Einführung in

Entwicklungsländerstudien

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18. Grundgegebenheiten: Lebenserwerbs- und Wirtschaftsformen

5. Teil: Kapitalismus und Sozialismus


von Carola Knecht

herausgegeben von Margarete Payer

mailto: payer@hdm-stuttgart.de


Zitierweise / cite as:

Entwicklungsländerstudien / hrsg. von Margarete Payer. -- Teil I: Grundgegebenheiten. -- Kapitel 18: Lebenserwerbs- und Wirtschaftsformen. -- 5. Teil: Kapitalismus und Sozialismus  / von Carola Knecht. -- Fassung vom 2001-02-22. -- URL: http://www.payer.de/entwicklung/entw185.htm. -- [Stichwort].

Erstmals publiziert: 2000-01-14

Überarbeitungen:  2018-10-06 [grundlegend überarbeitet von Alois Payer] ; 2001-02-22 [Update]

Anlass: Lehrveranstaltung "Einführung in Entwicklungsländerstudien", HBI Stuttgart, 1998/99

©opyright: Dieser Text steht der Allgemeinheit zur Verfügung. Eine Verwertung in Publikationen, die über übliche Zitate hinausgeht, bedarf der ausdrücklichen Genehmigung der Herausgeberin.

Dieser Text ist Bestandteil der Abteilung Entwicklungsländer von Tüpfli's Global Village Library.


Skript, das von den Teilnehmern am Wahlpflichtfach "Entwicklungsländerstudien" an der HBI Stuttgart erarbeitet wird.


0. Übersicht



"The only thing worse than being exploited is not being exploited"

Ein soeben entlassener Arbeiter

[Zitiert in: Scott, James C.: Weapons of the weak : everyday forms of peasant resistance. -- New Haven [u.a.] : Yale University Press, ©1985. -- ISBN 0300036418. -- S. 243]


16. Wirtschaftliche Organisation im Industriezeitalter


Wenn man die Wirtschaftsorganisation einer Gesellschaft untersucht, sind folgende drei Bereiche besonders interessant: 


16.1. Produktion


Hier gilt das Hauptinteresse der Technologie (d.h. Werkzeuge und Techniken) und der Arbeitsorganisation (d.h. die Weise, in der sich die Menschen zum Zwecke der Arbeit organisieren, z.B. eine auf Geschlecht und Lebensalter beruhende Arbeitsteilung) einer Gesellschaft.

In Gesellschaften, die einen Produktionsüberschuss aufweisen, ist soziales Prestige ein mächtiger Motivationsfaktor. In westlichen Industrieländern, bleiben die Güter, die aus Prestigegründen angehäuft werden, meist bei ihrem Eigentümer, wohingegen sie in anderen Gesellschaften weggegeben werden - hier entsteht Prestige quasi durch die öffentliche Selbstberaubung des Wertgegenstandes, d.h. er wird verschenkt.


16.2. Verteilung


  1. Reziprozität: Reziprozität wird häufig als Gabenaustausch bezeichnet. Sie stellt eine Form des Austausches dar, der oft zwischen Individuen von äquivalentem sozialem Status vorkommt. Sie ist der Austausch von Gütern und Dienstleistungen zwischen Einheiten derselben Art (wie z.B. Individuen, Haushalten, Verwandtschaftsgruppen). Diese Tauschhandlungen folgen oft vorgegebenen Netzwerken sozialer Beziehungen, etwa den auf Verwandtschaft und Freundschaft beruhenden. Materieller Gewinn oder Profit scheint nicht der Gegenstand des reziproken Austausches zu sein. Der eine Austauschpartner versucht nicht, den anderen zu übervorteilen. Die Hauptfunktion scheint vielmehr die neuerliche Bestätigung der zwischen beiden Teilen bereits bestehenden Beziehung zu sein. Die Reziprozität schafft keine Bindungen, trägt aber dazu bei, sie zu erhalten.
  2. Redistribution: Redistribution bezeichnet einen Austauschmodus, bei dem Güter und Dienstleistungen einem Verwaltungszentrum abgeliefert und von diesem wiederum ausgeteilt werden. So z.B. bringen die Mitglieder der Bevölkerung mit den Steuern einen Anteil an den Produkten ihrer Arbeit (etwa in Form von Geld) einer Regierungsstelle dar. Diese Mittel werden zusammengelegt und danach sozusagen wieder in der Bevölkerung verteilt.
  3. Marktaustausch: Dieser Austauschmodus bezeichnet den Organisationsprozess des Kaufs und Verkaufs durch Geldmittel, bei dem materielle Produkte, Arbeit und natürliche Ressourcen umgesetzt werden; man spricht hier vom Mechanismus von Angebot und Nachfrage. Genaugenommen gibt es Marktaustausch nur dort, wo es ein als Maßstab dienendes monetäres System sowie ein Autoritätssystem gibt, das imstande ist, die Einhaltung vertraglicher Vereinbarungen durchzusetzen.

    Gütertausch auf dem Marktplatz dient in der Regel dazu, die Waren in der Region zu verteilen. In nicht-industriellen Gesellschaften ist der Marktplatz oft ein speziell dafür vorgesehener Platz, an dem die von den ansässigen Menschen produzierten Waren getauscht werden und an dem jedoch auch die neuesten Nachrichten vermittelt werden und der damit eine soziale Funktion ausübt.

Diese drei Austauschmodi schließen sich gegenseitig nicht aus. Alle drei können in derselben Gesellschaft vorgefunden werden, bei jeweils verschiedenen Transaktionen. Diese drei Distributionsmodi charakterisieren den Güterfluss innerhalb einer Gesellschaft, der als Binnenhandel bezeichnet wird. Daneben gibt es den Güterfluss zwischen Gesellschaften, den sog. Außenhandel.

Eine Sonderform von Austauschbeziehungen die in Entwicklungsländern zu finden ist, ist das Patron-Klient-Verhältnis (klassischer Feudalismus). Beide Personen verpflichten sich hier gegenseitig (Patron: Verpflichtung der Sorge um Klient; Klient: Verpflichtung zur Arbeitsleistung), auch wenn einer der beiden seiner Verpflichtung nicht nachkommen kann (z.B. aus Krankheitsgründen, deshalb zu betrachten wie soziale Absicherung).


16.3. Verbrauch


In vielen Gesellschaften, deren Techniken der Produktion und Verteilung sehr einfach sind, finden die wirtschaftliche Organisation innerhalb einer sehr kleinen Gruppe statt, deren Mitglieder in täglichem persönlichen Kontakt miteinander leben. Weil nur sehr wenig oder gar kein Überschuss produziert wird, verfügt jede Einheit der Gesellschaft über ungefähr gleich viel wie ihre Nachbarn, und keine Gruppe gelangt zu materiellem Reichtum oder zu irgendwelchen Formen von demonstrativem Konsum. Mit der Herausbildung einer komplexeren Technologie und Arbeitsspezialisierung und dem Anwachsen von Binnen- und Außenhandel entwickelt sich jedoch auch soziale Stratifikation. Die verbrauchten Güter, das Ausmaß und die Art ihres Verbrauches dienen dazu, den sozialen Status zu unterstreichen und die Besitzenden von den Habenichtsen zu unterscheiden.


17. Kapitalismus und Sozialismus


17.1. Kapitalismus


Das Grundprinzip des Kapitalismus lässt sich an einem Black-Box-Modell zeigen:

Abb.: Geldvermehrung als Grundprinzip des Kapitalismus

Richard H. Robbins vergleicht die kapitalistische Geldvermehrung mit der Geldtaufe in Kolumbien:

"After losing their land to large farmers and being forced to supplement their farming activities with wage labor, peasants in the lowlands of Colombia developed the practice of illicitly baptizing money in a Catholic church -- instead of a newborn child. When presenting a child to the priest to be baptized, a peasant would hold a peso note that he believed received the priest's blessing instead of the child. The note, thus magically transformed and given the name of the child, will, it is believed, continually return to and enrich its owner by bringing with it other notes. In other words the note becomes interest-bearing capital that continues to generate more and more money. Peasants tell stories of such notes disappearing from cash registers, carrying with them all the other notes, and of the store owner who saved his money only because he heard two baptized notes fighting for possession of the drawer's contents.

The idea that money is animate, that it can magically bring back more money, may at first seem strange to us, but Michael Taussig (1977) argued that the Colombian view of money is very close to our own -- the major difference having to do with their conception of the black box. ...

But money does not produce money by itself. It requires other things, and this is where the Colombian peasant belief about the baptism of money is quite profound. Colombian peasants' practice of baptizing money so that it brings back more money is a rational interpretation of our own view of money, but with one addition: for the Colombian peasant the process is immoral. It is immoral because it is money rather than the child that is baptized; profit can come only at the cost of the child's soul. In this way the Colombian peasant is offering a critique of the capitalism that has been imposed an his society in the last century by the expanding world system."

[Robbins, Richard H. <1940 - >: Global problems and the culture of capitalism. -- Boston [u.a.] : Allyn and Bacon, ©1999.  -- ISBN 0205193374. -- S. 41f. ]


Die Grundannahmen des Kapitalismus beruhen auf "The Sanctification of Greed":

"The beliefs espoused by free-market ideologues are familiar to anyone who is conversant with the language of contemporary economic discourse:
  • Sustained economic growth, as measured by gross national product, is the path to human progress.
  • Free markets, unrestrained by government, generally result in the most efficient and socially optimal allocation of resources.
  • Economic globalization, achieved by removing barriers to the free flow of goods and money anywhere in the world, spurs competition, increases economic efficiency, creates jobs, lowers consumer prices, increases consumer choice, increases economic growth, and is generally beneficial to almost everyone.
  • Privatization, which moves functions and assets from governments to the private sector, improves efficiency.
  • The primary responsibility of government is to provide the infrastructure necessary to advance commerce and enforce the rule of law with respect to property rights and contracts.

These beliefs are based an a number of explicit underlying assumptions embedded in the theories of neoclassical economics:

  • Humans are motivated by self-interest, which is expressed primarily through the quest for financial gain.
  • The action that yields the greatest financial return to the individual or firm is the one that is most beneficial to society.
  • Competitive behavior is more rational for the individual and the firm than cooperative behavior; consequently, societies should be built around the competitive motive.
  • Human Progress is best measured by increases in the value of what the members of society, consume, and ever higher levels of consumer spending advance the well-being of society by stimulating greater economic output.

To put it in harsher language, these ideological doctrines assume that:

  • People are by nature motivated primarily by greed. 
  • The drive to acquire is the highest expression of what it means to be human. 
  • The relentless pursuit of greed and acquisition leads to socially optimal outcomes. 
  • It is in the Best interest of human societies to encourage, honor, and reward the above values.

A number of valid ideas and insights have become twisted into an extremist ideology that raises the baser aspects of human nature to a self-justifying ideal. Although this ideology denigrates the most basic human values and ideals, it has become so deeply embedded within our values, institutions, and popular culture that we accept it almost without question. It exists all around us and plays a critical role in shaping nearly every aspect of public policy. It plays to declining economic fortunes and well-founded public distrust of big government to build a populist political constituency for agendas with decidedly nonpopulist consequences.

Reminiscent of Marxist ideologues now passed from the scene, advocates of this extremist ideology seek to cut off debate by proclaiming the inevitability of the historical forces advancing their cause. They tell us that a globalized free market that leaves resource allocation decisions in the hands of giant corporations is inevitable, and we had best concentrate an learning how to adapt to the new rules of the game. They warn that those who hold back and fail to get on board will be swept aside and excluded from the rewards that will go only to those who acquiesce.

The extremist quality of their position is revealed in the stark choices they pose between a "free" market unencumbered by governmental restraint and a centrally planned, state-controlled economy based an the former Soviet model. Similarly, it is implied that the only alternative to throwing open national borders to the unrestrained flow of goods and money is to build impenetrable walk that cut us off from the rest of the world and deprive us of the benefits of participating in international commerce. As they would have it, if you are not a free trader, then you are a protectionist. There is no middle ground.

In defiance of history and logic, they see no place in the public discourse for those who reject free markets in favor of markets that function within a framework of public accountability. Nor will they countenance the possibility of countries managing exchanges of money and goods among themselves in a fair and balanced way that works to the mutual benefit of their citizens."

[Korten, David C. : When corporations rule the world. -- West Hartford, CN [u.a.] : Kumarian, ©1995. -- ISBN 1887208011. -- S. 70f. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]


Richard H. Robbins schildert sehr anschaulich die Grundstruktur der kapitalistischen Konsumgesellschaft:

  • "Consumers want to spend as much money as they can, 
  • laborers want to earn as much as possible, and 
  • capitalists want to invest it so that it can return more. 

There is the potential for much conflict in these arrangements. 

  • Each person, as consumer, wants to pay as little as possible for commodities; 
  • while the same person, as laborer, wants to earn as much as possible, thus driving up prices. 
  • The capitalist wants to pay each person, as laborer, as little as possible, but wants the person, as consumer, to earn enough to purchase the commodities from which profits accrue. 

Yet each role also reinforces the other: 

  • The capitalist is dependent on the laborer to perform services and produce products and on the consumer to buy them;
  •  the laborer is dependent on the capitalist for employment and wages. 

Furthermore, each role disciplines and drives the other: 

  • the consumer in each person, desiring to acquire commodities and the status they may convey, accumulates debt; to pay off the debts accummulated to purchase status-bearing commodities, 
  • the consumer must labor to acquire money 
  • or must, in the role of capitalist, make investments hoping for greater returns."

[Robbins, Richard H. <1940 - >: Global problems and the culture of capitalism. -- Boston [u.a.] : Allyn and Bacon, ©1999.  -- ISBN 0205193374. -- S. 6. ]

Hier werden die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Beziehungen wesentlich von den Interessen derer bestimmt, die über das Kapital verfügen (z.B. in USA, Thailand, China (Frühkapitalismus). Folgende Merkmale sind dafür charakteristisch:

Phasen:

 

 

 

Kapitalismus wird von in frühere Wirtschaftsformen Eingebundenen zu Recht als revolutionär empfunden:

"[T]he central fact that it has been capitalism that has historically transformed societies and broken apart existing relations of production. Even a casual glance at the record will show that capitalist development continually requires the violation of the previous "social contract" which in most cases it had earlier helped to create and sustain. The demystification of an existing hegemony is thus accomplished at least as much by the inevitable disregard for custom inherent in capitalism as by the "penetration" of subordinate classes themselves. The history of capitalism could, in fact, be written along just such lines. 

  • The enclosures, 

  • the introduction of agricultural machinery, 

  • the invention of the factory system, 

  • the use of steam power, 

  • the development of the assembly line, 

  • and today the computer revolution and robots 

have all had massive material and social consequences that undermined previous understandings about work, equity, security, obligation, and rights.

.. this background of the transforming power of capitalism -- its tendency to undermine radically the past and the present. Raymond Williams vividly captures the process:

Since it has become dominant in one area after another, it has been uncontrollably disturbing and restless, reaching local stabilities only almost at once to move away from them, leaving every kind of social and technical debris, disrupting human continuities and settlements, moving on with brash confidence to its always novel enterprises.

This is also what Brecht must have had in mind when he claimed that it was not socialism, but capitalism, that was revolutionary.

The backward-looking character of much subordinate class ideology and protest is perfectly understandable in this context. It is the revolutionary character of capitalism that casts them in a defensive role. If they defend a version of the older hegemony, it is because those arrangements look good by comparison with the current prospects and because it has a certain legitimacy rooted in earlier practice. The defense and elaboration of a social contract that has been abrogated by capitalist development is perhaps the most constant ideological theme of the peasant and the early capitalist worker .... The same defense of beleaguered traditional rights is found at the core of popular intellectual attacks on capitalism by figures as ideologically diverse as Cobbett, Paine, and Carlyle."

[Scott, James C.: Weapons of the weak : everyday forms of peasant resistance. -- New Haven [u.a.] : Yale University Press, ©1985. -- ISBN 0300036418. -- S. 346f.]


17.2. Sozialismus


Nach marxistischer Auffassung ist der Kapitalismus nur ein Stadium auf dem Weg zu Sozialismus und Kommunismus.

Das DDR-Lehrbuch

Politische Ökonomie Sozialismus : Anschauungsmaterial. -- [Aus dem Russischen übersetzt]. -- Berlin : Dietz, 1974. -- S. 5

definiert:

"Ökonomische Gesetzmäßigkeiten der Entstehung und Errichtung des Sozialismus

»Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts anderes sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats.« Karl Marx [Kritik des Gothaer Programms, 1875]

Unterschiede zwischen der sozialistischen und der bürgerlichen Revolution
Sozialistische Revolution Bürgerliche Revolution
Umwandlung des Privateigentums an den Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigentum und Beseitigung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen Ersetzung des feudalen Privateigentums an den Produktionsmitteln durch kapitalistisches Privateigentum und der feudalen Ausbeutung durch die kapitalistische
Sozialistische Produktionsverhältnisse entstehen nicht im Schoße des Kapitalismus Kapitalistische Produktionsverhältnisse entstehen und entwickeln sich als Wirtschaftsformen im Schoße des Feudalismus
Beginnt mit der Eroberung der Macht Endet mit der Eroberung der Macht

 

Allgemeine Gesetzmäßigkeiten des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus
Die sozialistische Revolution in dieser oder jener Form, die den Sturz, die Ersetzung der Staatsmaschinerie der Ausbeuter einschließt

Errichtung dieser oder jener Form der Diktatur des Proletariats, Verwirklichung des Bündnisses mit den anderen Schichten der Werktätigen, Liquidierung der Ausbeuterklassen

Vergesellschaftung der Produktionsmittel und Schaffung sozialistischer Produktions- und anderer gesellschaftlicher Verhältnisse in Stadt und Land

Aneignung der Errungenschaften der Kultur durch die breiten Massen der Werktätigen, das heißt Kulturrevolution im Leninschen Sinne des Wortes"

Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel geschieht folgendermaßen:


Abb.: Sozialistische Vergesellschaftung der wichtigsten Produktionsmittel (Quelle: a.a.O., S. 6)

Das, was die wirklich Unterdrückten unter "Sozialismus" verstehen, unterscheidet sich meist beträchtlich von dem, was machtgierige Angehörige der Oberschicht (Intellektuelle usw.) darunter verstehen:

"Even when such slogans as "socialism" take hold among subordinate classes, they are likely to mean something radically different to the rank and file than to the radical intelligentsia. What Orwell had to say about the English working class in the 1930s is almost surely true for lower classes in general:

»The first thing that must strike any outside observer is that socialism in its developed form is a theory confined entirely to the middle class.

For it must be remembered that a working man . . . is seldom or never a socialist in the complete logically consistent sense . . . . To the ordinary working man, the sort you would meet in any pub on Saturday night, socialism does not mean much more than better wages and shorter hours and nobody bossing you about. To the more revolutionary type who is a hunger-marcher and is blacklisted by employers, the word is a sort of rallying cry against the forces of oppression, a vague threat of future violence . . . . But I have yet to meet a working miner, steelworker, cottonweaver, docker, navvy, or whatever who was "ideologically" sound.

One of the analogies between Communism and Roman Catholicism is that only the educated are completely orthodox.«

[Orwell, George <1903 - 1950>: The road to Wigan Pier. -- London : Gollancz, 1937. -- S. 173, 176f.]

The observation is of course nothing more than the intellectual division of labor one might expect in any class-based movement between workers or peasants whose struggle must grow directly from the realities of material life and an intelligentsia whose sights are set an a more distant horizon. The division of labor in this case, as in others, is not only a complimentarity but carries within it the possibility of conflict as well."
[Scott, James C.: Weapons of the weak : everyday forms of peasant resistance. -- New Haven [u.a.] : Yale University Press, ©1985. -- ISBN 0300036418. -- S. 349]

17.3. Zum Beispiel: moderner chinesischer "Sozialismus"


Im äußerst lesenswerten Buch

Seagrave, Sterling: Die Herren des Pazifik : das unsichtbare Wirtschaftsimperium der Auslands-Chinesen. -- München : Limes, ©1996. -- ISBN 3809030007. -- Originaltitel: Lords of the rim : the invisible empire of the overseas Chinese (1995). -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch bei amazon.de bestellen}

schildert der Autor sehr eindrücklich das moderne Wirtschaftssystem der Volksrepublik China:

[S. 351] "In den neunziger Jahren erlebt Kontinentalchina den größten Konsumentenboom der Geschichte. China ist jetzt schon, nach den Vereinigten Staaten und Japan, die drittgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, und im Jahr 2010 könnte es die Nr. 1 sein. Dieser Aufbruch aus der Armut hat weniger als 15 Jahre gedauert. 1978, als die Veränderung begann, setzte in China ein Wachstum von neun Prozent im Jahr ein. Mit diesem Wachstum verdoppelt sich die Wirtschaft alle acht Jahre. Die leeren Läden Chinas füllten sich mit Konsumgütern und begeisterten Kunden. Die einst von Roten Garden durchfluteten Straßen verstopften bald immer mehr ausländische Wagen, die sich zwischen den Fahrrädern und Bussen durchzwängten. Reklameschilder tauchten überall auf, die Waren anpriesen, die sich noch ein paar Jahre zuvor nur hohe kommunistische Funktionäre hatten leisten können. 1993 hat sich Chinas Wachstumsrate auf 13 Prozent jährlich und 1994 auf 19 Prozent jährlich erhöht, was die chinesische Wirtschaft zur schnellstwachsenden der Welt in drei Jahren hintereinander machte. Die südchinesischen Küstenprovinzen Fukien und Kwangtung wuchsen aber noch schneller, nämlich um über 30 Prozent im Jahr. Auch Inlandsprovinzen wie Szechuan erlebten ein erstaunliches Wachstum. Dramatische Veränderungen im Land entfesselten soziale und politische Kräfte, die aus dem Ruder zu laufen schienen. Berichte von gewaltsamen Unruhen und von Regionen, die von bewaffneten Banden beherrscht wurden, drangen an die Öffentlichkeit. In einem Parteidokument wurde gewarnt, Peking könne die Kontrolle verlieren und China könne auseinanderbrechen und in neue Gruppierungen zerfallen. 

[S. 352] In China ist es üblich, sich auf Erdbeben einzurichten, wenn die Tiere auf dem Lande ein seltsames Verhalten an den Tag legen, für das es keine vernünftige Erklärung gibt, und wenn Küchenschaben die Berge hinaufkrabbeln. Solche Zeichen sah man überall. Chinesische Yuppies wuschen ihr Haar mit Shampoo von Procter & Gamble, begannen den Tag mit Nescafe, fuhren in neuen Toyotas zur Arbeit, hatten in der Hemdtasche einen elektronischen Cityruf und besuchten abends die Karaoke-Bars, wo sie zu Musikvideos sangen und Hennessy-Cognac mit Coca Cola tranken. Sie kauften neue Jeans, Pullover und Tangas, die sie per Katalog in Hongkong orderten. Es lag ein Übermut und eine Zuversicht in der Luft, wie sie in Detroit oder Philadelphia nicht zu finden waren. Die Lebenserwartung, die 1949, zur Zeit der Machtübernahme durch Mao, 35 Jahre betrug, hatte sich 1991 auf siebzig Jahre erhöht. Als der Durchschnittsjahresverdienst die 1400-Dollar-Grenze überstieg, konnten sich die meisten Chinesen zum erstenmal in ihrem Leben Konsumartikel wie einen Kühlschrank kaufen. Bei einer Bevölkerung von über 1,2 Milliarden hieß das, dass in einem kurzen Zeitraum mehr Menschen der Armut entrannen als jemals zuvor in der Geschichte. Das geht sicher nicht ohne Probleme, aber Chinas ökonomische Langzeitaussicht war schlicht phantastisch. Ökonomische Meldungen solcher Größenordnung weckten auch den Westen schlagartig aus seiner Lethargie. Die enorme Vitalität »Groß-Chinas« und Asiens im ganzen war zweifellos in der Lage, die Weltwirtschaft auf Jahrzehnte hinaus zu stimulieren.

Eine Art Goldrausch erfasste den Westen, und westliche Firmen standen Schlange, um Konzessionen in China zu bekommen. China war bereits der größte Markt für amerikanische Flugzeuge, Elektrizitätswerke und Telekommunikationssysteme -- aber wohin auch immer die westlichen Firmen kamen, überall waren die Auslandschinesen schon vor ihnen dagewesen. In den achtziger und Anfang der neunziger Jahre hatten sie den kontinentalchinesischen Boom in Gang gebracht und geleitet. Sie alarmierte (und freute) auch als erste das Bröckeln der zentralen Kontrolle, die Peking bis dahin ausgeübt hatte. Während andere ausländische Investoren ihr Kapital entschlossen ins Land hineinpumpten, zogen sich [S. 353] einige auslandschinesische Tycoons zurück und engagierten sich anderwärts in der Erwartung eines Gewaltausbruchs, möglicherweise auch des Zerfalls der Volksrepublik China nach Dengs Tod. Visionäre sahen die Entstehung mehrerer chinesischer Staaten voraus. Südchina könnte erneut von Peking unabhängig werden oder sogar in mehrere einzelne Staaten zerfallen. Eine Studie in Taiwan sprach von einer künftigen Union der Insel mit der gegenüberliegenden Provinz Fukien. Anders als beim Zerfall der Sowjetunion, bei der Rußland die meisten Sowjetrepubliken in die Armut entlassen hatte, könnten viele der neuen chinesischen Staaten reich und mächtig werden. In Anbetracht ihrer traditionellen Abneigung gegenüber der Zentralregierung wäre es sehr gut möglich, dass sich die großen Syndikate in Fukien und Kwangtung auf eine Abspaltung vorbereiteten. Manche Analytiker meinen, die Volkbefreiungsarmee halte die Zügel in der Hand, aber von ihr weiß man, dass auch sie in eigene regionale Machtzentren zerfällt und ebenfalls den zentrifugalen Kräften ausgesetzt ist.

Seit 1949 hatte China die Gleichheit erreicht, aber ohne Freiheit oder Prosperität. Die Partei war durch den Großen Sprung und die Bewegung der Roten Garden diskreditiert. Die kommunistische Doktrin war unglaubwürdig geworden. Ideologie und Terror vermochten die chinesische Gesellschaft nicht mehr zusammenzuhalten. Die zentral gelenkte Wirtschaft begann zu stagnieren. Als Deng und die Parteiführung einen Zusammenbruch nach dem Muster der Sowjetunion fürchten mussten, beschlossen sie 1979, lieber die Macht zu behalten und den Kommunismus zu opfern. Sie suchten Unterstützung bei der Bevölkerung, verteilten nie vorher dagewesene materielle Wohltaten und befreiten die Wirtschaft von der Reglementierung durch die Partei. An die Stelle der -- freilich nur gepredigten -- Solidarität trat nun die Habgier. In Peking ersetzte die Diktatur der Rechten problemlos die der Linken. Ihre Hauptsorge galt eindeutig nicht der Ideologie, sondern dem Machterhalt. Die wirtschaftliche Liberalisierung half auch die persönlichen finanziellen Wünsche der Parteiführung zu bemänteln. Die Habgier ist schon immer das Monster im Wandschrank des Konfuzianismus gewesen.

[S. 354] Deng und seine Genossen hatte der blendende ökonomische Erfolg Hongkongs, Singapurs und Taiwans beeindruckt. Besonders hatte es ihnen Singapurs autoritäre chinesische Regierung angetan, die rasches wirtschaftliches Wachstum mit strikter politischer und sozialer Kontrolle verband. Singapur rief die konfuzianischen Werte ins Gedächtnis, die als Hebel dienen konnten, um durch ein strikt hierarchisches System die Ordnung aufrechtzuerhalten. In den vergangenen Jahrzehnten übte Lee Kuan Yews scharfsinnige und eloquente politische Philosophie auf Peking und andere asiatische Regierungen, sogar auf das ewig zögernde Hanoi und Rangoon, einen zunehmenden Einfluss aus. Lee, der einflussreichste Denker des asiatischen Aufstiegs, wurde die unsichtbare Hand hinter dem kontinentalchinesischen Boom und dem aufstrebenden »Groß-China«. 

In bewusster Nachahmung Singapurs wandelte Deng China in eine neue Art konfuzianischer Diktatur um, in einen jetzt aufgeklärten, dem Profit geweihten totalitären Staat. Der chinesische Kommunismus ist nicht mehr Gleichheit ohne Freiheit und Prosperität, sondern er ist jetzt Prosperität ohne Gleichheit und Freiheit. Wer genug Geld hat, sehnt sich nicht nach Gleichheit und kann sich alle Freiheiten kaufen, die er sich wünscht. 

Zum erstenmal seit dem 14. Jahrhundert ermunterte die Zentralregierung Chinas die Bürger aktiv, sich dem privaten Handel zu widmen und Profit zu machen. Das Mondtor wurde ein wenig geöffnet, um ausländische Firmen hereinzulassen. Das Experiment begann in den prädestinierten Regionen, in den Provinzen Kwangtung und Fukien, wo der unternehmerische kapitalistische Geist von Yueh und dem Südlichen Sung bis heute existiert. 14 Städte entlang der Küste wurden zu »offenen Städten« gemacht. Sie bekamen einen Sonderstatus und Steuervorteile, um ausländische Investoren anzulocken. Vier Ökonomische Sonderzonen wurden geschaffen, die sogar noch größere wirtschaftliche Privilegien erhielten. Drei der vier Zonen lagen in der Provinz Kwangtung. Shenzhen liegt an der Grenze der »New Territories« Hongkongs. Zhuhai liegt an der Mündung des Perlflusses gegenüber von Macao. Shantou (Swatow) ist das Heimatland der [S. 355] Teochiu. Zur Wahl Shantous äußerte sich die kommunistische Partei sehr offen: »Shantou ist der Geburtsort vieler Überseechinesen. Die Region kann sich der Mittel der Auslandschinesen und Ausländer bedienen.« Fukien hat eine einzige Sonderzone in Xiamen (Amoy). Außerdem wurden 14 Hafenstädte zu Sonderzonen für den Handel erklärt. Die meisten liegen in den südlichen Provinzen, darunter Ningpo, Shanghai, Wenzhou (Wenchow), Fuzhou, Guangzhou (Kanton), Zhanjiang (Chan-chiang), Beihai (Pei-hai) und die Insel Hainan. Deng gab auch seiner Heimatprovinz Szechuan im Südwesten Chinas großzügige ökonomische Privilegien. Sie ist traditionell eine der reichsten Provinzen im Inneren des Landes.

Abb.: China: Economic and Technology Development Zones

1.Dalian 2.Shenyang 3.Changchun 4.Harbin
5.Yingkou 6.Xi'an 7.Urumqi 8.Tianjin
9.Beijing 10.Qinhuangdao 11.Qingdao 12.Yantai
13.Weihai 14.Shijiazhuang 15.Huhhot 16.Shanghai Minhang
17.Shanghai Caohejin 18.Shanghai Hongqiao 19.Nantong 20.Lianyungang
21.Suzhou Industrial Park 22.Kunshan 23.Hangzhou 24.Ningbo
25.Wenzhou 26.Xiaoshan 27.Ningbo Daxie 28.Hefei
29.Wuhan 30.Chongqing 31.Nanjing 32.Wuhu
33.Jiujiang 34.Nanchang 35.Changsha 36.Yueyang
37.Huangshi 38.Guangzhou 39.Zhanjiang 40.Huizhou
41.Nansha 42.Dongshan 43.Rongqiao 44.Fuzhou
45.Kunming 46.Nanning 47.Guiyang 48.Chengdu

[Quelle: http://www.sezo.gov.cn/kfqe.htm. -- Zugriff am 1999-12-27. -- Am 2001-02-22 toter Link]

Hunderte von Millionen Chinesen sind immer noch bettelarm, aber diese rasche Veränderung hat in ihnen die Hoffnung
geweckt, dass sie durch harte Arbeit und mit ein wenig Glück jetzt endlich eine Chance haben. Die universelle Botschaft
lautet: Jeder kann zu Wohlstand kommen, ja sogar reich werden, obwohl einige schneller reich werden dürften als
andere. Die Illusion der Gleichheit wurde durch die Illusion der Chancengleichheit ersetzt. Dass schneller reich wird, wer
schlau, skrupellos oder kriminell ist, bedeutet nur die offizielle Anerkennung einer Tatsache, die den Chinesen immer
bekannt war und die keine Regierung hat ändern können. Ob Kader oder Mandarine, manche verschaffen sich immer
Vorteile vor anderen. Wie die Chinesen sagen: »Das Geld verbirgt tausend Fehler.«

... Das Hauptkapital Fukiens und Kwangtungs war immer ihr Beziehungsgeflecht ins Ausland gewesen. Von [S. 356] 1949 bis 1979 betrachtete man diese Beziehungen als subversiv, weil ihnen Stammes-Loyalitäten zugrunde lagen, die nicht durch Loyalität gegenüber der Partei ersetzt werden konnten. 1979 bewirkte Dengs Dezentralisierung der Kontrolle über die chinesische Wirtschaft eine radikale Umkehr der Verhältnisse. Provinzen, die man wie Platanen rücksichtslos zurechtgestutzt hatte, durften jetzt wieder ihre kommerziellen Triebe wachsen lassen, und man ermutigte sie, ihre Beziehungen zu den ausländischen Netzwerken der Chinesen zu erneuern. Gleichzeitig gab Peking sich große Mühe, versöhnliche Beziehungen zu den Nachbarstaaten anzuknüpfen und durch Entwaffnung seiner regionalen Kritiker den Handel anzukurbeln. Alle Syndikate der Auslandschinesen hatten über Hongkong ihre Untergrundkontakte zur Heimat der Väter aufrechterhalten. Als China sich öffnete, erneuerten die großen Häfen Fukiens diskret ihre direkten Syndikat-Beziehungen nach Taiwan, Japan und Südostasien. Kantonesische und Teochiu-Syndikate verstärkten ihren Schmuggel von Hongkong nach Kwangtung. 

Parallel zu Dengs wirtschaftlicher Liberalisierung verlor 1984 auf Taiwan das Haus Chiang Kai-shek die Macht. Jetzt wurde es für Auslandschinesen politisch ungefährlich, offen und aggressiv die Beziehungen zu Kontinentalchina wiederherzustellen. Sie befanden sich in einer einzigartigen Situation und profitierten von der Gunst der Stunde. ... 

Außerdem war die Schaffung der ökonomischen Sonderzonen eine direkte Einladung an die auslandschinesischen Investoren und die stammesmäßigen Loyalitäten der Hakka, Hokkien, Hokchiu, Henghua, Teochiu, Kantonesen und Hainanesen. Wer konnte einer so unverblümten Aufforderung, [S. 357] Geld in das Land der Väter zu pumpen, widerstehen? Sie wirkte Wunder.

Seit 1979 hat China fast 60 Milliarden Dollar an ausländischen Geschäftsaufträgen und fast dieselbe Summe in Anleihen von ausländischen Banken, privaten Kreditgebern und internationalen finanziellen Institutionen erhalten. Mehr als 80 Prozent dieses Kapitals kam von auslandschinesischen Quellen oder durch deren Vermittlung herein. Von den Unternehmungen in Kontinentalchina, die mit beträchtlichem Auslandskapital betrieben werden, haben die Auslandschinesen 75 Prozent finanziert. Zwei Drittel dieses Geldes kommen allein von den Auslandschinesen in Hongkong und Taiwan. Die Investitionen in China, die aus Hongkong und  Taiwan stammen, sind zehnmal höher als die Investitionen aus Japan.

Anders als die großen ausländischen Firmen, die in den achtziger Jahren nach Peking eilten, um Geschäfte abzuschließen, die sich oft als miserabel herausstellten, kehrten die Auslandschinesen zu ihren Urväterdörfern zurück, um Geschäfte mit ihrem Stamm zu tätigen. Bittere Erfahrung hatte sie gelehrt: »Bleibe verborgen und halte dich fern des Zentrums.« Viele Auslandschinesen handelten aus emotionalen Gründen, aber auch vom stammesmäßigen Eigeninteresse angetrieben, das ständig die Macht des Stammes in der Heimat zu erneuern und zu erweitern trachtet. Bis zu einem vielleicht nahen
Zeitpunkt sahen und sehen sie in Kontinentalchina eine glänzende Gelegenheit, Geld zu verdienen. Dieser »Zeitpunkt« wird jedoch erreicht sein, wenn politische Unruhen in Kontinentalchina die finanziellen Chancen zunichte machen. Man  muss ihre riesigen Investitionen als ein Glücksspiel betrachten, das sich bezahlt machen wird, wenn die Provinz, aus der sie stammen, so unabhängig wird, dass sie in einem künftigen China eine bedeutende Rolle spielen kann oder dass sie sogar ein unabhängiger Staat wird. Was in China schon einmal geschehen ist, kann ohne weiteres wieder so werden.

Die Chinesen haben gelernt, in langen Zeiträumen zu denken. ... [S. 358] Aber sie alle wissen, dass ihre Investitionen in Gefahr geraten, sobald Peking die Macht verliert. Deshalb verwundert es kaum, dass sie nicht ihr eigenes Geld in der Volksrepublik China investieren. Wo immer das möglich ist, agieren sie als Chinakenner im Auftrag anderer Unternehmer und erzielen dabei selbst einen satten Gewinn. Ihr eigenes Geld bleibt im Ausland -- in Sicherheit.

So wenig das den indonesischen oder malaiischen Chauvinisten gefallen wird: Die auslandschinesischen Tycoons behaupten, sie brächten den größten Teil ihrer Investitionsfonds für China im Ausland zusammen und entzögen sie nicht ihren Gastländern. Angesichts der Geheimnisse der chinesischen Buchführung wird man das jedoch niemals beweisen oder widerlegen können. Obwohl sie sich den Dörfern ihrer Ahnen verbunden fühlen, haben die meisten Auslandschinesen keine starke Bindung an China als Nation. Rund 90 Prozent sind jetzt Staatsbürger ihrer Gastländer. So ist die Behauptung unzulässig, ihre Anhänglichkeit an ihren Herkunftsort in China stelle eine Untreue gegenüber dem Land dar, in dem sie jetzt ansässig sind. Viele Chinesen, die in Malaysia leben, fühlen zum Beispiel eine tiefe Verpflichtung gegenüber ihrem Herkunftsort in China, betrachten aber Malaysia, und nicht China, als ihre eigentliche Heimat.

Die Ressourcen, über die sie verfügen, sind gewaltig. Das Bruttosozialprodukt der 55 Millionen Auslandschinesen (einschließlich Taiwans und Hongkongs) liegt bei rund 450 Milliarden US-Dollar jährlich und ist damit um ein Viertel höher als das BSP der Volksrepublik. Die Auslandschinesen verfügen über eines der größten Reservoirs an liquidem Kapital in der Welt. Die Bankeinlagen in Taiwan allein belaufen sich auf über 300 Milliarden US-Dollar. Man rechne die Goldreserven und die versteckten Gelder hinzu, und das verfügbare Kapital erreicht damit zusammen das Doppelte des taiwanesischen Betrages -- über 600 Milliarden US-Dollar. Weltweit verfügen die Auslandschinesen wahrscheinlich über liquides Kapital (Wertpapiere nicht mitgerechnet) im Wert von zwei Billionen (2000 Milliarden) US-Dollar. Japan mit einer nahezu doppelt so großen Bevölkerung hat nur ein Drittel mehr Vermögen (1990 waren es drei Billionen US-Dollar). ...

[S. 359] Dieses Kapital wird durch das einzigartige soziale System der Guanxi -- der Beziehungen -- bewegt. Alles lässt sich durch Guanxi finanzieren. Hunderte von Büchern sind auf Chinesisch darüber geschrieben worden, aber man braucht immer noch ein ganzes Leben, um die Feinheiten beherrschen zu lernen. Guanxi wuchs aus einer landwirtschaftlich organisierten Gesellschaft, in der die Leute mit Nachbarn, Verwandten und Freunden von Freunden Gefälligkeiten austauschten. Wie die Fischer machen die Chinesen Netze aus Guanxi, in denen die Knoten durch Heirat, Schulbesuch, Klubs und Geheimgesellschaften -- sowohl zeitlich vorwärts als auch rückwärts geknüpft werden. Sie können von dem Guanxi profitieren, das ihre Mutter oder ihr Großvater aufgebaut hat. Es läßt sich vererben und übertragen. Unter dem Kommunismus wurden Geschäfte nicht des Gewinns wegen, sondern für Guanxi arrangiert -- eine andere Art von Sicherheit, die die offiziellen Kanäle umgeht. Guanxi erleichtert das Leben ungeheuer. ...

[S. 360] Guanxi ist die einzige Art, wie man innerhalb Chinas Geschäfte betreiben kann. Dadurch kommt man an die besten Gelegenheiten und die besten Preise. Guanxi ist an Orten lebendig, wo es, wenn überhaupt, wenige gesetzliche Kontrollen gibt. An einem solchen Ort ist man ohne Guanxi völlig hilflos. ..."

[S. 365] "Dengs Kampagne des ökonomischen Liberalismus hat in China eine neue Generation von Millionären geschaffen, die die Auslandschinesen als ihre Vorbilder betrachten. Einige sind geistig beschränkte Schieber und Gauner, andere aber sind einfach »begabte Leute«. Vielleicht der reichste private Geschäftsmann, der mit der ersten Welle emporstieg, war Zhang Guoxi. Er besitzt ein Gesamtvermögen von über 50 Millionen US-Dollar. Zhangs Guoxi-Gruppe exportiert teure buddhistische Altäre und komplizierte Holzschnitzereien, aber er investiert jetzt auch in Immobilien und in den Handel. Als begabter Politiker hält er die Beamten mit traditionellen Mitteln bei Laune. Die neuen Millionäre drücken Peking gegenüber nur dann ihre Dankbarkeit aus, wenn sie die unvermeidlichen Bankette geben. Die lange Geschichte des Verrats der Beamten ist nur allzugut bekannt. ... 

[S. 366] Die größten Unternehmer auf dem Festland sind korrupte Regierungsbeamte und Kinder von Politbüromitgliedern. Als Deng verkündete: »Reich werden ist ehrenvoll«, fügte er hinzu, nicht jeder könne gleich schnell reich werden. Großzügig nahmen die Leute an, er meine damit, dass manche Menschen aggressiver oder skrupelloser sind. Aber auch die Günstlingswirtschaft spielt nach wie vor eine große Rolle. 1985 schuf Peking als Teil seines Versuchs, eine freie Marktwirtschaft einzuführen, ein duales Preissystem. Einflussreiche Leute konnten vom Staat billig Güter erwerben und sie dann teuer auf dem freien Markt verkaufen. Deng und Premier Li Pengs Söhne waren beide an diesem Geschäft beteiligt. Sie wurden so reich, dass sie sich bald in jedes Unternehmen einkaufen konnten, das sie haben wollten. ... In Peking wie in Tokio und anderswo ist Korruption an der Tagesordnung. Reinheit ist etwas für die Religion, und nicht für die Regierung. Die Kinder des Politbüros mögen sich sicher fühlen, weil sie Millionen im Ausland haben, aber ein plötzlicher politischer Umschwung könnte sie überraschen, genau wie Deng selbst zweimal von der Kulturrevolution überrascht wurde.

Die Hälfte aller Geschäfte in der Volksrepublik wird mit offener Korruption betrieben. Ausländische Investoren stellen fest, dass sie mehr für Schmiergelder als für Lohnkosten, Grund und Boden und Material ausgeben. Im Import-Export [S. 367] Handel sind Nebengeschäfte so alltäglich, dass zweistellige Milliardenbeträge in Dollars auf geheimen Auslandskonten landeten. Die Methode wird »Fehl-Fakturierung« genannt. Exporte werden kleiner, Importe größer dargestellt. Kontakte sind »stir-fried« (rühr-gebraten), d. h. auf zehn Prozent über dem vereinbarten Preis ausgestellt. Die Differenz wird auf Auslandskonten geparkt. Das kantonesische Sprichwort trifft hier zu: »Hot wok, cold oil, food no stick.« (Heißer Kochtopf, kaltes Öl, dann brennt nichts an.)

In Nachahmung der Auslandschinesen bringt die neue Elite in der VRC [Volksrepublik China] ihr Geld ins Ausland und löst damit eine der größten finanziellen Flutwellen der Geschichte aus. Millionen werden von wenigen zusammengerafft, während dem Unterbau der Gesellschaft Milliarden entzogen werden. 1990 landeten rund neun Milliarden US-Dollar von Chinas Deviseneinnahmen auf Bankkonten in Drittländern. 1992 war dieser abgezweigte Betrag schon auf 28 Milliarden US-Dollar gestiegen. Vermutlich wird er bald 40 Milliarden pro Jahr betragen.

Wie die Tycoons kaufen Chinas Neureiche Stahlwerke in Amerika, Papiermühlen in Kanada und Hotels in aller Welt. ...

Um in dem schnellen Marsch nicht zurückzubleiben, hat die Volksbefreiungsarmee viele Millionen Dollar in Hongkong auf dem Grundstücksmarkt angelegt, einige mit Gewinnen aus dem Tauschhandel mit Waffen gegen Drogen. Als Burmas verarmtes Militärregime kürzlich Heroinprofite aus dem Goldenen Dreieck zum Kauf von chinesischen Waffen für eine Milliarde US-Dollar benützte, ging das Geld über die Kanäle der Bank for Credit and Commerce International (BCCI) an die Volksbefreiungsarmee und deren Parteigenossen. Ein großer Teil wurde gleich auf Privatkonten im Ausland weitergeleitet. ..."

Abb.: Riesenplakat mit Deng Xiaoping [1904 - 1997] "Die Grundlinie der Partei wird sich in 100 Jahren nicht verändern", Neue Wirtschaftszone Shenzhen, China, 1997 (©Corbis)

[S. 369] "Die Korruption wurde exzessiv. Chinas ökonomische Sonderzone boomte wild, und jetzt verlagerten auch viele Kriminelle ihr Tätigkeitsfeld von Hongkong nach Shenzhen. Ein Markt für gestohlene Autos und eine neue Basis für die [S. 370] Teochiu-Heroin-Geschäfte entstand. Der Perlfluss rauschte vor Schwarzgeld. Shenzhens Banken wuschen das Geld fleißig in bewährter Manier. Von diesen Banken finanzierte Joint-Ventures brachten weltweit geradezu groteske »Firmengründungen« hervor: In Jersey, Guernsey, Monaco, Panama, Luxemburg, Liberia und auf den Cayman-Inseln wurden Briefkasten-Firmen mit deutlich asiatischen Zügen eingetragen.

Die Bankiers von Shenzhen ließen sich in blitzblanken Limousinen von Jaguar und Mercedes zur Arbeit chauffieren, die Diebesbanden im Ausland gestohlen hatten. Fischerboote schleppten einige dieser heißen Autos an riesigen Ballons hängend an Land, die dicht über der Meeresoberfläche schwebten. Die Frau eines Bankmanagers in Shenzhen fuhr in einem neuen BMW zum Einkaufen, an dem noch der Aufkleber »New York Athletic Club« haftete.

Ländliche Gegenden wollten nicht zurückstehen und starteten eigene Unternehmungen, die den aufgeblähten Monopol-Firmen der Zentralregierung Konkurrenz machten. Wohlweislich hatte Deng die landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft aufgegeben und die Familie als Hauptproduktionseinheit reinstalliert. Die meisten Preiskontrollen für landwirtschaftliche Erzeugnisse fielen weg. Die ländlichen Einkünfte stiegen in manchen Gegenden steil an. Ehrgeizige Landwirte wurden über Nacht Unternehmer und bauten kleine ländliche Industrien auf. Sie bestachen Beamte, um an Rohmaterial zu Festpreisen aus staatlichen Fabriken zu kommen. Diese ländlichen Unternehmen erzeugen jetzt über 30 Prozent der Industriegüter der Volksrepublik und finanzieren lokale Schulen, Wohlfahrtseinrichtungen, den Gesundheitsdienst und das Transportsystem mit dem Tontine-System: Wenn das Unternehmen gut läuft, leben alle gut. Wenn es schlecht läuft, leben alle schlecht. Das ermutigt den neu geweckten Familiengeist, und Manager erfolgreicher Unternehmen werden wie Helden gefeiert, denn »wenn der Bauch dick ist, ist der Kaiser fern«.

Da gewisse Provinzen und städtische Zentren schneller prosperierten als andere (merklich besser die mit guten Verbindungen im Ausland), fühlten sich ärmere Regionen [S. 371] benachteiligt, und die Bauern rebellierten. Nach der Privatisierung der Kommunen krochen ländliche Triaden aus ihren Schlupflöchern, die die geheimen Ressourcen besaßen, um die guten Geschäfte an sich zu reißen. Leute mit Einfluss und Guanxi -- Parteikader, Verwandte, Freunde -- kauften Traktoren, Lastwagen, Quellen, Pumpen und Maschinen zum Drittel des üblichen Preises. Manche finanzierten ihre Geschäfte mit den billigen Staatsbankdarlehen und zahlten sie dann nicht mehr zurück. Bauern, die schnell reich werden wollten, bevor die Regierung es sich anders überlegte, hackten und schlachteten alles ab, was sie verkaufen konnten. Aggressive ländliche Unternehmer schüchterten die Zögerlichen ein und beuteten sie aus. Gangs sicherten sich ländliche Monopole für Melonen und Mangos. Alte Loyalitäten wurden wieder mächtig, was die Macht der Partei weiter schwächte. Eine lokale Führung wurde benötigt, weil niemand mehr wusste, worauf er sich verlassen konnte. Was alle am meisten fürchten (und sich zugleich wünschen), ist der Zusammenbruch der Zentralgewalt in Peking. Dann würden zweifellos Chaos und Gewalt folgen. ...

So entwickelten sich einige Provinzen zu wirtschaftlich unabhängigen Königreichen. Auf der Insel Hainan zum Beispiel, eine der 14 im Jahre 1984 geschaffenen ökonomischen Sonderzonen, führten örtliche Beamte Tausende von steuerfreien Kleintransportern ein und verkauften sie dann zu gesalzenen Preisen in den anderen Provinzen Chinas."

Abb.: Lee Kuan Yew (geboren 1923, Prime Minister von Singapur 1959 - 1990)

Abb.: Thomas Jefferson (1743 - 1826, Präsident der USA 1801 - 1809), Porträt von Rembrandt Peale, 1800 (©Corbis)

[S. 373] "Trotz der Bemühungen der Auslandschinesen, sich als modern und liberal (im chinesischen Sinne) darzustellen, ist kein auslandschinesischer Milliardär dadurch reich geworden, dass er demokratisch oder aufgeklärt gewesen wäre. Der Konfuzianismus selbst ist ein Loblied auf die Ungleichheit. Wenige chinesische Reformer würden das Wahlrecht den [S. 374]  »dreckigen Beinen« zugestehen -- den ungebildeten Bauern, die die große Mehrheit der Chinesen ausmachen. Die Vorstellung der chinesischen Elite von dem, was Demokratie ist, ähnelt mehr der Version Thomas Jeffersons, für den die Haltung von Negersklaven und das Verfassen von Menschenrechtserklärungen durchaus vereinbar waren, als dem Populismus eines Andrew Jackson. Weise und tugendhafte Führer, von ihresgleichen ausgewählt, sollten zum Wohle aller und der Nation den politischen Kurs bestimmen. In diesem Sinne ist der Präsident Singapurs, Lee Kuan Yew, der Thomas Jefferson des pazifischen Raums. Letzten Endes ist aber doch die Tyrannei die Regierungsform, mit der China am besten vertraut ist. Opposition oder abweichende Meinungen mit Gewalt zu unterdrücken, stört das Regime in keiner Weise. Zu Chinas Erfahrung gehört es, dass ein Regime nicht gewinnt, wenn es Schwäche oder Mitgefühl zeigt und bei der Niederschlagung von Aufständen zögert."

Abb.: Lage von Singapur (Quelle: CIA)

Abb.: Geschäftsviertel von Singapur am Singapore-River (©Corbis)

[S. 375] "Interessanterweise hat sich Singapur in Fragen der Wirtschaftsethik der Haltung Nordchinas angeschlossen. Das südchinesische Geschäftsleben hingegen ist schnell und locker. Geschäfte werden in einer Art und Weise abgeschlossen, die vieles offen lässt. Bestechungen und heimliche Manipulationen sind sehr häufig. Anders als in China erforderte Singapurs erfolgreiche Ansiedlung multinationaler Firmen und der Aufbau großer, staatlich kontrollierter Gesellschaften ein absolut korrektes und effizientes Vorgehen. Ein Manager mit Singapur-Stil fühlt sich also in einer Boom-Stadt wie Shenzhen nicht wohl.

Es gibt keinen Zweifel daran, welche Entwicklung Deng für die Chinesen wollte, denn er hat sein Vorbild klar benannt. Einmal klagte er: »Ach, wenn ich doch nur Singapur zu regieren hätte.«

Singapur ist eines der besten Vorbilder in Asien. Seine wirtschaftliche Stärke erwuchs aus einer robusten Mischung multinationaler Gesellschaften und mit der Regierung verbundener Firmen. Seine »freie Marktwirtschaft« ist in Wirklichkeit streng von der Regierung kontrolliert und gelenkt. Um die Multis anzulocken, bot Singapur Steuervergünstigungen und schuf eine hochmoderne Infrastruktur mit einem ausgezeichneten Bildungssystem, Gesundheitswesen, Verkehrssystem, Telekommunikationswesen, Hafen, Flughafen - und einem überraschend effizienten öffentlichen Dienst. In Singapur muss niemand lange Schlange stehen.

Keine andere Regierung in den Tropen funktioniert so reibungslos und offen. In Singapur kann ein Unternehmen Aufträge von der Regierung erhalten, selbst wenn der Mitbewerber eine regierungseigene Firma ist. Beamtenbestechung [S. 376] gibt es nicht. In einem Land, das so stolz auf seine Errungenschaften ist, dass es das dekadente Kaugummikauen verbietet, hat schon lange niemand mehr einen Bestechungsversuch unternommen. Die Technologie ist Trumpf, und das Resultat ist eine der bestausgebildeten Arbeiterschaften der Welt. Es gibt weder militante Gewerkschaften noch Streiks noch Aufruhr stiftende Oppositionsparteien -- nichts soll Singapurs Stabilität und finanziellen Erfolg gefährden. Die Singapurer sind nicht nur die Bürger desselben Staats, sie sind alle Eigentümer und Mitglieder desselben Kongsi, sie arbeiten alle für dieselbe väterliche Firma, die Singapur-Tontine. Die herrschende People's Action Party ist deren Beschützerin. Die meisten in Singapur ansässigen Auslandschinesen unterstützen nachdrücklich die autoritäre Haltung der Regierung, die auf dem konfuzianischen Gedanken einer Herrschaft durch eine wohlwollende Despotie beruht. Viele alte Asien-Kenner sind, nachdem sie einige Zeit in anderen asiatischen Hauptstädten gelebt haben, nach Singapur gezogen. Sie finden das Leben auf der Insel herrlich. Die Straßen sind sauber, Blumen blühen überall, es gibt weder Unrat noch Verbrechen und die Rassen kommen besser miteinander aus als irgendwo sonst am Rande des Pazifik.

Die Regierung Singapurs hat sich als energischer Partner bei der Förderung neuer Unternehmungen betätigt. Sie hat Fabriken erbaut, damit neue Gesellschaften sich diese Mühe sparen konnten. Ihr Economic Development Board kümmerte sich um die Genehmigung von Steuervergünstigungen und sonstigen Konzessionen. Texas Instruments und HewlettPackard waren nur zwei von Dutzenden von High-TechFirmen, die Singapur zum Sitz ihres Herstellungsbetriebs in Asien wählten. Dreitausend weitere ausländische Firmen haben sich dort angesiedelt, darunter 800 amerikanische. Über 80 Prozent des Kapitals der industriellen Basis Singapurs kam von Ausländern. Die multinationalen Gesellschaften sind für ihren Mangel an Loyalität bekannt. Wenn sie alle Singapur treu bleiben, dann ist das gewiss kein Zufall.

Statt Sozialismus oder Kommunismus befiehlt in Singapur der Paternalismus den Menschen, sich aufzuraffen und um sich selbst zu kümmern. Kein Bürger kommt umhin, einen Teil [S. 377] seines Einkommens zu seinem eigenen Wohl in einen Pensionsfonds zu zahlen. 1992 waren das 34 Prozent des Arbeitslohns. Wie ein konfuzianischer älterer Bruder verändert die Regierung den Betrag je nachdem, ob die Wirtschaft blüht oder darniederliegt. Wenn eine Rezession eintritt, wird wenig einbehalten, damit die Leute mehr ausgeben und die Wirtschaft stimuliert wird. Es funktioniert, und das ist die Hauptsache.

Singapur gilt weit und breit als die erfolgreichste Wirtschaft der Welt. Puristen bemängeln, dass dies nicht die Erfolgsstory einer freien Marktwirtschaft sei, weil ja so vieles gelenkt wurde. Andererseits ist Südkorea unter einer Reihe von Militärregimes aufgestiegen, und Taiwan hatte trotz der inkompetenten Kuomintang-Regierung Erfolg, während Hongkongs Laissez-faire menschliche Kosten verursacht hat, die in Singapur nicht angefallen sind.

Trotzdem, wer Singapur zum Modell für die Zukunft der Volksrepublik China erklärt, übertreibt sehr. Die Chinesen lieben die Phantasie so wie alle Menschen auf der Welt, aber am liebsten träumen sie vor Tresoren. Die Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens hat die meisten Chinesen zu der Überzeugung gebracht, dass die Politik des 20. Jahrhunderts ohnehin absurd ist und dass man sie den alten Fanatikern in Peking überlassen sollte. Alle anderen sollten einfach weiter versuchen, möglichst viel Geld zu verdienen. Wenn China eine Wiedergeburt nach dem Muster Singapurs erleben sollte, wäre das wunderbar. Aber wenn nicht, dann genügt den Chinesen das Modell Shenzhen auch. ...

Mit den Worten von Dengs Tochter Deng Lin, der selbsternannten Künstlerin: Tienanmen und die Kulturrevolution waren »Unfälle von geringer Bedeutung. Ganz einfach Pech.« China brauche Zeit, um stabil zu werden, meinte Deng Lin. Zweifellos paraphrasierte sie den Herzog von Chou, der 3000 Jahre vor ihr gelebt hat. Aber dann fuhr sie fort: »Es ist eine [S. 378] gute Sache für die Chinesen, reich zu werden. Geld ist das beste Gegengift gegen Aktivitäten, die sich gegen die etablierte Ordnung richten.«"


17.4. Gibt es Alternativen zu Kapitalismus / Sozialismus ?


Vor allem von Seiten der großen Weltreligionen (Christentum, Islam, Buddhismus) kommt grundlegende Kritik an den Systemen des Kapitalismus und real existierenden Sozialismus. Die Realisierung echter Alternativen kommt aber -- mit Ausnahme innerhalb des Islam -- meist  über Kleingruppen nicht hinaus.

Im Folgenden seien je ein Beispiel aus Christentum, Islam und Buddhismus genannt.


Katholizismus:

Erklärung der lateinamerikanischen Bischöfe 1979:

"On wealth. Turned into an absolute, wealth is an obstacle to authentic freedom. The cruel contrast between luxurious wealth and extreme poverty, which is so visible throughout our continent and which is further aggravated by the corruption that often invades public and professional life, shows the great extent to which our nations are dominated by the idol of wealth. These forms of idolatry are concretized in two opposed forms that have a common root. 

  • One is liberal capitalism. 
  • The other . . . is Marxist collectivism. 

Both are forms of what can be called 'institutionalized injustice'. Finally we must take cognizance of the devastating effects of an uncontrolled process of industrialization and a process of urbanization that is taking on alarming proportions. The depletion of our natural resources . . . will become a critical problem. Once again we affirm that the consumptionist tendencies of the more developed nations must undergo a thorough revision."

[Evangelization in Latin America's present and future : Final Document of the Third General Conference of the Latin American Episcopate, Puebla, Mexico, January-February 1979. -- Zitiert in: The Cambridge encyclopedia of Latin America and the Caribbean / general ed.: Simon Collier ... -- 2. ed. -- Cambridge : Cambridge University Press, ©1992. -- ISBN 0521413222. -- S. 361.


Islam:

Verfassung der Islamischen Republik Iran vom 15. November 1979:

"GRUNDSATZ 43

Um die ökonomische Unabhängigkeit der Gesellschaft zu sichern, die Armut und die Entbehrung zu beseitigen und die menschlichen Bedürfnisse im Entwicklungsprozess unter Aufrechterhaltung der menschlichen Freiheit zu befriedigen, wird die Wirtschaft der Islamischen Republik Iran auf der Grundlage folgender Regeln aufgebaut:

  1. Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse aller nach Wohnung, Nahrung, Kleidung, Hygiene, medizinischer Versorgung, Bildung und Erziehung, Schaffung notwendiger Bedingungen zur Gründung einer Familie;
  2. Sicherung der Arbeitsvoraussetzungen und Arbeitsmöglichkeiten für alle mit dem Ziel der Vollbeschäftigung sowie Bereitstellung von Arbeitsmitteln für alle Arbeitsfähigen, die keine Arbeitsmittel haben, in Form von Genossenschaften durch zinslose Darlehen bzw. durch sonstige zulässige Mittel, damit es weder zu einer Konzentration und Zirkulation des Kapitals in den Händen bestimmter Personen oder Gruppen kommt, noch der Staat zu einem großen übermächtigen Arbeitgeber gemacht wird. Die Durchführung dieser Aufgaben muss die Notwendigkeit der allgemeinen Wirtschaftsplanung des Landes in jeder Entwicklungsphase berücksichtigen.
  3. Die Wirtschaftsplanung des Landes hat Form, Inhalt und Dauer der Arbeit so zu erfassen, dass jeder Staatsbürger über seine Berufstätigkeit hinaus noch genügend Zeit und Kraft findet, sich geistig, politisch und sozial selbst zu bilden, an der Führung des Landes aktiv teilzunehmen und seine Fähigkeiten und seine Eigeninitiative zu steigern.
  4. Beachtung der freien Berufswahl, kein Zwang gegenüber dem einzelnen zur Aufnahme bestimmter Arbeiten und Verhinderung der Ausbeutung der Arbeit anderer;
  5. Verbot der Schädigung Anderer; Verbot der Monopolisierung, des Hortens des Wuchers und von der Religion untersagter Geschäfte;
  6. Verbot der Verschwendung und Vergeudung von Mitteln auf allen Gebieten der Wirtschaft, sowohl beim Verbrauch, bei der Investition, bei der Produktion, beim Vertrieb als auch bei Dienstleistungen;
  7. Anwendung von Wissenschaft und Technologie sowie Ausbildung von Fachkräften entsprechend dem Bedarf für Entwicklung und Fortschritt des Landes;
  8. Verhinderung der Fremdherrschaft über die Wirtschaft des Landes;
  9. Vorrang für die Steigerung der landwirtschaftlichen und technischen Produktion und die Förderung der Viehzucht, um den allgemeinen Bedarf zu decken, die Selbstversorgungsphase zu erreichen und das Land von Abhängigkeit zu befreien."

[Verfassung der Islamischen Republik Iran / Hrsg.: Botschaft der Islamischen Republik Iran. -- Bonn, 1980. -- (Iran und die Islamische Republik ; Heft 6). -- S. 41f.]


Buddhismus

Der Thailänder Sulak Sivaraksa, geboren 1933, nennt sich selbst einen sozial engagierten Buddhisten. Er ist ein einflussreicher, radikal- konservativer Intellektueller, der nach Art romantischer Sozialkritiker die  Vergangenheit Siams wohl zu rosig sieht. Er ist aber auch gleichzeitig jemand, der auf der Grundlage des Theravâdabuddhismus die der modernen Thaigesellschaft zugrundeliegenden Grundübel schonungslos benennt und nach Alternativen sucht. Folgende Zitate aus "Die Religion des Konsumismus" geben einen Eindruck von seiner Kritik an der Praxis des thailändischen Wirtschaftswunders:

"In der heutigen Welt herrscht die Moral des westlichen Konsumismus. Wenn man z.B. in Bangkok die Straßen entlanggeht, wird man ständig mit Reklame bombardiert, die alle erdenklichen Getränke anpreist. Die Straßen sind hier vollgestopft mit teuren ausländischen Autos, die ihren Besitzern zwar Prestige bringen, aber der Stadt nur Luftverschmutzung. Junge Menschen definieren ihre Identität über Parfums, Jeans und Schmuck. Man misst den Wert der Menschen hauptsächlich daran, wie viel Geld sie auf der Bank haben. All dies gehört zur Liturgie der Religion des Konsumismus."

"Nach den traditionellen kulturellen Werten Asiens ist die spirituelle Seite eines Menschen ebenso wichtig wie die Gruppe, zu der er oder sie gehört. Persönliches Wachstum kann es nicht unabhängig von sozialem Wohlergehen geben. Menschen sollten alle Formen des Lebens achten, einschließlich der Tiere und Pflanzen; persönliche Errungenschaften zu Lasten anderer werden missbilligt. Ausbeutung, Konfrontation und Konkurrenz sollte man vermeiden, und man wird ermutigt, nach Einheit, Gemeinsamkeit und Harmonie zu streben. Wenn Leute reich und mächtig geworden sind, erwartet man von ihnen, dass sie andere weiterhin freundlich und respektvoll behandeln. Auffälligem Konsumverhalten begegnet man mit Verachtung. In traditionellen Gesellschaften stellen die Reichen ihren Reichtum nur an gewissen Feiertagen zur Schau. Im alltäglichen Leben essen sie dasselbe und tragen auch dieselbe Kleidung wie alle anderen."

"In der ganzen Welt waren unabhängige, selbständige Gesellschaften nicht in der Lage, dem Druck des Konsumismus zu widerstehen. Warum hat der Konsumismus so viel Macht, dass er diese wichtigen Werte untergraben kann?

Dem Buddhismus zufolge gibt es drei Gifte: Habgier, Hass und Irrglauben. Alle drei sind Manifestationen des Unglücklichseins, und wenn eines von ihnen existiert, brütet es noch andere gleichartige Gifte aus. Der Kapitalismus und der Konsumismus werden von diesen drei Giften genährt. Unsere Habgier wird von klein auf kultiviert. Man erzählt uns, dass unsere Wünsche dadurch befriedigt würden, dass wir uns etwas kaufen, aber natürlich führt der Konsum der einen Sache nur dazu, dass wir noch mehr wollen. Wir alle haben diese Samen der Habgier in uns, und der Konsumismus bringt sie zum Sprießen und Wachsen.

Im Konsumismus werden Menschen, die wirtschaftliche und politische Macht haben, dadurch unterstützt, dass ihr Hass, ihre Aggression und ihr Zorn belohnt wird. Der Konsumismus arbeitet auch Hand in Hand mit dem modernen Bildungssystem, das zwar Schlauköpfe, aber keine weisen Menschen heranzieht. Wir schaffen in uns selber einen Irrglauben, den wir Wissen nennen. Die Schulen müssen irgendwann ihre Energie wieder in die Lehre gesunder, spiritueller Werte investieren, anstatt den Irrglauben zu nähren, dass man Zufriedenheit und den Sinn des Lebens in einer gut bezahlten Stelle finden könne. Sonst spornen die Schulen nur weiterhin die Werbeagenturen an, und wir glauben, dass uns ein Leben mit mehr Konsum, schnellerem Fortschritt und größerem Komfort glücklich mache. Wir sehen gar nicht, wie teuer uns das zu stehen kommt, uns, unsere Umwelt und unsere Seele. Nur wenn noch mehr Menschen gewillt sind, die negativen Aspekte des Konsumismus zu sehen, können wir die Situation zum Besseren verändern. Wir sind erst dann in der Lage, uns von den Versuchungen der Religion des Konsumismus zu befreien, wenn wir begreifen, dass die Wurzeln von Habgier, Hass und Irrglauben in uns selbst liegen. Bis dahin bleiben wir in dieser trügerischen Suche nach dem Glück stecken."

[Sivaraksa, Sulak <1933 - >: Saat des Friedens : Vision einer buddhistischen Gesellschaftsordnung. -- Freiburg i. Br. : Aurum, 1995. -- ISBN 3591083577. -- Originaltitel: Seeds of peace : a Buddhist vision for renewing society (1992). -- S. 26ff.]


Zu Kapitel 18.6: Lebenserwerbs- und Wirtschaftsformen, 6. Teil