Einführung in die Exegese von Sanskrittexten : Skript

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Kap. 8: Die eigentliche Exegese, Teil II: Zu einzelnen Fragestellungen synchronen Verstehens


von Alois Payer

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Zitierweise / cite as:

Payer, Alois <1944 - >: Einführung in die Exegese von Sanskrittexten : Skript.  -- Kap. 8: Die eigentliche Exegese, Teil II: Zu einzelnen Fragestellungen synchronen Verstehens. -- Fassung vom 2007-02-14. -- URL: http://www.payer.de/exegese/exeg08.htm. -- [Stichwort].

Überarbeitungen:  2007-02-14 [Ergänzungen];  2004-07-24 [Ergänzungen];  2004-07-05 [revidiert]; 1996-01-21

Anlass: Lehrveranstaltung Proseminar Indologie WS 1995/96

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0. Übersicht


Anhänge:


1. Zu A1: Datierung und Urheberschaft des Textes


Die Fragen der Urheberschaft und insbesondere der Datierung sind keine unnötigen chronologischen Spekulationen, sondern sie sind wesentlich zum historischen Verständnis eines Werkes: man stelle sich vor, man wisse nicht, ob Schillers "Räuber" 1781 oder 1500 oder 1900 entstanden sind! Genau das ist aber oft die Situation bei indischen Werken; dabei war in Indien der historische Wandel keineswegs geringer als in Europa.

Für Datierung und Urheberschaft eines Textes gelten noch heute im wesentlichen die Aussagen von Moriz Winternitz:


Abb.: Moriz Winternitz (1863 - 1937), Professor in Prag 1911 - 1934

"Vor allem ist die Chronologie der indischen Literaturgeschichte in ein geradezu beängstigendes Dunkel gehüllt, und es bleiben der Forschung hier noch die meisten Rätsel zu lösen. Es wäre ja so schön, so bequem und namentlich für ein Handbuch so erwünscht, wenn man die indische Literatur in drei oder vier große, durch bestimmte Jahreszahlen abgegrenzte Perioden einteilen und die verschiedenen literarischen Erzeugnisse in der einen oder anderen dieser Perioden unterbringen könnte. Aber jeder derartige Versuch müsste bei dem gegenwärtigen Stande der Wissenschaft scheitern, und die Anführung von hypothetischen Jahreszahlen wäre nur ein Blendwerk, welches mehr schaden als nützen würde. Es ist viel besser, sich über die Tatsache klar zu sein, dass wir für den ältesten Zeitraum der indischen Literaturgeschichte gar keine und für die späteren Perioden nur wenige sichere Zeitangaben machen können. Vor Jahren hat der berühmte amerikanische Sanskritforscher W. D. Whitney den seither oft wiederholten Satz ausgesprochen: "Alle in der indischen Literaturgeschichte gegebenen Daten sind gleichsam wieder zum Umwerfen aufgesetzte Kegel." Und zum großen Teil ist dies noch heute der Fall. Noch heute gehen die Ansichten der bedeutendsten Forscher in Bezug auf das Alter der wichtigsten indischen Literaturwerke nicht etwa um Jahre und Jahrzehnte, sondern gleich um Jahrhunderte - wenn nicht gar um ein bis zwei Jahrtausende - auseinander. Was sich mit einiger Sicherheit feststellen lässt, ist meist nur eine Art relativer Chronologie. Wir können oft sagen: dieses oder jenes Werk, diese oder jene Literaturgattung ist älter als irgendeine andere; allein, über das wirkliche Alter derselben lassen sich bloß Vermutungen aufstellen. Das sicherste Unterscheidungsmerkmal für diese relative Chronologie ist immer noch die Sprache. Weniger zuverlässig sind schon stilistische Eigentümlichkeiten; denn es ist in Indien oft vorgekommen, dass jüngere Werke den Stil einer älteren Literaturgattung nachgeahmt haben, um sich den Anschein von Altertümlichkeit zu geben. Gar oft wird aber auch die relative Chronologie dadurch zuschanden, dass viele Werke der indischen Literatur - und gerade diejenigen, welche die volkstümlichsten waren und darum auch für uns am wichtigsten sind - mannigfache Überarbeitungen erfahren haben und in verschiedenen Umgestaltungen auf uns gekommen sind. Finden wir z.B. in einem halbwegs datierbaren Werke das Rāmāyaṇa oder das Mahābhārata zitiert, so erhebt sich immer erst die Frage, ob sich dieses Zitat auf die Epen bezieht, wie sie uns vorliegen, oder auf ältere Gestalten derselben. Noch größer wird aber die Unsicherheit dadurch, dass uns für die große Mehrzahl von Werken der älteren Literatur die Namen der Verfasser so gut wie unbekannt sind. Sie werden uns als die Werke von Familien, von Schulen oder Mönchsgemeinden überliefert, oder aber es wird ein sagenhafter Seher der Vorzeit als Verfasser genannt. Und wenn wir endlich zu einer Zeit kommen, wo wir es mit Werken ganz bestimmter individueller Schriftsteller zu tun haben, da werden dieselben in der Regel nur mit ihren Familiennamen angeführt, mit denen der Literaturhistorisker Indiens ebensowenig anzufangen weiß wie etwa ein deutscher Literaturhistoriker mit den Namen Meier, Schultze oder Müller, wenn dieselben ohne Vornamen gegeben werden. Erscheint z.B. ein Werk unter dem Namen des Kālidāsa, oder wird der Name Kālidāsa irgendwo erwähnt, so ist es noch keineswegs sicher, dass der große Dichter dieses namens gemeint ist, - es kann ebensogut ein anderer Kālidāsa sein.

In diesem Meer von Unsicherheit gibt es nur einige feste Punkte, die ich hier, um den Leser nicht allzusehr zu erschrecken, anführen möchte.

Da ist vor allem das Zeugnis der Sprache, welches beweist, dass die Lieder und Gesänge, Gebete und Zauberformeln des Veda unstreitig das Älteste sind, was wir von indischer Literatur besitzen. Sicher ist ferner, dass um 500 vor Christo der Buddhismus in Indien entstanden ist [gilt nicht mehr, s. meine Bemerkung nach dem Zitat A.P.], und dass derselbe die ganze vedische Literatur ihren Hauptwerken nach als abgeschlossen voraussetzt, so dass man behaupten kann: Die vedische Literatur ist, abgesehen von ihren letzten Ausläufern, im großen und ganzen vorbuddhistisch, d.h. sie war vor 500 v. Chr. abgeschlossen. Auch ist die Chronologie der buddhistischen und jainistischen Literatur glücklicherweise nicht gar so unsicher wie die der brahmanischen. Die Überlieferungen der Buddhisten und der Jainas in Bezug auf die Entstehung beziehungsweise Sammlung ihrer kanonischen Werke haben sich als ziemlich zuverlässig erwiesen. Und Inschriften auf den uns erhaltenen Ruinen von Tempeln und Thopen dieser religiösen Sekten geben uns dankenswerte Hinweise auf die Geschichte ihrer Literatur.

Die sichersten Daten der indischen Geschichte sind aber jene, welche wir nicht von den Indern selbst haben. So ist der Einfall Alexanders des Großen in Indien im Jahre 326 v. Chr. ein gesichertes Datum, welches auch für die indische Literaturgeschichte von Wichtigkeit ist, namentlich wenn es sich darum handelt, zu entscheiden, ob in irgendeinem Literaturwerk oder einer Literaturgattung griechischer Einfluss anzunehmen sei. Von den Griechen wissen wir auch, dass um 315 v. Chr. Candragupta, der Sandrakottos der griechischen Schriftsteller, die Empörung gegen die Präfekten Alexanders mit Erfolg leitete, sich des Thrones bemächtigte und der Begründer der Mauryadynastie in Pāṭaliputra (dem Palibothra der Griechen, dem heutigen Patna) wurde. Um dieselbe Zeit oder wenige Jahre später war es, dass der Grieche Megasthenes von Seleukos als Gesandter an den Hof des Candragupta geschickt wurde. Die uns erhaltenen Bruchstücke der von ihm verfassten Beschreibung Indiens (TA INDIKA) geben uns ein Bild von dem Stand der indischen Kultur zu jener Zeit und gestatten uns auch Schlüsse auf die Datierung mancher indischer Literaturwerke. Ein Enkel des Candragupta ist der berühmte König Aśoka, der um 259 (oder 269) v. Chr. gekrönt wurde, und von dem die ältesten datierbaren indischen Inschriften herrühren, die bis jetzt gefunden worden sind. ...

Nächst den Griechen sind es die Chinesen, denen wir einige der wichtigsten Zeitbestimmungen für die indische Literaturgeschichte verdanken. Vom ersten Jahrhundert n. Chr. angefangen hören wir von buddhistischen Missionären, welche nach China gehen und buddhistische Werke ins Chinesische übersetzen, von indischen Gesandtschaften in China und von chinesischen Pilgern, welche nach Indien wallfahren, um die heiligen Stätten des Buddhismus aufzusuchen. Werke der indischen Literatur werden ins Chinesische übersetzt, und die Chinesen geben uns die genauen Daten, wann diese Übersetzungen gemacht wurden. Drei chniesische Pilger sind es namentlich - Fa-hian, der im Jahre 399 nach Indien ging, Hiuen-Tsiang, der von 630-645 große Reisen in Indien machte, und I-tsing, der sich von 671-695 in Indien aufhielt -, deren Reiseberichte uns erhalten sind und manche lehrreiche Aufschlüsse über indische Altertümer und Literaturwerke geben. Die chronologischen Angaben der Chinesen sind im Gegensatz zu denen der Inder merkwürdig genau und zuverlässig. Von den Indern gilt nur zu sehr, was schon der arabische Reisende Albērūni, der im Jahre 1030 ein für uns ebenfalls sehr wichtiges Werk über Indien schrieb, von ihnen gesagt hat:

"Die Inder schenken leider der historischen Folge der Dinge nicht viel Aufmerksamkeit; sie sind sehr nachlässig in der Aufzählung der chronologischen Reihenfolge ihrer Könige, und wenn man sie zu einer Aufklärung drängt und sie nicht wissen, was sie sagen sollen, so sind sie gleich bereit, Märchen zu erzählen."

Dennoch darf man nicht glauben, dass den Indern, wie so oft behauptet worden ist, der historische Sinn ganz und gar mangelt. Es hat auch in Indien, wie wir sehen werden, eine Geschichtsschreibung gegeben; und jedenfalls finden wir in Indien zahlreiche genau datierte Inschriften, - was doch kaum der Fall wäre, wenn die Inder gar keinen Sinn für Geschichte gehabt hätten. Richtig ist nur, dass die Inder bei ihrer Geschichtsschreibung Dichtung und Wahrheit nie streng auseinanderzuhalten wussten, dass ihnen die Dinge selbst stets wichtiger waren als die chronologische Folge derselben, und dass sie namentlich in literarischen Dingen auf das Früher oder Später gar kein Gewicht legten. Was immer dem Inder gut, wahr und richtig scheint, das rückt er in ein möglichst hohes Alter hinauf; und wenn er irgendeiner Lehre eine besondere Weihe geben will, oder wenn er wünscht, dass sein Werk möglichst verbreitet werde und zu Ansehen gelange, so hüllt er seinen Namen in ein bescheidenes Inkognito und gibt irgendeinen uralten Weisen als Verfasser des Werkes an. Das geschieht noch heutigen Tages, und das war schon in verflossenen Jahrhunderten nicht anders. Daher kommt es auch, dass so viele ganz moderne Werke unter den altehrwürdigen Namen von Upaniṣads oder Purāṇas gehen, - neuer, saurer Wein in alte Schläuche gegossen. Die Absicht eines Betrugs ist aber dabei in der Regel ausgeschlossen. Es herrscht nur die äußerste Gleichgültigkeit in Bezug auf literarisches Eigentumsrecht und die Geltendmachung desselben. Erst in den späteren Jahrhunderten kommt es vor, dass Autoren ihren Namen mit großer Umständlichkeit unter Anführung ihrer Eltern, Großeltern, Lehrer und Patrone angeben und einige dürftige biographische Angaben über sich selbst machen. Die Verfasser astronomischer Werke pflegen dann wohl auch das genaue Datum des Tages, an welchem sie ihr Werk vollendet, anzugeben. Vom fünften Jahrhundert n. Chr. an geben uns endlich über die Zeit mancher Schriftsteller auch schon die Inschriften Aufschluss."

[Quelle: Winternitz, Moriz <1863 - 1937>: Geschichte der indischen Litteratur. --  Leipzig : Amelung.
Band 1. -- 1908. -- (Die Litteraturen des Ostens in Einzeldarstellungen ; 9,1). -- S.23 - 28.]

Was Winternitz über die ziemlich sichere Datierbarkeit von Gautama Buddha sagt, ist durch Heinz Bechert begründet in Frage gestellt worden:

Bechert, Heinz <1932 - >: Die Lebenszeit des Buddha - das älteste feststehende Datum der indischen Geschichte? -- Göttingen : Vandenhoeck & Ruprecht, 1986. -- 58 S. -- (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-Historische Klasse ; Jg. 1986, Nr. 4). -- ISBN 3-525-85116-2

The dating of the historical Buddha = Die Datierung des historischen Buddha / ed. by Heinz Bechert. -- Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht. -- (Symposien zur Buddhismusforschung ; 4,1 - 4,3)(Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-Historische Klasse ; Folge 3, Nr. 189, 194, 222)
Band 1. --  1991. -- XV, 525 S.
Band 2. --  1992. -- X, 530 S.

In vorbildlicher Weise diskutiert Verfasser- und Datierungsfragen für eine ganze Literaturgattung:


Abb.: Sten Konow (1867 - 1948); Professor in Kopenhagen (1910), Hamburg (1914), Oslo (1919)

Konow, Sten <1867 - 1948>: Das indische Drama. - Berlin [u. a.] : de Gruyter, 1920. - (Grundriss der indo-arischen Philologie und Altertumskunde; II. Bd, 2.Heft D). -- 136 S.

In der Praxis wird man oft nicht viel mehr können, als die verschiedenen Auffassungen zu Verfasserschaft und Datierung zusammenzustellen und insbesondere ihre Begründungen kritisch zu überprüfen (Aus welcher Zeit stammt die Information über die Verfasserschaft? usw.).

Ein Versuch, statistische Methoden der Textanalyse zur Bestimmung der Autorschaft einzelner Teile eines klassischen indischen Werkes anzuwenden und damit gleichzeitig eine Quellenscheidung vorzunehmen und den Werdegang des Textes zu untersuchen (s. Kapitel 9) ist:


Abb.: Thomas R. Trautmann [Bildquelle:  http://www.lsa.umich.edu/humin/staff/index.html. -- Zugriff am 2002-11-07]

Trautmann, Thomas R.: Kautilya and the Arthasastra : a statistical investigation of the authorship and evolution of the text. Leiden : Brill, 1971. - 227 S.
[S.78-90 zur angewandten Methode]

Siehe dazu die ausführliche Darstellung und Auseinandersetzung:

Payer, Alois <1944 - >: Kauṭilīya-arthaśāstra : eine Einführung. -- 3. Quellenscheidung mit Chi-Quadrat: T. R. Trautmann. --URL: http://www.payer.de/kautilya/kautilya03.htm. -- Zugriff am 2004-07-05

Bei Werken, die nicht einem namentlich bekannten Autor zugeschrieben werden können, besteht die Verfasserfrage in der Frage, ob das Werk in der vorliegenden Form einem einzigen Verfasser zugeschrieben werden kann, oder ob es im Verlauf der Zeit verschiedenen Bearbeitungen unterlag (s. Kapitel 9, B1)). Methodisch vorbildlich in der Frage der Chronologie anonymer Literatur ist:

Hazra, R. C. (Rajendra Chandra) <1905-1982>: Studies in the Purānic records on Hindu rites and customs. -- 2d ed. (reprint of the  1. ed., Dacca,1940). -- Delhi : Motilal Banarsidass, 1975. -- 367 S.  -- Zugl.: Univ. of Dacca, Diss.

[Obwohl dieses Buch methodisch vorbildlich ist, sind die meisten Angaben zur absoluten (nicht: relativen) Chronologie falsch!]

Zur relativen bzw. absoluten Datierung (zumindest frühester und spätester Zeitpunkt) eines Werkes, sind u. a. hilfreich:

  1. Im Werk selbst:
  2. Äußere Zeugnisse:

2. Zu A2: Zweck und Adressat des Textes


Zum vollen Verständnis eines Textes unerlässlich ist die Kenntnis

Dabei kommt es zunächst auf den ursprünglich intendierten Zweck und Adressaten an, welche sich im Verlauf der Wirkungsgeschichte (Kapitel 9, C) evtl. geändert haben (z.B. die Bhagavadgītā, ursprünglich eine Propagandaschrift gegen "Aussteiger", als philosophisch-theologisches Kompendium). Wenn man auch in vielen Fällen die Frage nach ursprünglichem Zweck und Adressaten nicht beantworten kann, muss man sich dessen als Mangel an vollem Verständnis bewusst bleiben.

In einigen Fällen nennt der Autor selbst z.B. in der Einleitung Zweck und Adressaten seines Werkes.

Der Zweck eines Textes ergibt sich u. a. auch aus seiner Literarischen Gattung. Um einen bestimmten Zweck gegenüber bestimmten Adressaten zu erfüllen, standen dem Autor bestimmte Muster der Gestaltungs- und Ausdrucksweise zur Verfügung (z.B. Schauspiel, Erzählung, Roman, Kunstgedicht, Sūtren, Kommentar, Purāṇa, Āgama, Stotra usw.). Oft ordnet der Autor selbst mit dem Titel oder Untertitel seines Werkes dieses einer bestimmten Gattung zu oder die einheimische Tradition machte eine solche Zuordnung. Allerdings gibt es wichtige literarische Gattungen wie die Purāṇas, für die Zweck, Sitz im Leben und Adressat noch nicht bekannt sind. Von der literarischen Gattung der literarischen Ganzheit ist die Gattung des Textteiles, der ausgelegt wird zu unterscheiden (z.B. eines Stotra oder eines Dhyānaśloka innerhalb eines Purāṇa).

Die Bedeutung der Bestimmung der Gattung macht folgender Text recht anschaulich:

"Von besonderer Bedeutung sind die geprägten Sprachmuster auf der Textebene, die dem Text als ganzem sprachliche Kontur geben; solche Texttypen nennt die Exegese Gattungen. Wir kennen derartige Gattungen auch noch in unserer heutigen Sprachwelt: die öffentlichen Anzeigen von Geburt, Hochzeit und Todesfall, Bewerbungsschreiben, Arzt- und Kochrezepte, Communiqués usw.; ...

Die Wahl der sprachlichen Muster und Möglichkeiten für die Gestaltung eines Textes ist zumal in der Antike nicht zufällig oder willkürlich. Sie hängt nicht zuletzt davon ab, unter welcher Perspektive der Verfasser einen Sachverhalt aussagen und aufgenommen wissen will (Aussagehinsicht) und welche Intentionen er mit seiner sprachlichen Äußerung verbindet (Aussageabsicht); deshalb ist auf den Lebensvorgang (Sitz im Leben) zu achten, in dessen Rahmen die sprachliche Äußerung ergeht. Ein Beispiel aus unserer Sprachwelt mag das verdeutlichen: Wer öffentlich Tod und Bestattung eines Angehörigen mitteilen will, verfasst eine Todesanzeige gemäß ihrem bis zu Wortwahl und Satzbau geprägten Gestaltungsmuster; derselbe Todesfall wird, wenn sich konventionierte Vorgänge unterschiedlicher Art auf das Geschehen richten und entspreched Perspektive und Absicht wechseln, auch in anderen Textmustern ausgesagt: der amtlichen ärztlichen Feststellung der Todesursache, der Sterbeurkunde, der persönlichen, taktvoll-einfühlenden Mitteilung, die einen Angehörigen schonend in Kenntnis setzt, dem Nachruf auf den Verstorbenen usw.; je nachdem sind neben der Gattung auch Satzgestaltung und Wortwahl verschieden und folgen unterschiedlichen Mustern. Zwischen einer bestimmten sprachlichen Gestalt eines Textes und einer bestimmten Aussagehinsicht und Aussageabsicht im Blick auf den ausgesagten Sachverhalt besteht also eine Korrelation."

[Quelle: Steck, Odil Hannes <1935-2001>: Exegese des Alten Testaments : Leitfaden der Methodik; ein Arbeitsbuch für Proseminare, Seminare und Vorlesungen. -- 14. durchges. und erw. Aufl. -- Neukirchen-Vluyn : Neukirchener Verl. , 1999. -- 211 S. -- ISBN 3-7887-1586-3. -- S. 98 - 99]

Man darf also ein Stotra nicht unbesehen so behandeln als wäre es ein theologischer Traktat u. ä.

Hinweise zu den literarischen Gattungen nach indischer Klassifikation bei:

Winternitz, Moriz <1863 - 1937>: Geschichte der indischen Litteratur. -- Leipzig : Amelung. -- (Die Litteraturen des Ostens ; ...)
Band 1: Einleitung. Der Veda. Die volkstümlichen Epen und die Puranas. -- 1908. - XII, 505 S. -- (Die Litteraturen des Ostens ; 9,1)
Band 2: Die buddhististische Litteratur und die heiligen Texte der Jainas. -- 1920. -- X, 405 S. -- (Die Litteraturen des Ostens ; 9,2)
Band 3: Die Kunstdichtung. Die wissenschaftliche Litteratur. Neuindische Litteratur. Nachträge zu allen drei Bänden.-- 1920. -- xii, 697 S.-- (Die Litteraturen des Ostens ; 9,3)
passim.

Eine einheimische Klassifikation belletristischer Literatur s. in Kapitel 8, Anhang A: Klassifikation belletristischer Sanskritliteratur nach Siegfried Lienhard

Zur Terminologie europäischer Gattungsbestimmungen sind hilfreich:

Braak, Ivo <1906 - 1991>: Poetik in Stichworten : literaturwissenschaftliche Grundbegriffe ; eine Einführung / von Ivo Braak. -- 8., überarb. und erw. Aufl. / von Martin Neubauer. -- Berlin ; Stuttgart : Borntraeger, 2001. -- 351 S. : graph. Darst. -- (Hirts Stichwortbücher). -- ISBN 3-443-03109-9

3. Zu A3: Historische Situation


Als erster Einstieg zur Bestimmung der historischen Situation ist empfehlenswert, obwohl in vielen Einzelheiten überholt:

The History and culture of the Indian people / general editor: R.C. Majumdar; assistant editor: A.D. Pusalkar. -- Bombay, Bharatiza Vidya Bhavan, [1951-1969] . -- 11 Bde.  : Ill.
Bd. 1. The Vedic age.
Bd. 2. The age of imperial unity
Bd. 3. The classical age
Bd. 4. The age of imperial Kanauj.
Bd. 5. The struggle for empire.
Bd. 6. The Delhi sultanate.
Bd. 7. The Mughal empire.
Bd. 8. The Maratha supremacy
Bd. 9. British paramountcy and Indian renaissance, pt. 1.
Bd. 10. British paramountcy and Indian renaissance, pt. 2.
Bd. 11. Struggle for freedom.

Unentbehrlich ist:

A historical atlas of South Asia / ed. by Joseph E. Schwartzberg. With the collab. Shiva G. Bajpai .... -- 2. Impr., with additional material. -- New York : Oxford Univ. Pr., 1992. - XXXIX, 376 S. : Ill., zahlr. Kt. & 5 Beil. -- (Reference series / Association for Asian Studies ; 2). -- ISBN 0-19-506869-6. -- [mit ausführlicher Bibliographie]

Ein guter Literaturbericht zur neueren historischen Forschung ist:

Indische Geschichte vom Altertum bis zur Gegenwart. Literaturbericht über neuere Veröffentlichungen / H. Kulke; H.-J. Leue, J. Lütt, D. Rothermund. -- München : Oldenbourg, 1981. -- 400 S. --  (Historische Zeitschrift; Sonderheft ; X.). -- ISSN 0440-971X, 0018-2613

Man sollte immer, wo es möglich ist, die meist sehr spärlichen Quellen, auf denen die Darstellungen beruhen, selbst überprüfen: nur so sieht man, auf welch wackligen Füssen viele der historischen Behauptungen oder gar Gesamtdarstellungen stehen!

Zur historischen Situation gehören auch die Realien von der natürlichen Umwelt (Landschaft, Gesteine, Pflanzen, Tiere usw.) über die alltäglichen Gebrauchsgegenstände (Nahrung, Kleidung Wohnung usw.) bis zu Luxusartikeln (Schmuck, Seidenstoffe, Götterbilder usw.).

Ein gutes Hilfsmittel für Pflanzenbau, Viehzucht, Fischerei, Bergabau u. ä. ist:

The wealth of India : a dictionary of Indian raw materials & industrial products / Publications & Information Directorate, Council of Scientific & Industrial Research. - New Delhi
Abt. A: Raw materials. -- 11 Bde. -- 1948 - 1976
Abt. B: Industrial products. -- 9 Bde. -- 1948 - 1976

The wealth of India : a dictionary of Indian raw materials & industrial products / Publications & Information Directorate, Council of Scientific & Industrial Research. -- (Rev.). -- New Delhi
Abt. Raw materials: bisher 9 Bde. -- 1985ff.


4. Zu A7: Sprachliche Analyse


Hier sind insbesondere Abweichungen von der klassischen Normgrammatik zu vermerken (z.B. Parasmaipada von Ātmanepadaverben, Abweichungen in der Konjugationsklasse, der Formbildung, dem grammatischen Geschlecht, der Wortbildung, Kompositabildung). Auch Besonderheiten in der Bedeutung von Wörtern und seltene bzw. sonst unbekannte Wörter müssen vermerkt werden.


5. Zu A8: Metrische Analyse


Das praktischste Hilfsmittel zur metrischen Analyse nachvedischer Texte ist:

Appendix A: Sanskrit prosody in:

Apte, V. S. (Vaman Shivram) <1858 - 1892>: The practical Sanskrit-English dictionary. -- rev. ed. -- Poona : Prasad, 1957-59 . -- vol.3
[Teil I davon enthält die gebräuchlichen Metren; Teil II ist "A classified list of Sanskrit metres", die alle bei den wichtigsten Theoretikern behandelten Metren auflistet]

Zum Verständnis der indischen Metrendefinitionen - die jeweils in dem Metrum abgefasst sind, das sie definieren - ist die Kenntnis der Bezeichnungen der gaṇa, die jeweils aus drei metrischen Einheiten bestehen, notwendig . Die Zäsur (yati) wird meistens im Instrumentalis angegeben.

Siehe Anhang B: Zur Metrik von Sanskrittexten


6. Zu A9: Stil und Darbietungsform


Stil: Eine gute Einführung in die verschiedenen Stile und sprachlichen Besonderheiten gibt anhand von 23 Beispieltexten (in Sanskrit mit französischer Übersetzung):


Abb.: Louis Renou (1896 - 1966)

Renou, Louis <1896 - 1966>: Histoire de la langue Sanskrite. - Lyon : Editions IAC, 1956. - 248 S. - (Collection "Les langues du monde" ; 10)

Eine gute erste Einführung in die indische Stilistik der Kunstdichtung ist:

Daṇḍin: Kāvyādarśa / Sanskrit text and English translation by S. K. Belvalkar. - Poona: Oriental Book-Suppliying Agency, 1924.
[Querschnitt durch die wichtigsten alaṃkāra's und die Fehler in Kapitel 8, Anhang C: Zur Poetik: Die wichtigsten alaṃkāra's]

Zu beachten ist, dass nicht überall die "Diktatur der Literaturpäpste" anerkannt war. [Vgl. Śaivāgamaparibhāṣāmañjarī III.257-261.]

Eine gute Einführung in den Stil des wissenschaftlichen Sanskrit gibt:


Abb.: Hermann Jacobi (1850 - 1937), Professor in Münster (1876), Kiel (1889), Köln (1889)

Jacobi, Hermann <1850 - 1937>: Über den nominalen Stil des wissenschaftlichen Sanskrits. - In: Indogermanische Forschungen 14 (1903), S. 236-251. - Abgedruckt in: Ders.: Kleine Schriften / Hrsgg. von B. Kölver. - Wiesbaden : Steiner, 1970. - Veröffentlichungen der Glasenapp-Stiftung; 4). - Tl. 1. - S.6-21
Wiedergegeben in Kapitel 8, Anhang D: Zum Stil wissenschaftlichen Sanskrits

Zur deutschen und westlichen Terminologie der Stilformen, rhetorischen und lyrischen Figuren, die auch in der Sekundärliteratur gelegentlich auftaucht, sind brauchbar:

Braak, Ivo: Poetik in Stichworten : Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. Eine Einführung. - 6. überarb. u. erw. Aufl. - Kiel : Hirt, 1980. - (Hirt's Stichwortbücher). - S.30-58

Harjung, J. Dominik: Lexikon der Sprachkunst : die rhetorischen Stilformen ; mit über 1000 Beispielen / J. Dominik Harjung. - Orig.-Ausg.. - München : Beck, 2000. - 478 S. -- (Beck'sche Reihe / Beck'sche Verlagsbuchhandlung ; 1359). -- ISBN 3-406-42159-8

Knörrich, Otto <1931 - >: Lexikon lyrischer Formen / Otto Knörrich. - Stuttgart : Kröner, 1992. - LIX, 274 S. -- (Kröners Taschenausgabe ; 479)
ISBN 3-520-47901-X

Empfehlenswert und für das Gebiet Sanskritpoesie nachahmenswert ist:

Das Wasserzeichen der Poesie oder die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen : in hundertvierundsechzig Spielarten / vorgestellt von Andreas Thalmayr [d. i. Hans Magnus Enzensberger]. -- Erfolgsausgabe. -- Frankfurt am Main : Eichborn, 2001. --  XXIII, 486 S. : Ill. -- ISBN 3-8218-4721-2 

Logik: Zur Beurteilung der Logik argumentierender Texte sind Grundzüge der Geschichte der indischen Logik erforderlich. Als allerersten Einstieg eignet sich:


Abb.: Józef Maria Bochenski OP (1902 - 1995), Professor in Fribourg

Bochenski, I. M. (Józef Maria) <1902-1995 >: Formale Logik. -- Freiburg : Alber, 1956. -- (Orbis academicus; III, 9). - S. 481-517.

Als Einstieg in die "endgültige" Form der indischen Logik eignet sich:

Annaṃbhaṭṭa: Tarka-saṃgraha (17.Jhdt.):

Annaṃbhaṭṭa: Tarka-saṃgraha : with the authors own Dīpikā and Govardhana's Nyāya-bodhinī / ed. with critical and explanatory notes by Yashwant Vasudev Athalye. Together with introduction and English translation of the text by Mahadev Rajaram Bodas. - rev. and enl. 2. ed. by A. D. Pusalker. - Bombay, 1963. - (Bombay Sanskrit series; lv)

Französ. Übers. (mit Sanskrittext):

Annambhaṭṭa: Compendium des topiques (Tarka-saṃgraha) : avec des extraites de trois commentaires indiens / text et traduction et un commentaire par A. Foucher. - Paris: Maisonneuve, 1949.

Zur Terminologie:

Terminologie der frühen philosophischen Scholastik in Indien : ein Begriffswörterbuch zur altindischen Dialektik, Erkenntnislehre und Methodologie / Gerhard Oberhammer <1929 - > unter Mitarb. von .... -- Wien : Verl. d. Österr. Akad. d. Wiss. -- (Denkschriften / Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse ; ...) -- (Beiträge zur Kultur- und Geistesgeschichte Asiens ; ...)
Band 1: A - I. - 1991. -- 144 S. -- (Denkschriften / Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse ; 223). -- (Beiträge zur Kultur- und Geistesgeschichte Asiens ; 9)
Band 2: U - Pu / G. Oberhammer ; E. Prets ; J. Prandstetter. -- 1996. -- 192 S. -- (Denkschriften / Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse ; 248). -- (Beiträge zur Kultur- und Geistesgeschichte Asiens ; 17)
Band 3: Pra - H / G. Oberhammer ; E. Prets ; J. Prandstetter. -- 2006. -- 305 S. -- (Denkschriften / Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse ; 343). -- (Beiträge zur Kultur- und Geistesgeschichte Asiens ; 49)

s. Kapitel 8, Anhang E: Zur indischen Logik

Hermeneutische Prinzipien: Nach welchen Auslegungsprinzipien werden im Text als autoritativ angesehene Texte ausgelegt? In Werken zum vedischen Ritual, aber auch in Dharma'sāstra-Werken spielen oft die hermeneutischen Prinzipien der Pūrvamimāṃsā eine Rolle. Als ersten Einstieg eignet sich:

Laugākṣi Bhāskara: Arthasaṃgraha : an elementary treatise on mīmāṃsā / ed and transl. by G. Thibaut. -- Benares : Das, 1882.  -- (Benares Sanskrit Series; 4.)


7. Zu A10: Analyse des Inhalts


Eine Exegese sollte alles erklären, was für einen westlichen, indologisch gebildeten Leser, der nicht Spezialist in dem betr. Gebiet ist, erklärt werden muss. Man vermeide solche Umschreibungen und Nacherzählungen, die gegenüber der Übersetzung des Textes weder klarer noch kürzer sind. Sie dienen nur dazu, vorzugaukeln, ihr Verfasser habe irgend etwas zu sagen, wo er nichts zu sagen hat.


Zu Kapitel 9: Die eigentliche Exegese, Teil III: Zu einzelnen Fragestellungen diachronen und wirkungsgeschichtlichen Verstehens