Dharmashastra : Einführung und Überblick

8. Manu IX: Sitte und Recht von Ehe und Familie

ANHANG C: G. Morris Carstairs: Beziehungen innerhalb der Familie in Rajasthan (1951)


herausgegeben von Alois Payer

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Zitierweise / cite as:

Payer, Alois <1944 - >: Dharmashastra : Einführung und Überblick. -- 8. Manu IX: Sitte und Recht von Ehe und Familie. -- ANHANG C: G. Morris Carstairs: Beziehungen innerhalb der Familie in Rajasthan (1951). -- Fassung vom 2004-01-06. -- URL: http://www.payer.de/dharmashastra/dharmash08c.htm -- [Stichwort].

Erstmals publiziert:  2004-01-06

Überarbeitungen:

Anlass: Lehrveranstaltung 2003/04

Unterrichtsmaterialien (gemäß § 46 (1) UrhG)

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Dieser Teil ist ein Kapitel von: 

Payer, Alois <1944 - >: Dharmashastra : Einführung und Übersicht. -- http://www.payer.de/dharmashastra/dharmash00.htm

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1. Einleitung


Quelle:


Abb.: G. Morris Carstairs [Bildquelle: http://www.york.ac.uk/admin/presspr/40thanniversary/vcs.htm. -- Zugriff am 2003-12-21]

Carstairs, G. Morris: Die Zweimal Geborenen : [Ein anthropolog. Bericht über Persönlichkeits-Struktur u. Intimverhalten von Hindus d. oberen Kasten]. -- München : Szczesny, ©1963. -- 411 S. -- Originaltitel: The twice-born; a study of a community of high-caste Hindus (1958). -- S. 82 - 99

Der schottische Psychiater G. Morris Carstairs wurde als Sohn presbyterianischer in Indien geboren und verbrachte dort die ersten 9 Jahre seines Lebens. Er spricht fließend den 'Hindustanidialekt' von Rajasthan. 1951 untersuchte er die höheren Kasten im Dorf Deoli in Mewar = Udaipur (heute in Rajasthan). Das genante Buch gibt seine Forschungsergebnisse wieder.



Abb.: Lage von Deoli [©MS Encarta]


Erster Teil, viertes Kapitel Beziehungen innerhalb der Familie

Meine Informanten erklärten einstimmig, es sei zum größten Teil die Mutter, die den Charakter eines Kindes bestimme. Ihr Einfluss sei während der ganzen Schwangerschaft wirksam, und in dieser Zeit sollte sie reichlich Nahrung zu sich nehmen und rhythmische Übungen durchführen, wie etwa ein Butterfass rühren oder Korn mahlen, um das Kind stark zu machen. Die Rajputs gäben einer schwangeren Frau Alkohol zu trinken, damit „die Augen des Kindes leuchteten". Girdari Lal schlug einen ausgedehnten Kursus in Musik und religiösen Dichtungen vor, damit das Kind bereits bei seiner Geburt ein klassisches Wissen besäße. „Wenn eine Mutter während der Schwangerschaft launenhaft ist", sagte Chandmal, „dann wird sich das auf das Kind übertragen."

Während der ersten Tage nach der Geburt bleiben Mutter und Kind in einem Raum des Hauses von der Außenwelt abgeschlossen. Dem Ritus gemäß ist die Mutter wie in der Menstruationsperiode unrein, und jeder Kontakt mit anderen Mitgliedern der Familie, besonders aber auch mit dem Herd und den Kochgeräten, muss vermieden werden. Nach etwa sechs Tagen findet eine Feier statt — sie wird „Surai ki puja" (..Sonnenandacht^) genannt —, und der Brahmane der Familie, der die Feier leitet, nennt den Eltern fünf Namen, die mit dem Horoskop des Kindes im Einklang stehen und von denen die Eltern einen wählen. Inzwischen ist das Haus gereinigt und alle befleckten Kleidungsstücke sind entweder vernichtet oder zum Waschen gebracht worden. Die Mutter nimmt ihre volle Tätigkeit erst nach einer Frist von vierzig Tagen wieder auf. Dann betet sie beim Brunnen, badet, wechselt ihre Kleider und löst sich damit aus ihrem Zustand der Unreinheit.

Die Hindus der höheren Kasten betrachten die Kolostralmilch als ungesund und pressen sie meistens aus, bevor sie dem Kind die Brust geben; es denken jedoch nicht alle daran. Wichtig ist, dass die Mutter selbst ihr Kind stillt — „Jaisa than vaisa shan" ist ein geflügeltes Wort: „Das Kind erhält seine Natur aus der Brust." Devi Singh führte seine eigene Anfälligkeit gegenüber Krankheiten auf die schlechte Gesundheit seiner Mutter während seiner frühesten Kindheit zurück: „Weil sie krank war, nährte mich ihre Milch nicht in der rechten Weise... Ich bin seit meiner Kindheit in jeder Beziehung etwas schwächlich, denn wir entnehmen unsere Stärke der Muttermilch, nicht wahr, Sahib?" Die Kinder werden ziemlich lange .gestillt^ und für gewöhnlich erst im Alter zwischen zwei und zweieinhalb Jahren entwöhnt. In dieser Zeit erhalten sie eine reichhaltige Kost, so dass die Entwöhnung keinen allzu starken Bruch in der Ernährungsweise bedeutet. Man sagte mir, dass das Kind trotzdem bei der Entwöhnung viele Tage weine, denn es sei daran gewöhnt, seinen Willen durchzusetzen. Manchmal bestreicht die Mutter ihre Brustwarzen mit einer bitteren Salbe, bis sich das Kind mit der Entwöhnung abgefunden hat. In seltenen Fällen verlässt die Mutter das Kind für zwei oder drei Tage.
Die Eltern sollen in den letzten vier Monaten der Schwangerschaft und mehrere Monate (als Zahl werden i, 3, 4, 6, oder 9 Monate angegeben) nach der Geburt keinen Geschlechtsverkehr ausüben. Folgt bald eine zweite Schwangerschaft nach, dann wird das erste Kind früh entwöhnt und mit Esels- oder Ziegenmilch genährt, da man glaubt, es verletze den Embryo, wenn die Mutter während der Schwangerschaft stille. (Der Esel ist in Indien wie im Westen das Symbol der Dummheit; paradoxerweise glaubt man jedoch, dass Eselsmilch Weisheit enthält.) Andererseits kommt es vor, dass das jüngste Kind einer Familie länger gestillt wird. Die Mutter eines meiner Befragten (Bhagmal) sagte mir, er habe noch im Alter von Jahren gelegentlich ihre Brust erhalten.

Wenn eine Hindumutter ihr kleines Kind trägt, dann hält sie es mit seinem Rücken gegen ihren linken Oberarm gelehnt und stützt mit dem Unterarm das Gesäß und die Beine. So hat sie den rechten Arm frei, und das Kind kann in dieser Lage leicht die Brust nehmen. In einem frühen Alter — oft schon, bevor es sechs Monate alt ist — fängt das Kind an, rittlings auf dem linken Schenkel der Mutter zu sitzen. Ganz kleine Kinder lernen rasch, sich hier mit den Knien festzuhalten, um ihre Lage zu behaupten. Man sieht es häufig, dass ältere Kinder, besonders Mädchen, einen jüngeren Bruder oder eine jüngere Schwester auf ihrem linken Schenkel sitzen haben und mit dem Arm den Rücken des Kindes stützen.

In den beiden ersten Lebensjahren wird das Kind selten von seiner Mutter getrennt, und man lässt es nie lange weinen. Es heißt, dass Weinen das Kind schwäche und seine Augen entzünde. Eine gute Mutter wird ihr Kind sofort aufheben und an ihre Brust nehmen, wenn es weint: „Balak aur badsha barabar hain — ein Kind ist wie ein König", sagte Jaimal und setzte mit Nachdruck hinzu, eine Mutter werde, ohne zu klagen, ihr Kind reinigen, ja, wenn das Kind nachts das Bettlaken nässe, eher auf der feuchten Stelle schlafen, als dass sie ihr Kind leiden lasse.

Wenn das Kind nicht auf dem Arm der Mutter oder eines anderen Verwandten sitzt, dann liegt es in einer Wiege, einem flachen Weidenkorb, der an einem Dachboden oder einem Ast hängt. Damit es nicht weint, wenn es aufwacht, wird der Korb in einer leichten schwingenden Bewegung gehalten. Diese Schaukelwiege wird "Jhula" genannt. Auch hier hat das Kind etwas mit einem König gemeinsam. Es ist königlicher Luxus (dem in vielen Haushalten nachgeeifert wird), wenn man sich auf eine vom Dach hängende Schwingcouch legen kann; eine solche Schwingcouch wird ebenfalls "Jhula" genannt. Bei Hitze erfrischt der Luftzug, den die Schwingbewegung hervorruft. Im Sommer werden auch die Dorfgötter oder ihre kleinen Nachbildungen täglich auf Miniatur-Jhulas gesetzt und ein paar Stunden im Vorhof ihres Tempels geschaukelt.

Zuerst glaubte ich, die sinnliche Freude beim Schaukeln sei stark übertrieben. Doch das Besondere des Schaukelns wird verständlicher, wenn man an die dabei ausgelösten Gefühlsassoziationen denkt. Wenn sich ein Erwachsener in dieser schwingenden Wiege zurücklehnt, dann kann er jenen allmächtigen Zustand seiner Kindheit wieder heraufbeschwören, als alle seine Wünsche prompt erfüllt wurden und er sich auf einen aufmerksamen Diener verlassen konnte, der immer für ihn da war.

Verständlicherweise besitzt das Wort Mata (Mutter) eine sehr starke Gefühlsbedeutung. Es wird ständig mit der heiligen Kuh, Gau-mata, in Verbindung gebracht. Und die Kuh wird als Symbol der Mutterschaft, der Hilfsbereitschaft, des Sanftmuts und der Gewaltlosigkeit mit jener Art von Hingabe verehrt, die den Nicht-Hindu in Verlegenheit bringt und irremacht. (In historischen Schilderungen von Schlachten in Rajasthan wird manchmal berichtet, die Besiegten seien mit Gras im Mund gekommen, was heißen soll: „Wir sind die Kühe" und ein Zeichen der Kapitulation war.) Mataji ist außerdem der Gattungsname für die Muttergottheiten, deren Schreine man in jedem Dorf von Rajasthan antreffen kann. In Deoli gab es mehrere Matajis, und die wichtigste von ihnen wurde Vijayshan-Mata genannt. Hindus aller Kasten wandten sich an sie, wenn sie in Not waren. Selbst der Rao, der die Bhopas als Überbleibsel eines Aberglaubens ansah — „obwohl es möglich ist, dass einige Bhopas wirklich helfen können" —, wandte sich im Jahr 1944 wegen der Unfruchtbarkeit der Rani an die Vijayshan-Mata. Und als dann die Rani im folgenden Jahr einen Erben zur Welt brachte, ließ er anstelle der früheren baufälligen Hütte einen ansehnlichen Tempel bauen.

Während der langen Stillperiode schläft das Kind bei seiner Mutter, die sich von ihm nur trennt, wenn sie mit ihrem Mann geschlechtlich verkehrt hat, und auch dann nur zeitweilig. Grundsätzlich sind die Eltern gehalten, auf den Geschlechtsverkehr zu verzichten, solange die Mutter stillt. In Wirklichkeit dauert die Enthaltsamkeit selten länger als sechs. Monate. Mann und Frau schlafen in den Haushalten, wie sie unter meinen Informanten üblich waren, in nebeneinanderstehenden Betten. Das jüngste Kind liegt entweder im Bett der Mutter oder in einer kleinen Schlafstelle daneben. Man ist der Ansicht, dass kleine Kinder zu jung sind, um das Geschlechtsleben der Erwachsenen bewusst zu erleben, und deshalb hat man nichts dagegen, dass sie beim Geschlechtsverkehr der Eltern anwesend sind. Sobald ein Hindukind anfängt, Personen in seiner unmittelbaren Umgebung zu unterscheiden, ist es diesem immer wiederkehrenden Erlebnis ausgesetzt, einem Erlebnis, das das Kind tief bewegen muss, auch wenn es von ihm nur unvollkommen verstanden wird. Das Kind begegnet hier einem neuen Anblick seiner Mutter, die bisher ausschließlich ihm ihre Aufmerksamkeit widmete, und es sieht in seinem Vater einen überwältigend starken Rivalen, der die Liebe der Mutter beansprucht.

Im gemeinsamen Haushalt der Familie ergänzen die Großeltern die Mutter im „Verwöhnen" des Kindes (wie wir es nennen würden). Die frühesten Kindheitserinnerungen meiner Befragten waren, wie sie Geschenke, besonders Süßigkeiten, von ihren Großmüttern erhielten. Roshan Lal drückte es folgendermaßen aus: „Sie weckte mich jeden Tag mit Laddus auf, und ich trank frische Kuhmilch."

Wie man später sehen wird, hat die Anwesenheit der Großeltern im gemeinsamen Haushalt tiefgehenden Einfluss auf das Verhalten der Eltern. Weder Vater noch Mutter dürfen ihr Kind in Anwesenheit der Großeltern liebkosen. Zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter herrscht eine ständige Spannung. Nach strengem Brauch ist die Schwiegertochter verpflichtet, in allem nachzugeben und den Anordnungen ihrer Schwiegermutter fraglos zu gehorchen. Sie muss teilnahmslos zusehen, wie sich die Schwiegermutter mit ihrem Kind beschäftigt, — außer, das Kind beginnt zu weinen. Nur dann darf sie ihr Recht, das Kind zu bemuttern, ausüben, das Kind in den Arm nehmen und ihm die Brust geben.

Bei dieser Lage ergibt sich, dass die Mutter gleichzeitig aufmerksam und geistesabwesend ist und ihre Gefühle nur zum Ausdruck kommen, wenn das Kind weint; dann eilt sie, um ihm alles, was es wünscht, zu geben.

Bevor das Kind zwei bis zweieinhalb Jahre alt ist, gehen kann und zu verstehen beginnt, wird es selten gescholten. Man erzählte mir jedoch, dass die Mutter ihm einen leichten Klaps geben kann, um es davor zu warnen, nicht zu nah ans Feuer zu gehen. Bis zu diesem Alter kommt es seinen körperlichen Bedürfnissen nach, wie und wo es ihm gefällt, und die Mutter macht sauber, ohne ärgerlich zu sein. Ist es zwei Jahre alt geworden, wird ihm gesagt, in den Hof zu gehen. Nach zwanzig Monaten jedenfalls soll das Kind lernen, der Mutter anzuzeigen, wenn es seine Notdurft verrichten muss. Das Kind wird in eine Hofecke geführt und nachher von der Mutter (oder Schwester oder Großmutter) mit Wasser gereinigt. Mit fünf Jahren lernen die Kinder, es ihren Eltern nachzumachen, und gehen im Dämmerlicht auf ein Feld in der Nähe, nehmen eine Lota voll Wasser mit und waschen sich nach der Entleerung. Die ganzen späteren Jahre hindurch wird die rituelle sowohl wie die physische Bedeutung des Waschens immer wieder betont.

Der Gedanke, ein kleines Kind zu schlagen, weil es sich im Haus beschmutzt hat, wurde von allen, mit denen ich über dieses Thema sprach, zurückgewiesen. „Wie kann das Kind das wissen, bevor es alt genug ist, um zu verstehen?" Es wurde jedoch zugegeben, dass Kinder im Alter von drei oder vier Jahren oft an ihre Pflicht durch Drohungen erinnert werden: „Der Babaji wird dich forttragen!" oder: „Der Tiger wird dich holen!" Und nicht selten erhalten die Kinder auch einen Klaps von der Mutter, die dann deutlich weniger nachsichtig ist als die Großmutter. Immer wieder kommt es vor, dass die Großmutter ihre Schwiegertochter schilt, weil sie zu hart mit dem Enkel sei. Meine Befragten deuteten an, dass der Mutter solche Vorwürfe insgeheim willkommen sind als ein Beweis für die Sorge, die sich die Großmutter um das Kind des Hauses macht.

Indische Kinder werden nicht davon abgehalten, nackt oder kaum bekleidet zu spielen, bis sie sechs oder sieben Jahre alt sind. Dies verhütet auf wirksame Weise eine ungesunde Neugier auf die Unterschiede der Geschlechter und erlaubt den erwachsenen Hindus, sexuelle Fragen ohne Verlegenheit zu diskutieren.

Wie das Kind lernte, für die Sauberkeit seines Körpers verantwortlich zu sein, so wird ihm auch beigebracht, wie wichtig es ist, eine unsichtbare Verunreinigung durch Berühren von Mitgliedern der untersten Kasten zu vermeiden. Wenn es einmal einen Angehörigen der untersten Kasten berührt hat, werden Mutter oder Großmutter das Kind ins Haus rufen, es ins Bad stecken und seine Kleider wechseln, und das geschieht so lange, bis der Widerwille des Kindes gegen die Berührung durch eine Person der niederen Kasten so unwillkürlich geworden ist wie der Widerwille gegen den Geruch oder das Berühren von Exkrementen. Selten sind die Kinder von Tätigkeiten der Erwachsenen im Dorf ausgeschlossen. Unsere westliche Art, die gesonderte Rolle des Kindes zu betonen, fehlt sogar ganz. In Deoli wurden die Kinder nie zu einer bestimmten Stunde ins Bett geschickt. Sie waren bei Mitternachtshochzeiten anwesend und bei langen Feiern. Manchmal schliefen sie ein, und ein Erwachsener hob sie dann auf und wickelte sie in eine Decke. Dr. Lois B. Murphy zitiert eine treffende Bemerkung, die ein indischer Freund in diesem Zusammenhang gemacht hatte: „Sie erziehen Ihre Kinder -- wir leben mit den unseren."

In striktem Gegensatz zu dieser aufmerksamen Bemutterung des Kindes hält sich der Vater abseits und scheint eine nicht gern gesehene Figur zu sein. Der Grund dafür ist, dass ein Mann solange er unter dem Dach seines Vaters lebt, die Fiktion aufrechterhalten muss, nicht geschlechtlich zu verkehren. Wer dies nicht tut, lässt "es an Respekt fehlen. Daraus folgt, dass Mann und Frau in Gegenwart der Eltern nie natürlich sprechen können. Es schickt sich auch nicht, wenn Vater oder Mutter vor ihren Eltern ihre Zuneigung zu ihrem Kind zeigen. Diese pflichtgemäße Unterdrückung jeder Gefühlsäußerung wird nur dann nicht streng gefordert, wenn das Kind weint. In diesem Fall haben seine Bedürfnisse den Vorrang vor der Autorität der Großeltern; es wird der Mutter übergeben, oft mit dem Befehl: „Gib ihm die Brust." Für den Vater gibt es jedoch keine solchen Ausnahmen. Selbst wenn seine Frau oder sein Kind erkranken, muss er seine Gefühle für sich behalten und die Verantwortung für ihre Pflege ganz seinen Eltern überlassen. Dieses Tabu verewigt in jeder Generation die zwischen Vater und Sohn bestehende Spannung. Diese Spannung ist sehr stark. Der junge Chauthmal, der im Hause seines Vaters Bhurmal lebte, hatte einen achtzehn Monate alten Sohn. In ihrem Laden konnte man oft den Großvater sehen, wie er das Kind auf dem Arm oder auf dem Schoß hielt; man konnte aber nie sehen, dass Chauthmal dies mit seinem Sohn tat. „Ich mag ihn nicht liebhalten, auch wenn wir allein im Zimmer sind", sagte er. „Denn wenn ich dies täte, so könnte er sich daran gewöhnen, zu mir zu laufen, wenn wir im Basar sind, und das wäre nicht recht."

Männer aus allen drei Kasten berichteten die gleiche Einstellung in ihren Familien und befürworteten sie. Andererseits gab es drei unter meinen Befragten (Daulmal, Puanmal und Himat Lal), die dieses Gesetz missachteten und offen ihre Kinder liebkosten. Sie konnten dies tun, weil ihre Väter verstorben und sie das Oberhaupt im Haushalt waren. Aber von der Öffentlichkeit wurden sie wegen der schamlosen Zurschaustellung ihrer Zuneigung verurteilt, und sie wussten dies auch.

Der gewöhnlichen Beziehung zwischen Vater und Kind war also die spontane Gefühlswärme genommen. An ihrer Stelle wurde das Verhältnis auf beiden Seiten durch strenge Pflichten bestimmt. Shankar Lal machte mir als erster klar, dass der Vater in einer Beziehung von seinem Sohn abhängig ist, als er einen Sanskrit-Slok zitierte: „Dies ist die wahre Definition eines Sohnes: Punnamna naraka trayate tat putr — der ist ein Sohn, der seinen Vater vor der Hölle rettet (denn nur der leibliche Sohn kann die Begräbnisriten beim Tod des Vaters vollziehen, und ohne Riten kann dieser nicht das Nirvana erreichen)."

Die gegenseitigen Verpflichtungen, finanzielle Unterstützung und Anleitung einerseits und pflichtgemäßer Dienst das ganze Leben hindurch (und nach dem Tod) andererseits, wurden ständig betont. Aber eine enge persönliche Beziehung zwischen Vater und Sohn fehlte in auffallender Weise. Puran Singh sprach für die meisten, als er sagte: „Mein Vater war sehr streng, als ich klein war, doch jetzt spricht er manchmal sogar freundlich mit mir." Das ausdrückliche Betonen der Pflicht, sich uneingeschränkt der Autorität des Vaters zu unterwerfen, ihn als Gott zu behandeln, weist darauf hin, dass dieses Verhältnis nicht ohne Anstrengung aufrechterhalten wurde. Aber wenn auch Auseinandersetzungen zwischen Vater und Sohn nicht ausbleiben konnten, so wurde doch die Alternative, dem Vater zu trotzen, als undenkbar betrachtet. Zwei meiner Befragten erwähnten Gelegenheiten, bei denen sie sich gegen eine Entscheidung ihres Vaters gewandt hatten. Himat Lal wollte sich in den Tagen vor seiner Hochzeit nicht in den Dorfbrauch der Banola (feierliche Umzüge, bei denen Kapellen spielen) schicken. Er äußerte, der Brauch sei altmodisch und man solle ihn aufgeben. Sein Vater war als Brahmane hochangesehen, dank seiner langen täglichen Gebetsübungen, aber er war auch dafür bekannt, gegen Himat Lal, seinen einzigen Sohn, äußerst nachgiebig zu sein, und auch bei dieser Gelegenheit fügte er sich dem Wunsch seines Sohnes. Im Jahre 1951 war Amar Singh mit der Entscheidung seines Vaters, Korn von einem Feld der Familie zu einem Preis zu verkaufen, der gesteigert werden konnte, nicht einverstanden, und Vater und Sohn stritten darüber. In diesem Fall war der Vater alt und hätte die Leitung seiner Geschäfte den Söhnen übergeben sollen, die über seine Einmischung erbittert waren. Sowohl Amar Singh wie Himat Lal versicherten mir jedoch, ein Mann müsse stets und ohne zu zögern dem Wort seines Vaters gehorchen. Im Prinzip wurde die gleiche Unterordnung unter einen Älteren Bruder gefordert. Rajmal drückte es folgendermaßen aus: „Wenn mein Vater oder mein älterer Bruder mir befehlen, mich an einen Platz zu stellen, dann werde ich dort stehen,--verdammt!--, den ganzen Tag, wenn es sein muss, bis sie mir erlauben, wegzugehen. Er übertrieb, denn er war tatsächlich ein sehr unabhängiger Geist. Und wie einige andere jüngere Söhne im Dorf ging er seinen eigenen Weg und wandte sich selten um Rat an seinen älteren Bruder. Im allgemeinen jedoch wurde den älteren Brüdern zum mindesten in der Öffentlichkeit die Achtung erwiesen, die ihnen nach ihrer Stellung in der Familie zukam. Und man konnte bei einem jüngeren Bruder dieselbe Unterdrückung aller Zuneigung zu Frau und Kindern in Anwesenheit seines Bruders beobachten. Hira Singh sagte dazu: „Selbst wenn sie krank wäre, würde ich dies nicht gern meinem älteren Bruder sagen wollen. Wenn jedoch ein jüngerer Bruder anwesend ist, kann ich ihn bitten, Medizin zu holen." Hari Lal ging noch weiter: „Jeder Mann hat fünf Väter, und es ist seine Pflicht, ihnen fraglos zu gehorchen, was immer sie ihn auch heißen. Diese Vater sind sein Vater, sein älterer Bruder, sein König, sein Guru und sein Freund."

Die förmliche Distanz zwischen erwachsenem Sohn und Vater zeigt sich deutlich in den gebräuchlichen Redeweisen. Ein junger Hindu redet seinen Vater und seinen älteren Bruder stets mit „Ap" an, und dies ist eine ehrerbietige, Achtung erweisende Form der Anrede. Er wird außerdem die Höflichkeitsform eines Imperativs gebrauchen, wie etwa „berajie — nehmt Platz, bitte". Spricht er jedoch zu seiner Mutter, dann wird er gewöhnlich die vertraulichere Anrede „Tum" gebrauchen und den kürzeren Ausdruck „baitho — setz dich". Die Sitte lässt ihn also ein engeres persönliches Verhältnis zu seiner Mutter als zu seinem Vater gewinnen.

Ein besonderes Verhältnis hat der Hindu zu seinen Schwestern. Es gründet sich auf eine weitreichende Auffassung von Blutschande. Alle jungen Frauen, mit denen ein Mann blutsmäßig verwandt ist, werden als seine Schwestern angesehen und kommen somit als Heiratspartner nicht in Frage. Zur Verwandtschaft, die eine Heirat ausschließt, gehören auch die Mitglieder der Familien der Mutter und der Großmutter väterlicherseits. Diese beiden Familien leben meist in entfernt liegenden Städten und Dörfern, und man trifft sich nur zu förmlichen Besuchen. Diejenigen, die als Schwestern gelten, leben fast immer im gleichen Dorf. Das Verbot einer Heirat mit ihnen ist so streng, dass sich diese „Brüder" und „Schwestern" zu Gesprächen treffen können ohne die strengen Einschränkungen, die sonst dem gesellschaftlichen Verkehr zwischen den Geschlechtern auferlegt sind. Der Unterschied wird in einem Dorfspruch kurz geschildert: „Gaon men chori, pargaon men to ladi — in ihrem eigenen Dorf ist sie ein Mädchen, im Dorf ihrer Schwiegerleute eine Braut." Die Worte „chori" und „ladi" kennzeichnen zwei verschiedene Betragensformen. In jedem Haushalt kann man die Tochter der Familie von den Schwiegertöchtern leicht an ihrer größeren Freiheit in Rede und Gebaren und ihrer Missachtung der Feinheiten des Purdah erkennen.

Ein Mann hat eine unbestimmte Familienbindung zu all jenen, die er als Schwestern anredet. Aber er und seine leibliche Schwester sind durch lebenslange Pflichten aneinander gebunden, und zwar schuldet er ihr Unterstützung und sie ihm dankbare Fürsorge. Wenn sich eine verheiratete Frau in Schwierigkeiten befindet, wird sie sich an ihren Bruder wenden. Wenn immer ein Mann das Dorf besucht, in dem seine verheiratete Schwester lebt, bringt er ihr und ihren Kindern Geschenke. Er wird von ihnen dann mit respektvoller Aufmerksamkeit bewirtet. Bei der Hochzeit ihrer Kinder wird seine Anwesenheit als „Mama" („Bruder der Mutter") erwartet, und er macht ein großzügiges Geschenk.

Jedes Jahr, am Fest von Rakhi-bandan, besuchen die Schwestern ihre Brüder, binden ein Rakhi (ein verziertes Armband) um ihr Handgelenk und bedienen sie. Der Bruder aber schenkt ihnen ein Kleidungsstück. Das Fest erinnert an den gegenseitigen Austausch von Zuneigung und Hilfe.

Die volkstümliche Vorstellung sieht diese Bruder-Schwester-Verbindung in verklärtem Licht. In Rajasthan hält sich noch immer der Brauch, ein ehrenhaftes Bruder-Schwester-Verhältnis (Dharm-bhai und Dharm-bahin) mit der Frau eines Freundes oder eines Nachbarn einzugehen. Dies erlaubt Männern und Frauen, die peinlich genaue Förmlichkeit, die sonst bei all ihren Begegnungen gefordert wird, zu lockern. Es wird allgemein angenommen, dass diese Regeln den Anstand ebensogut verbürgen wie das Inzestverbot selbst. Manche, so etwa Shankar Lal, sind der Meinung, dass diese Sitte häufig als Deckmantel für Liebesverhältnisse dient, aber sie sind damit entschieden in der Minderheit. Einer der Befragten sagte: „Jeder kann eine Frau als Bahinji anreden, das bedeutet nicht viel. Wenn er jedoch ihr Rakhi annimmt, dann ist es etwas anderes, dann muss er sie stets als Schwester respektieren."

Von älteren Schwestern wird erwartet, dass sie sich schon in jungen Jahren mit um die jüngeren Geschwister kümmern. Bedeutsam ist, dass ihnen nicht wie der Mutter verwehrt ist, ihre kleinen Geschwister in Gegenwart der Großeltern zu liebkosen. Daher erlebt das heranwachsende Kind in seiner Beziehung zu seinen Schwestern jenen fortdauernden physischen und emotionellen Kontakt, der ihm von seinen Eltern notgedrungen verweigert wird. Dies erklärt vielleicht, warum im späteren Leben das Verhältnis zur Schwester nicht nur durchweg verklärt wird, sondern auch einen angenehmen Gefühlston aufweist — im Gegensatz zu den zweideutigen Gefühlen, die das Verhältnis zu Vater und Mutter beherrschen. Der Bruder erwidert dies, indem er die Verantwortung für das Wohlergehen seiner Schwester auf sich nimmt, und die Schwester sieht ihn als ihren Beschützer an. Wenn ihr Vater gestorben ist, kommt sie bei ihren regelmäßigen Besuchen in ihrem Heimatdorf in das Haus des Bruders.

Ein Sohn richtet sich nach seinem Vater, um seine Rolle als Erwachsener zu lernen. Er lernt ebensoviel durch Nachahmung wie durch Unterweisung. Dazu Kalu Lal: „Mein Vater lehrte mich die meisten der Verse, die bei Hochzeiten und ähnlichen Festen rezitiert werden. Aber vieles kann dabei nur unter Kontrolle gelernt werden." Als ich im Dorf lebte, sah ich manches Beispiel einer derart wohlüberlegten Unterweisung. Chauthmal und Surajmal besaßen jeder einen Tuchladen, aber beide wurden eifersüchtig von den Vätern überwacht. Moti Lal und Girdari Lal hatten ihren Söhnen Devi Lal und Roshan Lal alles, was sie über Astrologie und Brahmanenkult wussten, beigebracht und sie dann zu einer besseren Ausbildung fortgeschickt.

Es ist bereits auf die Parallele zwischen der Einstellung eines Mannes zu seinem religiösen Führer (Guru) und der zu seinem Vater hingewiesen worden. In beiden Fällen" stellt man eine uneingeschränkte Selbsterniedrigung fest, eine Bereitschaft, alles als unfehlbar hinzunehmen, was einem auferlegt wird, und ein Vertrauen darauf, dass man durch die Unterordnung unter den Willen der Vatergestalt auf den rechten Pfad geführt wird. Die Lehren eines Vaters und sein Beispiel sind ein unwandelbares Ideal. Der Vater verkörpert Selbstkontrolle und Beherrschung von Leidenschaften und Gefühlen, er ist Sinnbild all dessen, was förmlich, zurückhaltend und korrekt ist. In dem Maß, in dem man sich an die strenge Norm seines Betragens hält, ist man seiner Zustimmung und Hilfe sicher. Einem spontanen Gefühl oder Verlangen nachzugeben wird dagegen als falsch und gefährlich angesehen. Dies trifft besonders auf sexuelle Befriedigung zu, die als unerlaubt und sozusagen als respektlos gilt.

Außer bei den alljährlichen Saturnalien, am Holi-Fest, darf ein Jugendlicher niemals obszöne Worte gebrauchen oder vor älteren Verwandten über sexuelle Dinge sprechen. Es ist auch unschicklich und wird ihm einen Verweis eintragen, wenn er hemmungslos seinem Ärger oder Gelächter freien Lauf lässt. Dies wird als „tierisches Betragen" bezeichnet. Anstoß würde erregen (es wurde nur als hypothetischer Fall diskutiert), wenn sich ein Junge und ein Mädchen in der Öffentlichkeit zulächelten. Würden sie dabei von einem älteren Verwandten gesehen, dann setzte es, so sagten Bhagwat Singh, Chauthmal, Himat Lal und Nar Singh, Prügel. Sie alle deuteten an, dass sie hier ihre Erfahrungen hätten.

Es überrascht nicht, dass in Hindufamilien zwischen Eltern und Kindern nicht über sexuelle Dinge gesprochen wird. Die Kinder lernen die sexuellen Tatsachen und die Freuden des erotischen Reizes in einem frühen Alter voneinander. Meine Befragten stimmten darin überein, dass die meisten Kinder onanieren und sich jahrelang vor der Pubertät heterosexuell und homosexuell betätigen. Sie wissen jedoch, dass dies von den älteren Verwandten missbilligt wird, und tun es deshalb heimlich. Onanieren und homosexuelle Praktiken unter Kindern wurden als „ Schwächung" verurteilt; Birmal allerdings behauptete, der passive Partner werde durch den Samen des anderen bereichert. Solche Praktiken wurden jedoch nicht streng abgelehnt. Rajendra Singh sagte mir bei einer Gelegenheit, manche heilige Männer seien angewiesen zu onanieren, um dadurch ihren Geist von sexuellen Gedanken freizumachen: „Das ist das beste", sagte er und machte geistesabwesend mit der rechten Hand eine Bewegung, als ob er onanieren wollte. Im allgemeinen jedoch wurde Onanie in der späteren Kindheit und bei Erwachsenen heftig verurteilt.
Wenn sich die Kinder dem Pubertätsalter nähern, dann beginnen sie, sexuelle Dinge mit Attributen der Gefahr und des Zaubers auszustatten, und erhalten dabei Anleitung von älteren Brüdern und Freunden. Ein immer wiederkehrendes Erlebnis früher Jahre — ich wurde auf seine Wichtigkeit von Dr. Kathleen Gough hingewiesen — ist die periodische Abgeschlossenheit der Mutter eines kleinen Kindes während der Menstruationszeit. In dieser Periode zieht sich die Mutter völlig vom normalen Leben des Hauses zurück. Sie ist gefährlich und irgendwie unrein — obwohl sich diese Verunreinigung nicht auf ihr Verhältnis zum Kleinkind bezieht —, und sie vergießt Blut. Die Verbindung von Abgeschlossenheit und Blut erinnert an Berichte über die Dakan (Hexe). Auch sie soll sich periodisch in einem dunklen Raum einschließen und sich dort ihren Gelüsten hingeben, und dann trinkt sie Blut und isst die Leber jener, die sie missachtet haben. Das Kind muss die zeitweilig „unreine" Mutter nicht meiden, bis es entwöhnt ist. Wenn es älter wird, erfährt das Kind, dass dies alles mit sexuellen Dingen zusammenhängt, und dies muss das Ängstigende und Geheimnisvolle dieser Funktion steigern.

Jene meiner Informanten, die sexuelle Fragen offen diskutierten (dass die meisten sich dazu verstanden, mochte mit meiner Tätigkeit als Arzt zusammenhängen), waren der Ansicht, dass Frauen, ebenso wie die Männer, unterschiedlich starke sexuelle Bedürfnisse hätten. Im allgemeinen aber wurde angenommen, dass Frauen ein stärkeres Verlangen empfänden und dass sie die Initiative zum Geschlechtsverkehr ergriffen. dass man einen Sohn zeugen und seine Frau befriedigen musste, darin sah man zwei wichtige Hindernisse für ein gutes Leben. Als Girdari Lal die Vorteile des Zölibats beschrieb, merkte er dazu an, ein erfahrener Mann werde seine Frau zweimal in einer Nacht befriedigen, wenn sie den Wunsch danach zeige. Birmal sagte mir, jede Frau müsse wenigstens einmal im Monat sexuell befriedigt werden. Wenn dies nicht innerhalb von zehn Tagen nach Ende der Menstruation geschehe, werde sie sicherlich Seitensprünge machen. Viele erzählten mir Beispiele von der List, mit der ehebrecherische Frauen andere Männer verführten. Allgemein glaubte man, Promiskuität sei mehr ein Fehler der Frauen als der Männer. Hari Lal sagte: „Selbst Gott kennt nicht die verborgenen Absichten einer Frau." Und Daulmal kam zu dem Schluss: „Gott schuf den Geschlechtsverkehr, damit es uns nicht zu leicht fällt, gut zu sein."

Schuldgefühl und Wunsch nach Zurückhaltung im sexuellen Leben waren nicht allgemein. Bei gelegentlichen Trinkgelagen konnten sich Rajputs gehenlassen, und es kam dann zu sexuellen Ausschweifungen mit gesellschaftlich tieferstehenden Frauen, Mädchen aus den unteren Kasten oder Prostituierten. Ihr Benehmen in der Familie war davon aber völlig verschieden. Von den Angehörigen anderer Kasten rühmten sich Kripa Lal, Himat Lal und Chauthmal gern ihrer sexuellen Abenteuer in Udaipur, wo sie nicht den Tadel der Dorfältesten zu fürchten hatten. Aber nur Rajmal hatte den Mut, einzugestehen, dass er Frauen und Alkohol liebte und sich ihnen ohne Zurückhaltung hingab. Dies war allgemein bekannt, aber es war für einen Bania, noch dazu aus einer reichen Familie, ein so anstößiges Verhalten, dass man nur im Flüsterton davon sprach.

Die Ehefrau eines Mannes kommt zu ihm als Fremde. Sie wurde für ihn gewählt, ist das Resultat eines Handels, bei dem weder er noch sie etwas zu sagen hatte. Sie ist darüber hinaus eine Vertreterin des weiblichen Geschlechts und bedeutet als solche die fleischliche Versuchung, die Abkehr von den idealen Werten, die der Vater und der Guru repräsentieren. Als Mutter seiner Kinder und als getreue Haushälterin kommt eine Hindufrau am ehesten ihrem Mann persönlich nahe. Aber beide haben sie gegeneinander förmliche Verpflichtungen, obwohl auf den ersten Blick die Frau stark benachteiligt zu sein scheint. Die meisten meiner Befragten, die alle Männer waren, betonten, es sei die Pflicht einer Frau, ihren Mann wie einen Gott zu behandeln. Die Rajputs empfanden eine besondere Genugtuung, als sich im September die Witwe eines Rajputs in dem Dorf Kundela zum Zeichen ihrer Hingabe auf dem Scheiterhaufen ihres Mannes verbrannte. Dieser Ritus der Selbstverbrennung (Suttee) ist nicht das Monopol einer Kaste, kommt aber am häufigsten bei den Rajputs vor. Auf der Verbrennungsstätte des Dorfes gab es vier Denkmale für Frauen, die sich selbst verbrannt hatten. Zwei von ihnen gehörten den Sudrakasten an, eine kam aus einer Rajput- und eine aus einer Baniafamilie. Die letztere Frau wurde besonders gerühmt, denn sie war noch Jungfrau gewesen. Sie war alt genug gewesen, um verheiratet zu werden, aber noch nicht alt genug, um mit ihrem Mann zusammenzuleben, und als er starb, verbrannte sie sich selbst. Denkmale für frühere Witwenverbrennungen in der Familie des Herrschers standen auf dessen gesonderter Verbrennungsstätte. In jedem Fall war es der Name des Mannes und nicht der der Frau, an den das Denkmal erinnerte. Zum Zeitpunkt des Ereignisses jedoch wird die pflichtgetreue Frau verehrt, und zwar bis zur Vergötterung.

Es gab aber auch Anzeichen, dass die Frauen ebenfalls ihren Willen hatten, auch wenn sie in ihren Zenanas eingeschlossen waren. Gopi Lal sagte: „Wenn meine Frau erführe, dass ich mich mit einer anderen eingelassen habe, würde sie die Tür verriegeln und mich nicht ins Haus lassen." Und Girdari Lal: „Meine Mutter und meine Frau stritten immer, und es war die Schuld meiner Mutter. Sie konnte ihr Temperament nicht zügeln. Schließlich sagte mein Vater, ich solle dieses Haus hier nehmen und getrennt von ihnen leben. Seither leben wir hier." Unfreundliche Kritiker des Herrschers behaupteten, er sei nicht der Herr in seinem eigenen Haus. „Sie reitet ihn wie einen Esel", sagte Rajmal.

Eine Eigenart des Familienlebens der Hindus, die westliche Beobachter beeindruckt, ist die Bedeutung der Großfamilie, im Vergleich zu der die engere Familie zurücktritt. Kinder werden gewöhnlich in einer ausgedehnten Hausgemeinschaft aufgezogen, die mehrere Familien umfasst und deren Oberhaupt meist ein Großvater oder ein Onkel ist. Die Ausdehnung des Familienbegriffs wird durch eine Klassifikation unterstrichen, bei der Bezeichnungen wie Bruder, Schwester, Onkel und Tante auf alle Mitglieder der gleichen Generation einer Gotra (exogame Unterabteilung einer endogamen Kasteneinheit) übertragen werden. Ein älterer Bruder des Vaters wird voller Respekt mit „Bara bap" oder Dataji" angeredet, während seine jüngeren Brüder „Kakaji" genannt werden, eine Bezeichnung, die etwas vertraulicher wirkt. Wenn sich dann und wann die ganze Familie trifft, wie etwa bei Todesfällen oder bei einer Heirat, dann werden die Bande, die die einzelnen Familienzweige gegenseitig verpflichten, förmlich demonstriert, und die Familie kann bei solchen Gelegenheiten ihrer geschlossenen Missbilligung irregehender Mitglieder Ausdruck verleihen. Von der Gotra der Brüder seiner Mutter fühlt sich ein Kind abhängig, aber es erwartet auch Hilfe von ihr, und diese Vorstellung hält das ganze Leben über an. In Deoli wurde Shrimal als Neffe vom alten Chenmal nachsichtig behandelt. Chenmal gehörte zur selben Gotra wie Shrimals Mutter, obwohl sie nur sehr weitläufig miteinander verwandt waren.

In ähnlicher Weise besteht eine Beziehung eigentümlichen (weniger engen und unbestimmteren) Charakters zur Gotra der Schwiegerleute. Darüber hinaus fühlt man sich entfernt verwandt mit den Angehörigen seiner Unterkaste oder Kaste, was darin seinen Ausdruck findet, dass man mit ihnen zusammen essen, trinken und rauchen kann wie mit Angehörigen der eigenen Familie. Das Verbot einer Tischgemeinschaft mit Mitgliedern anderer Kasten weist warnend auf die Grenzen hin, über die hinaus es keinen vertraulichen Umgang geben kann.

Das Bewusstsein einer ausgedehnten Verwandtschaftsbindung beeinflusst natürlich das Verhältnis des Kindes zur engeren Familie, hebt dieses aber keineswegs auf. Im Gegenteil, es führt dazu, dass das Kind eine besonders enge Beziehung zur Mutter gewinnt, die die Quelle all seiner frühen Freuden ist und es wie eine ergebene Dienerin behandelt. Wenn ein Befragter den Unterschied zwischen Brüdern und Vettern deutlich machen wollte (beide werden „Bhai" genannt), dann pflegte er zu sagen: „Ekhi man ka - von ein und derselben Mutter" oder „Ekhi dudh ka bhai — von ein und derselben Milch". Der Vater wird im Rahmen der Großfamilie nicht so sehr als Person an sich denn als Teil einer Hierarchie männlicher Autoritätspersonen gesehen. Er bleibt jedoch seinem Kind eng verbunden als Rivale um die Zuneigung der Mutter, als ein überwältigender Rivale, dem man die Mutter von Zeit zu Zeit überlassen muss, und zwar unter Umständen, die seine Furchtbarkeit in der Phantasie des Kindes unvermeidlich steigern.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die gegenseitigen Pflichten in den Beziehungen zwischen Kindern und Eltern am beständigsten betont werden. In den ersten Jahren ist die Mutter die Person, die Zuneigung und bedingungslose Hilfe gewährt. Allerdings muss sie infolge der sexuellen Beziehung zum Vater das Kind gelegentlich zurückstoßen. Mit ihrer Sexualität wird außerdem das geheimnisvolle und gefährliche Phänomen ihrer periodischen Abgeschlossenheit während der Menstruation in Verbindung gebracht. Der Vater andererseits steht in einer Reihe männlicher, Disziplin heischender Personen, und er ist es, der in die Beziehung des Kindes zur Mutter eingreift, indem er die Mutter in Besitz nimmt. Er ist allmächtig, und man muss sich ihm in völliger Unterwerfung nähern. Im Verhältnis zum Vater lernt man es, dem gesellschaftlichen Zwang zu gehorchen, seine Gelüste und jede Gefühlsäußerung zu unterdrücken."