Einführung in die Exegese von Sanskrittexten : Skript

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Kap. 3: Textkritik und Textgeschichte


von Alois Payer

mailto:payer@payer.de


Zitierweise / cite as:

Payer, Alois <1944 - >: Einführung in die Exegese von Sanskrittexten : Skript.  -- Kap. 3: Textkritik und Textgeschichte. -- Fassung vom 2006-06-02. -- URL: http://www.payer.de/exegese/exeg03.htm. -- [Stichwort].

Überarbeitungen: 2006-06-02 [Umstellung auf Unicode, Ergänzungen]; 2004-06-01 [ergänzt und überarbeitet]; 1995-11-17

Anlass: Lehrveranstaltung Proseminar Indologie WS 1995/96

©opyright: Dieser Text steht der Allgemeinheit zur Verfügung. Eine Verwertung in Publikationen, die über übliche Zitate hinausgeht, bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Verfassers.


ÜBERSICHT



1. Einleitung


"Die Grundlage für das Verstehen eines Textes als Sprach- und Sinngebilde ist sein gesicherter Wortlaut." Sanskrit-"Texte sind uns" meist "nicht im Original, d.h. einer vom Verfasser eigenhändig vorgenommenen oder zumindest autorisierten Niederschrift zugänglich. Wer einen" Sanskrit-"Text heute in der Ursprache liest, kann" oft "eine moderne Ausgabe benutzen."

[Zitat, abgeändert aus: Jäger, Gerhard <1938 - >: Einführung in die klassische Philologie. -- 3., überarb. Aufl. -- München : Beck, 1990. -- 239 S. -- ISBN 3-406-34264-7. -- S. 32]

Abgesehen davon, dass viele Ausgaben von Sanskritliteratur keinen kritische Maßstäben genügen, benötigt man auch für die sinnvolle Nutzung der kritischen Apparates echt kritischer Ausgaben Grundkenntnisse in den Methoden der Textrekonstruktion, d.h. der Textkritik


2. Mündliche Überlieferung


Das Stereotyp von der "Mündlichkeit der indischen Kultur" ist falsch, da schon in vorchristlicher Zeit in Indien für wirtschaftliche Transaktionen, Rechtsgeschäfte und die Verwaltung auf Schriftlichkeit der Dokumente höchster Wert gelegt wurde. Siehe dazu z.B.:

Naradasmrti / übersetzt und kommentiert von Alois Payer <1944 - >. -- 3. Mātrkā 1: Gerichtsverfahren, Allgemeiner Teil (vyavahāra). -- URL: http://www.payer.de/naradasmrti/narada03.htm

Trotzdem darf man aber bei indischen Texten -- vor allem aus den Bereichen Gelehrsamkeit, Religion, Belletristik -- die große Bedeutung der mündlichen Überlieferung eines Textes nicht aus dem Auge verlieren.

"The highest ambition of an author of even the 12th century A.D. was not that his work may adorn the shelves of the libraries of the learned, but that it may shine as-- an ornament on their neck, i.e. it should be memorised by them."

[Quelle: A. S. (Anant Sadashiv) Altekar, zit. in Pant, Mahes Raj: On Sanskrit education. -- Kathmandu : Pant, 1979. -- 202 S. -- S. 8]

Vgl. die folgenden Zitate [ in Pant, Mahes Raj: On Sanskrit education. -- Kathmandu : Pant, 1979. -- 202 S. -- S. 8]:

dyutaṃ pustaka-śuśrūṣā nāṭakāsaktir eva ca
striyas tandrī ca nidrā ca vidyā-vighna-karāṇi ṣaṭ

"Die sechs Hindernisse des Wissens sind: Glücksspiel, Bücherhörigkeit , Theatersüchtigkeit, Frauen, Trägheit und Schlaf"

pustakasthā tu yā vidyā parahastagataṃ dhanam
kāryakāle samāyāte na sā vidyā na tad dhanam

"Wissen, das sich in Büchern befindet, Geld, das jemand anderer besitzt, das ist, wenn man sie bräuchte, kein Wissen und kein Geld."

Der Herausgeber einer wirklich kritischen Ausgabe eine Textes muss also nicht nur die Handschriften-Überlieferung berücksichtigen, sondern ebenso - soweit noch lebendig - die mündliche Überlieferung eines Textes.

Es gab in Indien verschiedene Methoden mündlicher Überlieferung, z.B.:

In jedem Einzelfall ist zu fragen, wie die mündliche Überlieferung erfolgte.


3. Weiterführende Ressourcen


Katre,  S. M. (Sumitra Mangesh) <1906 - >: Introduction to Indian textual criticism, / by S. M. Katre. With appendix II by P. K. Gode. -- [2d ed.]. --  Poona, [Published by S. M. Katre for the Deccan College Post-graduate and Research Institute], 1954. -- 148 S. : Ill. -- (Deccan College hand-book series,5 [richtig: 4]). -- m.W. das einzige Kompendium zur Textkritik indischer Texte

Zu einem (wichtigen) Spezialproblem:


Abb.: Willibald Kirfel, 1921 - 1955 Professor in Bonn

Kirfel, Willibald <1885-1964> : Das Purana Pancalaksana : Versuch einer Textgeschichte. - Bonn, 1927. - Einleitung

Hinüber, Oskar von <1939 - >: Remarks on the problem of textual criticism in editing anonymous Sanskrit literature. -- In: Proceedings of the first Symposium of Nepali and German Sanskritists, 1978. -- Dang : Institute of Sanskrit Studies, Tribhuvan University, 1980. - 45, 172 S. : Ill. -- S.28-40

Die aktuellste Gesamtdarstellung indischer Epigraphie ist:

Salomon, Richard <1948 - >: Indian epigraphy : a guide to the study of inscriptions in Sanskrit, Prakrit, and the other Indo-Aryan languages  -- New York : Oxford University Press, ©1998.  -- 378 S. : Ill. -- ISBN: 0195099842

Aus dem Bereich der Altphilologie:

Maas, Paul <1880-1964>: Textkritik. -- Leipzig : Teubner, 1927. -- 18 S. -- (Einleitung in die Altertumswissenschaft; 1.Bd./2.Heft). -- Standarddarstellung der stemmatischen Theorie.

West, M. L. (Martin Litchfield) <1937 -  >: Title: Textual criticism and editorial technique applicable to Greek and Latin texts. -- Stuttgart :Teubner, 1973.  -- 155S. -- (Teubner Studienbücher). - ISBN 3-519-07402-8 

West, Martin L.: Textual criticism and editorial technique : applicable to Greek and Latin texts. - Stuttgart, 1973. - 155 S. -

Jäger, Gerhard <1938 - >: Einführung in die klassische Philologie. -- 3., überarb. Aufl. -- München : Beck, 1990. -- 239 S. -- ISBN 3-406-34264-7. -- S. 32-59: Der Wortlaut der Texte

Aus dem Bereich neutestamentlicher Textkritik:

Aland, Kurt <1915 - 1994> ; Aland, Barbara <1937 - >: Der Text des Neuen Testaments : Einführung in die wissenschaftlichen Ausgaben sowie in Theorie und Praxis der modernen Textkritik / Kurt Aland und Barbara Aland. -- 2., erg. u. erw. Aufl.. -- Stuttgart : Deutsche Bibelgesellschaft, 1989. -- 374 S. : Ill. - ISBN 3-438-06011-6


4. Schreibmaterialien und Schreibmethoden



Abb.: Schreiber und Buchmaler, indisch-persisches Nizāmī Manuskript (British Library)
[Bildquelle: : Losty, Jeremiah P.: The art of the book in India. -- London : British Library, ©1982. -- 160 S. : Ill. -- ISBN: 0904654788. -- Plate XXI.]


Abb.: Indischer Schreiber

[Bildquelle: Missions-Bilder, 6. Heft. -- Abgedruckt in: Dubois, Jean Antoine <1766 - 1848>: Leben und Riten der Inder : Kastenwesen und Hinduglaube in Südindien um 1800. -- Bielefeld : Reise-Know-How-Verl. Rump, ©2002. -- 671 S. : Ill. -- ISBN 3-8317-1111-9. -- S. 340]

Für die eigentliche Textkritik sind Grundkenntnisse über Schreibmaterialien, Schreibmethoden sowie indische Schriften nötig.

Eine gute Übersicht gibt:

Losty, Jeremiah P. : The art of the book in India. -- London: The British library, 1982. - ISBN 0-904654-78-8. -- S.5-17: Introduction

Kurz zusammengefasst:

Grönbold, Günther: Die Buchkultur Südasiens. - In: Das Buch im Orient : Handschriften und kostbare Drucke aus zwei Jahrtausenden; Bayerische Staatsbibliothek, Ausstellung 16. Nov 1982 - 5. Feb. 83. - Wiesbaden, 1982. - (Ausstellungs-Kataloge / Bayerische Staatsbibliothek; 27). - ISBN 3-88226-147-1. - S.221-227

Die meisten indischen Handschriften sind relativ jung: die Mehrzahl stammt aus dem 16. - 19. Jhdt. n. Chr. Gründe dafür sind:


4.1. Schreibmaterialien


Die wichtigsten Schreibmaterialien:


Abb.: Fragment einer Aśoka-Säule mit Brāhmī-Inschrift (6. Säulenedikt)
[Bildquelle: Wikipedia]


4.2. Schreibmethoden


Es gab in Indien zwei Schreibmethoden für Manuskripte:


Abb.: Lesende und schreibende Wahrsager, Jaina-Kalpasūtra-Manuskript, Gujarat, 1445 (British Library) [Bildquelle: : Losty, Jeremiah P.: The art of the book in India. -- London : British Library, ©1982. -- 160 S. : Ill. -- ISBN: 0904654788. -- Plate X.]

Buchdruck:

"Der Druck von Büchern ist europäischer Import. Interessanterweise hat sich Blockdruck mit Holztafeln in Indien nicht entwickelt, im Gegensatz zu China und Tibet. Die erste Druckerpresse brachten die Portugiesen nach Goa und druckten hier 1557 das erste Buch, die Doutrina Christã des Franz Xavier. Das zeitigte aber keine Wirkungen. Erst im 18. Jh. wurden die Anfänge weitergeführt, vor allem in der Druckerei in Tranquebar an der Koromandel-Küste, aber auch in Bombay. Verbreitung fand das Drucken von Büchern erst in Bengalen, wo 1772 die East India Company Fuß gefasst hatte und 1778 dann bereits eine Grammatik des Bengali erschien (hier standen kommerzielle Interessen dahinter). Berühmt und sehr aktiv wurde die englische Baptisten-Mission in Serampore, die seit 1801 publizierte."

[Quelle: Grönbold, Günther: Die Buchkultur Südasiens. -- In: Das Buch im Orient : Handschriften und kostbare Drucke aus zwei Jahrtausenden; Bayerische Staatsbibliothek, Ausstellung 16. Nov 1982 - 5. Feb. 83. - Wiesbaden, 1982. - (Ausstellungs-Kataloge / Bayerische Staatsbibliothek; 27). - ISBN 3-88226-147-1. - S.225f.]


5. Indische Schriften und Paläographie


5.1. Notwendigkeit von Grundkenntnissen


Auch wenn man nicht mit Handschriften arbeitet - wofür man selbstverständlich die betreffenden Schriften beherrschen muss - , sondern mit gedruckten Ausgaben, sind Grundkenntnisse indischer Schriften für die Textkritik aus folgenden Gründen nötig:

  1. Oft teilt sich die Überlieferung eines Textes in verschiedene Rezensionsstränge, die den verschiedenen indischen Schriften entsprechen:
     
    "While the literary and textual history of India is still a subject for fresh investigation of unlimited scope, certain factors emerge from a study of the extant Mss. We have seen that these Mss. generally fall into one or more strands of a continuous tradition. They are written in the different scripts prevailing in the various parts of the country. Now it is improbable that the professional copyists were acquainted with more than one or at most two scripts in the medieval period. Naturally their copying activities would be confined to either one or two scripts. From this it follows that the manuscript tradition descended in a line parallel to the script in which the exemplar was written. An exemplar would be transliterated into another script by a copyist who knew both scripts, and then this copy would be the source of a fresh line of transmission in that script." Selbstverständlich kommt auch Diktat und mündliche Überlieferung für die Begründung eines Überlieferungszweiges in einer neuen Schrift in Betracht. "The less known a script, the greater the chance of its Mss. following a uniform tradition, unless the correctors or redactors or the scribes themselves were acquainted with more than two scripts and had the oppotunities of consulting several Mss. for making these copies. As SUKTHANKAR remarks, this principium divisionis is not so arbitrary as it might appear at first sight. It is found from experience that this superficial difference of scripts corresponds, as a matter of fact, to deep underlying textual differences. The only exception to this general rule would be Devanagari which was a sort of 'vulgar' script, widely used and understood in India. While this principle is not entirely mechanical or arbitrary, it is also not ideal or perfect. It is contravened, for instance, through the intervention of this Devanagari script. Another cause of disturbance is that along the boundaries of provinces using different scripts and speaking different languages, there are invariably bilingual and bi-scriptal zones, and the opportunities mentioned above are operative in mixing the different strands of the tradition represented by the two scripts."

    [Quelle: Katre,  S. M. (Sumitra Mangesh) <1906 - >: Introduction to Indian textual criticism, / by S. M. Katre. With appendix II by P. K. Gode. -- [2d ed.]. --  Poona, [Published by S. M. Katre for the Deccan College Post-graduate and Research Institute], 1954. -- 148 S. : Ill. -- (Deccan College hand-book series,5 [richtig: 4]). -- S. 29]

     

  2. Schreib- und Lesefehler, die man bei der Verbesserung eines Textes annimmt, sind schriftspezifisch: eine bestimmte Verwechslung von Buchstaben, die z.B. für Devanagari durchaus möglich wäre, kann z.B. in der südindischen Granthaschrift ziemlich unwahrscheinlich bzw. fast unmöglich sein und umgekehrt. Man muss also, bevor man solche Verbesserungsvorschläge macht, prüfen, in welcher Schrift (welchen Schriften) die handschriftliche Überlieferung vorliegt.

5.2. Klassifikation indischer Schriften



Abb.: Beispiel der noch unentzifferten Indus-Schrift [Bildquelle. http://www.ancientscripts.com/indus.html. -- Zugriff am 2004-06-01]



Abb.: Verteilung der wichtigsten modernen indischen Schriften

[Bildquelle: A historical atlas of South Asia / ed. by Josepph E. Schwarzberg. - Chicago [u.a.] : Univ. of Chicago Press, 1978. - ISBN 0-226-74221-0. - S. 102]



Abb.: Ungefährer Stammbaum der indiscehn Schriften [Bildquelle: http://www.ancientscripts.com/sa_ws.html. -- Zugriff am 2004-06-01]


5.2.1. Kharoṣṭhī


Kharoṣṭhī-Schrift: auf Inschriften, Münzen und Gemmen. Vom 3. Jhdt. v. Chr. bis 5. Jhdt. n. Chr. Nur in Nordwestindien.


Abb.: Karoshthī-SChrift

[Bildquelle: Jensen, Hans <1884 - >: Die Schrift in Vergangenheit und Gegenwart. -- 3., neubearb. und erw. Aufl. -- Berlin <Ost> : Deutscher Verl. der Wissenschaften, 1969. -- Abb. 338]


5.2.2. Brāhmī


Brāhmī-Schriften: Mutter aller späteren indischen Schriften.


Abb.: Brāhmī-Schrift [Bildquelle: http://www.ancientscripts.com/brahmi.html. -- Zugriff am 2004-06-01]


Abb.: Brāhmī: vokalisierte Konsonanten  [Bildquelle: http://www.ancientscripts.com/brahmi.html. -- Zugriff am 2004-06-01]


Abb.: Brāhmī-Varianten
[Bildquelle: Wikipedia]

Arten u.a.:


5.2.3. Nördliche Schriftengruppe


Nördliche Schriftengruppe. Grundtypen:


Abb.: Śāradā-Schrift [Bildquelle: http://www.ancientscripts.com/sarada.html. -- Zugriff am 2004-06-01]


Abb.: Śāradā-Schrift, 8. Jhdt. n. Chr.

[Bildquelle: Jensen, Hans <1884 - >: Die Schrift in Vergangenheit und Gegenwart. -- 3., neubearb. und erw. Aufl. -- Berlin <Ost> : Deutscher Verl. der Wissenschaften, 1969. -- Abb. 352]


Abb.: Birkenrindemanuskript mit kaschmirischer Śāradā-Schrift, 17./18. Jhdt. n. Chr.
[Bildquelle: Wikipedia]


5.2.4. Singhalesische Schriften


Singhalesische Schriften: von Pāli-Schriften und südindischen Schriften beeinflusst


Abb.: Singhalesische Schrift
[Bildquelle: http://www.ancientscripts.com/sinhala.htm. -- Zugriff am 2004-06-01]


Abb.: Singhalesisch: vokalisierte Konsonanten 
[Bildquelle: http://www.ancientscripts.com/sinhala.htm. -- Zugriff am 2004-06-01]


5.2.5. Südliche Schriftengruppe


Südliche Schriftengruppe: u.a.


5.3. Indische Schriften und Unicode


Sehr viele indische Schriften sind ebenso wie alle Transliterationszeichen in Unicode kodiert. Entsprechende Fonts stehen meist kostenlos zur Verfügung. In elektronischen Ressourcen ist unter allen Umständen Unicode zu verwenden, da dies einen programm- und betriebssystem-unabhängigen internationalen Austausch auch für die ferne Zukunft ermöglicht.

Zu Unicode siehe:

Payer, Margarete <1942 -- >: Computervermittelte Kommunikation. -- Kapitel 12: OSI-Schicht 6: Presentation Layer -- Datendarstellungsschicht. -- Teil 1: Allgemeines, ASN.1, ASCII, ISO ISO 8859, UNICODE, ISO/IEC 10646, UCS, UTF, PostScript, Acrobat. -- URL: http://www.payer.de/cmc/cmcs1201.htm


5.4. Weiterführende Ressourcen


Die wichtigste Literatur zu indischen Schriften und indischer Paläographie in:

Einführung in die Indologie : Stand, Methoden, Aufgaben / Hrsg. von Heinz Bechert ... Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1979. - ISBN 3-534-05466-0. - S.46ff.

Gute Schrifttafeln z.B. in:

L' Inde classique / par Louis Renou ... - tome II. - 1953. - S. 684-707

Eine erste Orientierung über indische Schriften in:

Jensen, Hans <1884 - >: Die Schrift in Vergangenheit und Gegenwart. - 3., neubearb. und erw. Aufl. - Berlin <Ost> : Deutscher Verl. der Wissenschaften, 1969. - S.351-394


6. Ermittlung der handschriftlichen Überlieferung


Zur Ermittlung der handschriftlichen Überlieferung dienen die verschiedenen Handschriftenkataloge. Die beiden wichtigsten übergreifenden Kataloge sind:


Abb.: Theodor Aufrecht,, 1861 - 1875 Professor in Edinburgh, 1875 - 1889 Professor in Bonn

Aufrecht, Theodor <1821 - 1907>: Catalogus catalogorum : an alphabetical register of Sanskrit works and authors. - 3 vols. - Leipzig, 1891. -- Katalog der Handschriften, die in Aufrecht zugänglichen Handschriftenkatalogen katalogisiert waren. Veraltet, aber immer noch hilfreich.

New catalogus catalogorum : an alphabetical register of Sanskrit and allied works and authors / ed. by V. Raghavan ... . - vol 1ff. - Madras, 1966ff. -- unvollendet; die weitere Publikation ist ins Stocken geraten, obwohl in Madras das Material schon in Zettelform vorliegt. Nachfolger von Aufrecht. Vollständigkeit ist intendiert.

Das wichtigste Handschriftenprojekt der Gegenwart ist das Nepal-German Manuscript Preservation Project [Webpräsenz: http://www.uni-hamburg.de/ngmpp/. -- Zugriff am 2004-06-01] : bisher wurden mit deutscher Finanzierung im Kathmandu-Tal Tausende von Handschriften (in öffentlichem und privatem Besitz) verfilmt. Eine Kopie der Mikrofilme befindet sich an der Preussischen Staatsbibliothek in Berlin, wo auch ein vorläufiger (leider recht mangelhafter) Katalog der Handschriften ist. Unter den in Nepal verfilmten Handschriften befinden sich viele Werke, die bisher unbekannt sind, nur in Übersetzung vorlagen, oder von denen nur eine einzige Handschrift existierte: eine wahre kāmadhenu (Wunschkuh) für ganze Indologengenerationen! Leider ist die Qualität der Filme und die Katalogisierung manchmal katastrophal schlecht.

"The Nepal-German Manuscript Preservation Project (NGMPP) was founded in 1970 under an agreement between His Majesty's Government of Nepal and the German Oriental Society, and was financed by the German Research Council (Deutsche Forschungsgemeinschaft). The Project was established to preserve Nepal's extraordinary wealth of old manuscripts, blockprints and historical documents on microfilm. The text material encompasses the various branches of Hindu and Buddhist literature, and is thus of significance far beyond the boundaries of Nepal. Many of the manuscripts, in some cases close to a thousand years old, are heavily damaged or on the point of disintegrating. A number of the manuscripts filmed represent the oldest, or even the only preserved copy of a work.

The conservation of manuscripts and block prints on microfilm by the NGMPP serves two purposes. First, by locating, filming and making available microfilms of previously unknown or inaccessible texts, the Project contributes considerably to broadening our knowledge of Sanskrit, Tibetan, Nepalese and Newari literature. It makes possible the creation of new critical editions of texts, faciliates research into textual transmission and manuscript analysis, and furthers scholarly investigation into the subjects dealt with in the texts, namely, religious rituals, philosophy, art history, poetry, drama, architecture, medicine, law and so on. The unusual breadth of the historical documents that have been microfilmed is revolutionizing our understanding of the economic and social history of Nepal.

Second, the NGMPP is equally committed to the preservation of the manuscripts for the sake of the countries for whom written materials form a major part of their cultural wealth. The dramatic changes that are occurring in the traditional societies of Nepal, India and Tibet do not necessarily assure prime conditions for the preservation of their national cultural heritage. The committing of texts and documents to microfilm serves the individuals of these cultures who retain a serious interest in their traditions, and those of future generations who may seek to find their cultural roots and identity in the written records of their culture. "

[Quelle: http://www.uni-hamburg.de/ngmpp/about.html. -- Zugriff am 2004-06-01]


7. Textkritik im engeren Sinn


Zur Einführung in Fragestellungen und Methoden der eigentlichen Textkritik folge ich folgendem Text aus dem Bereich der klassischen Philologie:

Jäger, Gerhard <1938 - >: Einführung in die klassische Philologie. -- 3., überarb. Aufl. -- München : Beck, 1990. -- 239 S. -- ISBN 3-406-34264-7. -- S.42-59; 229-230
(deutschsprachige Zitate im Folgenden aus diesem Text)

Ergänzungen dienen der Übertragung auf den indischen Kontext.


7.1. Zweck der Textkritik


"Die Herstellung eines Wortlauts, der dem Original möglichst nahe kommt (constitutio textus), durch Überwindung der im Verlauf der Überlieferung entstandenen Irrtümer erfordert Textkritik." (Jäger, S. 42)

Textkritik hat als Aufgabe, durch kritische Sichtung der Textüberlieferung die in der Textgeschichte unterlaufenen Fehler - oder auch absichtlichen Entstellungen - aufzufinden und nach Möglichkeit den "ursprünglichen Text" festzustellen, d.h. den Text, der am Ende des Prozesses wesentlicher produktiver Gestaltung steht. Im Idealfall verfasst man aufgrund der Textkritik eine Textgeschichte.

Unter "ursprünglichem Text", den die Textkritik rekonstruiert, verstehe ich nicht in jedem Fall den Text, wie ihn der erste Verfasser oder Redaktor in der Textgeschichte verfasst hat, sondern den Text, der am Ende des Prozesses wesentlicher produktiver Umgestaltung steht, d.h. z.B. der Text (oder die Textformen), der/die durch in der Tradition als autoritativ angesehene Kommentatoren so etwas wie kanonische Geltung erhalten hat/haben bzw. zum textus communiter receptus wurde. Die Herstellung früherer Textformen sowie evtl. eines "Urtextes" ist Aufgabe der Literarkritik. Bei Schriften, die durch einen Verfasser ihre endgültige Gestalt erhielten, wird der durch Textkritik erstellte Text meist der Text letzter Hand sein, aber je nach Forschungsziel kann es auch die erste Ausgabe usw. sein.


7.2. Träger der Überlieferung


  1. Träger der Hauptüberlieferung (direkte Überlieferung): Handschriften, Inschriften, mündliche Tradition, Drucke ...
     
  2. Träger von Nebenüberlieferung (indirekte Überlieferung): Zitate, Exzerpte, Imitationen, Anspielungen, Parodie, Paraphrasen, Übersetzungen, Lexikonangaben, Kommentare ...

    Beispiele für Nebenüberlieferungen im Sanskrit:


7.3. Schritte bei der Textkritik


"Die Textkritik vollzieht sich in mehreren Schritten:
  1. Der erste (recensio) ist nach der Sammlung und Lesung der Textzeugen die kritische Prüfung ihrer Beziehungen, um die von bekannten Handschriften abhängigen Zeugen auszuschließen und die Verwandtschaft der übrigen festzustellen, mit dem Ziel, das durch die Überlieferung Bestbeglaubigte zu ermitteln.
  2. In einem weiteren Schritt (examinatio) ist zu prüfen, ob das Bestbeglaubigte (das »Überlieferte« i.eṣ. ...) als original gelten darf; wenn nicht, ob er als gut, zweifelhaft oder unerträglich erscheint.
  3. Wenn der überlieferte Text aller Wahrscheinlichkeit nach nicht original ist, sollte in einem dritten Schritt versucht werden, den ursprünglichen Wortlaut herzustellen (emendatio, divinatio) durch
    • Änderung verdorbener Stellen (Konjektur)
    • Ergänzung von Lücken und
    • Tilgung (Athetese) von illegitimen Zusätzen (Interpolationen)."

(Jäger, S. 42f.)


7.3.1. Recensio


"Träger der Überlieferung kann ein einziger Zeuge (Codex unicus) sein ..., dessen Wortlaut dann mit dem »Überlieferten« identisch ist. " (Jäger)

Im altindischen Bereich z.B. Großteil der Inschriften, Schenkungsurkunden und Verträge auf Kupferplatten, viel Material, das in Turfan oder Khotan gefunden wurde.

"Liegen aber meherer Zeugen vor, so lassen sich Beziehungen zwischen ihnen vor allem aufgrund der Tatsache ermitteln, dass beim Abschreiben Veränderungen entstehen (»readings of second origin«), etwa Auslassungen von Wörtern. Sie werden traditionellerweise oft »Fehler« genannt, obwohl es sich bei den Veränderungen auch um Verbesserungen früherer Irrtümer handeln kann. Bei tatsächlichen Fehlern spricht man auch von »Korruptelen«.

Die Beziehungen zwischen verschiedenen Handschriften lassen sich am ehesten dann ermitteln, wenn ein Schreiber jeweils nur ein einziges Muster hatte.

Liegen - um den einfachsten Fall zu betrachten - zwei Handschriften vor, so sind beim Kopieren aus einer einzigen Vorlage folgende drei Möglichkeiten gegeben:"

  • "B kann von A (1) oder
  • A kann von B (2) abhängig sein,
  • oder aber keine Handschrift ist von der anderen, vielmehr sind beide von einem gemeinsamen Vorgänger abhängig."

Dabei kann Abhängigkeit unmittelbar durch direktes Abschreiben oder mittelbar über eine oder mehrere (evtl. nicht mehr erhaltene) Zwischenstufen vorliegen.

"Welcher der drei Fehler tatsächlich vorliegt, ist aus der Beobachtung der »Fehler« zu ermitteln. »Fehler«, die Folgerungen für die Beziehungen der Handschriften zulassen, hat man - in Anlehnung an geologische »Leitfossilien« - Leitfehler (errores significativi) genannt. Die Verfahren zu ihrer Feststellung hat P. Maas formuliert:"

(Jäger, S. 43)

"Die Unabhängigkeit eines Zeugen (B) von einem anderen (A) wird erwiesen durch einen Fehler von A gegen B, der so beschaffen ist, dass er .. nicht durch Konjektur entfernt worden sein kann. Solche Fehler mögen `Trennfehler´ heißen (errores separativi)."

"Die Zusammengehörigkeit zweier Zeugen (B und C) gegenüber einem dritten (A) wird erwiesen durch einen den Zeugen B und C gemeinsamen Fehler, der so beschaffen ist, dass aller Wahrscheinlichkeit nach B und C nicht unabhängig voneinander in diesen Fehler verfallen sein können. Solche Fehler mögen `Bindefehler´ heißen (errores coniunctivi):"

[Quelle: Maas, Paul <1880-1964>: Textkritik. -- Leipzig : Teubner, 1927. -- 18 S. -- (Einleitung in die Altertumswissenschaft; 1.Bd./2.Heft). -- S. 26.]

"In der Regel entscheidet bei längeren Texten jeweils nicht nur ein einziger »Fehler«, sondern es liegen mehrere Binde- oder Trennfehler vor, aufgrund deren sich das Verhältnis sicherer ermitteln lässt. Entscheidend für den Nachweis der Abhängigkeit sind unter den »Fehlern« vor allem Lücken, Zusätze, Verwechslungen und Umstellungen. "

(Jäger, S. 44)

"Ein Zeuge, der ausschließlich von einer erhaltenen (oder rekonstruierbaren) Vorlage abhängt, ist als Zeuge der Überlieferung - nicht jedoch als Träger von möglicherweise sinnvollen Konjekturen - wertlos und bleibt unberücksichtigt (eliminatio codicum descriptorum ). Als »überliefert« gilt also, was in der Vorlage steht (bei 1, was in A, bei 2, was in B steht). Hängen zwei Zeugen von einer nicht erhaltenen Vorlage ab, so gilt der Text, soweit er beiden Zeugen gemeinsam ist, als Text der Vorlage und damit als überliefert. Wo die beiden Zeugen voneinander abweichen, führt die Recensio nur auf die Alternative zwischen zwei Formulierungen (Varianten), die dann in der Examinatio zu beurteilen sind.

Liegen mehr als zwei Handschriften vor, so sind - immer vorausgesetzt, dass jeweils nur ein Muster kopiert wurde - die Beziehungen nach den gleichen Verfahrenregeln zu prüfen."

(Jäger, S. 44f.)

"Vielfach ergibt sich die Möglichkeit, die Abhängigkeitsverhältnisse der Handschriften in einem stammbaumähnlichen Schema (Stemma) darzustellen."

(Jäger, S. 35)

Ein gutes Beispiel eines Stemma (mit Kontaminationen, s.u.) aus dem Bereich von Sanskrit-Handschriften ist das Stemma der Handschriften des Bhīṣmaparvan (enthält die Bhagavadgītā) des Mahābhārata von S. K. (Shripad Krishna) Belvalkar (1881-1967) in der kritischen Mahābhārata-Ausgabe:


Abb.: Stammbaum der Handschriften zum Bhīṣmaparvan des Mahābhārata

[Bildquelle: The Mahābhārata / critically edited by Vishnu S. Sukhthankar ... - Poona : Bhandarkar Oriental Research Institute. - [Vol. 7]. - The Bhīṣhmaparvan / crit. ed. by S. K. Belvalkar. - 1947. - S. CXV (Beachte die Beschreibung der Rezensionen und Handschriften auf S. IX - CXIV]

Die stemmatische "Methode - musterhaft systematisiert bei P. Maas - lässt sich prinzipiell nur bei »vertikaler« Überlieferung anwenden, also dann, wenn jeder Schreiber nur eine einzige Vorlage benutzt hat. Sie ist dagegen nur bedingt anwendbar bei sog. »horizontaler« Überlieferung, d.h., wenn ein oder mehrere Schreiber mehr als eine Vorlage benutzt haben. Dieses Verfahren bezeichnet man als Kontamination." Die Handschrift, die so entstand als Codex mixtus.

"In diesem Fall ist eine »eliminatio codicum« sowie eine klare Abgrenzung von »Familien« durch Fehlergemeinschaft nicht möglich. Man weiß nämlich nie sicher, ob nicht ein »Fehler« der einen Vorlage aus einer anderen Vorlage korrigiert wurde. Der kontaminierte Zeuge zeigt deshalb manche Sonderfehler der einen Vorlage nicht, andrerseits jedoch zusätzliche »Fehler« aus der anderen Vorlage.

Aus diesem Grunde kann auch eine vereinzelte Lesart bei dreifacher Spaltung, wenn sie besser oder gar eindeutig richtig ist, darauf hinweisen, dass dem Schreiber dieser Handschrift ein weiteres Vorbild vorgelegen hat. Dadurch gewinnt die vereinzelte Lesart als sog. »Präsupmtivvariante« an Wert. Handschriften, die solche Varianten haben, können nie eliminiert werden."

(Jäger, S. 46)

Zu Kontamination und Tätigkeit von Editoren im indischen Bereich :

"The ravages of time, the laxity and ignorance of scribes, and the speed with which a work could become corrupt, may be illustrated from he history of the text of Jñāneśvarī according to the traditional account. The text composed by Jñāneśvar in Śaka 1212 (A.D. 1290) had already become so corrupt by the time of the poet Eknāth that he had to revise it from the Mss. available to him in tha Śaka year 1506 (A.D. 1584), within less than 300 years of the autograph. We have unfortunately no means at present of arriving at the principles employed by Eknāth in his purification of the Text of Jñāneśvarī, unless we discover several pre-Eknāth Mss. of the text. But he must have had the knowledge that a text could be improved by comparison of different manuscripts in common with other ancient redactors. This explains also why most Mss. contain marginal or interlinear corrections: that the editors did not work scientifically is not their fault but that of the period in which they lived. This knowledge led to the production of what are known as conflated Mss. or misch-codices, by crossing or intermixing the contents of different copies of a given text available to them with their own exemplar. This crossing or intermixing was not done on any well established principles and was therefore ECLECTIC in a deterious sense."

[Quelle: Katre,  S. M. (Sumitra Mangesh) <1906 - >: Introduction to Indian textual criticism, / by S. M. Katre. With appendix II by P. K. Gode. -- [2d ed.]. --  Poona, [Published by S. M. Katre for the Deccan College Post-graduate and Research Institute], 1954. -- 148 S. : Ill. -- (Deccan College hand-book series,5 [richtig: 4]). -- S. 27f.]

"The problems of textual criticism is concerned with in this century are anything but new. Anybody who has ever compared two or more MSS. of the same text, can notice differences in single words or even in the wording of a whole passage, gaps or grammatical mistakes. Skt. scholars of all times have been aware of these problems and have tried to constitute somehow what they thought to be the »best« or »original« texts. Thus we know from Madhva's Mahabharatatatparyanirnaya that he was well aware of the problems of the Mhbh. tradition, and that he inspected and used different MSS. of the Mhbh. It is the commentarial literature, in which something like a »prescientific« textual criticism may be found.

Attention to this fact has been drawn recently by J. Duncan M. DERRET in his edition of Bharuci's commentary on the Manusmrti. What was demanded of any commentator, who hoped that his production would survive, can be summarized as follows: firstly he must produce a clean clear text (...p.17). A more reflective kind of early textual criticism may be found in the Pali tradition of the Buddhists. In his Pali grammar called Saddaniti, Aggavamsa, a 12th century grammarian from Burma, has developed some principles of elementary textual criticism as pointed out by H. SMITH, which may have its roots in the work of the redactors editing the Pali canon on the occasion of the councils of the Theravada-Buddhists. But these editorial activities sometimes lead to quite disastrous results, as the original text was, without any prior hint, changed to such an extent that its original form became obscure."

[Quelle: Hinüber, Oskar von <1939 - >: Remarks on the problem of textual criticism in editing anonymous Sanskrit literature. -- In: Proceedings of the first Symposium of Nepali and German Sanskritists, 1978. -- Dang : Institute of Sanskrit Studies, Tribhuvan University, 1980. - 45, 172 S. : Ill. -- S.29f.]

"In einzelnen Fällen lässt sich nachweisen, dass Doppelfassungen ihren Ursprung beim Autor selber haben." (Jäger S. 47). Beispiele aus dem indischen Bereich:

"From an examination of all the available Mss. of Mālatīmādhava, BHANDARKAR concluded that Bhavabhūti had himself made certain alterations in his autograph, and thus in a sense revised it. The same factor is brought out by Todar MALL in his edition of Mahavīracarita."

[Quelle: Katre,  S. M. (Sumitra Mangesh) <1906 - >: Introduction to Indian textual criticism, / by S. M. Katre. With appendix II by P. K. Gode. -- [2d ed.]. --  Poona, [Published by S. M. Katre for the Deccan College Post-graduate and Research Institute], 1954. -- 148 S. : Ill. -- (Deccan College hand-book series,5 [richtig: 4]). -- S. 26]

 

"Doch auch für den Fall kontaminierter Überlieferung lassen sich gewisse methodische Grundsätze aufstellen. Vor allem sind gewisse Gruppierungen von Lesarten innerhalb der vorliegenden Textzeugen zu beachten, z.B. voneinander abhängige und unabhängige Gruppen, ebenso ältere und jüngere Varianten sowie alleinige Träger einer bestimmten Überlieferung.

Über die Qualität der Handschriften und eine evtl. »beste« Handschrift lässt sich erst nach einem Vergleich aller signifikanten Handschriften zu urteilen. Jedenfalls ist die Qualität einer Handschrift keineswegs ihrem Alter proportional, sondern von der inhaltlichen Nähe zum Original bestimmt." Es gilt der "von Pasquali augfgestellte Grundsatz »recentiores non deteriores« ... Wenn in einer späten Handschrift gute Lesarten auftauchen, muss allerdings genau geprüft werden, ob sie einen unabhängigen Überlieferungszweig vertreten oder aber gute Konjekturen aus der zeit ihrer Niederschrift enthalten. Im letzteren fall wären sie durchaus »deteriores« als Zeugen der Überlieferung, also für die Recensio; sie könnten jedoch wichtig sein für Überlegungen im Rahmen der Examinatio und der Emendatio."

(Jäger, S. 47f.)


7.3.2. Examinatio


"Die einheitliche und ebenso die in Varianten gespaltene Überlieferung , auf die die Recensio als auf den bestbeglaubigten Text führt, muss in ihrem Wert beurteilt werden. Je nachdem, ob sie einwandfrei, zweifelhaft oder unerträglich ist, ist sie als original zu akzeptieren, als verdächtig zu überprüfen oder als unannehmbar zu verbessern. Die Kriterien dieser Beurteilung sind vor allem Kenntnis von Sprache und Stil, Gedanken und Verfahrensweisen des jewiligen Autors, setzen also z.T. Interpretation voraus.

Was die Sprache betrifft, so ist vielfach die »schwierige« Lesart (lectio difficilior), etwa seltene oder besonders gewählte Ausdrucksweise, als eher authentisch und eher verderbbar der »leichteren« (häufigen, üblichen) vorzuziehen. Das sprachlich (grammatisch, semantisch, metrisch) Abwegige (Anomalie) ist zu beseitigen. Im Gegensatz dazu ist das Vereinzelte (Singularität), wenn es sprachlich möglich und inhaltlich sinnvoll ist, zu akzeptieren. Freilich wird man aber zunächst das Ungewöhnliche durch Parallelen zu stützen versuchen.

Im Rahmen der Examinatio muss auch die direkte Überlieferung mit der indirekten verglichen und an ihr kontrolliert werden."

 (Jäger, S. 52)


7.3.3. Emendatio


"»Ziel der Emendatio ist, den denkbar besten Text herzustellen« (H. Erbse), d.h. den Text, der der Intention des Autors und seiner originalen Ausdrucksweise am nächsten kommt. Die Diagnose von Art und Ursprung des Fehlers kann zwar nicht das Richtige garantieren, aber doch zu seiner Auffindung vielfach helfen."

(Jäger, S. 52)

Fehlertypen:

  1. "Fehler, die durch bestimmte Eigenheiten der Handschrift (eines Schreibers oder einer Epoche) bedingt sind
  2. Fehler aufgrund von Lautähnlichkeiten
  3. Auslassungen, und zwar
    1. wenige Buchstaben
    2. Sprung von Ähnlichem zu Ähnlichem bzw. Gleichem zu Gleichem, bes. bei Wortanfängen und Wortausgängen
    3. Auslassungen einer ganzen Zeile
  4. Hinzufügung, und zwar
    1. Dittographien (Doppelschreibungen)
    2. Einbeziehung von Glossen (Notizen am Rand oder zwischen den Zeilen der Vorlage)
  5. Umstellungen von Buchstaben, Wörtern, Versen, Sätzen oder Satzteilen
  6. Irrtümer, durch den Kontext veranlasst, z.B. Formanalogie oder Wortanalogie; als Erinnerung oder Vorwegnahme
  7. Gedankliche Irrtümer", z.B. Missverständnisse weil der Kopist einer anderen Tradition angehört
  8. Bewusste »Verbesserungen«"

(Jäger, S. 53)

Katre zählt folgende Fehlertypen auf :

  1. "Confusions and attempts made to remedy them
    1. Confusion of similar letters and syllables
    2. Mistranscription of words through general resemblance
    3. Misinterpretation of contractions
    4. Wrong combination or separation
    5. Assimilation of terminations and accomodation to neighbouring construction
    6. Transposition of letters (anagrammatism) and of words and sentences; dislocation of sentences, sections and pages
    7. Mistranscription of Sanskrit into Prakrits or Vernacular or vice versa
    8. Mistake due to change in pronunciation
    9. Confusion of numerals
    10. Confusion of proper names
    11. Substitution of synonymous or familiar words for unfamiliar
    12. New spellings substituted for old
    13. Interpolation or the attempt to repair the results of unconscious errors
  2. Omissions
    1. Haplography, or the omission of words or syllables with the same beginning or ending (homoeoarcta and homoeoteleuta)
    2. Lipography (parblesia) or simple omission of any kind
  3. Additions
    1. Repetition from the immediate (Dittography) or neighbouring context
    2. Insertion of interlinear or marginal glosses or notes (Adscripts)
    3. Conflated readings
    4. Additions due to the influence of kindred writings"

[Quelle: Katre,  S. M. (Sumitra Mangesh) <1906 - >: Introduction to Indian textual criticism, / by S. M. Katre. With appendix II by P. K. Gode. -- [2d ed.]. --  Poona, [Published by S. M. Katre for the Deccan College Post-graduate and Research Institute], 1954. -- 148 S. : Ill. -- (Deccan College hand-book series,5 [richtig: 4]). -- S. 55f. -- Siehe auch die dort im Anschluss daran gegebenen Beispiele aus der Sanskritliteratur]

 

"Der Versuch der Herstellung des Textes kann zur evidenten Verbesserung (coniectura palmaris) oder zu einer plausiblen Vermutung (Konjektur ), oder aber zu der Ansicht führen, dass eine Heilung nicht möglich ist (Zeichen dafür ist das vom Interpreten gesetzte Kreuz: crux). "

(Jäger)

Katre schreibt zur Emendatio von Sanskrit-Texten:

"For instance, in critically editing the Mahābhārata, emendation has played a very inconspicuous role. Interpretation has, in general, been given preference over emendation. Even in the case of corrupt passages, says SUKTHANKAR (Prolegomena, p. XCII), the reading of some manuscript or other gives sense, though it may not be the original sense, not even a wholly satisfactory sense. Precipitate emendation is, however, to be deprecated; for experience has shown that but a small proportion of scholar's corrections are really amendments. Moreover, in this special case, we know, as yet, to little about the epic idiom and the epic world altogether; as also about the vicissitudes of the epic text. Besides, who can say that the original was linguistically uniform, and conformed to any particular norm?

What SUKTHANKAR says above holds equally for other kinds of texts which are not those of a single author. Emendation is to be resorted to under favourable circumstances, only when all other tests of scientific interpretation fail. It is to be resorted to merely for the pupose of unifying divergent and conflicting manuscript evidence, never in opposition to the clear and unanimous testimony of manuscripts. The emendations are thus not the amendments of the text in the ordinary sense of the word, made in order to eke out a better sense when the manuscripts yield no sense or an unsatisfactory sense; they are rather an effort to finde, so to say, a hypothetical focus towards which the discordant readings converge. Following these principles SUKTHANKAR made altogether 36 emendations in the huge ^Adiparvan, (comprising between 7000 & 8000 stanzas), being concerned mostly with single isolated words; the correctness of these principles have been ramarkably proved by the discovery in Nepal of the oldest surviving manuscript of this parvan, confirming actually fifty per cent of these emendations.

But what has been said above need not apply wholly to texts of individual authors. Here the circumstances are somewhat different. We can study the style, diction, thought and even the ideosyncracies of our author by means of the evidence contained within uncorrupted passages, which must be still in possession of the text preserved in extant manuscripts. Such ancient parallels are worth many times as much as their modern correspondents. By skilfully utilizing them we may be in a position to emend the text satisfactorily where it has become corrupt in its transmission... . But in the absence of such ancient parallels, when we have to make a choice even between two variants, the test of intrinsic fitness will lead us to prefer the reading which best corresponds with OUR view of the authors intention. And it may happen that we see only a part of his intention. "

[Quelle: Katre,  S. M. (Sumitra Mangesh) <1906 - >: Introduction to Indian textual criticism, / by S. M. Katre. With appendix II by P. K. Gode. -- [2d ed.]. --  Poona, [Published by S. M. Katre for the Deccan College Post-graduate and Research Institute], 1954. -- 148 S. : Ill. -- (Deccan College hand-book series,5 [richtig: 4]). -- S. 67f.]

Wo Anomalien, die dem Willen des Verfassers nicht entsprechen können, beseitigt werden müssen, sollte der Versuch der Verbesserung den drei Faktoren Inhalt, Sprachform und Textgestalt Rechnung tragen und daher (nach M. L. West) folgende drei Bedingungen erfüllen

  1. Der Text, für den man sich entscheidet, sollte der Aussageabsicht (Intention) des Verfassers entsprechen, soweit diese sich im Kontext zeigt. Man sollte also von der »Sache« bzw. vom »Gedanken« des Autors ausgehen.
  2. Der Text sollte in Sprache (Lautstand, Morphologie, Syntax), Stil und relevanten technischen Elementen (Versform, Prosarhytmus u.ä.) der Weise entsprechen, in der sich der Autor ausgedrückt haben könnte.
  3. Alle Überlieferungsvariationen sollten aus dem vermuteten Originaltext unmittelbar oder mittelbar herleitbar sein. Dafür sind die obengenannten Fehlertypen wichtig, auch in Kombination miteinander.

Die einfachsten Eingriffe sind:

  1. eine bloße Änderung des Satzzeichens" (Sanskrit-Text haben sowieso keine authentische Interpunktion!)
  2. "die Änderung der Wortabtrennung" (Sanskrit-Handschriften schreiben den Text ohne Wortabtrennung, also sind Wortabtrennungen in Ausgaben sowieso nur die Interpretation des Herausgebers!)
  3. "die Änderung eines einzigen Buchstabens"

P. Maas "schließt mit der Bemerkung »methodisch lehrbar ist da freilich nichts«. Gerade die Emendation verlangt schöpferischen Blick und Geschick der Kombination. Die möglichen Überlegungen lassen sich nicht in einem Regelkanon erschöpfen." (Jäger, S. 53f.)


7.4. Textgeschichte


Eine Rahmentextgeschichte von Sanskrittexten, die als Bezugsrahmen für die Einzeltextgeschichte dienen könnte, ist noch ein Desiderat.


8. Die kritische Ausgabe


  • "In der kritischen Ausgabe wird versucht, einen möglichst authentischen Text dem Leser zugänglich zu machen.
  • Dabei soll der Leser zugleich erfahren, welche Quellen dem gedruckten Text zugrunde liegen,
  • welche Varianten in der Überlieferung vorkommen,
  • welches ihre Beziehungen zueinander sind
  • welche Überlieferungsschicksale der Text erfahren hat,
  • welche Entscheidungen der Herausgeber zwischen den Varianten getroffen hat
  • und welche Verbesserungsversuche an verdorbenen Stellen die früheren und der jetzige Herausgeber unternommen haben."

Zu jeder kritischen Ausgabe gehören:

Eine vorbildliche Gestaltung des kritischen Apparates findet man in der folgenden Ausgabe des griechischen Neuen Testamentes:

Novum testamentum Graece / post Eberhard Nestle et Erwin Nestle communiter ed. Barbara et Kurt Aland ... Apparatum criticum novis curis elaboraverunt Barbara et Kurt Aland una cum Instituto Studiorum Textus Novi Testamenti Monasterii Westphalia. -- 27., rev. Aufl.. -- Stuttgart : Deutsche. Bibelgesellschaft, 1993. -- 810 S.  -- ISBN 3-438-05100-1


Abb.: Die wichtigsten Symbole im kritischen Apparat des "Nestle" [Bildquelle: http://wwwṣkypoint.com/~waltzmn/CriticalEds.html. -- Zugriff am 2004-06-01]


Abb.: Eine Seite aus Nestle-Aland. Von mir gelb unterlegt: textkritische Symbole im Text

Zur Benutzung kritischer Ausgaben von Sanskrittexten: Bei jeder tiefergehenden Beschäftigung mit Sanskrittexten, sind

Oft erlebt man dann auch in Editionen durch große Indologen noch größere Überraschungen (z.B. bei Ausgaben durch Otto von Boehtlingk (1815 - 1904) oder Ludwig Alsdorf (1904 - 1978)): es kann sich herausstellen, dass der Text der freien Erfindung (divinatio) des Herausgebers entsprungen ist und in dieser Form nicht nur keine Grundlage in der Überlieferung hat, sondern dass auch die Emendationen höchst überflüssig sind, da durch Interpretation die überlieferte Textgestalt einen völlig schlüssigen Sinn erhält!!


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