Karma, Wiedergeburt und Erlösung im Hinduismus

Vortrag von

Alois Payer


Alois Payer (payer@payer.de)


Zitierweise / cite as:

Payer, Alois <1944 - >: Karma, Wiedergeburt und Erlösung im Hinduismus. -- Fassung vom 2005-02-27. -- URL:  http://www.payer.de/einzel/weingarten.htm     

Anlass: Vortrag am 2005-02-26 bei der Veranstaltung "Karma und Wiedergeburt, Freiheit und Gnade : Hinduismus und Christentum im Dialog" der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart und der Evangelischen Akademie Bad Boll in Weingarten

Erstmals publiziert: 2005-02-27

Überarbeitungen:

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Dieser Text ist Teil der Abteilung Hinduismus  von Tüpfli's Global Village Library


0. Übersicht



Da wir heute am Vormittag eine sehr schwierige Sache vorhaben, beginnen wir wie es viele Hindus tun, wenn Sie etwas beginnen. Sie rufen den elefantenköpfigen, dickbauchigen Gott Ganesha an, der seinen Rüssel meist in eine Schale mit Pralinen steckt. Ganesha ist spitzbübisch veranlagt, macht darum gern Streiche und ist deswegen für die Beseitigung von Hindernissen zuständig.


Abb.: Ganesha [Bildquelle: http://www.jyotish.nl/fig3.htm. -- Zugriff am 2005-02-27]

Anrufung Ganeshas:

Lambodara, namas tubhyam
satatam modakapriya
nirvighnam kuru me deva
sarvakâryeshu sarvadâ

O Hängebauch, du Naschkatze
Verehrung sei Dir!
Gott, mache, dass alle meine Unternehmungen
frei von Hindernissen seien


Statt eines Motto:

Unfrei

Ganz richtig, diese Welt ist nichtig.
Auch du, der in Person erscheint,
Bist ebenfalls nicht gar so wichtig,
Wie deine Eitelkeit vermeint.

Was hilft es dir, damit zu prahlen,
Dass du ein freies Menschenkind?
Musst du nicht pünktlich Steuern zahlen,
Obwohl sie dir zuwider sind?

Wärst du vielleicht auch, sozusagen,
Erhaben über gut und schlecht,
Trotzdem behandelt dich dein Magen
als ganz gemeinen Futterknecht.

Lang bleibst du überhaupt nicht munter.
Das Alter kommt und zieht dich krumm
Und stößt dich rücksichtslos hinunter
Ins dunkle Sammelsurium.

Daselbst umfängt dich das Gewimmel
Der Unsichtbaren, wie zuerst,
Eh du erschienst, und nur der Himmel
Weiß, ob und wann du wiederkehrst.

Wilhelm Busch <1832 - 1908> (Verfasser u.a. von Max und Moritz)


1. Einleitung


Wie man an meiner Sprache hört, bin ich ein Württemberger, also hatte ich nicht genügend gutes Karma, um als Inder und Hindu geboren zu werden. Ich selbst würde mich als Theravâdabuddhist bezeichnen. Mit den Worten eines meiner hinduistischen Freunde sehe ich in Buddha "das größte Geschenk Indiens an die Welt".

Dieser Vortrag findet im Zusammenhang von "Hinduismus und Christentum im Dialog" statt. Ich verstehe Dialog so, dass man im Gesprächspartner nicht ein Ersatzteillager für den eigenen heruntergekommenen Verein sieht, sondern dass es ein offenes und ehrliches Gespräch ist, bei dem man dem anderen auch sagt, was einem an ihm gar nicht gefällt. Dialog und Dialogbereitschaft sind nicht als solche gut. "Leben und leben lassen" ist eine ebenso gute Alternative. Niemand ist zu Dialog verpflichtet und niemand sollte zu Dialog gedrängt werden. Manche meiner nichtchristlichen Freunde haben den Eindruck, dass man Nichtchristen von christlicher Seite früher mit Kreuz und Schwert verfolgte, heute verfolge man sie mit "Christlich-"(-Bindestrich-)-Dialogen. Wenn es so wäre, wäre es immerhin auch schon ein gewisser Fortschritt hin zur Humanität. Wie dem auch sei: das Folgende ist manchmal nicht für zartbesaitete Gemüter geeignet. Weiterlesen auf eigene Gefahr!


1.1. Einstellungen zu Karma und Wiedergeburt im Westen


"Karma und Wiedergeburt sind mit schuld daran, dass die Reichen und Mächtigen in den Ländern, in denen der Glaube an Wiedergeburt blüht, sich um die armen, leidenden Massen nicht kümmern. Warum sollten sie auch: Wenn ein Kind wegen seines schlechten Karmas leidet, warum sollte man da dazwischentreten? Warum sollte man den Holocaust verurteilen? Jeder Jude, der ermordet wurde, ist selber schuld: schließlich wählte er in einem früheren Leben selbst Taten, die zu diesem seinem furchtbaren Leiden führten." Solche Einwände kann man bei uns gegen den Glauben an Karma und Wiedergeburt hören.

Siehe z.B. Gardner, Martin: The New Age : notes of a fringe watcher. Buffalo, N.Y. : Prometheus Books, c1988. - 273 S. : ill. -- ISBN 0-87975-432-X : $19.95. -- S. 197. Unter Hinweis auf den vierteiligen Aufsatz: Edwards, Paul: The case against reincarnation. -- In: Free Inquiry. -- Buffalo, NY. -- Fall 1986, Winter 1986/87, Spring 1987, Summer 1987.

Paul Edwards hat inzwischen seine Argumente gegen Karma und Wiedergeburt dargestellt in dem Buch:

Edwards, Paul <1923 - >: Reincarnation : a critical examination. -- Amherst, NY : Prometheus, ©1996. -- 313 S. -- ISBN 15739220053. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch bei amazon.de bestellen}.

"This book is the first comprehensive and systematic evaluation of reincarnation and Karma in any languge. Several chapters are devoted to the alleged evidence for reincarnation — child prodigies, déjà vu experiences, hypnotic regressions, and the reincarnation memeories of a number of children, but also some adults, especially in India and in other countries where belief in reincarnation is widespread. One chapter discusses the so-called Law of Karma showing that it is no law at all, offering only post hoc explanations.

There are both empirical and conceptual objections to reincarnation. The theory is shown to be inconsistent with the population increases on earth, the relative recency of life in the universe, and various features of evolutionary history. Reincarnationists are also faced with the problem of giving a coherent account of the identity of a person who is said to be the same in two different lives. Equally seriously, they cannot offer a crediblee description of how the mind could make its transition from a dead body into the womb of the mother of its next incarnation. They have to resort to the fantastic theory of an 'astral' or 'spiritual' body. Furthermore we have enormous evidence that the mind or consciousness cannot exist without the brain. The brain-mind-dependence facts undermine ost forms of survival including reincarnation.

In addition to reincarnation and Karma, the book discusses in some detail the claims of the leading figures in the new immortality movement, which arose in the United States in the mid-1970s. The writers targeted in this connection are Elisabeth Kübler-Roos; Raymond Moody, the author of the best-selling Life After Life; and Dr. Stanislov Grof, who bases his belief on the experiences of patients during LSD sessions."

[Waschzettel zum Buch]

[Obwohl Paul Edwards' Buch weitgehend von Missverständnissen und Unkenntnis strotzt, verdient es eine ausführliche Auseinandersetzung: eine Auseinandersetzung mit seinen Argumenten führt zur Klärung vieler Punkte, die eventuell unklar geblieben sind, sowie zur Lokalisierung von Problemen, die tatsächlich (noch?) nicht gelöst sind. Um dem Glauben an Wiedergeburt und Karma den beabsichtigte Todesstoss zu versetzen, müsste sich der Autor des Buches doch noch viel sachkundiger machen, insbesondere müsste er die Begrenztheit seiner eurozentrischen Denkmuster erkennen.]

Auf der anderen Seite ist der Glaube an Wiedergeburt, und wohl auch an Karma, auch bei uns sehr verbreitet. Bei den repräsentativen Umfragen des 1990 - 1993 World Value Survey gaben jeweils folgender Prozentsatz der Befragten an, an Wiedergeburt (re-incarnation) zu glauben:

Land Prozentzahl der Befragten, die bejahten,
an Wiedergeburt zu glauben
Indien 91%
Brasilien 57%
Türkei 54%
Japan 50%
Chile 49%
Litauen 45%
Südafrika 43%
Mexiko 40%
Island 40%
Nigeria 39%
Argentinien 39%
Schweiz 36%
Finnland 34%
Moskau 33%
Nordirland 33%
Kanada 31%
Portugal 29%
Großbritannien 29%
Österreich 29%
Spanien 28%
Frankreich 28%
Italien 27%
Polen 26%
USA 26%
Westdeutschland (alte Bundesländer) 26%
Bulgarien 25%
Rumänien 24%
Weißrussland 24%
Ungarn 23%
Russland 22%
Niederlande 22%
Irland 20%
Schweden 20%
Slowenien 17%
Dänemark 17%
Belgien 16%
Norwegen 15%
Ostdeutschland (neue Bundesländer) 13%

[Quelle: Inglehart, Ronald ; Basañez, Miguel ; Moreno, Alejandro: Human values and beliefs : a cross-cultural sourcebook : political, religious, sexual, and economic norms in 43 societies : findings from the 1990 - 1993 World Values Survey. -- Ann Arbor : The University of Michigan Press, ©1998. ISBN 0-472-10833-6. -- Tabelle V 174. --  {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}. -- Näheres zu diesem Survey: Entwicklungsländerstudien / hrsg. von Margarete Payer. -- Teil I: Grundgegebenheiten. -- Kapitel 12: Überzeugungen und Einstellungen / zusammengestellt von Alois Payer. -- URL: http://www.payer.de/entwicklung/entw12.htm]

Obwohl die einzelnen Befragten wohl sehr Unterschiedliches unter Wiedergeburt verstehen, gibt dieser methodisch sauber durchgeführte — Survey doch einen guten Eindruck  vom Phänomen Wiedergeburtsglauben.

Es ist also nicht so, dass der Glaube an Wiedergeburt heute ein ausschließlich östliches Phänomen ist: über ein Viertel der Westdeutschen glauben an Wiedergeburt, obwohl diese Lehre von allen etablierten Kirchen, unseren Staatskirchen, abgelehnt wird. Doch ist Gegenstand dieses Referates nicht der Wiedergeburtsglaube bei uns, sondern die Lehre von Wiedergeburt und Karma bei den Hindus. 

Eine sehr umfangreiche und informative Darstellung von Wiedergeburt und Karma in Europa gibt:

Zander, Helmut <1957 - >: Geschichte der Seelenwanderung in Europa : alternative religiöse Traditionen von der Antike bis heute. -- Darmstadt : Primus, ©1999. -- 869 S. --  ISBN 3896781405. --  {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}

Sollten Sie sich weiter für mehr allgemeine Fragen der Wiedergeburtsanschauungen, die insbesondere durch die New Age Welle sehr gefördert werden, interessieren, dann empfehle ich Ihnen das Buch:

Seelenreisen / von der Redaktion der Time-Life Bücher. -- Authorized German language edition. Original U.S. ed. c1987. -- Amsterdam : Time-Life Bücher, c1988. -- 144 S. : Ill. -- ISBN 90-6182-994-1.-- (Geheimnisse des Unbekannten)


1.2. Problematik der Behandlung dieses Themas in 90 Minuten: die verwirrende Vielfalt der Hindureligionen


Doch was verbirgt sich hinter diesem Begriff Hindu bzw. Hinduismus. Ist es ein Begriff, hinter dem sich so vielerlei verbirgt, wie hinter dem Begriff Christentum mit seinen Tausenden von Denominationen? In Wahrheit ist der Begriff Hinduismus noch viel schillernder als der Begriff Christentum. Man kann mit gutem Recht behaupten, Hinduismus sei nicht eine Religion, sondern eine Enzyklopädie von Religionen. Hinter Hinduismus verbergen sich im theologischen — nicht im soziologischen — Sinne mindestens drei große Religionen mit jeweils zahllosen Denominationen/Sekten: die drei großen theologisch — nach ihrem Gott — unterschiedenen Religionen sind


Abb.: Vishnu [Bildquelle: http://www.angelfire.com/tx/vedula/Pictures.html. -- Zugriff am 2005-02-27]


Abb.: Meditierender Shiva [Bildquelle: http://www.sanatansociety.com/free_stuff/free_wallpaper_shiva_800x600.htm. -- Zugriff am 2005-02-27]


Abb.: Die Göttin als Durgâ [Bildquelle: http://www.vedantasociety.org/durgapuja.html. -- Zugriff am 2005-02-27]


Übersicht über die wichtigsten Hindureligionen


Die folgende Liste beansprucht weder Vollständigkeit noch Allgemeingültigkeit. Sie soll nur einen Eindruck geben von der Komplexität des Phänomens Hindureligionen.

  1. Vedische Religion und Religion der Brâhmana
  2. Vishnuismus
    1. Bhâgavata's
      • Mârâtha Bhakta's (Gottesname: Vitthal/Vithobâ)
      • Mâdhva's
      • Vishnusvâmî's
      • Nimbârka's
      • Chaitanya's
      • Vallabhâcârya's
      • Râdhâ-Vallabhî's
      • Hari-dâsî's
      • Svâmî-Nârâyanî's
    2. Pâñcarâtrin's
      • Shrî Vaishnava
      • Vada-galai (Nördliche Schule)
      • Tengalai (Südliche Schule)
      • Mahânubhava's (Manbhau)
      • Râmânandî's
      • Raidâsî's
    3. Reformgruppen und Neubildungen
      • Kabîrpanthî's
      • (Sikh's)
      • Dâdûpanthî's
      • Satnâmî's
      • Râdhâ Soâmi Satsang
    4. und viele andere
  3. Shivaismus
    1. Pâshupata
      • Nâtha's
      • Gorakhnâthî's
    2. Âgama Shaivas
      • Sanskrit Shaiva Siddhânta
      • Tamil Shaiva's
      • Sittar's
      • Kashmir Shaiva's
      • Vîra Shaiva's (Lingâyats)
    3. Khândobâ Kult in Maharashtra
  4. Shaktismus (Devî-Kult)
    1. Linkshändiger Shaktismus
    2. Rechtshändiger Shaktismus
      • Affinität zu Smârta's (eigentl. vedische Religion)
    3. Bhakti Shaktismus
  5. Gânapatya's (Verehrer des Ganesha)
  6. Advaita-Vedânta
  7. Neo-Hinduismus
    1. Brahmo Samaj
    2. Arya Samaj
    3. Ramakrishna Mission
    4. Theosophen

Theologisch gesehen gibt es also den Hinduismus vielleicht gar nicht, wohl aber gibt es ihn heute als Selbst- und Fremdidentifikation: zunächst einmal sind in diesem soziologischen — und auch im rechtlichen Sinne — Hindus alle die Indienstämmigen, die einheimischen Nichtstammesreligionen anhängen, also auch Buddhisten, (Jaina's) und Sikh's. Im engeren Sinne sind Hindus diejenigen aus dieser Gruppe, die sich nicht selbst ausdrücklich als Nicht-Hindus ausgrenzen, das sind besonders Buddhisten und heutzutage auch Sikhs.


All diese Hindu-Religionen und -Denominationen unterscheiden sich u.a.:

Ich hoffe, es gelingt mir, Sie gehörig zu verwirren, denn die Vielfalt der Hindureligionen und Denominationen ist wirklich verwirrend. Sind wir uns dieser verwirrenden Vielfalt nicht bewusst, dann ist unser Indienbild völlig unrealistisch.

Einem Außenstehenden mag oft das Verhalten einzelner Hindus oder Hindugruppen zutiefst widersprüchlich erscheinen. Ich möchte das kurz an einem gut dokumentierten Fall illustrieren: In einem tamilischen Dorf hatte ein Dieb Selbstmord begangen. Eine Menge Dorfbewohner lief zusammen und diskutierte den Fall ohne Rücksicht auf die Gefühle der ebenfalls anwesenden Angehörigen und Freunde des Selbstmörders.

"Einige tadelten den Verstorbenen für seine Vermessenheit und sahen in seiner Tat seine freie Entscheidung, andere sagten, er sei das Opfer des Schicksals geworden und hilflos gewesen, wieder andere, Gott habe sich mit ihm einen grausamen Scherz erlaubt. Dieselben Argumente lassen sich auch für jede andere der an diesem Drama beteiligten Personen verwenden." Ein Forscher (Daniel) "sieht darin einen 'pragmatischen Relativismus', der es Menschen erlaubt, Erklärungen wie Werkzeuge aus einem 'Werkzeugkasten' für alles zu haben, und der es sogar ermöglicht, dass ein und dieselbe Person zu verschiedenen Zeiten auf verschiedene Erklärungen zurückgreifen kann."

[O'Flaherty, Wendy: Emotion und Karma. --  In: Max Webers Studie über Hinduismus und Buddhismus : Interpretation u. Kritik / Hrsg. von Wolfgang Schluchter. -- Frankfurt am Main : Suhrkamp, 1984. -- 381 S.  -- (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft ; 473). -- ISBN: 3-518-28073-2. -- S. 94 - 96]

Dieses Werkzeugkasten-Verhalten ist gar nichts typisch Indisches. Beobachten Sie sich selbst einmal einen ganzen Tag lang und Sie werden vermutlich sehen wie inkonsistent, wie logisch widersprüchlich ihre Erklärungs- und Verhaltensmuster glücklicherweise sind. Inder neigen wie hoffentlich die meisten von uns dazu, "zahlreiche einander widersprechende Erklärungen für ein interessantes Problem zu entwickeln und diese nebeneinander stehenzulassen." Das ist auch gut so, dann wirklich konsequente Menschen können ziemlich unerträglich sein.

In unserem Zusammenhang bedeutet das, dass wenn Sie feststellen, dass ein und derselbe Hindu neben den heute und hier genannten Mustern noch weitere verwendet oder, dass er von den genannten Mustern mehrere, durchaus nicht miteinander harmonierende, anwendet, dann bedeutet, das nur, dass die betreffende Person wie ein passionierter Heimwerker nicht nur mit einigen Grundwerkzeugen auskommen will, sondern in ihrem religiösen Werkzeugkasten eine Menge von Spezialwerkzeugen hat, die diese Person in einer konkreten Situation ausprobiert.


Was bedeutet diese Vielfalt?

In sehr vielen Fällen ist es eher eine echte Vielfalt des Angebotes, als eine trennende Vielheit von exklusiven, die anderen ausschließenden Religionen und Denominationen. Es gibt allerdings auch Denominationen mit einem Entweder-Oder Standpunkt. Häufiger ist allerdings vermutlich der Sowohl-als-auch Standpunkt.

Es ist durchaus nicht unüblich, dass Anhänger verschiedenster Hindureligionen und Denominationen in derselben Familie zusammenleben. Dies wird z.B. ideologisch möglich gemacht durch die Unterscheidung Îshvara (der eine Gott) und Ishtadevatâ (die Gottheit, d.h. Erscheinungsform Gottes, die dem eigenen Geschmack am besten zusagt). D.h. z.B. der eine Gott ist Vishnu, je nach persönlichem Geschmack und Situation verehre ich ihn als Krishna oder Râma usw. Oder auch der eine Gott ist der namenlose Unfassbare, der als Vishnu, Shiva, Göttin usw. verehrt wird.

Wir finden die Einstellung, dass alle Hindureligionen gleich sind, da sie in Wirklichkeit denselben Gott verehren, dass die verschiedenen Religionen — auch die Nicht-Hindureligionen — nur verschiedene Wege zum selben Ziel sind. Besonders schön drückt dies der indische Heilige Ramakrishna (1836-1886) aus, der nicht nur verschiedene Hindureligionen, sondern auch Islam und Christentum ausprobiert hatte:


Abb.: Ramakrischna

"Ich habe alle Religionsbräuche geübt: den Hinduismus, den Islam, das Christentum, und ich bin auch die Wege der verschiedenen Sekten des Hinduismus gegangen, und ich habe gefunden, dass es derselbe Gott ist, zu dem sie alle streben, wenn auch auf verschiedenen Wegen ... Ihr müsst diese verschiedenen Wege gehen und einmal jede Glaubensform wirklich durchproben. Ich sehe überall Menschen, die sich im Namen der Religion streiten: Hindus, Muslime, Brahmos, Vischnuiten usw. Sie bedenken aber nicht, dass Der, der Krischna genannt wird, ebenso auch Schiwa heißt, und ebensogut kann er Urkraft, Jesus oder Allah genannt werden und ebensogut der eine Rama mit seinen tausend Namen. Ein Teich mit vielen Badetreppen. Auf einer schöpfen die Hindus das Wasser in Krügen und nennen es Dschal; auf einer anderen schöpfen die Muslime das Wasser in ledernen Schläuchen und nennen es Pani; auf einer dritten die Christen und nennen es Water. Können wir uns denn vorstellen, dass dieses Wasser nicht Dschal ist, sondern Pani oder Water? Das wäre doch lächerlich! Der Urgrund ist Einer unter verschiedenen Namen, und ein jeder sucht nach demselben Urgrund; nur Klima, Naturanlage und Benennung schaffen die Unterschiede."

Ramakrishna brachte dafür gerne ein schönes Gleichnis:

"Gott ist auf dem Dach. Nun muss man hinaufklettern. Die einen nehmen eine Leiter, die anderen ein Seil oder eine Steintreppe oder eine Bambusstange, andere steigen hinauf nach ihrer Art. Die Hauptsache ist nur eines: dass man auf das Dach hinaufkommt, ob ihr diesen oder jenen Weg nehmt, ist ziemlich gleichgültig. Was man natürlich nicht tun kann, ist, mehrere Arten zugleich verwenden; wenn schon, dann eine nach der anderen. Wenn ihr Gott gefunden habt, dann seid ihr auf dem Dach, und nun versteht ihr, dass man verschiedene Wege nehmen kann, um ihn zu erreichen. Nur dürft ihr keinesfalls meinen, dass die anderen Wege nicht zu Gott führen. Es sind verschiedene Wege auf dasselbe Dach! Ein jeder gehe seinen eigenen Pfad! Wer aber redlich und heißen Herzens Gott sucht - Friede sei mit ihm! Gewiss wird er Ihn finden. Ihr mögt sagen, in einer anderen Religion gebe es doch viele Irrtümer und Aberglauben. Darauf antworte ich: Es mag so sein. Jede Religion hat ihre Irrtümer, jeder denkt, dass nur seine Uhr richtig geht. Es genügt aber, eine heiße Liebe zu Gott zu haben. Es genügt, Ihn zu lieben und sich zu ihm hingezogen zu fühlen. Wisst ihr denn nicht, dass Gott unser innerer Führer ist?"

[Übersetzungen nach: Lemaître, Solange: Ramakrischna in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten / Solange Lemaître. [Aus d. Franz. übertr. von Reinhold Grimm. Den Anh. besorgte d. Übers.]. -- [1. - 15. Tsd.]. -- Reinbek b. Hamburg : Rowohlt,1963. -- 178 S. : mit Abb. ; 8°. --  (rowohlts monographien ; 60). -- Originaltitel: Ramakrishna et la vitalité de l'hindouisme (1959). -- S. 90ff.]

Diese Anschauung von der Einheit aller Religionen ist in Indien zwar verbreitet, öfter aber findet man eine evolutionistische Anschauung, in der alle Religionen — nicht nur die Hindureligionen — in ein Entwicklungsschema gebracht werden, und die eigene Auffassung an der Spitze steht. Die anderen Auffassungen sind aber dennoch berechtigt und können recht tolerant behandelt werden, da das Fassungsvermögen der Menschen verschieden ist: man denkt ja in vielen Wiedergeburten, deshalb ist das gegenwärtige Leben nicht von ausschlaggebender Wichtigkeit: wenn also auch nur Anhänger der eigenen Denomination zur Erlösung gelangen können, so bedeutet das für die anderen dennoch nicht ewige Finsternis: sie haben ja noch andere Wiedergeburten vor sich, irgendwann evtl. auch als Mensch, und dann haben sie wieder die Möglichkeit zur Erlösung.

Gegen diese "snobistische" Auffassung einer Entwicklungspyramide hin zur wahren Religion stehen allerdings Auffassungen und Hindureligionen, die die höchste Religion als auch dem Einfachsten und Niedrigsten zugänglich darstellen.

Bisher bin ich in dieser Einleitung zu unserem Thema vorwiegend auf die Vielheit und dissoziierende Kraft der Hindureligionen eingegangen. In den Hindureligionen steckt allerdings auch eine starke integrative Kraft: immer wieder wurden viele lokalen Eigentümlichkeiten in die überlokalen und überregionalen religiösen Traditionen absorbiert. Die wichtigsten Mechanismen dabei sind Inklusion, die Übernahme von ursprünglich fremden Elementen, und die Identifikation von z.B. regionalen oder lokalen Gottheiten mit einer Gestalt der großen Hindureligionen, wie z.B. Vishnu. Die Hindureligionen trugen und tragen auch zur Integration von Nicht-Hindu-Gruppen in die gesamtindische Gesellschaft bei. Dies geschieht durch Hinduisierung und insbesondere Sanskritisierung: die Nicht-Hindus übernehmen z.B. Vegetarismus, soziale Vorschriften, Götter, Riten und Mythen, wie sie in der Sanskrit Literatur definiert sind und von Brahmanen vertreten werden. Eine solche Sanskritisierung kann zu einer Hebung des sozialen Ansehens der betreffenden Gruppe führen. So gesehen sind die Sanskrit Hindureligionen die integrierende große Tradition, die selber ständig verändert wird durch regionale und lokale "kleine" Traditionen.


2. Quellen des Glaubens an Wiedergeburt und Karma


Glaube an Wiedergeburt ist nicht notwendig an den Glauben an Karma geknüpft: Der Lauf der Wiedergeburten könnte auch von blinder Notwendigkeit oder durch freie Wahl der jeweiligen Existenzen bestimmt sein. Im Hinduismus sind aber Wiedergeburt und Karma aneinander geknüpft.

Der Hintergrund dafür ist der Glaube an eine moralische Weltordnung, an eine Weltordnung, in der es sich lohnt, gut und rechtschaffen zu sein, und in der es sich nicht lohnt, böse und gemein zu sein. Nun ist ja unsere Welt so, dass es oft — zumindest kurzfristig — scheint, dass es sich eher lohnt, böse und gemein zu sein, und dass die Guten, Ehrlichen, Rücksichtsvollen, Rechtschaffenen die Dummen sind, die das Nachsehen haben. Unsere Erfahrung wird doch sehr treffend ausgedrückt durch folgenden Spruch des ehemaligen Stuttgarter Oberbürgermeisters Manfred Rommel <geboren 1928>:

Die Welt ist schlecht und ungerecht,
Denn dir geht's gut und mir geht's schlecht.
Wär' die Welt gerechter,
Ging's mir besser und dir schlechter.

Außerdem widerspricht ja zunächst einmal einer moralischen Weltordnung das viele Leid, für das man auch bei bestem Willen keinen Grund beim Leidenden finden kann: Warum ist das eine Kind gesund, in eine wohlhabende Familie mit bester Versorgung hineingeboren, während das andere Kind in eine ärmste Familie geboren wurde und nicht nur hungert, sondern auch noch von Viren, Bakterien und Würmern buchstäblich aufgefressen wird? Hält man aus welchen Gründen auch immer am Glauben an eine moralische Weltordnung fest, so kann man auf einen unbegreiflichen Gott rekurrieren, der irgendwie die Gerechtigkeit wieder herstellen wird, und/oder man kann die postulierte moralische Weltordnung durch die Hypothesen von Wiedergeburt und Karma zu retten versuchen.

Das Postulat der moralischen Weltordnung — für Hindus ist sie im Begriff Dharma enthalten — ist nur eine Quelle der Anschauung von Wiedergeburt und Karma. Andere ebenso wichtige Quellen sind verschiedene Erfahrungen sowie der große heuristische (aufdeckend-erklärende) Wert, den diese Hypothesen für die Deutung sonst zufällig und sinnlos erscheinender Lebensereignisse haben. Sehr wichtig ist auch die rechtfertigende, versöhnende Funktion dieser Überzeugungen. Dazu kommt noch die Bedeutung von kultureller Tradition und Glaube an angebliche Offenbarungen und an als autoritativ angesehene Personen.

[Zum Begriff Dharma siehe: Payer, Alois <1944 - >: Dharmashastra : Einführung und Überblick. -- 1. Einleitung. -- URL: http://www.payer.de/dharmashastra/dharmash01.htm. -- Zugriff am 2005-02-27]

Zunächst einmal die Erfahrungen, aufgrund derer man zur Überzeugung von Karma kommen kann. Karma als Erfahrung bedeutet nicht, dass meine Frau einmal Kleopatra war, ich der Löwe der Kleopatra (und dass wir dann beide in "Asterix und Kleopatra" verfilmt wurden). Karma heißt, dass wir zu sehen lernen, wie oft wir uns selbst Leiden oder Glück schaffen. Wir drücken das ja auch in unserer Sprache aus: "Ich rege mich über etwas auf." Mich regt nichts auf, aber ich rege mich darüber auf. Das verdirbt mir meine ganze Laune, macht mich grantig und bereitet mir eine Menge Leid. "Ich bin frustriert." Warum? Weil ich mir selbst irgendwelche Flöhe in den Kopf gesetzt habe. Warum leide ich besonders? Weil ich etwas wollte oder wünschte und es nicht bekam oder erreichte, oder weil ich es einmal bekam, aber dies nicht wiederholen konnte. Diese Einsicht nenne ich Karmasicht. Das ist etwas ganz anderes als Karma-Ideologie. Wir machen die Karmasicht, die Anleitung, Leiden zu vermindern, kaputt, wenn wir daraus eine Ideologie machen und, auch wenn wir gar keinen Zusammenhang sehen, sagen: Das wird schon irgendwie Karma sein. Indem man Karma so in den Bereich des "Unsichtbaren", des nicht Erfahrbaren, des Metaphysischen legt, öffnet man Betrug und >Phantastereien Tür und Tor. Was herauskommt ist oft reiner Blödsinn. Das ist schädlich. Das ist Quatsch. Karma ist aber an sich kein Quatsch: es ist eine Sichtweise, die uns eine wichtige Ursache von Leiden erfahrbar erkennen lässt. Und diese Sichtweise wäre auch ein großes Geschenk Indiens an die Welt.

[Eine humorvolle Darstellung der Karmaideologie ist: Vallieres, Ingrid [Text] ; Bruder, Karl-Heinz [Zeichnungen]: Reinkarnation für Katzen / Ingrid Vallieres. -- Stuttgart : Naglschmid, 1998. -- 56 S. ; 20 cm. -- (Edition Hannemann). -- ISBN 3-89594-994-9]


Abb.: Einbandtitel

Erfahrungen, aufgrund derer man zur Überzeugung der Wiedergeburt, und in geringerem Maße auch des Karma kommt, kann man grob in fünf Kategorien gliedern:

  1. spontane Erlebnisse, in denen sich Menschen zumeist Kinder offenbar ohne einen äußeren Einfluss an etwas zu erinnern scheinen, das sie für ein früheres Leben halten. Zu solchen Fällen ist eine ganze Wissenschaft entstanden, die sogenannte Reinkarnationsforschung. Der bekannteste Vertreter dieser Forschung ist Ian Stevenson, der zigtausend von Berichten über Erlebnisse dieser Art gesammelt hat und einem Teil weiter nachgegangen ist. Wenn Sie sich dafür interessieren, empfehle ich Ihnen:

    Stevenson, Ian: Reinkarnation : der Mensch im Wandel von Tod und Wiedergeburt : 20 überzeugende und wissenschaftlich bewiesene Fälle. -- 7. [deutsche] Aufl. -- Braunschweig : Aurum, 1994. -- 414 S. -- ISBN 3591080195. --  Originaltitel: Twenty cases suggestive of reincarnation. -- 1. Originalaufl. ©1966, 2. Originalaufl.  ©1974. -- Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}


    Abb.: Ian Stevenson [Bildquelle: http://psychicinvestigator.com/demo/reincn.htm. -- Zugriff am 2005-02-27]
     

  2. Die zweite Gattung von Wiedergeburtserlebnissen sind Erinnerungen in veränderten Wachbewusstseinserlebnissen. Diese veränderten Wachbewusstseinserlebnisse können entweder durch die betreffende Person selbst hervorgerufen werden, z.B. durch Meditationstechniken, oder sie können durch eine andere Person, meist durch Hypnose, hervorgerufen werden (sog. hypnotische Regression).
     
  3. Die dritte Gattung von Wiedergeburtserlebnissen sind Traumerlebnisse. Wenn Träume nicht nur als Schäume angesehen werden, sondern auch als Erfahrungen von Wirklichkeit und/oder Unbewusstem, dann sind entsprechende Träume eine erfahrungsmäßige Bestärkung des Wiedergeburtsglaubens.
     
  4. Die vierte Gattung von Wiedergeburtserlebnissen sind die, bei denen man sich nicht selbst in irgendeiner Form an frühere Geburten erinnert, sondern bei denen ein anderer diese Verbindung zu früheren Geburten herstellt, sei es dass Heiliger oder ein religiöser Funktionär für jemanden anderen sinnstiftend auftritt, indem er bestimmte gegenwärtige Zustände oder Ereignisse mit Taten in früheren Leben verknüpft, sei es wie es gerade heute mit der anwachsenden spiritistischen Welle wieder in Mode ist , dass Medien als Kommunikationskanäle zwischen einer früheren Persönlichkeit und einem Lebenden auftreten, wobei dann die gechannelte (medial vermittelte) Persönlichkeit Gegenwärtiges aus dem Wiedergeburtszusammenhang heraus erklärt.
     
  5. Die fünfte Gattung von Erfahrungen, die als Bestätigung der Wiedergeburt angesehen werden können, sind bestimmte Körpermerkmale, wie z.B. Muttermale, Feuermale und dergleichen, die an eine verstorbene — nicht direkt verwandte — Person erinnern.

    Dazu: Stevenson, Ian: Reinkarnationsbeweise : Geburtsnarben und Muttermale belegen die wiederholten Erdenleben des Menschen. -- Grafing : Aquamarin-Verl., 1999. -- 254 S. ; 22 cm. -- ISBN 3-89427-117-5

Ich habe bis jetzt als Quellen für den Wiedergeburtsglauben genannt das Postulat der moralischen Weltordnung und verschiedene Arten von Erfahrungen. Ein ganz wichtiger, ebenfalls erfahrungsbezogener Grund ist der heuristische (aufdeckend-erklärende) Wert, den die Hypothesen von Wiedergeburt und Karma für die Sinngebung von sonst als zufällig und sinnlos erscheinenden Ereignissen bieten: Warum habe ich gerade meine Frau kennengelernt? Warum treffen gerade wir hier zusammen? Warum konnte ich im fernen Indien bestimmte Freundschaften schließen? usw. Ist es nicht gerade deshalb, weil wir jeweils in einem früheren Leben zusammengehörten und weil "das was zusammengehört, auch zusammenkommen muss" (Willy Brandt)?

Eine wichtige Quelle für den Glauben an Wiedergeburt und Karma ist die rechtfertigende und versöhnende Funktion dieser Überzeugungen. Wiedergeburt und Karma rechtfertigen die geburtsmäßig vorgegebenen Ungleichheiten und "Ungerechtigkeiten", sie ermöglichen, dass man als Gottgläubiger angesichts des unendlichen scheinbar unverschuldeten Leidens der Lebewesen nicht auf die Seite der Lebewesen gegen Gott treten muss, sondern dass man weiterhin opportunistisch seinem Gott schmeicheln kann ("Großer Gott wir loben Dich"). Man kann also weiterhin auf Seiten des Mächtigen stehen. Diese Entsolidarisierungsfunktion teilen die Überzeugungen von Karma und Wiedergeburt mit allen anderen Formen der Rechtfertigung Gottes (Theodizee), die es in den Hindureligionen genauso gibt wie in den Christentümern (man muss sich dazu nur das unsägliche Gelabere im SPIEGEL-Forum des Oberprotestanten Huber angesichts der Flutkatastrophe in Südostasien vor Augen führena). Karma erklärt also, warum die Lebewesen in der Welt so verschiedenartig sind (Pflanzen, Tiere, Menschen, Himmels- und Höllenbewohner), warum die Menschen ein durch Kastenzugehörigkeit, Familie, körperliche und geistige Fähigkeiten, Vermögensverhältnisse usw. von Anbeginn an unterschiedliches Schicksal haben und warum es dem Guten in diesem Leben oft schlecht, dem Bösen gut ergeht.

a Man kann auch die menschenverachtende, Gott speichelleckende Predigt desselben Bischofs am 2. Januar 2005 in St. Nicolai, Frankfurt nachlesen [Im Internet: http://www.tv-ev.de/kirche_im_tv_2679.html. -- Zugriff am 2005-02-27]. Wem es dabei nicht zum Kotzen übel wird, sollte eindringliche Gewissenserforschung üben! 

Wir dürfen natürlich bei den Quellen für den Glauben an Wiedergeburt und Karma nicht die Tradition und den Glauben an die Autorität vergessen, der Glauben an angeblich inspirierte Worte heiliger Schriften, an die Aussagen von religiösen Funktionären und Schriftgelehrten, die unreflektierte Übernahme dieser kulturellen Faktoren im Sozilaisierungsprozess von Generation zu Generation.

Wegen der gesellschaftsstabilisierenden Aspekte dieses Glaubens findet er auch eine gesellschaftliche Unterstützung: der Glaube an Karma reduziert Neid und gibt gesellschaftlicher Ungerechtigkeit Sinn, ohne sie notwendigerweise zu zementieren, wenn er auch oft der Verhärtung des Status quo und der Ausbeutung und Unterdrückung dient.

Aufgrund des Zusammenwirkens dieser verschiedenen Quellen sind in Indien Wiedergeburt und Karma völlig selbstverständliche Erfahrungs-, Deutungs- und Verständnismuster, so wie es bei uns bis vor nicht zu langer Zeit die Heilige Dreifaltigkeit, ewiges Leben oder die Gegenwart Christi im Abendmahl waren.


3. Karma


Das Gesetz vom Karma ist das moralische Kausalitätsgesetz, das bewirkt, dass gute Taten irgendwann — sei's in diesem oder einem zukünftigen Leben — gute Früchte bringen, und dass böse Taten irgendwann einmal böse Früchte bringen. Karma ist zwar die Hauptursache für die sozialen Unterschiede, es ist aber nicht die einzige Ursache, die es gibt; wäre Karma die einzige Ursache für unser Schicksal, zumindest für alles was im moralischen oder unmoralischen Bereich geschieht, dann hätten wir einen strengen Determinismus und keine moralische Weltordnung. Karma ist auch für Hindus nur ein Bereich der Naturgesetze anderen physikalischen, biologischen, psychologischen und anderen Gesetz- und Regelmäßigkeiten.

Obwohl ich im Folgenden immer vom individuellen Karma und der individuellen Wiedergeburt sprechen werde, bitte ich Sie, sich immer gewärtig zu sein, dass auch für Hindus der Mensch ein soziales Wesen ist; gerade in Indien spielt die Familie eine ganz große Rolle. So wird Karma immer in sozialer Interaktion geschaffen und es folgt daraus dass das individuelle Karma der verschiedenen sozial zusammengehörigen Personen koordiniert ist. Deswegen verstehen Hindus Karma und Wiedergeburt sozial, wer zusammengehört hat immer und immer wieder miteinander zu tun. Wenn man stirbt kann man sich auf ein Wiedersehen mit seinen Lieben in zukünftigen Geburten freuen.

Noch etwas ist wichtig, dass Sie es sich von Anfang an vergegenwärtigen, nämlich, dass die Überzeugung von Wiedergeburten zu einem Denken in erdgeschichtlichen Dimensionen führt. Im Gegensatz zu solchen Christen, die an nur ein einziges irdisches Leben glauben, hängt nicht alles von diesem einen gegenwärtigen Leben ab. Deswegen sind Hindus keine Vereinigung von Leuten, die im Stechschritt zur Erlösung, zur beseligenden Schau Gottes, zum Einswerden mit Gott marschieren. Dieses Selbstbild in erdgeschichtlichen Dimensionen führt dazu, dass man mit sich selber und mit anderen viel Geduld hat. Für einen Hindu, der Erlösung als erstrebenswert ansieht,  ist es super, wenn man ihm sagen kann: In 2500 Jahren schaffst du die Erlösung.

Ich habe schon darauf hingewiesen, dass eine Karmasicht der eigenen Wirklichkeit zutiefst weise und der Erfahrung entsprechend ist. Leider hat man in den indischen Religionen (nicht nur im Hinduismus, sondern auch im Buddhismus und Jainismus) aus Karma eine Ideologie gemacht. Dann wird Karma zu etwas nicht Sichtbarem, nicht Erfahrbarem, zu etwas wozu man Offenbarung braucht, zu etwas was man glauben muss. Und , wie der ehemalige Missionar Schomerus zu recht schreibt:

"es handelt sich bei dieser Lehre nicht um ein bedeutungsloses Dogma, das einige wenige denkende Köpfe ersonnen haben und mit dem eine mehr oder weniger dichte Schicht der indischen Bevölkerung in ihren Gedanken spielt, sondern um eine das ganze Leben aller Schichten in allen seinen Äußerungen sein Gepräge gebende treibende Kraft."

[Schomerus, Hilko Wiardo <1879 - 1945>: Indien und das Christentum. -- Halle-Saale : Buchhandlung des Waisenhauses. -- Band 3: Das Eindringen Indiens in das Herrschaftsgebiet des Christentums. - 1933. - VIII, 231 S. -- S.119]

Der Sitz des Karma ist der sog. feine Körper, sûkshma sharîra, mit dem die Seele bei jeder Weltentstehung umkleidet wird und welcher sie durch alle Existenzformen begleitet.

Der Karmavorstellung liegt ein naturgesetzliches Weltmodell zugrunde, nicht ein juristisches-richterliches wie z.B. im Christentum. Karma wirkt so gesetzmäßig wie z.B. die Gesetze der Elektrizität.

Richard Garbe sagt:

"Diese nachwirkende, den indischen Schicksalsbegriff darstellende Kraft der Verschuldung und des Verdienstes . . . bestimmt nicht nur das Maß von Glück und Leid, das dem Individuum zuteil wird, sondern bedingt auch das Entstehen und Werden aller Dinge im Universum. Im Grunde ist dieser letzte Gedanke nur eine notwendige Konsequenz der Theorie, dass jedes Wesen sich sein eigenes Geschick bis in die kleinsten Ereignisse hinein selbst bereite; denn was auch immer in der Welt vorgeht, irgendein Wesen wird stets davon betroffen, muss also durch seine früheren Taten diesen Vorgang herbeigeführt haben. Das Walten der Natur ist mithin eine Wirkung des guten und bösen Tuns der lebenden Wesen. So finden wir in den Sânkhyasûtras unter den Gründen, durch welche die Existenz des Verdienstes bewiesen wird, als ersten die Verschiedenartigkeit der Naturprodukte genannt, für die der Inder keine andere Erklärung hat. Und die Kommentatoren lehren uns, dass, wenn die Bäume Frucht tragen oder das Getreide auf den Feldern reift, dabei das menschliche Verdienst die treibende Kraft ist."

[Quelle. Garbe, Richard von <1857 - 1927>: Die Sâmkhya-Philosophie : Eine Darstellung d. indischen Rationalismus nach d. Quellen. -- 2. umgearb. Aufl.. -- Leipzig : Haessel, 1917. -- XII, 412 S. ; 8°. -- S. 179f.]

Für die atheistischen indischen Heilslehren der Jainas und Buddhisten tritt Karma an die Stelle eines unparteiischen Weltenrichters. Schwieriger wird es für die theistischen Systeme der Hindus — und die meisten heutigen Hindureligionen sind mindestens so monotheistisch wie der Katholizismus — , denn diese theistischen Religionen müssen diese mechanisch wirkende Vergeltungskausalität mit der Allmacht Gottes in Einklang bringen.

Meist geschieht das dadurch,

Karma bedeutet für die meisten Hindus aber nicht Determinismus, nicht unabänderliche Bestimmheit von allem und jedem. Zumindest der Mensch hat die Möglichkeit, im Rahmen seiner Vorgegebenheiten relativ frei neues Karma zu schaffen und sich so in diesem Leben und für kommende Wiedergeburten eine gute oder schlechte Zukunft zu bereiten.

Da jedes Dasein die Taten eines früheren zur Voraussetzung hat, jedes Tun aber wieder die Grundlage zu einer Wiedergeburt legt, ist der Karma-Prozess prinzipiell ohne Anfang und ohne Ende. Der Karma-Prozess kann nur dadurch abgebrochen werden, dass die Erzeugung von neuem Karma unmöglich gemacht wird.

Dies kann geschehen

Angesammeltes Karma kommt im Allgemeinen notwendig zur Reifung. Es gibt allerdings u.a. die Möglichkeit, schlechtes Karma, das man aufgeladen hat, durch Sühnezeremonien (prâyashcitta) zu mindern und bzw. in manchen Fällen gänzlich auszulöschen. Fast das gesamte 11. Kapitel des berüchtigten und berühmten Lehrwerks über die moralische Weltordnung, der Manusmrti beschreibt im Detail, welche Handlungen ein Täter durchzuführen hat, um sein schlechtes Karma abzutragen und dessen Konsequenzen zu vermeiden. Selbstbezichtigung, Selbsterniedrigung und Selbstquälerei spielen dabei eine erhebliche Rolle. Dabei spielt der Glaube an Ritual und Magie ebenso eine Rolle wie die Vorstellung, dass der Täter sich den Schmerz, der normalerweise als karmische Tatfolge zu erwarten wäre, in gewissem Maße selbst zufügen kann und dass er insofern in der Lage ist, dem Eintreten der Tatfolge zuvorzukommen. So soll wer mit der Frau seines Lehrers Geschlechtsverkehr hatte, sich eigenhändig die Geschlechtsteile abschneiden, sie in den Händen halten und so lange in eine bestimmte Richtung gehen, bis er tot umfällt (Manu XI, 73, 105).

Dabei ist der freie Entschluss des Täters, Sühnezeremonien durchzuführen, wesentlich. Schmerzen und Erniedrigungen, die andere ihm zufügen, haben nicht die Kraft, schlechtes Karma zu mindern. Die sogenannten »Befreier aus dem Samsâra« (samsâramocaka), denen die Lehre zugeschrieben wird, durch die Folterung oder auch Tötung anderer Lebewesen könne man ihnen helfen, ihr Karma abzustoßen und die Erlösung zu erlangen, gelten für die meisten Hindus als Irrlehrer.

Es gibt aber auch Hindus, die die Wirksamkeit von Sühnezeremonien zur Tilgung von Karma bestreiten.

Karma ist nicht die einzige bestimmende Kraft ist, sondern es verhält sich mit dem Karma ähnlich wie bei einem Kartenspiel. Die Karten (das Karma) bekommt man nach dem Mischen zugeteilt, was man aber damit macht, hängt davon ab, ob man ein guter oder schlechter Kartenspieler ist. So konnte sich in Indien z.B. eine hochentwickelte Medizin (Âyurveda)  herausbilden, die keineswegs im Widerspruch zum Karmagedanken steht. In der indischen Medizin wird die die fundamentale Macht des Karma nirgendwo bezweifelt, es wird andererseits aber stets vorausgesetzt, dass die Wirksamkeit der medizinischen Praxis durch das Karma keineswegs aufgehoben und nicht einmal ernsthaft gefährdet ist. Ärztliche Diagnose und Therapie können dazu beitragen, ein vom Karma verursachtes, als schlechte Wirkung für frühere Taten zu verstehendes Krankheitsgeschehen zu neutralisieren oder zum Besseren zu wenden. Das Karma bildet ein früheren Existenzen stammenden Krankheits- bzw. Gesundheitspotential, das sich normalerweise und ohne Einwirkung zusätzlicher kausaler Faktoren in Form bestimmter Krankheiten manifestieren würde, das aber durch die Lebensweise sowie durch therapeutische Maßnahmen und religiöse Zeremonien durchaus beeinflusst werden kann.

Dass auch Faktoren wie Dürrekatastrophen, Epidemien usw. — wie schon gesagt —als Auswirkungen des Karma interpretiert werden können, kommt daher, dass die Schaffung von Karma und damit auch die Reifung von Karma von den Menschen in sozialer Interaktion geschieht und dass Karma eine weit über den individuellen Feinkörper hinausreichende Kraft ist. 

Eine für Inder wichtige Frage ist das Verhältnis von Karma und Astrologie. Wie verhalten sich Karma und die Macht der Gestirne und Konstellationen? Eine weit verbreitete Antwort ist: Die Gestirne, besonders die Planeten in ihren jeweiligen Stellungen, entsprechen und zeigen unseren jeweiligen karmischen Status und geben somit Auskunft über unser Schicksal und unsere Zukunft; sie zeigen die Last unserer früheren Taten und die voraussichtlich zu erwartende Tatvergeltung für uns an. Die himmlischen Konstellationen sind also nicht Wirkursachen für das Geschehen, sondern sie sind nur Erkenntnisgründe für das, was uns in der Zukunft erwartet. Mit Hilfe der Astrologie kann man so Einblick ins eigene Karma erhalten.

Diese Antwort auf unsere Frage nach dem Verhältnis von Karma und Astrologie ist zwar weit verbreitet, aber es gibt auch die Ansicht, dass die Gestirne eine Macht haben, die neben der des Karma besteht.


4. Wiedergeburt


Wiedergeburt

Wer nicht will, wird nie zunichte,
Kehrt beständig wieder heim.
Frisch hinaus zum alten Lichte
Dringt der neue Lebenskeim.

Keiner fürchte zu versinken,
Der ins tiefe Dunkel fährt.
Tausend Möglichkeiten winken
Ihm, der gerne wiederkehrt.

Dennoch seh' ich dich erheben,
Eh du in die Urne langst.
Weil dir bange vor dem Leben,
Hast du vor dem Tode Angst.

Wilhelm Busch <1832 - 1908> (Verfasser u.a. von Max und Moritz)

Seelenwanderung

Wohl tausendmal schon ist er hier
Gestorben und wiedergeboren,
Sowohl als Mensch wie auch als Tier,
Mit kurzen und langen Ohren.

Jetzt ist er ein armer blinder Mann,
Es zittern ihm alle Glieder,
Und dennoch, wenn er nur irgend kann,
Kommt er noch tausendmal wieder

Wilhelm Busch <1832 - 1908> (Verfasser u.a. von Max und Moritz)


Wiedergeburt bedeutet für die meisten Hindus (im Unterschied zu den Buddhisten) Seelenwanderung. Die Anschauungen über die Art und Weise, wie Seelenwanderung vor sich geht, sind sehr verschieden.

Die meisten gebildeten Hindus nehmen wohl an, dass die seit Ewigkeit existierenden Seelen, von feinstofflichen Körpern umkleidet, aus dem verfallenden Leib in einen neuen Leib eingehen. Neben dieser Vorstellung von zwar seinsmäßig (d.h. in schlechthiniger Abhängigkeit von Gott stehenden), aber nicht zeitlich geschaffenen Seelen, gibt es durchaus die Vorstellung einer zeitlichen Schöpfung der Seelen durch Gott.

Der Vedânta allerdings sieht die Einzelseelen als vorübergehende Erscheinungsformen des all-einen Absoluten (Brahman, Neutrum) an, die wegen ihres Karma immer wieder zu einer Individualexistenz zurückkehren müssen, bis sie bei Aufgang des wahren Wissens definitiv in das Absolute eingehen.

Es gibt auch bestimmte Richtungen des Hinduismus, z.B. manche  Lingâyats (Anhänger Shivas), die die Lehre von der Seelenwanderung ablehnen.

Sehr populär sind z.B. Vorstellungen des Bhâgavatapurâna:

"Vishnu, das höchste Wesen, begann vor der Schöpfung all dessen, was heute existiert, mit der Schaffung der Seelen, die zuerst allerhand fantastisch anmutende Körper mit Leben erfüllten. Während ihrer Verbindung mit diesen Körpern begingen sie Sünden oder waren tugendhaft. Nach langem Aufenthalt in diesen vorläufigen Wohnstätten wurden sie zurückberufen und vor Yamas — des Totenrichters —  Tribunal gezogen, der die Toten richtet. Dieser Gott nun ließ diejenigen, die ganz tugendhaft gelebt hatten, zum svarga, dem Paradies, zu, während er die Seelen, die sich völlig der Sünde ergeben hatten, in die naraka-Hölle einsperrte. Seelen, die teils anständig, teils sündhaft gelebt hatten, wurden zur Erde zurückgeschickt, um andere Körper zu beleben und entsprechend ihren Sünden bzw. den Verdiensten Strafe und Lohn zu empfangen. So ist jede Wiedergeburt, sei sie glücklicher oder unglücklicher Art, das Resultat von Taten zurückliegender Generationen und entweder die Belohnung oder die Strafe dafür. Wir können daher aus dem Zustand eines heute lebenden Menschen darauf schließen, was er in der vorhergehenden Generation getan hat.


Abb.: Yama, der Todesgott

Wer aber heiligmäßig gestorben ist, der ist keinen weiteren Wiedergeburten mehr unterworfen; er geht direkt in svarga ein.

Die Menschenseelen beleben nach dem Tod andere Körper. Manchmal sind es Insekten, Reptilien, Vögel, Vierfüßer und manchmal menschliche Organismen. Trotzdem kommen die vollkommensten in den svarga-Himmel und die verworfensten in die naraka-Hölle. Es hängt nur von ihren guten oder schlechten Taten ab, ob ihre Seelenwanderung vorteilhaft ist oder nicht, und das Gute oder Böse, das sie in den verschiedenen Stadien erdulden, ist in gleicher Weise festgelegt. Die Unterschiede, die man an den Menschen beobachten kann, gehen auf eben diese Ursachen zurück.

Der eine ist reich, der andere arm; einige sind kränklich, andere gesund; die einen sind hübsch, andere hässlich; einige sind von niederer Geburt, andere sind hochgeboren; manche sind glücklich, manche nicht. All das beruht nicht auf purem Zufall, sondern ist das Resultat all der Tugenden oder Laster, die der Wiedergeburt vorangingen.

Der Mensch stellt die höchste Lebensform aller Geschöpfe auf Erden dar. Als Mensch geboren zu sein, in welcher Kaste auch immer, setzt ein gewisses Maß an Verdienst voraus.

Unter den Menschen nehmen die Brahmanen [Angehörige des geistlichen Standes] den ersten Rang ein. Die Gunst, einen Brahmanen beleben zu dürfen, wird nur dem erteilt, bei dem die Verdienste vieler vorangegangener Generationen zusammentreffen.

Tugend in der Hoffnung zu üben, dafür belohnt zu werden, ist gut, aber am vollkommensten ist es, sie ganz interesselos und ohne die Erwartung eines Gewinns oder einer Belohnung zu praktizieren. Die das tun, sind des Glücks von svarga gewiss und keinem Wandel mehr unterworfen.

Dies ist also die Frucht eurer Taten. Dies ist der Grund, wieso dieselbe Seele bisweilen in einem Menschen und bisweilen in einem Tier lebt. Daher ist sie manchmal glücklich, ein andermal unglücklich, in dieser wie in der anderen Welt."

Ich werde dem Autor nicht bei der detaillierten Aufzählung all der Strafen folgen, die für die verschiedenen Sünden vorgesehen sind. Ich will mich auf die wichtigsten davon beschränken:

"Wer die Kuh eines Brahmanen [Angehörigen des geistlichen Standes] tötet, kommt nach seinem Tod in die Hölle, wo er auf immer zum Fraß der Schlangen wird und wo ihn Hunger und Durst plagen. Nach Tausenden von Jahren entsetzlicher Leiden kehrt er zur Erde zurück, um den Körper einer Kuh zu beseelen und bleibt so viele Jahre in diesem Zustand, wie die Kuh Haare am Leib trägt. Schließlich wird er als Paria [Unberührbarer] wiedergeboren und wird dort zehntausend Jahre lang mit Lepra geschlagen sein.

Der Mord an einem Brahmanen, aus welchem Grund auch immer, ist eine viermal so schlimme Sünde wie die vorangegangene. Wer sich dessen schuldig macht, wird bei seinem Tod dazu verdammt, eines der Insekten zu werden, die sich von Schmutz nähren. Wenn er dann lange danach als Paria [Unberührbarer] wiedergeboren wird, so gehört er zu dieser Kaste und ist vier Mal so viel Jahre blind, wie eine Kuh Haare hat. Er kann sich freilich von seinem Verbrechen entsühnen, wenn er vierzigtausend Brahmanen beköstigt.

Tötet ein Brahmane einen Shûdra [Angehörigen des Knechtstandes], so reicht es, die Gâyatrî [der Vers  Rigveda 3, 62, 10] einhundert Mal aufzusagen, und die Schuld ist vollkommen gesühnt.

Wer ein Insekt tötet, wird nach seinem Tod selbst als Insekt wiedergeboren. Anschließend wird er als Shûdra wiedergeboren, wird aber an allen Arten von Gebrechen leiden.

Jeder Brahmane, der für einen Shûdra kocht oder auf einem Ochsen sitzend reist, kommt nach dem Tod in die Hölle. Dort wird er in kochendes Öl
getaucht und ständig von Giftschlangen gebissen. Danach wird er als einer jener Raubvögel wiedergeboren, die Aas verschlingen, und er verbleibt eintausend Jahre in dieser Gestalt und weitere einhundert Jahre in der Gestalt eines Hundes.

Wer einen der heiligen Banyanbaume fällt, begeht ein Verbrechen, das vier Mal schlimmer ist als die Ermordung eines Brahmanen, und wird deshalb nach seinem Tod Strafen erdulden, die dieser fürchterlichen Sünde entsprechen."

[Wiedergegeben nach: Dubois, Jean Antoine <1765 - 1848>: Leben und Riten der Inder : Kastenwesen und Hinduglaube in Südindien um 1800 / Jean Antoine Dubois (nach einem Ms. von Gaston-Laurent Coerdoux). Auf Grundlage der franz. und engl. Ausg. von 1825 und 1906 übersetzt und hrsg. von Thomas Kohl. Mit Anm., Korrekturen und der Biografie von Henry K. Beauchamp sowie dem Vorw. von Friedrich Max Müller aus der dritten engl. Aufl. von 1906. Mit Kt., Abb., einem Reg. und einem Verz. der wichtigsten Sanskritbegriffe sowie einem Essay "Dubois, Coerdoux und die Jesuiten in Südindien". --  Bielefeld : Reise-Know-How-Verl. Rump, 2002. -- 671 S. : Ill., Kt. ; 25 cm. -- ISBN: 3-8317-1111-9. -- S. 444ff.]

Auf die ausführlichen Schilderungen von Himmeln, Höllen und den anderen Existenzformen muss ich hier verzichten. Wie in allen großen Religionen ist man im Allgemeinen in der Schilderung höllischer Qualen viel phantasievoller als beim Ausmalen himmlischer Seligkeiten.

Die Dauer der Höllenqualen entspricht der Schwere der begangenen Vergehen, es gibt keine ewigen Höllenqualen. Spätestens am Ende jedes großen Weltzeitalters  findet eine universale Umwälzung statt und es enden die Leiden der Verdammten.

Die Vorstellungen von den Nachwirkungen des Karma bei der Wiedergeburt sind nicht nur allgemein, sondern sehr konkret: Hindus glauben, dass die Seele nach dem Tod einige der Flecken und Verunreinigungen beibehält, die sie sich in vorangegangenen Generationen zugezogen hat, so wie ein Tonkrug noch lange Zeit den Geruch eines starken Schnapses beibehält, der darin gelagert war. So glaubt man z.B., dass eine Frau, die einen fischartigen Körpergeruch hat, diesen habe, weil sie in einem früheren Leben einmal ein Fisch gewesen ist. Darum ist es auch nötig dass eine lange Folge von Wiedergeburten die Seele sich von allen Verunreinigungen reinwasche, die sie in vorherigen Generationen beschmutzt haben und die natürlich noch maßlos zunehmen, wenn man weiterhin ein lasterhaftes Leben fuhrt.

Noch ein Beispiel: Im Pretakalpa des Garuda-Puräna (5. Adhâya), einem im späteren Hinduismus recht populären und oft zitierten Text über Totenrituale, nennt folgende Kennzeichen der Wiedergeburt Böser:


Abb.: Garuda [Bildquelle: http://vahini.org/gallery/hall4/gods1.html. -- Zugriff am 2005-02-27]

Garuda sprach:

1. Welches Kennzeichen entsteht durch jede einzelne Sünde, und in welchen Mutterschoß gehen die Sünder ein? Das verkünde mir, o Keshava!

Der Erhabene [Krshna] sprach:

2. Infolge welcher Sünden die einzelnen aus der Hölle zurückkehrenden Übeltäter in den ihnen bestimmten Mutterschoß eingehen, und welches Kennzeichen durch jede einzelne Missetat entsteht, das vernimm von mit!

3. Ein Brahmanenmörder wird ein Schwindsüchtiger; der Töter einer Kuh wird bucklig und blödsinnig; der Mörder eines Mädchens wird mit Aussatz behaftet. Diese drei werden in einem Cândâla-Schoß [Cândâla = Tschandala = unterste Stufe der Unberührbaren] geboren.

4. Wer ein Weib tötet oder eine Fehlgeburt verursacht, wird ein mit Krankheit behafteter Pulinda; wer einer Frau beiwohnt, der man nicht beiwohnen darf , wird ein zeugungsunfähiger Mensch (Zwitter); wer seines Lehrers Ehebett entehrt, wird ein Hautkranker.

5. Wer Fleisch isst, kommt mit ganz roten Gliedern zur Welt; wer berauschende Getränke genießt, mit schwarzen Zähnen; ein Brahmane, der aus bloßer Begier (nicht notgedrungen) Verbotenes isst, wird ein Dickbäuchiger.

6. Wer Leckerbissen verzehrt, ohne andern davon zu geben, wird mit einem Kropf geboren; wer bei einem Shrâddha [Totenopfer] unreine Speise spendet, kommt als Aussätziger zur Welt.

7. Wer seinen Lehrer (oder eine sonstige Respektsperson) voll Hochmut verachtet, wird ein Epileptischer; wer Veda's und Shâstra's [Lehrwerke] lästert, wird sicherlich ein Gelbsüchtiger.

8. Ein falscher Zeuge wird ein Stummer, wer die Regeln der Mahlzeit verletzt, ein Einäugiger; lippenlos wird, wer einen Heiratszug unterbricht; blind geboren, wer ein Buch stiehlt.

9. Wer einen Brahmanen oder eine Kuh mit dem Fuße stößt, wird hinkend und lahmfüßig geboren; wer die Unwahrheit spricht, wird ein Stammelnder, und wer auf einen solchen hört, ein Tauber.

10. Ein Giftmischer wird blödsinnig und verrückt, ein Brandstifter kahlköpfig; wer Fleisch verkauft, wird ein Unglücklicher; wer das Fleisch eines andern (Lebewesens) verzehrt, wird mit schweren Krankheiten behaftet.

11. In niedriger Kaste werden Juwelendiebe geboren, wer Gold stiehlt, wird missgebildete Nägel haben; wer sonst ein Metall stiehlt, wird ein Armer.

12. Wer Speise stiehlt, wird eine Maus, wer Getreide stiehlt, eine Heuschrecke, wer Wasser stiehlt, ein Kuckuck, wer Gift stiehlt, ein Skorpion.

13. Wer Blattgemüse stiehlt, wird ein Pfau, wer kostbare Wohlgerüche entwendet, eine Moschusratte; wer Honig stiehlt, eine Bremse; wer Fleisch, ein Geier; wer Salz, eine Ameise.

14. Wer Betel, Früchte, Blumen und dergl. stiehlt, wird ein Affe im Wald; wer Sandalen, Stroh oder Baumwolle stiehlt, wird als Schaf geboren.

15. Wer sein Leben durch Gewalttaten fristet, und die Karawanen auf dem Wege überfällt, wer sich der Jagd leidenschaftlich hingibt, wird als Ziegenbock im Hause eines Mörders (oder Henkers) geboren.

16. Wer durch den Genuss von Gift gestorben ist, wird eine schwarze Schlange im Gebirge; wer zügellosen Wesens ist, wird ein Elefant im menschenleeren Walde.

17. Brahmanen (bzw. Angehörige der drei höheren Stände, welche das Vaishvadeva-Opfer nicht ausführen, solche, welche alles (auch Verbotenes) genießen, und essen, was sie nicht vorher geprüft haben, werden Tiger im menschenleeren Walde.

18. Ein Brahmane, der die Gâyatrî [den Vers  Rigveda 3, 62, 10] nicht betet, die Dämmerungsandacht nicht verrichtet, der innerlich schlecht und nur äußerlich gut ist, wird ein Reiher.

19. Ein Priester, der für einen opfert, für den nicht geopfert werden darf, wird ein Hausschwein; wenn er (aus Begier nach reichem Opferlohn) viel opfert, wird er ein Maultier; wenn er isst, ohne Mantra's herzusagen, eine Krähe.

20. Ein Brahmane, der einer ehrwürdigen Person das heilige Wissen nicht mitteilt, wird ein Stier; ein Schüler, der seinem Lehrer nicht dient, ein Vieh, Rind oder Esel.

21. Wer seinen Lehrer barsch anfährt oder mit du anredet, wer einen Priester im (geistlichen) Gespräch besiegt, wird im Walde in wasserloser Gegend als ein Brahmarâkshasa geboren.

22. Wer einem Brahmanen ein Geschenk versprochen hat und es ihm nicht gibt, wird ein Schakal; wer Treffliche nicht gastlich aufnimmt, wird ein heulender Dämon (Phetkâra) mit feurigem Antlitz.

23. Wer seinen Freund verrät wird ein Berggeier; wer beim Handel betrügt, eine Eule; wer den (höheren) Ständen und den (vier) Lebensstadien Übles nachsagt, wird eine Taube im Wald.

24. Wer Hoffnung und Liebe täuscht, wer sein Weib im Hass verstößt, wird auf lange Zeit ein Cakravâka-Vogel.

25. Wer Mutter, Vater und Lehrer hasst und gegen Schwester und Bruder Feindschaft hegt, der wird durch tausend Geburten schon als Embryo im Mutterleib zugrundegehen.

26. Eine Frau, die gegen ihre Schwiegereltern Schimpfreden braucht und beständig Streit stiftet, wird ein Blutegel; eine, die ihren Gatten schilt, eine Laus.

27. Eine Frau, die ihren Gatten verlässt und einem andern Manne nachläuft, wird eine Fledermaus, eine Hauseidechse oder eine Dvimukhî-Schlange.

28. Wer seine eigene Familie {gotra) schädigt, indem er mit einem Weib seines Gotra Umgang hat, wird, nachdem er eine Hyäne und ein Stachelschwein war, als Bär wiedergeboren.

29. Wer nach Umgang mit einem Büßerweibe begehrt, wird ein Wüstendämon (Marupishâcaka); wer mit einer noch nicht Mannbaren Umgang pflegt, eine Riesenschlange im Walde.

30. Wer nach dem Weibe seines Lehrers begehrt, wird ein Chamäleon; wer der Königin beiwohnt, wird ein Verworfener, wer die Frau seines Freundes verführt, ein Esel.

31. Ein Päderast wird ein Hausschwein, wer eine Vrshalî heiratet, ein Stier; wer der Wollust frönt, wird ein brünstiger Hengst.

32. Wer das Opfer des elften Tages für einen Toten verzehrt, wird als Hund wiedergeboren; ein Priester, der (um Geld) Götterbilder zeigt, gelangt in einen Hahnenschoß.

33. Ein verworfener Brahmane, der um Geld gottesdienstliche Handlungen vollzieht, heißt Devalaka und ist von Götter- und Manenopfer ausgeschlossen.

34. Schwere Sünder, welche infolge ihrer großen Verbrechen in die furchtbaren, jammervollen Höllen gelangt sind, werden, wenn ihr Karman aufgezehrt ist, wieder auf Erden geboren.

35. Ein Brahmanenmörder gelangt in den Schoß von Eseln, Kamelen und Büffeln; Branntweinsäufer gehen in den Schoß von Wölfen, Hunden und Schakalen ein.

36. Wer Gold stiehlt, wird zum Wurm, Insekt und Vogel; wer des Lehrers Ehebett befleckt, wird der Reihe nach zu Gras, Strauch und Schlingpflanze.

37. Wer eines andern Weib entführt, anvertrautes Gut entwendet oder Brahmanengut raubt, wird ein Brahmarâkshasa.

38. Freundschaftlich verzehrtes Brahmanengut richtet ein Geschlecht (kula) bis ins siebente Glied zugrunde; ist es durch Gewalttat oder Diebstahl angeeignet worden, so vernichtet es dasselbe, solange Mond und Sterne bestehen.

39. Selbst Eisenfeile, zerriebene Steine und Gift kann ein Mensch verdauen; wer wird aber in allen drei Welten Brahmanengut verdauen können?

40. Wagen und Streitkräfte, die aus dem Besitz eines Brahmanen bestritten werden, zerfallen im Augenblick des Kampfes wie Dämme aus Sand.

41. Durch den Genuss von Tempelgut, den Raub von Brahmanengut sterben Geschlechter aus, und desgleichen durch Missachtung eines Brahmanen.

42. Wenn jemand einen in Veda's und Shâstra's [Lehrwerken] Bewanderten, der sich bei ihm aufhält, wegweist und andern eine Gabe spendet, so nennt man dies Missachtung.

43. Dagegen redet man nicht von Brahmanenmissachtung einem Priester gegenüber, der die Veda's nicht studiert; opfert man doch auch nicht der Asche anstatt dem flammenden Feuer.

44. Wer einen Brahmanen missachtet hat, o Târksya! der muss der Reihe nach alle Höllen durchwandern und wird ein von Geburt Blinder, Armer, kein Spender, sondern ein Bettelnder.

45. Wer von ihm selbst oder von andern gespendetes Land wegnimmt, wird sechzigtausend Jahre lang als Wurm im Kot geboren.

46. Wer, was er selbst gegeben, auch selbst wieder wegnimmt, dieser Sünder fährt zur Hölle bis zum Untergang dieser Welt.

47. Wer (einem Brahmanen) den Lebensunterhalt oder Land geschenkt hat, möge es ihm sorgfältig behüten; wer es nicht beschützt, sondern wieder an sich reißt, wird als lahmer Hund geboren.

48. Wer einem Brahmanen den Lebensunterhalt verschafft, dem wird ein Lohn (im Werte) von hunderttausend Kühen zuteil; wer eines Brahmanen Gut wegnimmt, der wird ein Affe und ein Hund.

49. Solche und ähnliche Kennzeichen und Geburtsstätten, die durch das eigene Tun bedingt sind, werden in der Welt den Menschen zuteil, o Vogelherr!

50. So werden die Übeltäter, nachdem sie die Höllenqual erlitten, infolge des Restes ihrer Sünde in den genannten Mutterschößen geboren.

51. Dann gehen sie durch Tausende von Geburten in Tierleiber ein, und erleiden Qualen, wie sie das Schleppen von Lasten und dergleichen verursacht.

52. Nachdem sie dann die Qualen der Vögel erlitten haben; die durch Regen, Kälte und Hitze entstehen, erlangen sie, wenn ihre guten und bösen Taten sich die Wage halten, wieder das Menschendasein.

53. Durch die Vereinigung von Mann und Weib entsteht der Mensch im Mutterleibe, nach und nach; und wenn er das Leid, das im Mutterleib beginnt und im Tode endet, gekostet, stirbt er wieder.

54. Entstehen und Vergehen wird allen Wesen zuteil; so rollt das Rad in der vierfachen Vereinigung der Elemente.

55. Wie ein Schöpfrad kreisen die Sterblichen (im Wechsel der Geburten) durch meine Zauberkraft (rnâyâ), bald auf Erden, bald in der Hölle, von den Fesseln des Karman umstrickt.

56. Wer keine Gaben gespendet hat, kommt als Armer zur Welt; infolge seiner Armut tut er Böses; infolge seiner Sünde fährt er zur Hölle. Dann wird er wieder ein Armer, wieder ein Sünder.

57. Mit Notwendigkeit muss man die Folgen der begangenen Taten tragen, der guten wie der bösen; nicht ausgekostetes Karman schwindet nicht, selbst in Milliarden von Weltperioden.

[Quelle: Der Pretakalpa des Garuda-Purâna <Naunidhirâma's Sâroddhâra> : eine Darstellung des hinduistischen Totenkultes und Jenseitsglaubens / aus dem Sanskrit übersetzt und mit Einleitung, Anmerkungen und Indices versehen von Emil Abegg [1885 - 1962]. -- Berlin ; Leipzig : de Gruyter, 1921. -- X, 272 S. ; 8º. -- Zugleich: Zürich, Univ., Habil.-Schr., 1921/22. -- S. 82 - 90]

Diese Beispiele mögen genügen, um die Drastik und Problematik der zur Ideologie gewordenen Karma- und Seelenwanderungslehre zu zeigen.

Auch für die Inder ist es ein Problem, warum die Seele, wenn sie einen Leib verlassen hat, sich im nächsten Leib sehr oft nicht mehr an den früheren Leib erinnern kann. Neben ausgeklügelten philosophischen Persönlichkeitsmodellen, die das erklären könnten, haben Hindus auch eine ganz einfache plausible entwicklungspychologische Antwort: Ein Kind erinnert sich in den ersten zwei oder drei Lebensjahren schon nicht mehr an das, was es tags zuvor gemacht hat, es wird daher umso eher vergessen haben, was es war und was es tat, ehe es wiedergeboren wurde.


5. Erlösung


Die meisten vishnuitischen und shivaitischen Denominationen lehren, dass der Mensch aus eigenem Vermögen nicht imstande sei, sich aus dem andauernden wirren Lauf durch Wiedergeburten (samsâra) zu befreien. Nur die Macht Gottes vermag die Fesseln zu lösen, die die Seele an die Wandelwelt ketten. Der Hilfe Gottes  entspricht auf Seiten des Menschen gläubige Liebe und Hingabe (bhakti) zu Gott und vertrauensvolles Sichverlassen (pra-patti) auf ihn.

Darüber, in ob und in welchem Maße der Mensch an der Erlösung mitwirken kann, gehen die Meinungen der Theologen auseinander. Die beiden Hauptrichtungen nennt man mit einem schönen Bild Affenschulen bzw. Katzenschulen. Der Vergleich geht auf die Art und Weise, wie Affenmütter bzw. Katzenmütter ihre Jungen transportieren, d.h. z.B. aus einer gefährlichen Situation wegbringen: ein junger Affe klammert sich im Fell seiner Mutter fest, trägt also selbst zu seiner Rettung bei. Ein kleines Kätzchen dagegen wird von seiner Mutter im Genick gepackt, verfällt in Tragestarre und wird so rein passiv — "allein aus Glauben (Tragestarre)" — gerettet. Nach den Katzenschulen kann der Gläubige sein Heil in keiner Weise verdienen, es ist rein aus Gnade, nach den Affenschulen kann sich der Gläubige zwar nicht selbst erretten, kann aber dazu beitragen, dass Gott ihn errettet.



Abb.: "Allein aus Tragestarre"

[Bildquelle: Taylor, David: Meine Katze : das praktische Handbuch für den Tierfreund / David Taylor. -- Stuttgart [i.e.] Remseck : Unipart-Verl., 1994. -- 288 S. : zahlr. Ill. ; 22 cm. -- Originaltitel: You and your cat. -- S. 129]


Abb.: Der Affenweg: Hanuman-Langure (Presbytis entellus)

[Bildquelle: http://aeg.wnt.uni-duesseldorf.de/kultur/pune/pune.htm. -- Zugriff am 2004-02-29]

Dem gegenüber stehen Ansichten, dass der Mensch sich selbst — aus eigener Kraft — erlösen kann. Die existentielle Einsicht in das wahre Wesen der Welt tilgt nicht nur alles karmaschaffende Wünschen, Wollen, Ablehnen, sondern tilgt auch Karma aus früheren Existenzen. "so wie das Feuer das Brennholz, so macht auch das Feuer des Wissens alle Werke zu Asche" (Bhagavadgîtâ 4, 87).

Worin diese erlösende Einsicht besteht, darin ist man je nach philosophischer Grundüberzeugung unterschiedlicher Meinung:

Existentielle Erfassung bedeutet ein nachhaltiges, jederzeit reproduzierbares Kippen der Gestaltwahrnehmung, d.h. eine nachhaltige, in der Praxis wirksame neue Sicht der Wirklichkeit. Ein solches Kippphänomen ist im Allgemeinen nur nach intensivem Studium der heiligen Überlieferung und intensiv und unablässig geübte Meditation erreichbar.


Abb.: Kippbild

Manche Hindus sind der Ansicht, dass Erlösung erst mit dem Tod eintreten kann, andere sind überzeugt, das es auch Lebenderlöste gibt.

Der Zustand der Erlösung wird sehr unterschiedlich beschrieben. Wie in der christlichen Theologie wissen darüber oft am besten die Bescheid, die selbst offenkundig am weitesten vom Zustand des Erlöstseins entfernt sind. Ich habe keine Lust, dieses theologische Geschwätz hier wiederzukäuen, obwohl es sich für gepflegte Unterhaltungen beim Nachmittagstee bestens eignet.

Die Frage, ob alle Seelen einstmals erlöst werden, wird meistens nicht beantwortet. Einige vishnuitische Schulen lehren, dass nur ein Teil der Seelen erlösungsfähig ist; die anderen sind von Gott dazu prädestiniert, entweder dauernd in der Wandelwelt umherzuwandern oder in die ewige Verdammnis der „blinden Finsternis" (worunter die unterste und furchtbarste Höllenregion zu verstehen ist) einzugehen. Hier haben wir eine Annahme ewiger Höllenstrafen, was indischer Vorstellung sonst fremd ist.

Eine Welterlösung kennt der Hinduismus nicht. Da die Zahl der Welten und damit der Lebewesen unendlich groß ist, wird der Lauf der Wiedergeburten nie aufhören, mögen auch noch so viele Seelen aus ihm gerettet werden.

Im Allgemeinen nimmt man an, dass Erlösung endgültig ist. Nur wenige Richtungen sind der Ansicht, dass der Erlöste, nachdem er sich Millionen von Jahren hindurch der Seligkeit erfreut hat, wieder in das weltliche Dasein zurückkehrt, da die Welt nach ihrer Theorie nur eine begrenzte Zahl von Seelen aufweist und sonst einmal ohne Bewohner sein würde.


6. Antwort auf die zu Beginn erhobenen Einwände


Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, auf den zu Beginn genannten Vorwurf an die Lehre von Karma und Wiedergeburt zu antworten. Dort wurde dieser Lehre zur Last gelegt, dass die Wohlhabenden und Mächtigen sich nicht um die Armen und Unterdrückten kümmern. Ja die Lehre von Karma und Wiedergeburt rechtfertigen sogar den Holocaust, da die Juden ihr Leiden ja karmisch selbst verschuldet haben.

Sie können aus meinen bisherigen Ausführungen erschließen, dass die hinduistischen Lehren von Karma und Wiedergeburt weder auf Seiten des Täters, noch des Opfers, noch eines dabeistehenden Dritten zu Fatalismus, Passivität und Resignation führen muss. Die Tatsache, dass die Erfahrung von Leid, das ich jemandem zufüge, Folge schlechten Karmas des Opfers ist, beeinflusst in keiner Weise den schlechten karmischen Charakter meiner Tat. Auf Seiten des Opfers kann Anstrengung dem automatischen Eintreten der Wirkungen von Karma entgegenwirken: es lohnt sich also, sich gegen Leid zu wehren! Auch beeinflusst die Tatsache, dass alles erfahrene Leid die Wirkung von schlechtem Karma ist, in keiner Weise das karmische Gesetz, dass es für einen Mitmenschen karmisch unheilsam ist, wenn er mit dem leidenden Wesen — zumindest wenn es ihm sozial nahe steht — kein Mitleid hat und nicht hilft.

Die Anfangs genannten Einwände verwechseln die Lehre von Karma und Wiedergeburt entweder mit Fatalismus, oder sie verkennen die moralischen Vorstellungen, die auch dieser Lehre zugrundeliegen: zu  grundlegenden hinduistischen moralischen Vorstellungen gehört auch, keinem Lebewesen ein Leid zuzufügen, mit Leidendem Mitleid zu haben und freigebig zu helfen.


Wenn Sie das gehörte vertiefen wollen, empfehle ich Ihnen:


Abb.: Wilhelm Halbfass

Halbfass, Wilhelm <1940 - 2000>: Karma und Wiedergeburt im indischen Denken. -- Kreuzlingen ; München : Hugendubel,2000. -- 342 S. ; 19 cm. -- (Diederichs gelbe Reihe ; 161). -- Literaturverz. S. 316 - 325. -- ISBN 3-89631-385-1


ENDE DES VORTRAGS


A1. Anhang 1: Richtige Einstellung zu Karma, wenn jemand jemand anderem Leid zufügt



A2. Anhang 2: Die Bhagavadgîtâ, ein Modell vischnuitischen Hindudenkens


[Im Zweiten Teil der Veranstaltung erhielten die Teilnehmer zur Gruppenarbeit verschiedene Texte aus der Bhagavadgîtâ zum Thema Karma, Wiedergeburt und Erlösung,.]

Statt Ihnen eine Übersicht über alle späteren Hindureligionen zu geben, will ich Ihnen modellhaft an einer der berühmtesten und verbreitesten Hl. Schriften der Hindus einiges zeigen. Die Bhagavadgîta ist ein Propagandawerk gegen Weltflucht, gegen Aussteiger, die die etablierte Sozialordnung gefährden könnten. Gleichzeitig ist die Bhagavadgîta auch eine der Grundschriften zum Problem Gewalt und Gewaltlosigkeit.

Spätestens seit dem Gandhifilm verbindet sich bei uns die Vorstellung von indischer Spiritualität mit Gewaltlosigkeit. Die Tatsache, dass Indien 14 Milliarden US$ (1999), das sind 2,5% des Bruttosozialprodukts und 14,6% des indischen Bundeshaushaltes, für das Militär verwendet, und dass die indische Geschichte, was Kriege betrifft, den Vergleich mit der europäischen Geschichte nicht scheuen muss, könnte demgegenüber als das übliche Auseinanderklaffen von Ideal und Wirklichkeit betrachtet werden.


Abb.: Filmplakat

Die Auswahl der Bhagadvadgita legte sich um so mehr nahe, als man sie zu Fug und Recht als Bibel Mahatma Gandhi's bezeichnen kann. Mahatma Gandhi schreibt in seiner Autobiographie (erschienen 1930):

"Gegen das Ende meines zweiten Jahres in England begegnete ich zwei Theosophen, Brüdern, beide unverheiratet. Sie sprachen mir von der Gîtâ. Sie lasen Sir Edwin Arnolds Übersetzung <The Song celestial> — und luden mich ein, das Original mit ihnen zu lesen. Ich fühlte mich beschämt, denn ich hatte die göttliche Dichtung weder in Sanskrit noch in Gujarati gelesen. Ich musste ihnen sagen, dass ich die Gîtâ nicht gelesen hätte, mich aber freuen würde, sie mit ihnen zu lesen; und obgleich meine Sanskrit-Kenntnis mager sei, hoffte ich doch, imstande zu sein, das Original so weit zu verstehen, um sagen zu können, wo die Übersetzung etwa den richtigen Sinn verfehlt habe. Ich begann die Gîtâ mit ihnen zu lesen. ... Das Buch erschien mir als unschätzbar wertvoll. Dieser Eindruck hat sich seither ständig vertieft mit dem Ergebnis, dass ich es heute als das Buch par excellence für die Erkenntnis der Wahrheit halte."

Ich muss gleich vorausschicken, dass ich die Gîtâ etwas anders lese als Gandhi und sie Ihnen zunächst einmal so darstellen werde, wie sie einem möglichst unbefangenen Leser erscheint.


Die Bhagavadgîtâ, so wie sie uns vorliegt ist Bestandteil des Mahâbhârata. Das Mahâbhârata ist ein riesiges Epos mit ca 90 000 Versen, dem im Laufe der Zeit (ca. 5 Jhdt vor Chr bis 5. Jhdt n. Chr) die gegenwärtige Gestalt gegeben wurde. Der Hauptinhalt des Mahâbhârata sind die Streitigkeiten um die dynastische Nachfolge zwischen zwei eng verwandten Gruppen. Diese Streitigkeiten führen schließlich zum Krieg, wobei das Mahâbhârata die Partei der einen Gruppe ergreift: es ist also ein gerechter Krieg, da — wie heutige Inder manchmal sagen — der Gegner der Hitler des indischen Altertums ist.

 

Die Bhagavadgîtâ spielt genau zu Beginn dieses Krieges: die beiden feindlichen Heere stehen einander gegenüber, ein "Fünfsternegeneral" der gerechten Partei lässt sich vor die Front fahren, damit er sich einen Gegner aussuchen kann, der seiner würdig ist. Und nun geschieht das geradezu Groteske: dieser General — Arjuna ist sein Name — sieht im feindlichen Heer all seine Verwandten, Lehrer und Freunde, bekommt Skrupel und beschließt Kriegsdienstverweigerer zu werden. Seine Argumente: Was soll ich mit der Herrschaft, wenn ich dafür meine Verwandten töten muss: die Freuden der Herrschaft haben nur Sinn, wenn man sie mit seinen Verwandten teilen kann. Außerdem und noch viel wichtiger: Wenn man Familien zerstört, zerstört man die Grundlagen der Gesellschaft:

Familien sind die eigentlichen Keimzellen der Gesellschaft, in denen die gesellschaftlichen Werte sozialisiert werden. Zerstört man die Familie, dann zerstört man auch die Opfer an die Ahnen: niemand bringt die Ahnenopfer mehr dar, von denen die verstorbenen Ahnen abhängig sind: so zerstört man nicht nur die gegenwärtige und zukünftige Generationen, sondern auch vergangene. Kurz gesagt: Wenn ich jetzt kämpfe, würde ich eine furchtbare Übeltat begehen und sicher in die Hölle kommen.

Eine solche Einstellung zu einem solchen Zeitpunkt ist für die etablierte Gesellschaftsordnung selbstverständlich lebensbedrohlich. Übersetzen Sie die Situation nur in die Gegenwart: Ein Fünfsternegeneral, der zu Beginn eines gerechten Krieges beschließt, Aussteiger zu werden! Da war General Bastians Kritik am Bundeswehrkonzept nichts dagegen.

Zum Glück bediente sich die göttliche Vorsehung zur Übermittlung ihrer Ratschlüsse nicht des unzuverlässigen Engels und vormaligen Dienstmanns Alois Haberl, der im Bürgerbräukeller hängenblieb, weswegen die bayerische Staatsregierung bis heute vergeblich auf die göttlichen Ratschläge wartet. Nein Gott war Mensch geworden und war der Wagenlenker von General Arjuna, so dass er in unserer bedrohlichen Situation eingreifen konnte. Allerdings wusste Arjuna zu diesem Zeitpunkt noch nicht von der Göttlichkeit seines Wagenlenkers Krshna. Krshna versucht nun also mit einem Feuerwerk von Überredungskunst, Arjuna von seinen staatszersetzenden Gedanken abzubringen. Dabei entwickelt er Denkmuster, die als typisch gelten können für viele Hinduismen.


Abb.: Arjuna und sein Wagenlenker Krshna [Bildquelle: http://www.brahminworld.com/bw19.htm. -- Zugriff am 2005-02-27]


Man kann die anfanglose und unsterbliche Seele nicht töten. Die Seele wandert von einem Körper zum anderen so wie man alte Kleider wegwirft und neue anzieht. Getötet wird nur der Körper, der sowieso sterben muss. So ist es unsinnig, den Tod von jemandem zu betrauern, und es gibt auch keinen Grund, Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen zu betreiben, weil man nicht töten will.


Du gehörst nach der "natürlichen" Sozialordnung von Geburt aus zum Kriegerstand. Für einen Angehörigen des Kriegerstandes gibt es nichts besseres, als im Kampf zu fallen: dann kommt er nämlich sofort in den Himmel. Andrerseits gibt es für einen Krieger nichts Schändlicheres, als im Kampf davonzulaufen. Unehre ist für einen Krieger fürchterlich. Wenn du kämpfst riskierst du nichts: entweder siegst du, dann kannst du die Erde ausbeuten, oder du wirst getötet, dann kommst du direkt in den Himmel. Risiko = Null.


Du kannst vermeiden, dass du — wie du meinst — in eine Hölle kommst, indem du in richtiger Weise kämpfst. Man kann nämlich handeln, um eine gute Frucht seines Handelns — sei's in diesem Leben oder insbesondere in einer späteren Geburt — zu erhalten. Handeln, das gute oder böse Früchte für den Handelnden hervorbringt, das also karmisch wirksam ist, zeichnet sich dadurch aus, dass es Zuneigung und Abneigung zeigt, dass es an den Objekten hängt oder von ihnen abgestoßen wird, dass es im Handeln Selbstverwirklichung sucht. Karmisch unwirksam wird Handeln dagegen dadurch, dass es tut, was zu tun ist, ohne Zuneigung oder Abneigung, ohne Selbstverwirklichung zu suchen, dass es die Pflicht um der reinen Pflicht willen tut, unerschüttert von Leid und Freude, indifferent. Wenn du so kämpfst, kann dein Tun gar keine bösen Folgen haben.

Der metaphysische Hintergrund zu dieser Haltung ist, die Tatsache, dass das eigentliche Ich überhaupt nicht tätig ist, sondern dass nur das empirische Ich, das man fälschlich mit dem eigentlichen Ich verwechselt, handelt. Das eigentliche Ich kann sich also gar nicht in Taten verwirklichen. Diese Metaphysik hat ihre Grundlage auch in veränderten Wachbewusstseinszuständen, wie sie durch Drogen oder meditative Praktiken hervorgerufen werden können, in denen die Einheit der Person zersplittert, indem die Verfügbarkeit über normale Ichfunktionen nicht mehr gegeben ist <zB: Meine eigenen Gefühle kamen mir fremd, als nicht zu mir gehörend vor. Ich fühlte mich wie ein Automat. Ich beobachtete mich selbst wie einen fremden Menschen>.

An dieser Stelle muss Krshna seine Lehre vom Handeln von einer traditionellen indischen Lehre abheben, die auch im Handeln den "Weg" sieht, der Lehre von den Opfern und rituellen Handlungen. Diese Lehre von den Opfern krankt daran, dass man opfert, um in den Himmel zu kommen, man haftet also an seinen Taten. Nun wäre es unklug, diese verbreitete religiöse Lehre nur zu attackieren: viel besser ist es, man zeigt dass man selber den eigentlichen, wahren Kern dieser Lehre bei sich aufgehoben hat. Dies tut auch Krshna: Wahres Opfer ist, dass man seine soziale Pflicht in der Welt erfüllt, ohne sich dabei an die Welt zu binden. Wenn Arjuna also mit dieser Opfermentalität kämpft, kann nichts schiefgehen.

Wie aber kann man einen solchen Zustand der Indifferenz gegenüber seinen Werken erreichen? Nur dadurch, dass man seine Sinnesorgane und sein Denken im Zaum hält: ist man nicht an diesen Toren achtsam, kann man nicht mehr viel machen, man wird von seinen Leidenschaften und Aversionen fortgerissen.

Nun stellt sich aber für Arjuna die Frage: es gibt ja im Indien seiner Zeit ganz viele Lehren, die Erlösung durch Erkenntnis lehren. Als Voraussetzung für diese Erkenntnis betrachtet man es sehr oft, dass man sich aus dem tätigen Leben zurückzieht und in der Einsamkeit meditiert. Wäre es also nicht noch viel besser, Arjuna würde — statt zu kämpfen — aussteigen und nicht handeln? Krshna antwortet nun nicht, dass das Aufgeben des Handelns nicht der rechte Weg ist. So würde er die Aussteiger und potentiellen Aussteiger nur verprellen, er will sie aber in die Gesellschaft reintegrieren. Also sagt er: Aufgeben des Handelns ist nötig. Das geht aber gar nicht dadurch, dass man nicht handelt. Jeder handelt notwendigerweise, sonst würde er nicht leben. Also kann absolutes Nicht-Handeln in diesem Sinne nicht das Ziel sein. Für einige ist der Weg der Entsagung dadurch, dass sie sich aus der Welt zurückziehen, durchaus angemessen. Besser aber und auch viel einfacher ist eine andere Form des Nicht-Handelns: Nichthandeln, Aufgeben des Handelns heißt, an seinen Werken nicht hängen, von ihnen nicht abgestoßen werden. So ist richtiges Handeln besser als Untätigkeit.

Dies lässt sich auch aus der alten Opferlehre beweisen: Nach dieser ist der natürliche Weltenlauf mit seiner Vegetation, Fauna, Menschen- und Götterwelt davon abhängig, dass geopfert wird. In dieser Gesinnung — die Welt- und Sozialordnung aufrecht zu erhalten — muss man handeln, dann ist das Handeln Opfer.

Hieraus folgt eine besondere Verpflichtung für Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens — wie es General Arjuna ja ist: sie sind Opinion leader: nach ihnen richten sich die Leute. Wenn opinion leader sich nicht an die sozialen Normen halten würden, sondern aus der Gesellschaft aussteigen würden, dann würden die gottgewollten sozialen Normen an Wirkung verlieren: Chaos würde hereinbrechen. Der Unterschied zwischen einem, der die wahren Weltgesetze kennt, und der großen Masse, die diese nicht kennt, ist nicht das, was sie tun, sondern mit welcher Gesinnung sie es tun: die Unwissenden handeln, indem sie in ihren Werken Selbstverwirklichung suchen, Wissende handeln nur, damit nicht Chaos ausbricht. Es wäre katastrophal, wenn ein Wissender hinginge und Leuten, die dafür noch gar nicht reif sind, Lehren vorsetzen würde, die sie nur missverstehen können. Deshalb darf man die Unwissenden nicht verwirren, sondern muss sie durch sein eigenes vorbildliches Handeln dazu anspornen, ihre sozialen Pflichten zu erfüllen.


Gewiss: eine solch indifferente Einstellung beim Handeln ist schwierig, doch dies braucht dich, Arjuna nicht zu entmutigen.

Das Tolle an meiner, des Krshna, Lehre ist, dass man das, was man einmal erreicht hat nie wieder verliert: Während man, wenn man Verdienstvolles als Verdienstvolles tut, dafür eine Zeitlang in einen Himmel kommt, wo das Verdienst aufgebraucht wird, und man dann wieder auf tiefer Stelle von vorne anfangen muss, ist es beim Versuch um die Verwirklichung dieser Einstellung so, dass man in zukünftiger Geburt als Mensch nach langem Aufenthalt in einem Himmel wieder genau von dem Niveau anfängt, mit dem man aufgehört hat, dh. im Gegensatz zu Verdienst wird das Niveau, das man in der rechten Einstellung erreicht hat, nirgends aufgebraucht. Dies ist natürlich ein vorzügliches Argument, es doch einmal auszuprobieren.


Eine solche Verteidigung des gesellschaftlichen status quo, wie sie Krshna gibt, darf natürlich selbst auch keine revolutionäre neue Lehre sein. Deshalb behauptet nun Krshna, dass er diese ewige Lehre zu Beginn des jetzigen Weltzyklus verkündet hat. Dies ist die Gelegenheit, auf eine entsprechende verwunderte Frage des Arjuna hin, seine wahre Natur zu offenbaren: Krshna ist der einzig wahre Gott, der Herr aller Geschöpfe. Immer dann, wenn in der Welt das Unrecht die Oberhand zu gewinnen droht, inkarniert er, um die wahre Lehre wieder herzustellen. Wenn alle bisherigen Argumente nichts genützt haben, so müsste Arjuna jetzt wenigstens der göttlichen Autorität vertrauen und glauben. Genau diesen Glaube und die vertrauensvolle Hingabe an ihn, an Gott, preist deshalb Gott Krshna nun an. Denn Glaube führt zu Läuterung und Erkenntnis, Erkenntnis zur Erlösung. Erlösung heißt Loslösung von der Fesselung durch die Taten an gute oder schlechte Wiedergeburten. Der Erlöste ist frei, zu handeln: so kann auch Arjuna kämpfen.


Krshna preist sich als den alleinigen Gott an, dem allein es zu vertrauen gilt und der in allem immanent ist, weil er allem gegenüber als Herr absolut transzendent ist.

<Auch diese metaphysische Anschauung hat eine Wurzel — neben anderen — in veränderten Wachbewusstseinszuständen, wie sie z.B. in der Meditation erfahren werden, und die man als ozeanische Selbstentgrenzung bezeichnen könnte <Es kam mir vor, als seien meine Umwelt und ich eins>.

Bei einem solchen ausschließlichen Anspruch wie ihn Krshna nun erhebt, stellt sich nun sofort die Frage, was ist aber mit den vielen anderen religiösen Versuchen der Menschen? Krshna verdammt diese nicht einfach als nichtig: nein auch die, die anderen Göttern oder Wesen dienen, erlangen was sie wollen; dies aber nicht, weil diese anderen Götter irgend eine Macht hätten; nein, der einzig wahre Gott erfüllt all diesen Menschen ihre Wünsche und bestärkt sie so sogar in ihrem irrigen Glauben. Leute, die anderen Wegen folgen, die andere Gottheiten verehren, verehren also in Wirklichkeit nur den einzigen, wahren Gott, aber sie wissen es nicht. Man könnte das Wort des katholischen Theologen Karl Rahner vom anonymen Christen umwandeln und sagen: alle Menschen sind anonyme Visnuiten (Visnu ist der Name Gottes, der als Krshna inkarnierte).


Für dich Arjuna ist es besonders wichtig, immer nur an mich, an Gott zu denken. Du weißt ja — wie es in Indien allgemein bekannt ist — , dass man in seiner nächsten Existenz zu dem geht, an was man in seinem Todesaugenblick denkt. Denk also immer an mich und kämpfe. Wenn du im Kampfe fällst, kommst du so nicht nur wie jeder Krieger in einen vergänglichen Himmel, nein du kommst dann zur ewigen seligen Vereinigung mit mir, mit Gott.



Abb.: Arjuna verehrt Krshna [Bildquelle: http://www.salagram.net/BG.html. -- Zugriff am 2005-02-27]

Beachten Sie, dass Krshna bis jetzt allein mit dem Wort auskam. Er verwendete keinerlei Wunderspektakel, um Arjuna zum Glauben zu bringen. Und trotzdem glaubt ihm Arjuna voll und ganz. Als Gläubiger bittet er Krshna, ob dieser sich ihm nun auch erfahrbar offenbaren kann. Krshna kann und will und bietet nun dem Arjuna ein grandioses Spektakel, bei dem er sich unter seinen verschiedensten Erscheinungen und Aspekten zeigt, und bei dem er vor allem zeigt, dass alles in Gott ist, weil dieser als absolut transzendenter in allem immanent ist. Insbesondere zeigt sich Gott auch in seinem schrecklichen Aspekt, der die feindlichen Krieger schon alle vernichtet hat:

"Auch ohne dich werden alle in den gegnerischen Heeren aufgestellten Krieger zu existieren aufhören. Darum erhebe dich und erringe Ruhm. Besiege deine Feinde und genieße ein blühendes Königtum. Sie sind bereits von mir geschlagen. Sei du nur mehr der Anlass. Erschlage die großen Krieger, die bereits von mir geschlagen sind. Habe keine Furcht! Kämpfe!"


Abb.: Gott offenbart sich Arjuna in seinen zahllosen Formen

[Bildquelle: Bhaktivedanta, Abhay C. <1896 - 1977>: Bhagavad-gîtâ, wie sie ist : mit orig. Sanskritversen, latein. Transliterationen, dt. Synonymen, Übers. u. ausführl. Erklärungen / A. C. Bhaktivedanta Swami Prabhupâda. [Für d. Übers. aus d. Engl. verantwortl.: Christian Jansen u. a. Hrsg.: Internat. Ges. f. Krsna-Bewusstsein e. V.]. -- 7. Aufl. -- Vaduz : Bhaktivedanta Book Trust, ©1983.  -- 896 S. Ill. -- ISBN 0-89213-037-7. -- Tafel 9]

Arjuna ist nun völlig überwältigt von Gott.


Krshna führt nun seine Lehre gegenüber dem gläubigen Arjuna noch weiter aus. Für uns am wichtigsten ist, dass Krshna die indische Lehre von den spezifischen sozialen Pflichten, in die man in der Ständeordnung hineingeboren ist, voll bestätigt: man muss seine eigenen ständischen Pflichten erfüllen, darf sich nicht die Aufgaben anderer anmaßen. Ja

"es ist besser, seine eigenen Pflichten unvollkommen, als die Pflichten eines anderen vollkommen zu erfüllen. Wenn man die durch die eigene Natur gesetzte Pflicht erfüllt zieht man sich keine Sünde zu."

Wir können das gleich anwenden: General Arjuna gehört seiner Natur nach zum Kriegerstand, also ....


Eine letzte Aufforderung:

"Mein gedenkend wirst du durch meine Gnade alle Schwierigkeiten überwinden. Du wirst hingegen zugrundegehen, wenn du aus Selbstdünkel nicht auf mich hören willst. Wenn du, deinem Eigendünkel folgend denkst: Ich will nicht kämpfen, so ist dieser dein Entschluss vergeblich. Die Natur wird dich zwingen" <siehe das oben zur Auflösung der normalen Ichfunktionen gesagte>, denn du bist dazu determiniert.

Arjuna ist überzeugt:

"Ich werde nach deinem Wort handeln"

und beginnt seine feindlichen Verwandten niederzumetzeln.


Wenn Sie selbst schon einmal die Bhagavadgîtâ gelesen haben, sind sie jetzt vielleicht entsetzt, wie man dieses herrliche Werk mit so vielen erbaulichen Sprüchen so darstellen kann, dass es ein Pamphlet des Bundesverteidigungsministeriums gegen Null-Bock-Mentalität sein könnte. Ich empfehle Ihnen dann, die Gîtâ einmal unter meinem Gesichtspunkt zu lesen und ich bin überzeugt, dass sie dann meine Interpretation gar nicht so falsch finden werden.


Aber: Die Gîtâ ist doch die Bibel Gandhis! Gandhis. der in Wort und Tat lehrte, dass man dem Übel mit Gewaltlosigkeit zu widerstehen hat! Wie kann eine solche Schrift die Bibel Gandhis sein? Doch nur, indem Gandhi die Gîtâ eben anders gelesen hat als ich. Wie? Am besten hören wir, was Gandhi selbst in der Einleitung zu seiner Auslegung der Gîtâ sagt (nach der englischen Übersetzung):

"Der Gegenstand der Gîtâ ist schlicht die Verwirklichung Brahmans <des Absoluten> und die Mittel hierzu. Die Schlacht ist nur der Anlass für die Lehre der Gîtâ. Man kann sagen, dass der Dichter (der Gîtâ) (die Schlacht) als Anlass für die Gîtâ benutzte, weil er Krieg nicht als etwas moralisch falsches anschaute. Als ich das Mahâbhârata las, hatte ich einen ganz anderen Eindruck: Der Autor des Mahâbhârata schrieb dieses wunderschöne Epos um die Unnützigkeit des Krieges darzustellen. Was brachte die Niederlage der Kaurava und der Sieg der Pandava? Wieviele Sieger überlebten? Was war deren Schicksal? ... Was blieb ... heute davon übrig? Da der Gegenstand der Gîtâ nicht die Beschreibung der Schlacht ist und auch nicht die Rechtfertigung von Gewalt, ist es völlig falsch diesen viel Bedeutung zu geben. Wenn es auch schwierig ist, einige der Verse mit der Idee zu vereinbaren, dass die Gîtâ Gewaltlosigkeit befürwortet, dann ist es noch viel schwieriger die Lehre des Werkes als ganzes mit Befürwortung von Gewalt zu vereinbaren.... Dass die Lehre der Gîtâ nicht Gewalt sondern Gewaltlosigkeit ist, wird klar aus dem Argument, das in Kapitel 2 beginnt und in Kapitel 18 aufhört. Die Kapitel dazwischen haben dasselbe Thema. Gewalt ist schlichtweg nicht möglich, wenn jemand nicht angetrieben ist von Aversion, von unwissender Liebe und von Hass. Die Gîtâ aber will, dass wir der Aversion unfähig werden. ... Aber hatte Arjunas beharrliche Weigerung zu kämpfen irgendetwas mit der Gewaltlosigkeit zu tun? Er hatte tatsächlich oft genug in der Vergangenheit gekämpft. Beim gegenwärtigen Anlass war sein Verstand plötzlich umnebelt von unwissender Anhaftung. Er wollte seine Verwandten nicht töten. Er sagte nicht, dass er niemand töten will, selbst wenn er glaubte, dass diese Person böse sei. Krishna ist der HERR, der in jedermanns Herzen wohnt. Er versteht die momentane Verdunkelung von Arjunas Verstand, deswegen sagt er zu ihm: `Du hast schon Gewalt begangen, wenn Du jetzt wie ein weiser Mann sprichst, wirst Du Gewaltlosigkeit nicht lernen. Nachdem Du auf dieser Bahn angefangen hast, musst Du sie auch zu Ende gehen.' Wenn jemand in einem Zug fährt, der mit 60 Stundenkilometer dahin braust, plötzlich eine Abneigung gegen Reisen empfindet und aus dem Zug springt, dann wird er nichts anderes erreichen, als sich selbst umzubringen. Er hat nicht in Wahrheit die Nutzlosigkeit des Reisens als solches oder des Bahnreisens realisiert. Arjuna war in einer ähnlichen Verfassung. Krishna, der an Gewaltlosigkeit glaubte, konnte Arjuna keinen anderen Rat geben, als er tat. Wenn man aber daraus schließt, dass die Gîtâ Gewalt lehrt oder den Krieg rechtfertigt, dann ist das genauso unbegründet, wie wenn man argumentieren würde, dass der Dharma nur in der Gewalt liegt, da Gewalt in irgendeiner Form unumgänglich ist, um seinen Körper zu erhalten. Jemand, der die Gabe der Unterscheidung besitzt, lehrt die Pflicht nach der Erlösung von diesem Leib zu streben, der durch Gewalt existiert.... Aber wer ist (es folgt die Aufzählung der wichtigsten Figuren des Mahâbhârata)? Waren es historische Persönlichkeiten? Berichtet die Gîtâ ihre Taten? Ist es wahrscheinlich, dass Arjuna plötzlich ohne Vorwarnung eine Frage stellen sollte, wenn die Schlacht gerade am Beginnen ist? und dass Krishna in dieser Situation als Antwort die ganze Gîtâ rezitieren sollte? ... Persönlich glaube ich, dass Duryodhana und seine Partei für die satanischen Antriebe in uns stehen und dass Arjuna und andere für die auf Gott gerichteten Impulse stehen. Das Schlachtfeld ist unser Körper. "


Sie sehen, man kann denselben Text gegensätzlich interpretieren. Aber: Ist es denn nicht wichtiger für die Wirkung eines Textes, wie er tatsächlich verstanden wird und nicht wie er historisch vielleicht zu verstehen ist? Richtig. Allerdings sind viele der Gedanken der Gîtâ, so wie ich sie verstanden habe als Rechtfertigung des gerechten Krieges, ebenfalls wirksam geworden, teils durch andere Texte und andere Traditionen. Wir haben also den Idealfall, dass unser Text gleichzeitig zur Rechtfertigung gerechter kriegerischer Gewalt dient, als auch zur Ablehnung derselben.


Ich möchte diese Betrachtungen zur Bhagavadgîta abschließen mit einem Text von Mahâtma Gandhi:

"Ich glaube, dass ich da, wo nur die Wahl bliebe zwischen Feigheit und Gewalt, zur Gewalt raten würde... Dagegen glaube ich, dass Nicht-Gewalt der Gewalt unendlich überlegen ist. Vergeben ist männlicher als Bestrafen. Vergeben ehrt den Krieger. Selbstüberwindung aber ist Vergeben nur da, wo die Macht zu strafen vorhanden ist. Vergeben ist bedeutungslos, wo es von einem wehrlosen Wesen scheinbar gewährt wird. Bei einer Maus kann man schwerlich sagen, sie vergebe der Katze, wenn sie zulässt, dass sie in Stücke zerrissen wird."

[M. Gandhi, Young India 25.8.1920. Zitiert in: Gandhi, Mohandas Karamchand <1869 - 1948>: Vom Geist des Mahatma : Ein Gandhi-Brevier / hrsg. von Fritz Kraus. -- Baden-Baden : Holle, 1957. -- 351 S. ; 8°. -- (Geist des Morgenlandes). -- S. 279]



Abb.: Mangala Mantra — Glückbringende Formel

Hier können Sie eine Rezitation des Mangala Mantra hören:: http://www.astanga-yoga.dk/chant.htm. -- Zugriff am 2005-02-27


ENDE