Einführung in die Exegese von Sanskrittexten : Skript

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Kap. 9: Die eigentliche Exegese, Teil III: Zu einzelnen Fragestellungen diachronen und wirkungsgeschichtlichen Verstehens


von Alois Payer

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Zitierweise / cite as:

Payer, Alois <1944 - >: Einführung in die Exegese von Sanskrittexten : Skript.  -- Kap. 9: Die eigentliche Exegese, Teil III: Zu einzelnen Fragestellungen diachronen und wirkungsgeschichtlichen Verstehens. -- Fassung 2004-07-06. -- URL: http://www.payer.de/exegese/exeg09.htm. -- [Stichwort].

Überarbeitungen: 2004-07-06 [revidiert];  1996-01-21

Anlass: Lehrveranstaltung Proseminar Indologie WS 1995/96

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0. Übersicht



1. Zu B1/B2: Werdegang des Textes


Vgl. auch Kapitel 8, zu A1 !

Die Möglichkeiten, die für anonyme Literatur in Betracht gezogen werden müssen, fasst R. C. Hazra für die Purâ.nas folgendermaßen zusammen:

"But in the majority of cases the Puranas have not come down to us with their early incorporations, because tradition demanded that they should be re-edited with the changes in society so that their importance as works of authority might not decrease. Now, the work of re-editing could be done in three ways: viz.,
  1. by adding fresh chapters to the already existing ones,
  2. by substituting the latter by the former, and
  3. by writing new works bearing old titles.

All these processes being equally practised with respect to the Puranas, some retained their earlier materials, some lost many of the earlier chapters which were replaced by others of later dates, and some became totally new works. But they had a common feature in that all of them came to have units belonging to different ages. It should be mentioned here that fresh additions to the Puranas were not always fresh compositions, but chapters and verses were often transferred from one Purana to another or from the Smrti and other works to the Puranas, obviously to enrich the latter. ... sections on holy places etc. were composed by different people at different times and freely attached to the Puranas as their integral parts, so that the extents of these works varied. People also took absolute liberty in making chages in the texts of the Puranas. Consequently textual corruptions increased hopelessly."

[Quelle: Hazra, R. C. (Rajendra Chandra) <1905-1982>: Studies in the Purânic records on Hindu rites and customs. -- 2d ed. (reprint of the  1. ed., Dacca,1940). -- Delhi : Motilal Banarsidass, 1975. -- 367 S.  -- Zugl.: Univ. of Dacca, Diss. -- S. 6f.]

Beim Versuch, den Werdegang eines Textes zu rekonstruieren, könnte man nach dem Muster der alttestamentlichen Exegese zwischen den Überlieferungsvorgängen mündlicher und den Überlieferungsvorgängen schriftlicher Art unterscheiden, die dem vorliegenden Text vorausgehen. Mit den Überlieferungsvorgängen schriftlicher Art befasst sich die Literarkritik und die Redaktionsgeschichte, mit den Überlieferungsvorgängen mündlicher Art die Überlieferungsgeschichtliche Fragestellung. Obwohl eine Auseinandersetzung mit diesen Methoden einem Indologen viel zur methodologischen Klärung beiträgt, ist die genannte Trennung im Bereich der Indologie nur von beschränktem Wert, da die mündliche Überlieferung in Indien nicht grundsätzlich von der schriftlichen verschieden ist.

Zur Rekonstruktion der Vorgeschichte eines Textes kann man textinterne oder externe Gegebenheiten heranziehen.

Externe Gegebenheiten sind z.B..:

Als Beispiel textinterner Gegebenheiten diene die Übersicht über "Anzeichen literarischer Uneinheitlichkeit"  von O. H. Steck:

"1. Anzeichen literarischer Uneinheitlichkeit. ... Folgende Sachverhalte sind dabei wichtig:
  1. Dubletten: der gleiche inhaltliche Zug ist innerhalb desselben Abschnitts zweimal formuliert;
  2. Doppel- oder Mehrfachüberlieferungen: das gleiche Stück kommt innerhalb größerer Textkomplexe (in verschiedener Fassung) mehrfach vor;
  3. sekundäre Verklammerungen: die Formulierungen verschiedener Textteile sind deutlich erkennbar ausgeglichen und miteinander verbunden;
  4. Spannungen im Wortlaut (Lexikalisches, Grammatikalisches, Syntaktisches, Terminologie) insbesondere Widersprüche und Brüche im Textablauf;
  5. Differenzen in Redeweise und Stil (Form, Sprachgebrauch; Poesie und Prosa im selben Text);
  6. Unterschiede des historischen Hintergrundes (zeit-, kult-, rechts- und theologiegeschichtliche Gegebenheiten);
  7. für bestimmte literarische Schichten bzw. Quellen signifikante theologische Aussagen, Redewendungen, Spracheigentümlichkeiten;
  8. inhaltliche Spannungen und Unebenheiten sowie gattungsatypische Elemente."

[Quelle: Steck, Odil Hannes <1935-2001>: Exegese des Alten Testaments : Leitfaden der Methodik; ein Arbeitsbuch für Proseminare, Seminare und Vorlesungen. -- 14. durchges. und erw. Aufl. -- Neukirchen-Vluyn : Neukirchener Verl. , 1999. -- 211 S. -- ISBN 3-7887-1586-3. -- S. 53]

Im darauf folgenden Text nennt der Autor Einschränkungen für diese Kriterien.

Nur mit größtem Misstrauen muss man Versuchen begegnen, aufgrund anscheinender oder echter Widersprüche und Inkonsistenzen in einem Text eine Scheidung in verschiedene Quellen vorzunehmen oder spätere Zusätze von einer Urform zu trennen. Es gilt allgemein, was H. v. Glasenapp bezüglich der Bhagavadgîtâ sagt:


Abb.: Helmuth von Glasenapp (1891 - 1963), Professor in Königsberg (1928) und Tübingen (1946)

"Wiederholt ist der Versuch unternommen worden, eine 'Urgita` zu konstruieren und zwischen älteren und jüngeren Bestandteilen des Lehrgedichts zu scheiden. Diese Versuche können meines Erachtens immer nur subjektive Überzeugungskraft haben, da die Widersprüche oder Gedankensprünge, die den europäischen Gelehrten als Hinweise dafür dienen, dass der Text erweitert worden ist, von einem Inder vor 2000 Jahren gar nicht als solche empfunden worden zu sein brauchen."

Glasenapp bringt als Beispiel den angeblichen Gegensatz von Theismus und Pantheismus, der in R. Garbe's Rekonstruktion einer Urgîtâ vorausgesetzt wird, und sagt,

"dass die europäische Vorstellung von der Gegensätzlichkeit von Theismus und Pantheismus in Indien nie Geltung gehabt hat, da schon in den Upanishaden der Urgrund alles Seins oft als ein persönlicher Weltenherr aufgefasst wird."

[Quelle: Glasenapp, Helmuth von <1891 - 1963>: Die Philosophie der Inder : eine Einführung in ihre Geschichte und ihre Lehren. -- 4. Aufl.. -- Stuttgart : Kröner, 1985. - XI, 511 S.  -- (Kröners Taschenausgabe ; 195). -- ISBN 3-520-19504-6. -- S. 170]

Beachtenswert sind auch folgende Aussagen von Wendy Doniger (bzw. O'Flaherty), fußend auf Beobachtungen bei Tamilen von Sherryl B. Daniel:


Abb.: Wendy Doniger bzw. Wendy O'Flaherty, Professorin in Chicago (1972)

"Man könnte den Standpunkt vertreten (den auch ich früher vertreten habe), dass die Inder nicht all die anderen Ansätze zu einer Theodizee entwickelt hätten, wenn sie die Karma-Theorie emotional wirklich befriedigt hätte. dass sich die Dinge jedoch anders verhalten, geht aus einer interessanten Untersuchung über die Art und Weise hervor, wie indische Dorfbewohner die Karma-Theorie um weitere Erklärungsversuche ergänzen."

Es folgt die Schilderung eines Falles des Freitodes eines Diebes namens Kandasamy in einem tamilischen Dorf.

"'A crowd of villagers had gathered around the hospital and in the street outside. Those gatheres openly discussed the case with little regard for the feelings of the family and friends who were present.' Einige tadelten Kandasamy für seine Vermeßenheit und sahen in seiner Tat seine freie Entscheidung, andere sagten, er sei das Opfer des Schicksals geworden und hilflos gewesen, wieder andere, Gott habe sich mit ihm einen grausamen Scherz erlaubt. Dieselben Argumente lassen sich auch für jede andere der an diesem Drama beteiligten Personen verwenden. Daniel sieht darin einen 'pragmatischen Relativismus`, der es Menschen erlaubt, Erklärungen wie Werkzeuge aus einem 'Werkzeugkasten` für alles zu haben, und der es sogar ermöglicht, dass ein und dieselbe Person zu verschiedenen Zeiten auf verschiedene Erklärungen zurückgreifen kann. Wie Charles Keyes zu diesem Vorgang bemerkt: 'Ideas that have explanatory and predictive value are not always used with the logical consistency of theology'. Aber nicht einmal die Theologie selbst hat immer die Konsistenz der Theologie, zumindest nicht in Indien. Als ein Student sich auf die Cambridge Modern History als `verläßliche Quelle` berief, bemerkte Arnaldo Momigliano: `Cambridge Modern History ist nicht die Bibel. Auch die Bibel ist nicht die Bibel.' Sheryl Daniels Datenmaterial und der Schluss, den sie daraus zieht, stützen eine Hypothese, die auch aus den Daten des Buches hätte abgeleitet werden können, in welchem ich die Karma-Lösung des Problems der Theodizee erstmals kritisierte (ohne ihre Bedeutung freilich zu erkennen). Südasiaten neigen nämlich dazu, zahlreiche einander widersprechende Erklärungen für ein interessantes Problem zu entwickeln und diese nebeneinander stehenzulassen. dass sie dies auch beim Problem des Bösen taten, bedeutet deshalb nicht, dass sie die Karma-Lösung unbefriedigend gefunden hätten, sondern nur, dass sie wie gewöhnlich den Vorrat ihrer Erklärung vergrößern wollten."

[O'Flaherty, Wendy: Emotion und Karma. --  In: Max Webers Studie über Hinduismus und Buddhismus : Interpretation u. Kritik / Hrsg. von Wolfgang Schluchter. -- Frankfurt am Main : Suhrkamp, 1984. -- 381 S.  -- (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft ; 473). -- ISBN: 3-518-28073-2. -- S. 94 - 96]

Als letzte Warnung gegen die "höhere Kritik", wie sie sich unter dem Einfluss insbes. der Theologie auch in der Indologie breit macht, diene folgender Text von Walter Kaufmann:


Abb.: Walter Arnold Kaufmann (1921 - 1980), Philosophieprofessor in Princeton

"Man ist sich im allgemeinen gar nicht klar, wie häufig selbst in den berühmtesten Werken der Literatur Widersprüche auftreten. Die These, eine Dichtung müsse von Widersprüchen frei sein, wenn sie literarischen Rang beanspruche, ist angesichts der Tatsachen absurd.

Am offensichtlichsten ist dies bei den vier Evangelien. So unglaublich es klingt, so ist doch erwiesen, dass bei weitem die meisten Leser, heute wie früher, die zahllosen Widersprüche zwischen den vier Evangelien sowie die Widersprüche innerhalb der einzelnen Evangelien ... gar nicht bemerken." (S. 414)

"Nirgendwo sonst haben Widersprüche soviel Aufregung verursacht und eine so zahlreiche Sekundärliteratur ins Leben gerufen wie bei den verschiedenen heiligen Schriften. Hier war es den Interpreten während der letzten hundert Jahre nicht genug, sich nur mit offensichtlichen Widersprüchen abzugeben: Sie haben geradezu nach Unstimmigkeiten gesucht - und nicht selten gefunden. Eins der Axiome der sogenanten 'höheren Bibelkritik' ... lautet so: Wenn zwei Aussagen irgendwie nicht zusammenstimmen, müssen sie von verschiedenen Autoren stammen. Die Absurdität dieses Grundsatzes bemäntelt man mit dem schönen Namen 'Quellenscheidung`. Man vergegenwärtige sich, wie ein solcher 'höherer Kritiker` Goethes `Faust` zergliedern würde, der von einem einzigen Menschen im Lauf von sechzig Jahren geschrieben wurde. Die Szenen, in denen die Heldin des ersten Teil`s `Gretchen` genannt ist, würden einem ersten Autor zugeschrieben, und diejenigen, in denen sie `Margarete` heißt, einem zweiten; die widersprüchlichen Auffassungen von der Rolle, die Mephisto spielt, würden eine weitere Aufteilung veranlassen, und der 'Prolog im Himmel` würde auf einen späteren Bearbeiter zurückgeführt, während man hinter dem 'Vorspiel auf dem Theater' abermals einen anderen Autor erblicken würde. Unser Kritiker würde nicht im geringsten daran zweifeln, dass der zweite Teil aus einer anderen Zeit stamme und einer Vielzahl von Autoren mit sehr verschiedenen Anschauungen zugehöre. Das Ende des vierten Aktes zum Beispiel deutet auf einen Katholikenfeind hin, der über die Kirche spottet, während das Ende des fünften Aktes, würde es heißen, von einem Mann geschrieben wurde, der dem Katholizismus wohlwollend gegenüberstand, wenn er auch wahrscheinlich kein rechtgläubiger Katholik war." (s. 418f.)

"Diesen Anschauungen nach müsste aber der Redaktor ein Trottel gewesen sein, wenn er am Ende einen Text lieferte, der so voller Widersprüche steckt, wie die höheren Kritiker meinen." (S. 424)

[Quelle: Kaufmann, Walter Arnold <1921 -  1980>: Religion und Philosophie / Walter Kaufmann. -- München : Szczesny, 1966. -- 490 S. -- Originaltitel: Critique of religion and philosophy (1958). -- S. 414, 418f., 424]

Der ganze Text von Walter Kaufmann in Anhang A


2. Zu C3: Wie und warum wurde der Text tradiert



Zu Kapitel 10: Zur Abfassung eines Kommentars in Sanskrit