Zitierweise / cite as:
Payer, Alois <1944 - >: Einführung in die Exegese von Sanskrittexten : Skript. -- Kap 2: Übersicht über Arten, Methoden und Schritte westlicher Exegese. -- Fassung vom 2012-09-21. -- URL: http://www.payer.de/exegese/exeg02.htm. -- [Stichwort].
Überarbeitungen: 2012-09-20 [Ergänzungen] 2004-05-25 [Ergänzungen]; 1996-01-21
Anlass: Lehrveranstaltung Proseminar Indologie WS 1995/96
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Es ist wichtig, dass man sich immer bewusst ist, dass Verstehen keineswegs ein rein rezeptiver Vorgang ist, sondern immer ein konstruktives Vermuten, das sich an sprachlichen und außersprachlichen Gegebenheiten bewähren muss. Deshalb das für Anfänger oft erstaunliche Phänomen, dass ein Text nicht verstanden wird, obwohl man ihn grammatisch und lexikalisch voll analysiert hat.
Für Verstehen sprachlicher Äußerungen gilt:
"...so wird deutlich, dass die landläufige Auffassung von Verstehen einer Äußerung revidiert werden muss. Diese landläufige Auffassung sieht Verstehen einer Äußerung ja als eine Kombination der in den Elementen enthaltenen Information. Aber dass im Wort Klavier auch die Information schwer enthalten ist, das wird überhaupt erst manifest durch die Kombination mit dem Verb heben. Was beim Verstehen einer Äußerung abläuft ... ist offenbar nicht so sehr eine Analyse der einlaufenden Information, sondern es wird etwas Neues konstruiert und zu diesem Konstruktionsvorgang werden sowohl der aktuelle verbale Input als auch der weitere Kontext als auch die Situation herangezogen. Und weiter: Das, was da an Neuem konstruiert wird, bestimmt in hohem Maße mit, was den verschiedenen 'Lieferquellen` entnommen wird und entnommen werden kann." [Quelle: Hörmann, Hans <1924 - 1983>: Psychologie der Sprache. -- 2., überarb. Aufl. -- Berlin [u.a.] : Springer, 1977. -- 223 S. -- ISBN: 3-540-08174-7. -- S. 179]
Beim Verstehen spielt nicht nur die linguistische Kenntnis des Verstehenden (Kenntnis der Grammatik und Wortbedeutungen) eine Rolle, sondern seine ganze Kenntnis sowohl seiner eigenen Welt als auch der des Verfassers des Textes bzw. Sprechers (Vorwissen beim Exegeten - Vorwissen beim ursprünglich intendierten Hörer/Leser/Erklärer).
Zur ganzen psychologischen Problematik des Verstehens ist sehr anregend, wenn auch etwas zu weitschweifig:
Hörmann, Hans <1924 - 1983>: Meinen und Verstehen : Grundzüge einer psychologischen Semantik. -- [3. Aufl. der 1. Aufl. von 1978]. -- Frankfurt am Main : Suhrkamp, [1988]. -- 552 S. -- (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft ; 230). -- ISBN 3-518-27830-4
Im Anschluss an Friedemann Schulz von Thun kann man bei jeder Äußerung folgende fünf Aspekte unterscheiden:
In einer Äußerung kann der Schwerpunkt auf einem dieser Aspekte liegen, manche Aspekte können in einer bestimmten Äußerung unwichtig sein.
Der Adressat (Hörer / Leser / Zuschauer) kann die verschiedenen Aspekte einer Äußerung ganz anders aufnehmen, als sie vom Autor intendiert sind. Die Aufnahme der verschiedenen Aspekte ist Gegenstand der (empirischen und historischen) Rezeptionsforschung.
Eine gute Exegese klopft den Text auf alle fünf Aspekte ab.
[Siehe ausführlich: Schulz von Thun, Friedemann <1944 - >: Miteinander reden 1 : Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation. -- Reinbeck : Rowohlt, 1981. -- (rororo ; 17489). -- ISBN 978-3-499-1789-6. -- S. 27 - 33; Neueste Fassung: Schulz von Thun, Friedemann <1944 - >: Miteinander reden : Fragen und Antworten. -- Reinbeck : Rowohlt, 2007. -- (rororo ; 61963). -- ISBN 978-3-499-61963-2. -- S. 16 - 30]
Eine Auslegung von Texten kann sein:
Eine scholastische Auslegung betrachtet die Texte als auch heute noch weiter geltende Zeugnisse von Wissen und Normen. Eine solche Auffassung kann durchaus Aussagen und Vorschriften als zeitbedingt ansehen. Der Schwerpunkt liegt aber nicht in einer verfremdenden Betrachtung der Texte als Zeugnisse für Anschauungen einer fernen Vergangenheit, sondern in der Anwendung der Texte auf die Gegenwart. Die scholastische Betrachtungsweise ist die einer lebendigen Sach-Wissenschaft angemessene Form: Auch ein Physiker fragt nicht danach, wie z.B. Newton seine Gleichungen ursprünglich verstanden hat, sondern wie diese Gleichungen anwendbar sind. In der Auslegung normativer Texte - seien es Gesetze oder moralische Normen - ist eine solche scholastische, gegenwartsbezogene Auslegung die angemessene Form der Auslegung.
Eine "fundamentalistische" Auffassung wird die Identität der gegenwartsbezogenen und der historischen Auslegung postulieren.
Der Begriff Historisches Verstehen eines Textes ist nicht so eindeutig, wie es vielleicht auf den ersten Blick scheint. Es fragt sich historische Verstehen des Textes zu welchem Zeitpunkt seiner Geschichte.
Zeitpunkt der:
Für das Weitere ist die folgende Frage wichtig: handelt es sich bei dem vorliegenden Text um ein einheitliches, in allen Teilen gleichwertiges Werk, das von einem einzigen Autor in einem einzigen Arbeitsgang abgefasst wurde? Oder ist es sog. anonyme Literatur, die einen inneren Werdegang durch verschiedene Bearbeitungen durchgemacht hat?
Handelt es sich um anonyme Literatur, sollten wir unsere Vorgehensweise an einem Modell zu überprüfen, das idealiter die Behandlung von Texten darstellt, die einen inneren Werdegang durchgemacht haben. Sollten unser Text nicht zur anonymen Literatur gehören, dann ist das folgende Modell trotzdem hilfreich, da dann einfach die Fragestellungen wegfallen, die auf nicht-anonyme Literatur nicht sinnvoll anwendbar sind (die zweite, unten angeführte Methodengruppe muss unverkürzt auch auf nicht-anonyme Literatur angewandt werden).
Ich halte mich in der folgenden Darstellung an die Standards, die in den Bibelwissenschaften herausgearbeitet wurden. Dies halte ich schon deswegen für empfehlenswert, weil in die historisch-kritische Erforschung der Bibel so viele Mannjahre / Fraujahre gesteckt wurden, wie in kein zweites literarisches Werk. (Gesetzestexte, in die ebensoviele Mannjahre /Fraujahre an Untersuchung gesteckt werden, unterliegen den Methoden der juristischen Exegese, die wesentlich verschieden ist von der historisch-kritischen Betrachtung, und die wesentlich mehr mit den ebenfalls an der Lösung von Sachproblemen interessierten scholastischen Methoden zu tun hat.)
Ich folge in weiten Teilen dem vorzüglichen Leitfaden von (H. Barth und) O. H. Steck, den ich - besonders was die strikte Trennung von Literarkritik und überlieferungsgeschichtlicher Fragestellung angeht - den indischen Verhältnissen anzupassen versuche:
Steck, Odil Hannes <1935-2001>: Exegese des Alten Testaments : Leitfaden der Methodik; ein Arbeitsbuch für Proseminare, Seminare und Vorlesungen. -- 14. durchges. und erw. Aufl. -- Neukirchen-Vluyn : Neukirchener Verl. , 1999. -- 211 S. -- ISBN 3-7887-1586-3
"STECK, Odil Hannes (1935-2001). Odil Hannes Steck wurde am 26.12. 1935 in München geboren. Nach dem Theologiestudium in Neuendettelsau, Wuppertal und Heidelberg promovierte er 1965 bei G. Bornkamm im Fach Neues Testament, habilitierte sich dann aber 1967 für Altes Testament, Gutachter war G. von Rad. Von 1968-1976 wirkte Steck als o. Professor für Altes Testament in Hamburg, 1976 wechselte er nach Mainz und 1978 nach Zürich, wo er bis zu seinem Tod (30.3. 2001) lehrte und forschte. Schon in seiner Dissertation "Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten", die nach der langzeitigen Überlieferung des deuteronomistischen Geschichtsbildes von seinen Anfängen bis in das Urchristentum fragte, zeichnete sich sein grundlegendes Interesse an langfristigen Traditionsprozessen und den dabei beobachtbaren geistigen Wandlungen ab. Im Laufe seiner weiteren Forschungen entwickelte er eine differenzierte Sicht der israelitischen Literatur- und Theologiegeschichte von der Perser- bis zur Römerzeit. Maßgeblichen Einfluss auf die Forschung hatten seine Arbeiten zur (nunmehr die traditionsgeschichtliche Fragestellung ins Literarische wendenden) Redaktionsgeschichte der Prophetenbücher, die Steck als innerbiblische Rezeptionsgeschichte gefasst hat. Diesen Forschungsschwerpunkt nehmen die Beiträge der 2000 zu seinem 65. Geburtstag erschienenen Festschrift auf (R.G. Kratz, Th. Krüger, K. Schmid [Hrsg.], Schriftauslegung in der Schrift, BZAW 300, Berlin-New York 2000). In der Jesaja-Exegese ist Steck besonders mit der redaktionellen Deutung von Tritojesaja und von Jes 35 als Brückentext zwischen Erstem und Zweitem Jesaja hervorgetreten. - Seine Sicht der Methoden alttestamentlicher Exegese hat er in dem oft verwendeten Lehrbuch "Exegese des Alten Testaments" (<+z7>141999) dargestellt. Eine ausführliche Selbstdarstellung seines Wirkens und Denkens hat Steck kurz vor seinem Tod im Beitrag "Lehrstuhl für Alttestamentliche Wissenschaft in Zürich" (ThZ 57, 2001, 199-209) gegeben. " [Quelle: Konrad Schmid. -- http://www.bautz.de/bbkl/s/s4/steck_o_h.shtml. -- Zugriff am 2004-05-25]
Das Ziel ist beim Einzeltext die Interpretation des Textes in seinem jeweiligen Gestaltungsstadium und in seinem Werdegang. Aus der Verknüpfung dieser Betrachtung von Einzeltexten soll eine Geschichte des durch die Texte Ausgedrückten, der literarischen Formen usw. gebildet werden
Der Weg zu diesem Ziel sind die exegetischen Methoden.
Die exegetischen Methoden kann man in zwei Gruppen gliedern:
Die 1. Methodengruppe, die von der Frage nach dem Werdegang der Texte geleitet ist, kann man in folgender Weise schematisch darstellen:
Es scheint mir ganz wesentlich, dass es dabei nicht nur um die Herstellung des ursprünglichsten Stadiums des Textes, seines Inhalts, seiner Form usw. ankommt, sondern dass jede Stufe der Geschichte - bis zur jüngsten, selbst wenn diese im 19./20. Jahrhundert liegt - ein gleiches Gewicht bekommt. Dieses Modell ist also weit entfernt von einem Ruf "Zurück zu den Ursprüngen", wie er einem unreflektierten Ursprünglichkeitswahn entspringt.
Abb.: Schema des analytischen und synthetischen Arbeitsganges [abgewandelt nach
Steckk, a.a.O., S. 17)
Im Folgenden Kurzdarstellungen der einzelnen Schritte. Ausführlich in folgenden Kapiteln.
Textkritik hat als Aufgabe, durch kritische Sichtung der Textüberlieferung die in der Textgeschichte unterlaufenen Fehler - oder auch absichtlichen Entstellungen - aufzufinden und nach Möglichkeit den "ursprünglichen Text" festzustellen, d.h. den Text, der am Ende des Prozesses wesentlicher produktiver Gestaltung steht. Im Idealfall verfasst man aufgrund der Textkritik eine Textgeschichte.
Unter "ursprünglichem Text", den die Textkritik rekonstruiert, verstehe ich nicht in jedem Fall den Text, wie ihn der erste Verfasser oder Redaktor in der Textgeschichte verfasst hat, sondern den Text, der am Ende des Prozesses wesentlicher produktiver Umgestaltung steht, d.h. z.B. der Text (oder die Textformen), der/die durch in der Tradition als autoritativ angesehene Kommentatoren so etwas wie kanonische Geltung erhalten hat/haben bzw. zum textus communiter receptus wurde. Die Herstellung früherer Textformen sowie evtl. eines "Urtextes" ist Aufgabe der Literarkritik. Bei Schriften, die durch einen Verfasser ihre endgültige Gestalt erhielten, wird der durch Textkritik erstellte Text meist der Text letzter Hand sein, aber je nach Forschungsziel kann es auch die erste Ausgabe usw. sein.
Literarkritik wird of auf schriftlich fixierte Überlieferung und Überlieferungsgeschichte auf mündlich tradierte Überlieferung angewandt. Dies ist eine Überbetonung des Gegensatzes mündlich - schriftlich. Dieser Gegensatz ist jedoch, wie die indischen Methoden der Überlieferung zeigen, gar nicht so wesentlich. Der wesentliche Unterschied ist:
Literarkritik untersucht die Texte auf der Stufe fester Formulierung nach:
Der analytische Arbeitsgang der eventuellen Zerlegung in "Quellen", "Urtext(e)" und spätere Zusätze muss unbedingt ergänzt werden durch eine Redaktionsgeschichte, die die Motive, Wirkungen usw. der verschiedenen "Redakteure" darstellt und dem Text in jedem Stadium seiner Entwicklung sein "Recht" gibt, d.h. nicht durch Überbewertung eines Stadiums - meist des "Urtextes" - die anderen Stadien abwertet, die in ihrer Wirkung viel wichtiger gewesen sein können.
Die überlieferungsgeschichtliche Fragestellung versucht Gestalt und Werdegang eines Textes zu bestimmen, insoweit sein Inhalt, seine "Motive", Stoffe usw. nicht in fixierten Formulierungen überliefert wurde, insofern also z.B. simultane Doppelüberlieferungen vorliegen, die auf eine solche Überlieferung von Stoffen schließen lassen.
Der analytischen überlieferungsgeschichtlichen Fragestellung entspricht die synthetische Überlieferungsgeschichte.
Zu einzelnen methodischen Schritten:
Der Sprachraum bezieht sich auf vorgegebene Muster auf sprachlicher Ebene: auf Laut-, Wort- und Satzebene entsprechen dem PHONETIK, SEMANTIK, LEXIKOLOGIE, IDIOMATIK, GRAMMATIK, METRIK u.ä.
Auf die vorgeprägten Sprachmuster auf Textebene bezieht sich die FORMGESCHICHTLICHE FRAGESTELLUNG. Die Wahl dieser Sprachmuster (literarischen Formen) hängt ab von Aussagehinsicht (Perspektive), Aussageabsicht und Sitz im Leben. Die wichtigsten Teilfragen sind
- die Frage nach der sprachlichen Gestaltung (Formmerkmale)
- die Bestimmung der literarischen Gattung
- die Einordnung in die Geschichte der betreffenden Gattung (gattungsgeschichtliche Fragestellung)
- die Frage nach dem Sitz im Leben.
Die Bestimmung des historischen Ortes eines Textes umfasst folgende Einzelfragen:
- Datierung des Textes bzw. Textstückes
- Zeitgeschichtliches und sozioökonomisches Umfeld
- Identifizierung der im Text genannten "äußeren" Gegebenheiten, wie geographische und historische Daten, Realien usw.
- Bestimmung von Verfasser/Bearbeiter und Adressat
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