Einführung in

Entwicklungsländerstudien

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18. Grundgegebenheiten: Lebenserwerbs- und Wirtschaftsformen

1. Teil


von Carola Knecht

herausgegeben von Margarete Payer

mailto: payer@hdm-stuttgart.de


Zitierweise / cite as:

Entwicklungsländerstudien / hrsg. von Margarete Payer. -- Teil I: Grundgegebenheiten. -- Kapitel 18: Lebenserwerbs- und Wirtschaftsformen. -- 1. Teil  / von Carola Knecht. -- Fassung vom 2018-10-06. -- URL: http://www.payer.de/entwicklung/entw181.htm. -- [Stichwort].

Erstmals publiziert: 2000-01-14

Überarbeitungen:  2018-10-06 [grundlegend überarbeitet von Alois Payer] ; 2001-02-22 [Update]

Anlass: Lehrveranstaltung "Einführung in Entwicklungsländerstudien", HBI Stuttgart, 1998/99

©opyright: Dieser Text steht der Allgemeinheit zur Verfügung. Eine Verwertung in Publikationen, die über übliche Zitate hinausgeht, bedarf der ausdrücklichen Genehmigung der Herausgeberin.

Dieser Text ist Bestandteil der Abteilung Entwicklungsländer von Tüpfli's Global Village Library.


Skript, das von den Teilnehmern am Wahlpflichtfach "Entwicklungsländerstudien" an der HBI Stuttgart erarbeitet wird.


0. Übersicht



1. Einführung


"Why is it that you White people developed so much cargo and brought it to New Guinea, but we Black people had so little cargo of our own?"

Frage des Neuguineischen Politikers Yali

[Zitiert in: Robbins, Richard H. <1940 - >: Global problems and the culture of capitalism. -- Boston [u.a.] : Allyn and Bacon, ©1999. -- ISBN 0205193374. -- S. 8. ]

Das ganze Spektrum wirtschaftlichen Wirkens spielt sich zwischen zwei Polen ab:

Alle Wirtschaftsformen bilden in sehr unterschiedlichen Weisen eine Kombination aus diesen beiden Prinzipien.

In einem Wirtschaftssystem werden Güter produziert, transportiert und  verbraucht. Will man das Wirtschaftssystem eines Landes betrachten in dem Analphabetismus und geringe Industrialisierung vorherrschen, muss die gesamte Kultur des Landes bzw. der Gesellschaft berücksichtigt werden. Jede Gesellschaft bestreitet ihr Dasein durch den Einsatz von Rohstoffen, Boden, Arbeit und Technologie.

Jede Gesellschaft regelt die Landverwaltung/-verteilung auf ihre Weise. In nicht-industriellen Gesellschaften ist individuelles Eigentum an Land selten; es wird dort gemeinschaftlich durch verwandtschaftliche Gruppengefüge verwaltet. Dadurch wird eine flexiblere Landnutzung gewährleistet, weil sich die Grundbesitz- bzw. die Gruppengröße der Rohstoffverfügbarkeit an jedem Ort anpassen kann. Die Technologie eines Volkes (Art des Werkzeugeinsatzes) hängt mit der Art der Subsistenzwirtschaft zusammen. In nahrungssuchenden Gesellschaften beispielsweise, schafft Nahrungsreichhaltigkeit freien Zugang zu Werkzeugen, auch wenn diese von einzelnen nur für den Eigenbedarf angefertigt wurden. Bei sesshaften Bauerngemeinschaften ist die Anhäufung von Privateigentum stärker zu beobachten, die dann zu einem Ungleichgewicht an Wohlstand führen kann. Trotz allem, ist jedoch in vielen solcher Gemeinschaften eine gleichberechtigte soziale Ordnung vorherrschend.

Zu den  Themen dieses Kapitels siehe auch:

Entwicklungsländerstudien / hrsg. von Margarete Payer. -- Teil II: Kernprobleme. -- Kapitel 24: Arbeit und Beschäftigung  / verfasst von Yvonne Hermann. -- URL: http://www.payer.de/entwicklung/entw24.htm


2.  Lebenserwerbsformen bzw. Wirtschaftsstufen


Evolutionisten bezeichnen als Wirtschaftsstufen das in der geschichtlichen Entwicklung der Wirtschaft sich wiederholende Muster des Industrialisierungsprozesses. 


2.1. Gesellschaftstypologie von Gerhard Lenski


So legt Gerhard Lenski seinem Buch "Macht und Privileg" folgende auf den "Subsistenztechnologien" beruhende Gesellschaftstypologie zugrunde:

Abb.: Gesellschaftstypologie von Lenski: Macht und Privileg

[Vorlage der Abb.: Lenski, Gerhard <1924 - >: Macht und Privileg : eine Theorie der sozialen Schichtung. -- Frankfurt a. M. : Suhrkamp, 1977. -- (Suhrkamp-Taschenbücher Wissenschaft ; 183). -- ISBN 351807783X. -- Originaltitel: Power and privilege : a theory of social stratification. -- S. 132]

Auch wenn man nicht Lenskis Evolutionismus folgt und auch sonst einige Bedenken anmelden kann, ist seine Typologie als Grobschema brauchbar.


2.2. "Entwicklung" der Wirtschaftstufen


Zur "Entwicklung" der Wirtschaftsstufen gibt es verschiedene Theorien. Sie sind oft stark von den Bewertungen der Autoren abhängig. So veröffentlichte schon 1785 der Gothaische Hofkalender eine Kupferstichfolge von Daniel Chodowiecki (1726 - 1801) über die gesellschaftliche und wirtschaftliche  "Entwicklung" der Menschheit. Im Prinzip hat sich an der Vorurteilsbehaftetheit zwischen damals und heute nicht viel geändert!


1. "Wahrer Stand der Natur"


2. "Stand des wilden Jägers und Kriegers"


3. "Hirtenstand


4. "Rohe Anfänge der bürgerlichen Gesellschaft"

5. "Ausbildung der bürgerlichen Gesellschaft"

6. "Anfang der Staaten"

7. "Ausbildung der Staaten und Gesellschaften"

8. "Männlich schöne Kultur"

9. "Verbreitete Kultur"

10. "Verzärtelte Kultur"

11. "Übermaas [!] der Kultur"

12. "Folgen der übertriebenen Kultur"

2.3. Andere Spekulationen über Wirtschaftsstufen


Hier noch einige andere Ansätze:

Unterscheidung der Wirtschaftsstufen nach Kriterien:

Nach Friedrich List (1789 - 1846) Nach Karl Wilhelm Bücher (1847 - 1930)
Kriterium: räumliche Intensität der wirtschaftlichen Verflechtungen:
  1. wilder Zustand,
  2. Hirtenstand, 
  3. Agrikulturstand, 
  4. Agrikultur-Manufakturstand, 
  5. Agrikultur-Manufaktur-Handelsstand
  1. Hauswirtschaft
  2. Stadtwirtschaft
  3. Volkswirtschaft
  4. Weltwirtschaft
Nach Bruno Hildebrand (1812 - 1878)
Kriterium: Organisation des Tausches
Nach Frank Robert Vivelo (1978)
  1. Naturalwirtschaft
  2. Geldwirtschaft
  3. Kreditwirtschaft
  1. Wildbeutertum
  2. Niederer Bodenbau
  3. Höherer Bodenbau
  4. Hirtentum
  5. Industrialismus

2.4. Entwicklung der Produktionsweisen im Marxismus-Leninismus


Die in ihren historischen Wirkungen wichtigste evolutionistische Wirtschaftstheorie ist der Marxismus-Leninismus. 

"Die Praxis des sozialistischen und kommunistischen Aufbaus hat die Lebensfähigkeit der ökonomischen Theorie des Marxismus-Leninismus überzeugend bewiesen".

[Einführung in die politische Ökonomie des Sozialismus / [Hrsg.: Institut für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED. -- Berlin, DDR : Dietz, ©1974. -- S. 25]

Wenn man diese Aussage ernst nimmt, dann bräuchte man sich nach dem weltweiten Zusammenbruch des "sozialistischen Aufbaus" nicht mehr mit Marxismus-Leninismus beschäftigen. Da aber viele Angehörige der Elite von Entwicklungsländern im ehemaligen Ostblock bzw. China ausgebildet wurden, und da außerdem die marxistisch-leninistische Ideologie immer noch bei vielen Intellektuellen Anklang findet, sind für die Beschäftigung mit Entwicklungsländern Grundkenntnisse der marxistisch-leninistischen politischen Ökonomie unerlässlich.

Der Grundbegriff der marxistischen Theorie der Wirtschaftsentwicklung ist "Produktionsweise":

"Produktionsweise: Art und Weise der Produktion materieller Güter und der produktiven Leistungen, besonders der Produktions- und Existenzmittel, in einer bestimmten Phase der gesellschaftlichen Entwicklung; entscheidende Bedingung für die Existenz und die Entwicklung der Gesellschaft. 

Die P[roduktionsweise] ist die entscheidende materielle Grundlage der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung und für die konkrete Gestaltung aller Seiten der Beziehungen des gesellschaftlichen Lebens. Die materialistische Beantwortung der Frage nach den realen, wissenschaftlich fassbaren Prozessen der Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens der Menschen führt uns zu der Erkenntnis, dass das Spezifische des gesellschaftlichen Lebensprozesses der Menschen, die bewegenden Kräfte und Charakteristika ihres Geschichtsprozesses nicht in den Naturbedingungen und -anlagen der Menschen gesucht werden können. Sie sind in ihrem, diese Naturbedingungen und -anlagen überschreitenden Geschichtsprozess gegeben. Der wirkliche Geschichtsprozess der Menschen beginnt mit der gesellschaftlichen Produktion lebensnotwendiger materieller Güter.

K. Marx und F. Engels entdeckten das Entwicklungsgesetz der menschlichen Gesellschaft. Es besagt, dass die Menschen vor allen Dingen zuerst essen, trinken, wohnen und sich kleiden müssen, ehe sie Politik, Wissenschaft, Kunst, Religion usw. treiben können; 

„dass also die Produktion der unmittelbaren materiellen Lebensmittel und damit die jedesmalige ökonomische Entwicklungsstufe eines Volkes oder eines Zeitabschnitts die Grundlage bildet, aus der sich die Staatseinrichtungen, die Rechtsanschauungen, die Kunst und selbst die religiösen Vorstellungen der betreffenden Menschen entwickelt haben, und aus der sie daher auch erklärt werden müssen" (Engels). 

Der Stoffwechselprozess der Menschen mit ihrer Umwelt geschieht durch die Produktion und Reproduktion materieller Güter, die die Menschen selbst durch die Arbeit bewerkstelligen. Die gesellschaftliche Arbeit kennzeichnet am meisten die spezifische Art und Weise, in der sich die Menschen ihre Umwelt aneignen. Die konkrete Art und Weise, wie die Menschen produzieren, ist gleichzeitig eine bestimmte Art ihres gesellschaftlichen Lebens, eine bestimmte Lebensweise der Menschen. Indem die Menschen durch ihre praktischgegenständliche Tätigkeit ihre Umwelt verändern, verändern sie auch ihren eigenen praktischen Lebensprozess und damit sich selbst. 

Die P[roduktionsweise] ist dialektische Einheit von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Zwischen den beiden Seiten der P[roduktionsweise] besteht eine Wechselwirkung, doch weisen sie in ihrer Entwicklung eine relative Selbständigkeit auf. Die Produktivkräfte sind das revolutionäre Element der Entwicklung. Ständig sich entwickelnd, fordern sie, dass die Produktionsverhältnisse ihrem Charakter und ihren Entwicklungsbedürfnissen entsprechen. Die Produktionsverhältnisse wirken ihrerseits aktiv auf die Produktivkräfte ein und beschleunigen oder hemmen deren Entwicklung. Die P[roduktionsweise] ist die Grundlage jeder ökonomischen Gesellschaftsformation. Von ihr hängen die soziale Struktur der Gesellschaft, die politischen u. a. Beziehungen sowie die gesellschaftlichen Einrichtungen und Anschauungen ab. 

Die Entstehung und Ablösung der P[roduktionsweise] ist ein gesetzmäßiger Prozess, das Ergebnis der Entwicklung der Widersprüche zwischen den wachsenden Produktivkräften und den zurückgebliebenen Produktionsverhältnissen (Gesetz der Übereinstimmung der Produktionsverhältnisse mit dem Charakter der Produktivkräfte). Diese Widersprüche sind in den auf Privateigentum an Produktionsmitteln beruhenden Gesellschaftsformationen antagonistischer Natur, treten im Klassenkampf hervor und werden durch soziale Revolutionen zeitweilig gelöst. Jede neu entstehende P[roduktionsweise] ist gegenüber der vorangegangenen fortschrittlich, weil sie von der Klasse getragen wird, die mit der modernen Produktion verbunden ist und den wachsenden Produktivkräften größere Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet. 

Nach der sozialistischen Revolution, in der die Arbeiterklasse mit ihren Verbündeten das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln herstellt, tragen diese Widersprüche keinen antagonistischen Charakter mehr. Sie werden von der sozialistischen Gesellschaft durch bewusste und planmäßige Veränderung der Produktionsverhältnisse und systematische Entwicklung der Produktivkräfte gelöst. Die Geschichte der Menschheit kennt folgende 5 P[roduktionsweisen], die aufeinander folgen: 

die P[roduktionsweise] 

  • der Urgesellschaft, 
  • der Sklavenhaltergesellschaft, 
  • des Feudalismus, 
  • des Kapitalismus, 
  • des Kommunismus, 
    • dessen erste Phase der Sozialismus ist. 

Gegenwärtig vollzieht sich der historische Prozess des Übergangs von der kapitalistischen P[roduktionsweise] zur sozialistischen und kommunistischen P[roduktionsweise] im weltweiten Maßstab."

[Wörterbuch der Ökonomie Sozialismus  / hrsg. Willi Ehlert ... -- Berlin, DDR : Dietz, 1973. -- S.740f.]

"In der marxistisch-leninistischen Literatur wird eine umfangreiche Diskussion über die asiatische Produktionsweise geführt, die Marx im Vorwort seines Werkes 'Zur Kritik der Politischen Ökonomie' nennt: in dieser Diskussion geht es um den Typ der ökonomischen Gesellschaftsformationen, die im alten und mittelalterlichen Orient, im vorkolonialen Afrika und im vorkolumbianischen Amerika existierte. Bislang sind die Auffassungen unterschiedlich. 
  • Die einen halten die asiatische Produktionsweise für eine besondere ökonomische Gesellschaftsformation, die der Sklaverei oder dem Feudalismus voranging. 
  • Andere sind der Ansicht, Marx wollte mit diesem Terminus die Spezifik der feudalen Produktionsweise im Orient kennzeichnen.
  • Schließlich  wird der Standpunkt vertreten, die asiatische Produktionsweise sei die abschließende Etappe der Urgesellschaft gewesen.

Bislang reicht das Tatsachenmaterial nicht aus, um die These zu beweisen, dass die asiatische Produktionsweise eine besondere Gesellschaftsformation begründet habe."

[Dialektischer und historischer Materialismus : Lehrbuch für das marxistisch-leninistische Grundlagenstudium / Hrsg.: F. Fiedler ... -- Berlin, DDR : Dietz, ©1974. -- S. 388f.]

Abb.: "Die Produktionsweise der Urgesellschaft"

Abb.: "Die Produktionsweise der Sklavenhaltergesellschaft"

Abb.: "Die feudale Produktionsweise"

[Quelle der drei Abb.: Politische Ökonomie - Kapitalismus : Anschauungsmaterial. -- [Aus dem Russischen übersetzt]. -- Berlin, DDR : Dietz, ©1971. -- S. 6 - 8]

Wegen des deterministisch-dialektischen Evolutionismus ist

"der historische Materialismus vom geschichtlichen Optimismus der Arbeiterklasse durchdrungen. Der Pessimismus der imperialistischen Sozialtheorie ist nichts anderes als die Wiederspiegelung der allgemeinen Krise des kapitalistischen Gesellschaftssystems."

[Dialektischer und historischer Materialismus : Lehrbuch für das marxistisch-leninistische Grundlagenstudium / Hrsg.: F. Fiedler ... -- Berlin, DDR : Dietz, ©1974. -- S. 395]


2.5. Vorschau


Im Folgenden werden einige wichtige Lebenserwerbsformen vorgestellt:


Zu Kapitel 18.2: Lebenserwerbs- und Wirtschaftsformen, 2. Teil: Jäger und Sammler, Fischer, Bauern