eine einzige Ziffer Andeutung geben: in Meerut allein traten 5000 gleichzeitig an die Öffentlichkeit, um gegen Gandhis Verhaftung zu protestieren, und kehrten nie wieder in Purdah zurück.

Die Wesensart dieser Menschen und die ungeheure Selbstzucht, die sie freiwillig übten, geht aus einem wohlbekannten Vorfall zur Genüge hervor: an dem „Schwarzen Samstag" in Bombay wurden 500 Verletzte in die Krankenhäuser eingeliefert aus den Tausenden, die von der Polizei mit Lathis geschlagen worden waren — doch verhielt sich die Menschenmenge so musterhaft, dass auch nicht ein einziger Polizist verletzt wurde; in solch heroischem Maße befolgten sie ihres Führers Verbot, selbst Gewalt zu üben.

Eine Seite des Nonkooperationsfeldzuges kann man, je nach Gutdünken, erheiternd, ärgerlich oder vielverheißend nennen, — nämlich die Beteiligung des Bandar- oder Affenheeres, der Tausende von Kindern, die durchaus auch das ihrige für die Bewegung tun wollten. Noch vor etwa einer Generation schüchterte die Gegenwart von Weißen indische Kinder ein, und sie brachten sich gewöhnlich bei deren Nahen eiligst in Sicherheit; konnten sie das nicht, so blieben sie mit weitaufgerissenen Augen in tödlicher Verlegenheit stehen. Heute aber zeigen sie statt Ehrfurcht Spott, statt Respekt Abneigung. Während der Boykottage machten sich die Kinder ganz allgemein über die Ausländer, die in ihren Autos vorbeifuhren, lustig und taten alles, was sie konnten, um sie zu ärgern. Und wenn sie sich einmal dieser Aufgabe widmen, dann können die indischen Kinder genau so lästige kleine Teufel sein, wie Pariser oder New Yorker Rangen. Das war aber nicht alles: ihre Behändigkeit und ihre Begeisterung ließen sich mit Vorteil beim Boykottstehen verwenden. Wo die Käufer hartnäckig auf ihrem Willen beharrten, für alles Zureden, keine ausländischen Waren zu erstehen, taube Ohren hatten und sich anschickten mit ihren Einkäufen fortzugehen, verhielten sich die friedlichen Postensteher passiv, die Kinder aber erhoben ein mächtiges Geschrei. Eine Anzahl der flinken, kleinen Quälgeister lief dann neben, vor und hinter dem geplagten Käufer her, brüllte ihn an, höhnte, beschimpfte ihn und bezeichnete ihn vor aller Welt mit gellender Stimme als Abtrünnigen und Verräter. Gar manchen dieser Missetäter verfolgten die Bandars bis zu seiner Haustüre und sorgten eifrig dafür, dass seine Nachbarn erfuhren, was er verbrochen hatte. Nicht vielen Käufern lag an einer Erneuerung solch unliebsamer Erfahrung mit den Bandars. Die Kinder für ihren Teil verbrannten aus freien Stücken ihre ausländischen Spielsachen und versagten es sich neue zu kaufen; auch boykottierten sie Festlichkeiten, die Nichtanhänger der Gandhibewegung in gewohnter Weise zu veranstalten versuchten. So erklärten sie, es sollten keine Devali-Lampen Freude verbreiten, während Indien in Trauer versenkt sei, und zogen von Haus zu Haus, um die festlichen Öllämpchen, wo diese trotzdem entzündet worden waren, auszublasen. So wurde der kommenden Generation ein soziales Verantwortlichkeitsgefühl und glühende Vaterlandsliebe eingeimpft.

Was die Rolle der Frauen in der Nonkooperationsbewegung betrifft, so wird es die Aufgabe späterer Geschichtsschreiber sein zu entscheiden, ob sie besser daran getan haben würden, Vertrauen und Hoffnung auf verfassungsmäßige Wege und Ziele zu setzen, statt zu rebellieren. Ob diese Frauen in ihrer politischen Einstellung übel beraten waren, ist eine Frage, die wir hier nicht zu entscheiden haben; uns geht hier nur die unbestrittene Tatsache an, dass die Inderinnen während der Gandhibewegung draußen im freien Tageslicht und zürn Besten einer gemeinsamen Sache Tapferkeit, Entschlusskraft und Selbstbeherrschung zeigten, die ihresgleichen so leicht nicht findet — ein Hinweis auf die ungeheure Macht, die sie fortan in allen öffentlichen Angelegenheiten, denen sie ihre Mitarbeit angedeihen lassen, ausüben werden. Unablässig wird diese ihre tragende und zäh voranstrebende Kraft im Dienste aller sozialen Fortschritte von Jahr zu Jahr fortwirken und wachsen, wie wir es im Falle von Lady Bose oder Frau Ranade gesehen haben. In solchen Händen ruhend, scheint Indiens Zukunft nicht nur gesichert, sondern am Horizont sehen wir das Morgenrot einer neuen Zeit aufglühen — einer jener großen, lichtbringenden Epochen, von denen die indische Geschichte der Vergangenheit so hervorragende Beispiele erbracht hat.

Wenn auch unzweifelhaft feststeht, dass die hochgehenden Wogen des vaterländischen Empfindens die Frauen aus ihren Häusern ins Freie hinausrissen, damit sie sich mit ihrem Mut und ihrer Arbeit gegen den Fremdherrscher zur Wehr setzten — eine Aufgabe, zu der sie sich leichter aufrufen und zusammenschließen ließen, als zu einem Sturm auf die Übelstände innerhalb ihrer eigenen Gesellschaft — so ist darum doch nicht minder gewiss, dass die Bewegung auch der sozialen Macht des orthodoxen Brahmanismus einen schweren Schlag versetzte. Nie wird er den verlorenen Boden wieder zu gewinnen, nie mehr die durch Jahrtausende hindurch so sorgfältig aufgebauten und nun zusammenstürzenden Mauern neu zu errichten vermögen. Und ebensowenig wird er fortan, wie ehedem, der Frau eigenes geistiges Zielstreben und religiöses Wissen vorenthalten können. Während der Nonkooperationsbewegung ereignete sich ein ungemein bedeutungsvoller Vorfall, der unmittelbar mit dieser Frage zusammenhängt. Ein junger Gandhifreiwilliger, der sah, dass kein Einspruch der Boykottposten den weißen Lenker eines Lastautos voll ausländischer Waren am Weiterfahren zu hindern vermochte, nahm seine Zuflucht zu dem letzten Protest, der denkbar war: er warf sich vor den schweren Wagen nieder. Doch, als selbst dies den Lenker nicht zum Anhalten bewog, ließ sich der siebzehnjährige Patriot von den Rädern zermalmen. Sein Leichenbegängnis wurde in Gegenwart einer ungeheuren Menge mit allen Ehren gefeiert, die ihm die Nationalisten zuteil werden zu lassen vermochten, den Scheiterhaufen aber steckte eine Brahmanin in Brand! Dies war seit mehr als zwei Jahrtausenden wohl das erste Mal, dass eine Frau es wagte, diese bisher den Männern vorbehaltene Zeremonie zu verrichten. So nimmt die Frau in dem großen Erwachen, das durch Indien geht, auch innerhalb des religiösen Ritus die Rolle wieder auf, die sie in vedischen Tagen bekleidete, ihr Recht, als geweihte Priesterin ihres Amtes zu walten.

Hand in Hand mit dem Kampf gegen den Eroberer von außen geht in der Freiheitsbewegung der indischen Frauen auch die Bekämpfung des Tyrannen im Inneren. Was sie letzten Endes fordern, das sind im großen ganzen dieselben Rechte, um die seinerzeit die Abendländerinnen in den Tagen ihrer Emanzipation gerungen haben. Doch es darf nicht übersehen werden, dass in Ziel und Richtung dennoch ein grundlegender Unterschied zwischen beiden besteht. Die Triebkraft der Inderin wurzelt viel mehr im Geistigen und hat nur wenig mit materiellen Erwägungen zu tun. Die indische Frau ist im allgemeinen weicher, selbstloser, rücksichtsvoller als die Europäerin. Und allen, denen die gute Sache der indischen Frau wirklieh am Herzen liegt und die sich freuen, dass einem jeglichen Volke sein ureigenstes Wesen und Besitz erhalten bleibt, ist es eine echte Genugtuung zu sehen, dass die Inderin unverbittert aus diesem Kampfe hervorgeht. Das beruht zum großen Teil eben auf der Form, die ihre Beteiligung an der Nationalbewegung angenommen hat, und auch auf dem gewaltigen, läuternden Einfluss Mahatma Gandhis. Wir müssen uns klar sein über den Geist, in dem diese Frauen kämpften: für sie war die Nationalbewegung eine religiöse Bewegung und, was noch bedeutsamer ist — sie war eine Massen- nicht mehr eine Klassenbewegung. Für die jungen Leute räumte sie auf mit den erstickenden Fesseln willenloser Unterwerfung unter die Kastenregeln und die älteren Generationen, für die Frauen sprengte sie ein uraltes Gefängnistor und öffnete ihnen den Weg ins Freie. Purdah- und Kastenvorschriften zu brechen galt nicht mehr als verwerfliches und schwer strafbares Tun wie zuvor; im Dienste der Nonkooperation und des Boykotts erschien es plötzlich in dem verklärenden Licht der Aufopferung für die Große Mutter und auch als Mittel, „sich ein Verdienst' zu erwerben": sich auf spätere Wiedergeburten hin gute Kräfte aufzuspeichern. Das war für die indische Frauenschaft von ebenso aufbauender Bedeutung, wie es unerfreulich für die landfremde Regierung war; denn unter diesem Antrieb konnten die Frauen mit einem Sprung über die Wälle uralter Bräuche hinwegsetzen, ohne tief wurzelnde Gefühle, seien es ihre eigenen oder die ihrer Nächsten, zu verletzen. Sie gaben weder dem Vater noch dem Gatten oder Sohne ein gefürchtetes Ärgernis — opferten sie doch ihr eingehegtes Dasein, ihre Besitztümer, ihre Sicherheit auf dem Altar der „Mutter"! Keine Schuld, nur Verdienst konnte daraus entstehen -- alle Schuld ergoss sich über das Haupt des fremden Raj! Was Wunder, dass Millionen Frauen diese glorreiche Gelegenheit zur Flucht ins Freie ergriffen! Und doch ein Wunder! denn alle jene Menschen, die wie ich die rückständigsten Kreise des orthodoxen Indiens nur zu gut kannten, hatten gerade deshalb nicht voraussehen können, dass dieser neue Ansporn stark genug sein würde, um die Frauen auch der entlegensten Dörfer und Landwinkel in solcher Zahl hinauszulocken.

Wie tief idealistisch und gefühlsbetont dieses Verhalten und diese Reaktion von den hinter dem Vorhang aufgewachsenen Inderinnen dem Swarajruf gegenüber war, dem Ruf zum Handeln außerhalb der Häuslichkeit, das begreifen Außenstehende vielleicht nur schwer, wenn sie sich nicht immer wieder vergegenwärtigen, in welchem Maße diese Frauen seit undenklichen Zeiten gezwungen gewesen waren, alle ihre persönlichen Wünsche und Neigungen zu sublimieren, ihr Leben in selbstlosem Dienen aufzuopfern. Infolgedessen vermochte ein Ruf zum Leiden und Dienen sie zu erschüttern wie kein anderer Ruf auf Erden; in solch einem Geist echten Opferdienstes konnten sie unerschrocken auf die raue Straße hinaustreten und mit gefalteten Händen die Lathischläge über sich ergehen lassen. Aber nicht nur die Frauen selbst, sondern auch viele Männer waren, wenn auch vielleicht unbewusst, froh, dass das Tor ins Freie vor den Frauen plötzlich aufgestoßen worden war. Millionen junger Ehemänner, die schon seit Jahren ihren Gefährtinnen gern ein größeres Maß von Freiheit gegönnt hätten, denen es aber an Kraft, Mut und wirtschaftlicher Selbständigkeit gebrach, um den Kampf mit Mutter oder Großmutter, Familienverband oder Kaste aufzunehmen, waren innerlich tief beglückt, als das Schicksal ihnen die Entscheidung aus der Hand nahm und für sie handelte — als nämlich ihre Frauen überhaupt nicht mehr um Erlaubnis fragten, sondern einfach eigenhändig hinausgingen zum erweiterten Dienen.

Noch ein anderer bedeutungsvoller Umstand war, dass der Ruf, der zum Swarajdienst aufforderte, der orthodoxen Priesterschaft, die sich noch immer gegen die Befreiung der Frau stemmte, den Boden unter den Füßen wegzog. Welcher Priester konnte es wagen, Bannflüche gegen das Aufheben von Purdah und Kaste in die Welt zu schleudern, wenn solches auf den Ruf der Großen Mutter hin, der allerhöchst verehrten Göttin geschah? Endlich hatte sich diese mit ihrer irdischen Schwester zu gemeinsamer Sache verbündet!

So gewann die indische Frau die nachstehenden unschätzbaren Vorteile aus der Nationalbewegung und ihrer scharfen Zuspitzung in den Gandhi- und Boykottkämpfen: Millionen Frauen zerbrachen innerhalb eines kurzen Jahres Fesseln, deren Abschüttelung normalerweise Generationen gedauert haben würde. Sie zerbrachen sie in empörtem Aufruhr nicht gegen den schuldigen männlichen Teil der Bevölkerung, der sie ihnen geschmiedet hatte, sondern gegen die landfremde Regierung, auf deren Kosten Indien so vor dem bitteren inneren Zwiespalt behütet blieb, den der Emanzipationskampf in den Ländern des Westens zwischen den Geschlechtern aufgerissen hatte. Zudem haben sie die freiheitsdürstende, von Kaste und Familienverband unterdrückte indische Jugend geschlossen als Verbündete hinter sich.

Alle diese Tatsachen, sind sie auch für die fremde Regierung zweifellos nicht ungefährlich, schließen unermessliche Möglichkeiten für Indiens zukünftige Entwicklung in sich ein. Dass seine Männer und Frauen vereint die Ketten des geknechteten Geistes, der fortschritthemmenden Sitten und Gebräuche abgeschüttelt haben, während sie im Kampfe gegen einen Widersacher Schulter an Schulter stritten, hat die jüngere Generation mit einem Kameradschaftsgefühl belebt, das in Zukunft der Verwirklichung der weiblichen Reformpläne ungemein förderlich sein wird. Die gleiche Tatsache hat auch Kasten und Klassen, die zuvor durch unübersteigliche Wälle getrennt waren, geeint und verbunden und den Frauen aller Glaubensgemeinschaften die Gelegenheit geboten, in tiefem Sicheinsfühlen für ein gemeinsames Ziel zusammen zu arbeiten. Darüber hinaus hat er alle Beteiligten mit dem erhabenen Geist eines wahren Kreuzzuges und mit neuer Hoffnung und neuem Stolz auf Indiens Größe erfüllt. Eine solche Bewegung kann nicht verklingen, ohne dauernde Nachwirkungen zu hinterlassen. Frauen, die einmal ihr Purdah gebrochen haben, werden nicht wieder dazu zurückkehren, oder wenn einzelne es dennoch tun sollten, werden sie nicht länger zufrieden in seinem Schatten dahinleben. Alles dies, dazu das Echo auf die internationale Kritik, die ätzende Erinnerung der Intellektuellen an die Beschimpfung durch Miss Mayo, wird die Generation, die mit Gandhi kämpfte, immer weiter und weiter treiben in nie erlahmendem Streben nach allen sozialen und politischen Fortschritten. Nachdem der Makel der beklagenswerten Unterwerfung und des Sklavengeistes getilgt ist, eröffnet die heutige Jugend Indiens mit ihrem neuerwachten Bewusstsein und Mut einen von den früheren Generationen gänzlich verschiedenen Ausblick auf die Zukunft ihres Landes. Dieser ungeheure Wandel der geistigen Verfassung ist von zahlreichen Beobachtern übereinstimmend festgestellt worden.

Schließlich darf ein letzter Faktor nicht übergangen werden: die Bandararmee, das Heer der Mädchen und Knaben, die ihren Müttern und erwachsenen Schwestern in der Boykottbewegung halfen. Dadurch sind sie psychologisch in einer Weise vorgeformt und vorbereitet worden, wie es in der bisherigen indischen Geschichte noch nie der Fall war, und wie es für die künftige soziale und politische Geschichte des Landes entscheidend sein wird. Die jüngeren Führer der Nationalbewegung versichern, dass ein autonomes Indien, gleich der Türkei, die Verschleierung der Frauen mit einem Federstrich beseitigen wird, und zugleich auch die Unsitte der Polygamie, der Devadasi und alle übrigen mit dem alten System verbundenen Missstände. Sollte die jetzige Generation sich jedoch nicht als kraftvoll genug erweisen, diese Versprechungen einzulösen, so werden die Bandars es tun, wenn an sie einmal die Reihe zu regieren kommen wird.

Wir dürfen uns aufrichtig für die britische Verwaltung freuen, dass sie gegenwärtig alles daran setzt, eine indische Verfassung auszuarbeiten, die die volle Indisierung in Aussicht stellt. Dass eine Generation von Buben und Mädchen, die den fremden Landesherrn auf offener Straße verspottet und ihm getrotzt haben, denen im zartesten Alter leidenschaftliche Verehrung für Heimat und Swaraj eingeimpft worden, die sahen, wie ihre Mütter und Schwestern furchtlos die Gefangenschaft auf sich nahmen - dass eine solche Generation sich, zu Männern und Frauen erwachsen, nicht unter fremder Zwingherrschaft wird halten lassen, das muss sich ein jeder sagen, der etwas von der Kindesseele versteht (1).

Jeder, dem das wahre Wohl der indischen Frauenwelt am Herzen Hegt, wird ihr gerne jede Gelegenheit zum Fortschritt gönnen, die ihr geboten wird, erwachse sie nun aus englischen Lebensvorbildern, englischen Büchern und englischer Geschichte, oder aus der politischen Abwehr und dem geistigen Streben Indiens selbst. Doch kein anderer Umstand birgt so starke Zukunftshoffnungen wie das langsame, sichere Wachstum eines nationalen Geistes, kein anderer hat den Frauen innerhalb eines so kurzen Zeitraums solche Befreiungsmöglichkeiten geboten wie der nationale Feldzug.

Es ist ein Trost, dass künftige Generationen die Dinge sicherlich leidenschaftsloser, gerechter sehen werden, als die gegenwärtige es vermag, Diese Zukunft wird dann auch jedenfalls zu der vollen Einsicht kommen, dass der „weiße Brahmane" der Wirkung, wenn auch nicht immer der Absicht nach, ein Freund der indischen Frau war, das notwendige „gesunde Reizmittel" — ein guter, blauäugiger Patenonkel!


(1) Ich weiß von einem fünfzehnjährigen Jungen, der sieben Mal Gefängnisstrafen auf sich nahm um der patriotischen Sache willen. Zuerst wurden solche Jungen auf kürzere oder länger Zeit eingesteckt; dann aber konnte die Polizei die große Zahl der sich der Verhaftung aussetzenden auf keine andere Weise mehr bewältigen, als durch körperliche Strafe. Sie wurden auf die Innenflächen von Fingern und Händen gehauen, bis die Haut platzte. Jener Junge führte trotzdem sein Boykottpostenstehen weiter und nahm neue Trachten Prügel ohne Wimpernzucken auf die noch ungeheilten Hände hin — ein treffendes Beispiel des neuen Heldengeistes, der Indiens Jugend beseelt.


Zu Kapitel 8. Anhang B: Pandita Ramabai (1858 - 1922):