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Payer, Alois <1944 - >: Einführung in die Exegese von Sanskrittexten : Skript. -- Kap. 9: Die eigentliche Exegese, Teil III: Zu einzelnen Fragestellungen diachronen und wirkungsgeschichtlichen Verstehens. -- Anhang A: Walter Arnold Kaufmann über Widersprüche und Quellenscheidung -- Fassung 2004-07-06. -- URL: http://www.payer.de/exegese/exeg09a.htm. -- [Stichwort].
Überarbeitungen: 2004-07-06 [revidiert]; 1996-01-21
Anlass: Lehrveranstaltung Proseminar Indologie WS 1995/96
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Quelle: Kaufmann, Walter Arnold <1921 - 1980>: Religion und Philosophie / Walter Kaufmann. -- München : Szczesny, 1966. -- 490 S. -- Originaltitel: Critique of religion and philosophy (1958). -- S. 414 - 429
Abb.: Walter Arnold Kaufmann (1921 - 1980), Philosophieprofessor in Princeton
Widersprüche
Man ist sich im allgemeinen gar nicht klar, wie häufig selbst in den
berühmtesten Werken der Literatur Widersprüche auftreten. Die These, eine
Dichtung müsse von Widersprüchen frei sein, wenn sie literarischen Rang
beanspruche, ist angesichts der Tatsachen absurd.
Am offensichtlichsten ist dies bei den vier Evangelien. So unglaublich es
klingt, so ist doch erwiesen, dass bei weitem die meisten Leser, heute wie
früher, die zahllosen Widersprüche zwischen den vier Evangelien sowie die
Widersprüche innerhalb der einzelnen Evangelien (die zwar viel seltener, aber
ebenso interessant sind) gar nicht bemerken. Ja, der Reiz, der die Gestalt Jesu
in den Evangelien umgibt, geht zum großen Teil auf diese Widersprüche zurück,
wenngleich die meisten Leser sie nicht bewusst aufnehmen. Und gerade diese
Widersprüche sind die Ursache dafür, dass Tausende von »Leben Jesu« und beinah
ebensoviele verschiedene Darstellungen seines Charakters geschrieben worden
sind.
Manche Leute meinen, wenn ein Buch den Eindruck der Wahrscheinlichkeit, der
Lebenswahrheit erwecken wolle, müsse es zuallererst frei von Widersprüchen sein.
Zweifellos ist ein gewisses Maß von Stimmigkeit erforderlich, aber lange nicht
so viel, wie die meisten meinen. Ein gewisses Maß von Widersprüchlichkeit
verhindert, dass uns das Ganze zu abstrakt vorkommt, und erweckt den Eindruck
von Veränderlichkeit und Möglichkeiten — und damit von Leben.
Es gibt eine Wahrscheinlichkeit, die das Gegenteil von dem erreicht, was sie
erreichen will: Sie will lebenswahr sein, aber sie tötet das Leben. Die Kunst
wirkt am lebendigsten, wenn sie dieser Wahrscheinlichkeit aus dem Wege geht.
Würde ein griechischer Torso schöner oder lebendiger, wenn wir ihm Arme
ansetzten oder einen Kopf? Würden wir ihn auch nur halb so sehr bewundern, wenn
wir ihn sehen könnten, wie er ursprünglich war? Es erforderte fünftausend Jahre,
um auf dem Gesicht des Zoser, der die Stufenpyramide von Saqqara aufführen ließ,
den unvergesslichen Ausdruck herauszubringen. Wenn wir eine zerbrochene Statue
sehen, fühlen wir die Struktur des Steins, in der Leben und Ungewissheit
schwingen. Ob wir uns davon Rechenschaft geben oder nicht, wir sinnen über die
Möglichkeiten des Menschen nach.
Es wäre zu viel gesagt, wenn man behauptete, dass alles Unwesentliche
geschwunden sei. Man wird kaum bestimmen können, was wesentlich ist. Wichtig
ist, dass das Übriggebliebene unsere alten Begriffe und auch diejenigen des
Künstlers in Frage stellt; etwas Neues ist sichtbar geworden. Es gibt Werke der
Literatur, die viel eindrucksvoller wären, wenn nur Bruchstücke erhalten wären.
Noch mehr trifft dies auf Werke der Bildhauerkunst zu. Eine Skulptur hat etwas
Anstößiges an sich: Sie ist ein Angriff auf Körper und Angesicht des Menschen,
die ja schließlich nicht einfach aus Stein sind — hart, unbiegsam und glatt.
Ein Gesicht und ein Körper sind niemals vollendet, solange sie noch leben. Darum
sind Michelangelos unvollendete Statuen lebendiger als die vollendeten.
Man betrachte zwei Darstellungen von Echnaton und Sesostris III. Bei beiden ist
die Nasenspitze abgebrochen, doch scheint nichts Wichtiges verloren zu sein.
Vielmehr erinnert uns diese Einbuße unmerklich daran, dass es hier nicht um
vorübergehende Ähnlichkeiten geht, die solch ein Mangel ruinieren könnte. Diese
Gesichter haben keinen Zweck. Jener kleine Verlust befreit. Unaufdringlich
leistet er, was so mancher moderne Künstler mit größerer Umständlichkeit
erreicht. Der »Schaden« befreit uns aus der Knechtschaft der Tatsachen und lässt
den Geist triumphieren.
Was eine Bruchstelle für eine Statue bedeuten kann, das bedeuten zuweilen
Widersprüche für ein Werk der Literatur. Aber in keinem Fall wäre es sinnvoll,
einen solchen Mangel als zuverlässiges Rezept zu verschreiben. Die Figuren des
Parthenonfrieses brauchen ihre Köpfe nicht; aber wenn man anderen Skulpturen die
Köpfe abschlägt, so werden sie dadurch dem Parthenonfries nicht ebenbürtig. Und
ebensowenig ist Widersprüchlichkeit ein Allheilmittel für literarische Werke.
Aber sie ist auch nicht notwendig ein Fehler; manchmal steigert sie vielmehr die
Vorzüglichkeit und den Reiz eines Werkes.
In seinem berühmten Monolog spricht Hamlet vom Tod als von dem »unentdeckten
Land, von des' Bezirk kein Wand'rer wiederkehrt«; und doch wird die ganze
Handlung des Stückes durch den Geist des alten Königs in Gang gebracht, der vom
Tod wiedergekehrt ist. Sollen wir uns Hamlet »dick« vorstellen, weil er an einer
Stelle so bezeichnet wird? Gewiss war Hamlet schlank. Oder als Dreißigjährigen,
wie eine andere Stelle besagt? Gewiss war er jünger. Was den größten Reiz
hervorruft, ist der scheinbare Widerspruch zwischen der Fühllosigkeit, die er
nach dem Tod des Polonius und gegenüber Rosencrantz und Guildenstern und selbst
gegenüber Ophelia an den Tag legt, und seiner Empfindlichkeit, zwischen seiner
Überstürztheit und seinem Zaudern.
In einer ihrer eindrucksvollsten Reden sagt Lady Macbeth:
»Ich hab' gesäugt und weiß,
Wie süß, das Kind zu lieben, das ich tränke;
Ich hätt', indem es mir entgegenlächelte,
Die Brust gerissen aus den weichen Kiefern,
Und ihm den Kopf geschmettert an die Wand,
Hätt' ich's geschworen, wie du dieses schwurst.«
Doch später, nach der Ermordung der Kinder des Macduff, sagt
dieser über Macbeth: »Er hat keine Kinder.«
Goethe hat Eckermann am 18. April 1827 auf diesen Widerspruch hingewiesen. Er
nahm nicht den geringsten Anstoß daran:
»Diese Worte des Macduff kommen also mit denen der Lady in Widerspruch; aber das kümmert Shakespeare nicht. Ihm kommt es auf die Kraft der jedesmaligen Rede an, und so wie die Lady zum höchsten Nachdruck ihrer Worte sagen musste: »Ich habe Kinder aufgesäugt« so musste eben auch zu diesem Zweck Macduff sagen: »Er hat keine Kinder«.«
Goethe fasst seine Meinung dahin zusammen,
»dass der Dichter seine Personen jedesmal das reden lässt, was eben an dieser Stelle gehörig, wirksam und gut ist, ohne sich viel und ängstlich zu bekümmern und zu kalkulieren, ob diese Worte vielleicht mit einer anderen Stelle in scheinbaren Widerspruch geraten möchten«.
An Weihnachten 1825 bemerkte Goethe zu Eckermann, er halte
»Macbeth« für »Shakespeares bestes Theaterstück«.
Wollte man Goethes Darlegung (die von den entgegengesetzten Schatten auf einer
Rubenslandschaft ausgeht und ganz allgemein das Recht des Künstlers auf
Widersprüchlichkeit verteidigt) kritisieren, so könnte man darauf hinweisen,
dass er nicht bemerkt, wie einschneidend der Widerspruch in »Macbeth« ist.
Schließlich ist die Frage, ob Macbeth Kinder hat, alles andere als
nebensächlich. Seine Wut, dass Banquos Nachkommen den Thron von ihm erben
sollen, sein Versuch, dies zu verhindern, und sogar die Absichten, mit denen er
nach dem Thron strebt, hängen eng mit der Frage zusammen, ob er Kinder besitzt.
Jede Hypothese, dass die Lady vorher schon einmal verheiratet gewesen sein
könnte oder dass sie ein Kind von Macbeth gehabt hätte, das frühzeitig verstarb,
hätte Goethes Spott verdient und würde an der Tatsache vorbeigehen, dass
Shakespeare einen der wichtigsten Punkte des Stücks dunkel gelassen hat.
Goethes »Faust«, das meistgelesene und am gründlichsten untersuchte Werk der
deutschen Literatur, enthält zahllose Widersprüche. Ich will nur auf zwei
hinweisen.
Der eine ist geringfügig, aber er veranschaulicht die Haltung des Dichters. Einige Reden sind »Gretchen« in den Mund gelegt und einige »Margarete«. Sie wurden zu verschiedenen Zeiten geschrieben, und Goethe sah sich nicht gehalten, den Unterschied auszugleichen: Er assoziierte gewisse Szenen mit dem vollen Namen und andere mit der Koseform.
Und zweitens hat Goethe den großen Monolog Fausts in der Szene
»Wald und Höhle« nicht geändert, wo Mephistopheles als Abgesandter des Erdgeists
beschrieben wird, auch nachdem der »Prolog im Himmel« hinzugekommen war, in dem
Gott selbst den Mephisto entsendet. Man kann zwar eine künstliche Stimmigkeit
hineindeuten, aber Goethe hätte solch ein Unternehmen belächelt. In seinen
Gesprächen finden sich viele diesbezügliche Bemerkungen.
Goethe hat ausdrücklich die »Kraft, die bei Shakespeare in Sprüngen und
plötzlichen Übergängen läge«, bewundert (Nr. 1187), und bei anderer Gelegenheit
sagte er:
»In der Poesie gibt es keine Widersprüche. Diese sind nur in der wirklichen Welt, nicht in der Welt der Poesie. Was der Dichter schafft, das muss genommen werden, wie er es geschaffen hat. So wie er seine Welt gemacht hat, so ist sie. Was der poetische Geist erzeugt, muss von einem poetischen Gemüt empfangen werden. Ein kaltes Analysieren zerstört die Poesie und bringt keine Wirklichkeit hervor. Es bleiben nur Scherben übrig, die zu nichts dienen und nur inkommodieren« (Nr. 625).
Und Goethes Freund und Nachlaßverwalter Friedrich von Müller berichtet:
»Ich hörte ihn oft behaupten: ein Kunstwerk, besonders ein Gedicht, das nichts zu erraten übrig ließe, sei kein wahres, vollwürdiges; seine höchste Bestimmung bleibe immer: zum Nachdenken aufzuregen; und nur dadurch könne es dem Beschauer oder Leser recht lieb werden, wenn es ihn zwänge, nach eigener Sinnesweise es sich auszulegen und gleichsam ergänzend nachzuschaffen« (Nr. 2280).
In ähnlichem Sinn schrieb Goethe am 1. Juni 1831, weniger als ein Jahr vor seinem Tod, an Zelter, dass er dabei sei, den zweiten Teil des »Faust« zu Ende zu führen und
»auch wohl dem fertig Hingestellten noch einige Mantelfalten umzuschlagen, damit alles zusammen ein offenbares Rätsel bleibe, die Menschen fort und fort ergötze und ihnen zu schaffen mache«.
Die radikalste Bemerkung aber findet sich in einem der wichtigsten Gespräche mit Eckermann, in dem vom 6. Mai 1827:
»Je inkommensurabler und für den Verstand unfasslicher eine poetische Produktion, desto besser.«
Quellenscheidung
Nirgendwo sonst haben Widersprüche soviel Aufregung verursacht
und eine so zahlreiche Sekundärliteratur ins Leben gerufen wie bei den
verschiedenen heiligen Schriften. Hier war es den Interpreten während der
letzten hundert Jahre nicht genug, sich nur mit offensichtlichen Widersprüchen
abzugeben: Sie haben geradezu nach Unstimmigkeiten gesucht — und sie nicht
selten erfunden. Eins der Axiome der sogenannten »höheren Bibelkritik« (die in
Deutschland entstand, sich aber rasch in England und in den Vereinigten Staaten
ausbreitete, wo sie heute nahezu allgemeine Anerkennung genießt, wenn man von
den Fundamentalisten absieht) lautet so: Wenn zwei Aussagen irgendwie nicht
zusammenstimmen, müssen sie von verschiedenen Autoren stammen. Die Absurdität
dieses Grundsatzes bemäntelt man mit dem schönen Namen »Quellenscheidung«.
Man vergegenwärtige sich, wie ein solcher »höherer Kritiker« Goethes »Faust«
zergliedern würde, der von einem einzigen Menschen im Lauf von sechzig Jahren
geschrieben wurde. Die Szenen, in denen die Heldin des ersten Teils »Gretchen«
genannt ist, würden einem ersten Autor zugeschrieben, und diejenigen, in denen
sie »Margarete« heißt, einem zweiten; die widersprüchlichen Auffassungen von der
Rolle, die Mephisto spielt, würden eine weitere Aufteilung veranlassen, und der
»Prolog im Himmel« würde auf einen späteren Bearbeiter zurückgeführt, während
man hinter dem »Vorspiel auf dem Theater« abermals einen anderen Autor erblicken
würde. Unser Kritiker würde nicht im geringsten daran zweifeln, dass der zweite
Teil aus einer anderen Zeit stamme und einer Vielzahl von Autoren mit sehr
verschiedenen Anschauungen zugehöre. Das Ende des vierten Aktes zum Beispiel
deutet auf einen Katholikenfeind hin, der über die Kirche spottet, während das
Ende des fünften Aktes, würde es heißen, von einem Mann geschrieben wurde, der
dem Katholizismus sehr wohlwollend gegenüberstand, wenn er auch wahrscheinlich
kein rechtgläubiger Katholik war. Wo finden wir mehr Unstimmigkeiten, was Stil,
Gedanken und Aufbau betrifft: In Goethes »Faust« oder in den fünf Büchern Mose?
Helmuth von Glasenapp, einer der bedeutendsten Kenner des Hinduismus, des
Jainismus und des Buddhismus, schreibt in dem Buch »Die Philosophie der Inder«
über die Bhagavadgita, die am meisten verehrte und geliebte religiöse Schrift
der Inder:
»Wiederholt ist der Versuch unternommen worden, eine »Urgîtâ« zu konstruieren und zwischen älteren und jüngeren Bestandteilen des Lehrgedichts zu scheiden. Diese Versuche können meines Erachtens immer nur subjektive Überzeugungskraft haben, da die Widersprüche oder Gedankensprünge, die den europäischen Gelehrten als Hinweise dafür dienen, dass der Text erweitert worden ist, von einem Inder vor zweitausend Jahren gar nicht als solche empfunden worden zu sein brauchen.«
Glasenapp geht dann näher auf den angeblichen Widerspruch zwischen Theismus und Pantheismus ein, der zu der Hypothese geführt hat, dass ein ursprünglich theistisches Werk später in pantheistischem Sinn umgearbeitet worden sei. Dagegen wendet er unter anderem ein,
»dass die europäische Vorstellung von der Gegensätzlichkeit von Theismus und Pantheismus in Indien nie Geltung gehabt hat« (170).
Was die Bibel betrifft, so ist hier das Verfahren der
Quellenscheidung noch durch einige weitere Theorien belastet, und die
verstiegenste könnte man als Mosaiktheorie bezeichnen.
Bis ins neunzehnte Jahrhundert galt die mosaische Theorie, nach der die fünf
Bücher Mose von Mose selbst geschrieben worden seien. Diese Theorie beruht auf
jüdischer Überlieferung, die in vorchristliche Zeiten zurückreicht, hat aber
keine klare Begründung in den Texten selbst. Die Schlussverse des fünften
Buches, die vom Tod des Mose berichten, schrieb die jüdische Tradition dem Josua
zu; aber die Genesis, in der Mose gar nicht erwähnt wird, galt als dessen Werk.
Spinoza führte in seinem »Theologisch-politischen Traktat« Gründe gegen die
Verfasserschaft des Mose an, und etwa hundert Jahre später, 1753,
veröffentlichte der französische Arzt Jean Astruc anonym ein Werk mit dem Titel
»Conjectures sur les mémoires originaux dont il paraît, que Moyse s'est servi
pour composer le livre de la Genèse«, worin er ausführte, es müsse zwei
Hauptquellen gegeben haben, deren Mose sich bei der Abfassung des Buches Genesis
bediente.
Die sogenannte »höhere Kritik« entstand mehr als hundert Jahre später und trägt
ganz den Stempel der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. In ihr
begegnen wir einer der tausenderlei Entartungen des Darwinismus: Sie will alles
als Evolution und (eine häufige Verwechslung) als Fortschritt begreifen.
Albright möchte in dem Buch »From the Stone Age to Christianity« (88) diese
Denkweise mehr auf den populären Hegelianismus als auf Darwinismus zurückführen,
aber diese beiden Einflüsse schließen einander nicht aus. Angesichts der Belege,
die Albright anführt, gibt es keinen Zweifel, dass auch der Hegelianismus
entscheidend auf die höhere Kritik eingewirkt hat. In der Einleitung zu dem Buch
»Prolegomena« (1878), das der höheren Kritik zum Durchbruch verhalf, verwies
Wellhausen auf Vatke, von dem er das meiste und das beste gelernt habe; und
Vatke war »ein begeisterter Hegelianer«, dessen »wichtigstes Buch zur biblischen
Theologie« (1835) mit Hegelscher Terminologie durchtränkt ist. Wellhausen und
seine Schule, der im letzten Jahrzehnt vor dem Weltkrieg so gut wie jeder
bedeutendere protestantische Alttestamentier angehörte, lassen ihre Hegelsche
Herkunft vielfach durchblicken.« Albright hat in der höheren Kritik zahlreiche
eindeutige Hegelianismen nachgewiesen, und sein Verzeichnis endet mit der
»Hegelschen Anschauung, dass die vollentwickelte Religion Israels sich nach und
nach vom primitiven Naturalismus zum erhabenen ethischen Monotheismus entfaltet
habe.«
Sicherlich kam ein verwilderter Darwinismus diesem Entwicklungsgedanken sehr
entgegen. Die für die höhere Kritik bezeichnendste These ist ganz und gar nicht
hegelianisch: nämlich die im wesentlichen neue Mosaiktheorie.
Dass sich schon vor der Niederschrift der fünf Bücher Mose
zahlreiche Traditionen herausgebildet hatten, wird kaum jemand bezweifeln. Auch
Shakespeare und Goethe benutzten alte Überlieferungen, und diese waren nicht
immer frei von Widersprüchen. Was die Bibel betrifft, so wird selbst ein Mann,
der den verschiedenen Überlieferungen nicht bewusst nachging, oftmals die
gleichen Geschichten von der Schöpfung, der Flut und den Patriarchen mit mehr
oder weniger starken Abweichungen — etwa von seinen beiden Großmüttern — gehört
haben. Falls er sich nun daranmachte, diese Geschichten niederzuschreiben oder
wenn er sie auch nur mündlich seinen Kindern und Kindeskindern weitererzählte,
sollte er da in jedem Fall zwischen den beiden sich widersprechenden Versionen
wählen und die eine unterdrücken, damit alles in sich übereinstimmte? Es ist
viel wahrscheinlicher, dass er beide zusammenlegte oder aber beide erzählte —
manchmal die eine gleich nach der andern, manchmal die erste bei der einen
Gelegenheit und die zweite am nächsten Sabbat oder ein, zwei Jahre später.
Die höhere Kritik ging nun weit über solche ganz vernünftige Überlegungen hinaus
und betrachtete die fünf Bücher Mose buchstäblich als ein Mosaik, wenn auch
dieses Wort nicht dafür gebraucht wurde. Man nahm an, dass der oder die
Redaktoren sozusagen mit Schere und Kleister gearbeitet hätten. Die höheren
Kritiker wetteiferten miteinander, einzelne Verse und Halbverse auf verschiedene
Quellen zurückzuführen, und übertrafen sich gegenseitig im »Entdecken« immer
neuer Quellen. Dies galt als die längst fällige wissenschaftliche
Auseinandersetzung mit der Bibel, war aber in Wirklichkeit unwissenschaftlich:
Es beruhte auf höchst unwahrscheinlichen Voraussetzungen, die unbesehen
hingenommen wurden, und die Kritiker verfuhren mit den einzelnen Texten recht
willkürlich.
Den Ausgangspunkt für die Quellenscheidung bildeten die zwei verschiedenen
Bezeichnungen, die in der Bibel für die Gottheit verwendet und im Deutschen als
»Gott« und als »Herr« wiedergegeben werden. Die erste lautet hebräisch »Elohim«;
das hebräische Wort für die zweite aber ist höchst problematisch. In den Texten
ohne Vokalpunkte besteht sie aus vier Buchstaben, und darum wird sie zuweilen
als »Tetragramma« bezeichnet. Diese Buchstaben werden gewöhnlich umschrieben,
als JHWH. Schon sehr früh, Jahrhunderte vor der Zeit Jesu, hörten die Juden auf,
diesen Namen auszusprechen; sie sagten statt dessen »'adonaj«, was »mein Herr«
bedeutet. Später, als der Text zuweilen mit Vokalpunkten geschrieben wurde,
erhielt das Tetragramm die Vokalpunkte des Wortes »'adonaj«, da man es »'adonaj«
lesen sollte, und so kam das christliche Mittelalter, das diesen Brauch
missverstand, zu der christlichen Form Jehova. Die Mehrzahl der heutigen
Forscher ist der Meinung, dass die ursprüngliche Aussprache wohl »Jahwe«
gelautet hat.
Wovon dieser Name abgeleitet ist und was er bedeutet — darüber ist man sich
nicht einig. Doch ist man sich einig, dass die Stelle Exodus 3.14 als Erklärung
gemeint ist. »Mose sprach zu Gott: Siehe, wenn ich zu den Kindern Israel komme
und spreche zu ihnen: Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt, und sie mir
sagen werden: Wie heißt sein Name? Was soll ich ihnen sagen? Gott sprach zu
Mose: 'ejeh 'ascher 'ejeh. Und sprach: Also sollst du zu den Kindern Israel
sagen: 'Ejeh schickt mich zu euch.« Die Lutherbibel überträgt den ersten
Ausdruck als »Ich werde sein, der ich sein werde«. Und den zweiten als »Ich
werde sein«.
Martin Buber (82 ff.) hat überzeugend dargetan, dass die Frage des Mose auf der
ägyptischen Auffassung beruht, man könne einen Gott beschwören, wenn man seinen
Namen wisse, während die Antwort Gottes bedeutet: »Ich werde dasein, als der ich
dasein werde.« Ich werde dasein, aber ihr könnt die Art und Weise meiner
Gegenwart nicht vorhersagen. Kurzum: Ihr braucht mich nicht zu beschwören, und
ihr könnt mich auch gar nicht beschwören. Das Tetragramm mit dem Anfangs-J, das
die dritte Person bezeichnet, würde dann bedeuten: Er ist da.
Die höhere Kritik geht von der Annahme aus, dass Verse, die das Wort »'elohim«
enthalten, von einem ersten Verfasser stammen müssen und Verse, in denen das
Tetragramm vorkommt, von einem andern. Den ersten Verfasser nennt man in
Ermangelung sonstiger Hinweise den »Elohisten« oder abgekürzt E. und den zweiten
den »Jahwisten« oder J. Man ist der Auffassung, dass nicht ein und dieselbe
Person sowohl die Verse, die in der deutschen Übertragung von »Gott« sprechen,
als auch jene, die vom »Herrn« sprechen, geschrieben haben kann. Ja, auch bei
den Bibelwissenschaftlern von heute, soweit sie keine Fundamentalisten sind,
gilt dies noch weithin als selbstverständlich, und man vergisst ganz, wie
überaus unwahrscheinlich diese Meinung schon rein äußerlich ist.
Wenn wir sie als Hypothese behandeln, wie weit kommen wir dann mit ihr? Was
geschieht, wenn wir die Verse mit »Gott« und die Verse mit »Herr« getrennt
aneinanderreihen? Erhalten wir jeweils einen eigenständigen, fortlaufenden Text?
Nein. Können wir Unterschiede in Stil und Gefühl und Einstellung beobachten?
Keineswegs. Außerdem finden sich zahlreiche Verse, angefangen beim zweiten
Genesiskapitel, in denen Gott als »Gott der Herr« (JHWH 'elohim) bezeichnet
wird. Unsere Hypothese benötigt eine ganze Menge Hilfshypothesen. Zu den
hypothetischen Verfassern J und E kommen zwei weitere hinzu: P, ein angeblich
»priesterlicher« Verfasser, und D, dem man vor allem das fünfte Buch Mose,
Deuteronomium, zubilligt. Aber das sind noch nicht alle: Als die Literatur
anwuchs und immer mehr junge Gelehrte ihren Beitrag zur Wissenschaft zu leisten
hatten, entdeckte man eine neue »Quelle« nach der anderen: J1 und J2, E1 und E2,
und so weiter.
Dass man es mit derlei verschiedenen Autoren zu tun habe, gehört zu den
unumstrittenen Spielregeln und ist auch weithin von den Laien hingenommen
worden; was aber die Aufgliederung der einzelnen Kapitel angeht, so herrscht
große Uneinigkeit. Selbst wo man sich weitgehend einig ist, wie im Fall der
Sintfluterzählung in den Genesiskapiteln 6-9, sollte man einmal die
grundlegenden Voraussetzungen überprüfen. Der interessierte Leser findet in Karl
Buddes »Geschichte der althebräischen Litteratur« (49 ff.) eine graphische
Darstellung dieses Mosaiks, und eine kurze Zusammenfassung all dieser
Anschauungen in S. R. Drivers Buch »An Introduction to the Literature of The Old
Testament« (14 f.).
Die gründlichste und eindrucksvollste Auseinandersetzung mit der höheren Kritik
ist leider nur wenig bekannt; es handelt sich um ein dickes Buch von mehr als
tausend Seiten, das 1934 in einer kleinen Auflage in Deutschland veröffentlicht
wurde: »Das erste Buch der Tora, Genesis, übersetzt und erklärt von B. Jacob«.
Der Kommentar behält stets die höhere Kritik im Auge; er deckt ihre Schwächen
auf und bringt andere Vorschläge. Und ein Anhang von hundert Seiten befasst sich
mit dem Thema »Quellenscheidung«.
Der höheren Kritik zufolge hätten sich die Redaktoren der biblischen Bücher alle
möglichen Freiheiten gestattet und die ihnen vorliegenden Texte nach Belieben
zerstückelt, indem sie hier einen halben Satz weiter nach unten verschoben und
dort dreieinhalb Sätze weiter nach oben rückten oder auch gleich ganze Stücke
der einzelnen Quellen unter den Tisch fallen ließen, wenn sie nicht in das
Mosaik passen wollten. Aber obgleich diese Hypothese von (tatsächlichen und
angeblichen) Unstimmigkeiten in der Bibel ausgeht, so macht sie doch diese
Unstimmigkeiten fast unerklärlich.
Dass der Redaktor sich das Recht angemaßt habe, Teile der beiden Handschriften
wegzulassen, aus denen er angeblich abschrieb, wird von Driver und seinen
Gesinnungsgenossen ausdrücklich gesagt, und kein höherer Kritiker könnte es
abstreiten, nachdem wir ja nicht zwei vollständige Darstellungen der Sintflut
finden, um nur ein Beispiel zu nennen; und Entdeckungen von willkürlichen
Umstellungen von Sätzen und halben Sätzen füllen die Schriften der höheren
Kritiker. Diesen Anschauungen nach müsste aber der Redaktor ein Trottel gewesen
sein, wenn er am Ende einen Text lieferte, der so voller Widersprüche steckt,
wie die höheren Kritiker meinen.
Der krasse Materialismus, der hinter der höheren Bibelkritik steht, ist nie
gehörig bemerkt worden. Nirgends finden wir ein vergleichbares Beispiel für das
mechanistische Denken, das Bergson kritisiert hat; diese Männer glaubten
tatsächlich, man könne ein Kunstgebilde als eine rein räumliche, aus einzelnen
Stücken zusammengesetzte Konstruktion erklären. Wir wissen von keinem
bedeutenderen Werk der Literatur, das auf diese Weise zustanden gekommen wäre,
selbst wenn wir davon absehen, dass der Künstler, der es so zusammengesetzt
haben soll, ein Trottel gewesen sein muss. Und die Genesis mit ihren kaum
hundert Seiten braucht nach Gehalt und Gestalt, in ihrer Unausschöpflichkeit und
in ihrer Wirkung auf das menschliche Denken und auf die Kunst, keinen Vergleich
mit irgendeinem anderen Buch, wie lang auch immer und in welcher Sprache auch
immer, zu scheuen.
Wie sollen wir dieses Buch lesen? Wenn man auf die enge Verwandtschaft von
Religion und Dichtung zu sprechen kommt, erhält man gewöhnlich die Antwort, ein
religiöses Buch sei nicht bloß Dichtung; und das stimmt. Aber zumindest sollte
man einem religiösen Buch ebenso zuvorkommend begegnen wie einer Dichtung und
sich an Goethes Wort erinnern:
»Was der poetische Geist erzeugt, muss von einem poetischen Gemüt empfangen werden. Ein kaltes Analysieren zerstört die Poesie und bringt keine Wirklichkeit hervor. Es bleiben nur Scherben übrig, die zu nichts dienen und nur inkommodieren« (vgl. § 87).
Die höhere Bibelkritik muss als Auflehnung gegen die Autorität
des Alten Testaments verstanden werden, die so lange fraglos hingenommen worden
war, und einige ihrer Hauptvertreter wollten offenbar das Buch und seinen Gott
bloßstellen. Ja, einige scheinen zu sagen: Dieser Gott ist gar nicht so groß und
geheimnisvoll — wir machen uns nichts daraus, ihn Jahwe zu nennen, um
klarzumachen, dass er nicht besser ist als Jupiter oder Aphrodite — und was das
Buch betrifft: Jeder einzelne von uns hätte es viel besser machen können.
Die höhere Bibelkritik ist eine bilderstürmerische Bewegung, blind für die
Schönheit der hebräischen Schriften, wie die Bilderstürmer zu Luthers Zeiten
blind waren für die Schönheit der Statuen, die sie zerstörten. Die höheren
Kritiker haben freilich die Texte nicht zerstört, aber sie haben mehrere
Geschlechter gelehrt, nichts weiter zu sehen als Scherben.
Die neuere Bibelwissenschaft ist von den wichtigsten Voraussetzungen der höheren
Bibelkritik abgegangen, aber ihre Arbeit ist noch nicht genügend beachtet
worden. Nyberg hat dargelegt, dass im Orient die mündliche Überlieferung im
Vordergrund steht:
»Kein muhammedanischer Gelehrter schlägt je eine Stelle in seinem Koran nach; das Buch muss auswendig gelernt werden und wird nur auswendig benutzt und zitiert.«
Er erzählt von einem Parsi-Priester, der die Yasna von Anfang bis Ende ohne Stocken aufsagen konnte, aber kein Wort davon verstand.
»Ein Buch hatte er allerdings«; aber als man ihn »um die Aussprache dieses oder jenes geschriebenen Wortes bat, musste er zuerst mühsam das erste Wort der Seite buchstabieren, und erst nachdem er so den Faden gefunden hatte, konnte er rezitieren, bis er auf das gewünschte Wort stieß« (7 f.).
Nyberg führt auch aus, dass die unhaltbaren Methoden der höheren Kritik zu einer Zeit entwickelt wurden,
»wo der gute Geschmack niedriger stand als vielleicht in irgendeiner anderen Epoche der europäischen Bildung« (5)
und als auch die klassischen Philologen dem Brauch huldigten,
allenthalben kühne, aber unbegründete Verbesserungen und Konjekturen
anzubringen. Nyberg erwähnt einen Gelehrten, der bei Horaz siebenhundert Stellen
»berichtigte« und behauptete, Miltons »Verlorenes Paradies« stecke voller
Interpolationen von anderer Hand. Ein anderer Latinist wartete mit so vielen
Emendationen zu Horaz auf, dass er am Ende eine »Neuausgabe der lyrischen
Gedichte« veranstalten konnte, die allerdings geradezu lächerlich wirkten (1
ff.).
Über die Beschäftigung mit dem Alten Testament meint Nyberg,
»dass die tollste Willkür auf diesem Gebiete jetzt langsam zu weichen beginnt, aber noch sind wir von einer klaren Besinnung auf das prinzipielle Problem weit entfernt. Der erste Schritt zur Besinnung ist aber die Erkenntnis der methodischen Fehler, die bisher bei der Textbehandlung gemacht worden sind« (13).
Und wenige Leser werden Nyberg widersprechen, wenn er sagt:
»Es ist zum Schluss an eine gute alte philosophische Regel zu erinnern: wenn man eine Stelle nicht versteht, so soll man zunächst sich selbst und nicht dem Text misstrauen« (16).
Ein anderer skandinavischer Wissenschaftler, Aage Bentzen, dessen zweibändige »Einführung in das Alte Testament« in den Vereinigten Staaten vielleicht mehr beachtet wird, ist nicht ganz so radikal wie Nyberg. Er umreißt die gegenwärtige Lage, indem er ein Gespräch zwischen zwei Alttestamentlern zitiert: Der erste verwahrt sich gegen das alte Verfahren: »Wir dürfen keine Konjekturen benützen, wenn es nicht unbedingt nötig ist«, worauf der zweite erwidert: »Und selbst dann ist es am besten, keine zu benützen« (97). Nach einem sechzigseitigen Überblick über den herkömmlichen masoretischen Text, den samaritanischen Text und andere alte Texte und Übersetzungen, unter denen besonders die Septuaginta hervorzuheben ist, kommt Bentzen zu dem Schluss:
»Die Veritas Hebraica steht, was die Zuverlässigkeit ihrer Überlieferung anlangt, über allen anderen Zeugnissen. Selbstverständlich ist sie nicht überall von gleicher Qualität: Die Tora ist verhältnismäßig gut erhalten . . . Die Überlieferung des Gesetzes wurde wahrscheinlich mit besonderer Sorgfalt überwacht« (101).
Von besonderem Interesse ist Bentzcns sehr ausführliche Übersicht über die ganze Geschichte der Bibelkritik bis zu den Arbeiten von Nyberg und einem weiteren wichtigen skandinavischen Gelehrten, I. Engnell, die am Anfang des zweiten Bandes steht.
»All dies zeigt, dass die Geschichte der älteren Dokumententheorie von etwa 1800 sich wiederholt: Die neue Dokumententheorie geht ihrer Auflösung entgegen« (11,16).
Aber die meisten Gelehrten behandeln die Genesis und die übrige
Tora immer noch zu sehr als bloße Geschichtsschreibung und vernachlässigen ihre
dichterische Eigenart und ihre Absicht, zu predigen.
Bentzen erklärt »die Dokumentenhypothese, ihre Grundlagen und ihre Methoden«
nicht ohne Wohlwollen und schreibt u. a.:
»Ständig stoßen wir auf verwirrende Wiederholungen, z. B. die zweifache Überlieferung der Schöpfung, wobei Widersprüche auftreten, die eine Möglichkeit auszuschließen scheinen, dass beide Fassungen von einem Autor herrühren« (24).
Trotz all den zahlreichen Beispielen, die Bentzen anführt, beruht dieser Schluss doch ganz auf der Annahme, es gehe in der Genesis hauptsächlich darum, alles zu erzählen, »wie es eigentlich gewesen ist«, um Rankes berühmtes Wort zu gebrauchen. Aber dies ist kaum die Absicht der Schöpfungsgeschichte (vgl. § 83), trotz dem Schlusssatz in dem folgenden Zitat nach Bentzen:
»Es ist richtig, dass solche Varianten und Widersprüche keine Beweise für die Dokumentenhypothese sind; sie beweisen nicht einmal überall, dass verschiedene Überlieferungen hinter den betreffenden Büchern stehen. Mündliche Überlieferung arbeitet mit Wiederholungen. Aber es ist übertrieben, wenn Cassuto behauptet, ein hypothetischer »maestro di altissimo genio« habe die alten Überlieferungen gesammelt und zu einem harmonischen Ganzen vereint und eine Erzählung daraus gebildet, die »eine organische und wohlzusammengeschweißte Einheit darstelle. Die beiden Schöpfungsgeschichten lassen sich nicht in Einklang bringen . . .« (25).
Weder mit diesem letzten Satz noch mit der Feststellung: »Es
gibt da Unterschiede in der Gottesvorstellung« (26) kann Bentzen Cassuto (393
f.) widerlegen — es sei denn, wir würden zugeben, dass weder »Macbeth« noch
»Faust« eine »organische und wohlzusammengeschweißte Einheit« bilden und darum
keinem »maestro di altissimo genio« zugeschrieben werden können.
Wer jemals mit einigem Gefühl für literarische Form geschrieben hat, muss es
zutiefst bedauert haben, wenn er eine von zwei widersprachlichen Aussagen
unterdrücken musste, vorausgesetzt, dass beide gut formuliert waren und beide
auch Dinge enthielten, die es wert waren, gesagt zu werden. Ein moderner
Philosoph wird sich im allgemeinen gehalten sehen, etwas zu unternehmen, um die
Unstimmigkeit zu beseitigen; aber ein moderner Dichter oder Prediger hält dies
nicht für unbedingt notwendig. Die Annahme, der Verfasser der Genesis habe unter
solch einem Zwang gestanden, ist absurd.
Das Sabbatgebot innerhalb des Dekalogs hat im Exodus (20.8 ff.) einen anderen
Wortlaut als im Deuteronomium (5.12 ff.). Darin liegt aber keinerlei
beunruhigender Widerspruch, es sei denn, wir bestehen darauf, was der Herr
tatsächlich gesagt haben soll. Die Rabbis haben natürlich diese Frage gestellt
und die Antwort gegeben, die allein vernünftig ist, wenn jemand überhaupt so
fragt: Gott konnte — anders als der Mensch — beides auf einmal sagen. Und wenn
gefragt würde, welche der beiden Erklärungen auf den Gesetzestafeln verzeichnet
war — vorausgesetzt, dass alles Platz darauf gehabt hätte —, könnte man
vermuten, dass die Worte aus dem Exodus auf dem ersten Paar standen, das Mose im
Zorn zerschlug, und die Worte aus dem Deuteronomium auf dem zweiten. Diese
Lösung ist etwa in dem Geist zu verstehen, in dem ein anderer Rabbi auf die
Frage antwortete, was Gott vor der Erschaffung der Welt getan habe: Er machte
Ruten für Leute, die solche Fragen stellen.
Es gibt überzeugende Gründe, Mose die Autorschaft am Pentateuch abzustreiten (Bentzen,
II, 10 ff., hat sie sehr gut zusammengefasst) und die Kapitel Jesaja 40 ff.
einem Propheten der Exilzeit zuzuschreiben und nicht dem Jesaja, der im achten
Jahrhundert lebte, also beinahe zweihundert Jahre früher. Diese und viele andere
Erkenntnisse ähnlicher Art vertiefen unser Verständnis des Textes. Die höheren
Kritiker aber klebten mehr am einzelnen Buchstaben als viele Fundamentalisten:
Sie nahmen die Erzählung von der Sintflut für Geschichtsschreibung und waren
ganz unglücklich über »Berichte«, die einander widersprachen. Gewiss enthalten
die späteren Bücher der Bibel sehr viel Geschichtliches, und selbst die Tora
lehnt sich allenthalben an historische Überlieferungen an; aber die Hauptabsicht
der fünf Bücher Mose bestand nicht darin, positivistische Geschichtsschreibung
zu leisten. Jede Textkritik, die von dieser Annahme ausgeht, ist unsinnig.
Man kann einwenden, die moderne Archäologie habe bewiesen, dass die Erzählungen
des Alten Testaments keineswegs nur Dichtung sind. Aber in dieser Hinsicht
konnten sich auch Heinrich Schliemann und Sir Arthur Evans von Homer leiten
lassen, um die richtigen Örtlichkeiten für ihre Ausgrabungen zu finden, und sie
haben gezeigt, dass Homers Gedichte und viele griechische Mythen immer wieder
historische Erinnerungen benutzten. Wir können auch Shakespeare lesen, um uns
über die Elisabethanischen Sitten zu unterrichten oder um herauszufinden, wie
das Englische zu seiner Zeit ausgesprochen wurde. Es ist gar nichts dagegen zu
sagen, wenn jemand die Bibel liest, um dies oder jenes herauszubekommen.
Unhaltbar ist aber jede Beschäftigung mit der Bibel und insbesondere mit der
Genesis, die stillschweigend annimmt, diese Bücher seien von Männern
geschrieben, denen es in erster Linie darauf angekommen wäre, derlei Auskünfte
zu geben.
Goethes Wort, das wir oben zitiert haben, geht zu weit in seiner grundsätzlichen
Ablehnung jeder Analyse. Auch Analyse ist notwendig. Sie kann sogar aus
Verehrung kommen. Allerdings lässt sich auch manches zugunsten einer
ehrfurchtslosen Haltung sagen. Doch darin hatte Goethe sicherlich recht:
»Was der poetische Geist erzeugt, muss von einem poetischen Gemüt empfangen werden.«
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