Rechtfertigender Glaube (fides iustificans) bei Martin Luther

1. Teil: Empirisch-psychologische Bestimmung des Glaubens


von Margarete Payer

mailto: payer@payer.de


Zitierweise / cite as:

Payer, Margarete <1942 - >: Rechtfertigender Glaube (fides iustificans) bei Martin Luther. -- 1. Teil: Empirisch-psychologische Bestimmung des Glaubens. -- Fassung vom 2005-07-19. -- URL: http://www.payer.de/fides/fidesluther01.htm . -- [Stichwort].

Erstmals publiziert: 2005-07-19

Überarbeitungen:

Anlass: Zweiter Teil der Arbeit zur Erlangung des Magistergrades in evangelischer Theologie an der Universität Tübingen, 1968

Copyright: Dieser Text steht der Allgemeinheit zur Verfügung. Eine Verwertung in Publikationen, die über übliche Zitate hinausgeht, bedarf der ausdrücklichen Genehmigung der Verfasserin.

Creative Commons-Lizenzvertrag
Diese Inhalt ist unter einer Creative Commons-Lizenz lizenziert.

Dieser Text ist Teil der Abteilung Andere Religionen von Tüpfli's Global Village Library


Übersicht



Motto


1. Nun freut euch, liebe Christen g'mein,
Und lasst uns fröhlich springen,
Dass wir getrost und all' in ein
Mit Lust und Liebe singen,
Was Gott an uns gewendet hat,
Und seine süße Wundertat;
Gar teu'r hat er's erworben.

2. Dem Teufel ich gefangen lag,
Im Tod war ich verloren,
Mein' Sünd' mich quälte Nacht und Tag,
Darin ich war geboren.
Ich fiel auch immer tiefer drein,
Es war kein Gut's am Leben mein,
Die Sünd' hatt' mich besessen.

3. Mein' gute Werk', die galten nicht,
Es war mit ihn'n verdorben;
Der frei' Will' hasste Gott's Gericht,
Er war zum Gut'n erstorben.
Die Angst mich zu verzweifeln trieb,
Dass nichts denn Sterben bei mir blieb,
Zur Hölle muss ich sinken.

4. Da jammert' Gott in Ewigkeit
Mein Elend übermaßen,
Er dacht' an sein' Barmherzigkeit,
Er wollt' mir helfen lassen;
Er wandt' zu mir das Vaterherz,
Es war bei ihm fürwahr kein Scherz,
Er ließ's sein Bestes kosten.

5. Er sprach zu seinem lieben Sohn:
"Die Zeit ist hier zu 'rbarmen;
Fahr hin, mein's Herzens werte Kron',
Und sei das Heil dem Armen
Und hilf ihm aus der Sündennot,
Erwürg' für ihn den bittern Tod
Und lass ihn mit dir leben!'' 

6. Der Sohn dem Vater g'horsam ward,
Er kam zu mir auf Erden
Von einer Jungfrau rein und zart,
Er sollt' mein Bruder werden.
Gar heimlich führt' er sein' Gewalt,
Er ging in meiner armen G'stalt,
Den Teufel wollt' er fangen.

7. Er sprach zu mir: ``Halt dich an mich,
Es soll dir jetzt gelingen;
Ich geb' mich selber ganz für dich,
Da will ich für dich ringen;
Denn ich bin dein, und du bist mein,
Und wo ich bleib', da sollst du sein,
Uns soll der Feind nicht scheiden.

8. Vergießen wird er mir mein Blut,
Dazu mein Leben rauben;
Das leid' ich alles dir zugut,
Das halt mit festem Glauben!
Den Tod verschlingt das Leben mein,
Mein' Unschuld trägt, die Sünde dein:
Da bist du selig worden.

9. Gen Himmel zu dem Vater mein
Fahr' ich von diesem Leben,
Da will ich sein der Meister dein,
Den Geist will ich dir geben,
Der dich in Trübnis trösten soll
Und lehren mich erkennen wohl
Und in der Wahrheit leiten.

10. Was ich getan hab' und gelehrt,
Das sollst du tun und lehren,
Damit das Reich Gott's werd' gemehrt
Zu Lob und seinen Ehren,
Und hüt' dich vor der Menschen G'satz,
Davon verdirbt der edle Schatz!
Dass lass' ich dir zur Letze.

Text: Martin Luther <1483 - 1546>, 1523
Melodie: 15. Jahrhundert, geistlich: Nürnberg 1523

Klicken Sie hier, um "Nun freut" zu hören

Quelle der midi-Datei: http://ingeb.org/spiritua/nunfreut.html. -- Zugriff am 2005-07-18



Abb.: Luthers Totenmaske


Abkürzungen


WA = Luther, Martin <1483 - 1546>: D. Martin Luthers Werke : kritische Gesamtausgabe ; (Weimarer Ausgabe). -- Weimar : Böhlau, 1883 -

WATR = Luther, Martin <1483 - 1546>: D. Martin Luthers Werke : kritische Gesamtausgabe ; (Weimarer Ausgabe). --  [Abt. 2]: Tischreden. -- Weimar : Böhlau, 1912 - 1921. -- 6 Bde.

WADB = Luther, Martin <1483 - 1546>: D. Martin Luthers Werke : kritische Gesamtausgabe ; (Weimarer Ausgabe). --  [Abt. 3]: Die Deutsche Bibel. -- Weimar : Böhlau

Clemen = Luther, Martin <1483 - 1546>: Luthers Werke in Auswahl / unter Mitwirkung v. Albert Leitzmann hrsg. v. O. Clemen. -- Bonn : Marcus u. Weber, 1912 - 1933. -- 6 Bde.


0. Einleitung


Um herauszubekommen, was mit fides iustificans [rechtfertigender Glaube] bei Luther gemeint ist, muss untersucht werden:

  1. Was Luther mit 'Glaube' meint,
  2. Warum iustificatio sola fide [Rechtfertigung allein aus Glauben] gilt.

Luthers fides-Begriff zeigt sich an deutlichsten in seinen Auslegungen zum ersten Gebot (vgl. Freiheit (1520), WA 7,26)

Auslegung des ersten Gebots im Großen Katechismus (1529):

"Was heist ein Gott haben/oder was ist Gott  Antwort. Ein Gott heisset das/dazu man sich versehen sol alles guten/und Zuflucht haben ynn allen nöten. Also das ein Gott haben nichts anders ist/denn yhm von hertzen trawen und gleuben/ wie ich offt gesagt habe/das alleine das trawen und gleuben des hertzens/machet beide Gott und abeGott Ist der glaube und vertrawen recht/so ist auch dein Gott recht/und wiederumb/ wo das vertrawen falsch und unrecht ist/da ist auch der rechte gott nicht Denn die zwey gehören zuhauffe/glaube und Gott. Worauff du nu (sage ich) dein hertz hengest und verlessest/das ist eigentlich dein Gott."

(WA 30 I,133; Clemen IV,4).

Es zeigt sich:

  1. Glaube ist Vertrauen, Das Herz an etwas hängen, Sich auf etwas verlassen.
  2. Ist dein Glaube recht, so ist auch dein Gott recht.

Der erste Punkt zeigt uns die 'empirische' Bestimmung des Glaubens, der zweite dagegen die theologisch-christologische Verankerung des Glaubens. Demgemäß will ich meine Untersuchung aufbauen:

Dies soll jedoch nicht zur Ansicht verleiten, Luther habe auf einem empirischen Grund einen theologischen Oberbau aufgestockt. Vielmehr ist die empirische Bestimmung ganz von der Theologie her geprägt, während die Theologie ganz von der Erfahrung her bestimmt ist.


1. Empirisch-psychologische Bestimmung des Glaubens


Die folgenden Untersuchungen beziehen sich auf die significatio [Bedeutung] des Wortes Glaube (fides) im Allgemeinen. In den konkreten Kontexten tritt dann bei Luther einmal der, einmal ein anderer Aspekt mehr in den Vordergrund, es klingen aber im Hintergrund doch jeweils alle Aspekte mit.


1.1. Der biblische Glaubensbegriff nach Luther


In seiner Vorrede zum Psalter von 1524 erklärt Luther die wichtigsten biblischen Wörter Barmherzigkeit und Wahrheit, Gericht und Gerechtigkeit, Glaube zum besseren Verständnis des Psalters:

"So heysst warheyt, trew, das man sieh auff eynen verlassen darff, und zuflucht zu yhm habe, und der selbe halte, was er geredt, und wes man sich zu yhm versihet. Also lesst sich Gott auch rhümen gegen uns ynn der schrifft allenthalben, das er barmhertzig und trew sey, das ist, das er liebe und trew beweyset, und uns alle freundschafft und wolthat erzeyget, und wyr uns auff yhn verlassen mügen tröstlieh, das er thut und hellt trewlich, wes man sich zu yhm versihet Solche trew und warheyt heysst Emeth [אמת]. Daher kompt Emuna [אמונה] wilchs S. Paulus selbs aus Abakuck [2,4] verdolmetscht, glaube. Ro l [,17]. Der gerecht lebet seyns glaubens. Und wirt ym psalter offt zu Gott gesagt, Deyn glaube oder ynn deynem glauben, drumb das er solchen glauben gibt und auff seyne trew bauet. Das die zwey wort, warheyt und glaube ym Ebreischen fast gleich und schier eyns fur das ander genommen wird. Wie auch auff deutsch wyr sagen, Der hellt glauben, der wahrhafftig und trew ist. Widderumb wer mistrewet, den hellt man für falsch und ungleubig .... Wenn nu ym psalter odder sonst dyr furkompt, das er nicht schlecht von gericht und gerechtigkeyt, sondern von Gottes gericht und gerechtigkeyt redet, odder zu Gott spricht, Deyne gericht und gerechtigkeyt, so mustu durch die gerechtigkeit den glauben verstehen, und durchs gericht, die tödtung des allten Adams. Denn Gott durch seyn Wort beydes thut. Er verurteylet, verdampt, strafft, und tödet was fleyseh und blut ist, rechtfertiget aber und macht unschuldig den geyst durch den glauben. Das heyssen denn Gottes gericht und gerchtigkeyt. Das gericht ubet er durchs wort seyns gesetzs Rom 7,11. Das gesetze tödtet. Die gerechtigkeyt durchs wort des Euangelij, wilchs der geyst durch den glauben annympt. Rom l  [16f]. Wie das fleysch die tödtung durch gedult leyden mus."

(Vorrhede auff den psalter, 1524, WADB 10,I, 94 - 96)

Glaube ist also ist also ein festes Vertrauen, das von der Wahrheit Gottes herkommt und das das Wort des Evangeliums aufnimmt. Die beiden Korrelate sind also:

Gott gibt die Gerechtigkeit dem Glaubenden im Wort des Evangeliums, der Glaubende vertraut fest auf dieses Wort und hält sich daran, da Gott wahrhaftig und treu ist.


1.2. Glaube als Vertrauen


Der Glaube ist ein fest Vertrauen, aber nicht jedes Vertrauen ist schon wahrer Glaube. So muss das Vertrauen des Glaubens vom Vertrauen des falschen Glaubens abgegrenzt werden.


1.2.1. Abgrenzung des Glaubens gegen das Vertrauen als Haben- und Verfügenwollen und gegenüber dem Vertrauen auf Mitmenschen


1.2.1.1. Vertrauen als Haben- und Verfügenwollen


Der Mensch kann sein Vertrauen auch auf Güter, Ehre usw. setzen.

"Es ist mancher der meinet er habe Gott und alles gnug/wenn er gelt und gut hat/verlest und brüstet sich drauff so steiff und sicher/das er auff niemand nichts gibt. Sihe/dieser hat auch einen Gott/der heisset Mammon/das ist/gelt und gut/ darauff er alle sein hertz setzet/...

Also auch wer darauff trawet und trotzet/das er grosse kunst/klugheit/gewalt/gunst/freundschafft und ehre hat/der hat auch einen Gott/aber nicht diesen rechten einigen Gott. Das sihestu abermal dabey/wie vermessen sicher und stoltz man ist auff solche guter/und wie verzagt/wenn sie nicht furhanden/odder entzogen werden. Darümb sage ich abermal/das die rechte Auslegung dieses Stücks [= der ersten Gebots] sey/das ein Gott haben heisset /etwas haben darauff das hertz gentzlich trawet."

(Großer Katechismus, 1529, 1.Gebot; WA 30,I, 133f.; Clemen IV,5)

Dieses Vertrauen ist aber nicht wahrer Glaube: denn sobald Gut, Ehre usw. verschwindet, verschwindet auch das Vertrauen. Nicht so der wahre Glaube. Der falsche Glaube ist davon abhängig, was man in den Händen hat, worüber man verfügen kann. Diese Art des Habens und Verfügens widerspricht ganz dem wahren Glauben: er zeigt sich gerade dort, wo er nichts mehr hat und über nichts mehr verfügt, in der tentatio [Anfechtung], in der er sich an die bloße Verheißung hält.


1.2.1.2. Vertrauen auf den Mitmenschen


Was ist es mit dem Vertrauen auf den Mitmenschen? Ist auch dieses Abgötterei? Macht der wahre Glaube misstrauisch?

Der Glaube zwischen Mitmenschen ist Grundlage der menschlichen Gemeinschaft:

"Denn wo man mit worten und zusagung handelt/da muss glawbe sein/auch unter den menschenn auff erdenn. Es mocht sunst/kein handel noch kein gemein lange bestahen/wo niemant/ des anderen wortten oder briefen glawbte."

(Grund und Ursach aller Artikel, 1521, 1. Art.; WA 7,323; Clemen II,67).

Dieser Glaube zwischen Mitmenschen ist eine Frucht des Heiligen Geistes, wie Luther zu Gal. 5,22 ausführt:

"'Pistis' [πίστις] Est fructus spiritus, ergo non fides. Sed ut 1Cor 13: 'omnia credit charitas', i.e. qui non supicax est, homo candidus et simplicis cordis, et si contrarium spurt, kan ers fein vergeben. Omnibus credit, sed non confidit. Non sunt intolerabiliores quam suspiciosi: quidquid audiunt putant in se dici et in contumeliam sui. Kan einer kein wort reden etc., die nemini vertrawen quam sibi. Ibi non possum pacem, concordiam erhalten etc. Melius est nos falli cum parvo detrimento, quam perire universam concordiam omnium hominum. Suspiciosi eitel caro, Ut Schwermeri vol gifft, sunt difficles homines, ergo non libenter cum eis moror. Sey der Teufel bey, i.e. das einer dem andern trew sey et vertrage einer den andern et halt."

(Vorlesung über den Galaterbrief, 1531, Mitschrift Rörer, WA 40,II, 119,10 - 120,5).

"'Pistis' [πίστις]: es ist eine Frucht des Geistes, also nicht Glaube. Sondern wie 1.Cor. 13: 'die Liebe glaubt alles', das heißt wer nicht misstrauisch ist, ein reiner Mensch aufrichtigen Herzens. Und wenn er das Gegenteil erfährt, kann er es vergeben. Er glaubt allen, er vertraut ihnen aber nicht gewiss. Es gibt nichts unerträglicheres als Misstrauische: was sie auch immer hören, sie meinen immer es sei gegen sie und zu ihrer Beleidigung gesagt. Man kann kein Wort reden etc. Sie vertrauen niemandem als sich selbst. Dort kann ich nicht Frieden und Eintracht erhalten etc. Es ist besser, dass wir mit einem kleinen Schaden getäuscht werden, als dass die allgemeine Eintracht aller Menschen verloren ginge. Die misstrauischen sind eitel Fleisch, wie die Schwärmer voll Gift. Es sind schwierige Menschen, also verweile ich nicht gerne mit ihnen. Sey der Teufel bey, d.h. einer sei dem anderen treu und vertrage einer halt den anderen."

Also: beim Glauben und Vertrauen auf den Mitmenschen weiß ich von Anfang an, dass ich enttäuscht werden kann. Gegenüber dem Mitmenschen kommt es darauf an, dass ich meine Versprechung halte aber beide Seiten können enttäuschen. Beim wahren Glauben dagegen kommt alles darauf an, dass Gott seine Verheißung hält, und Gott kann nie enttäuschen. So schreibt Luther zu Gal. 5,23:

"etiam duplicem sic fidem invenimus, unam erga deum, cui fideles sumus, non tantum quod servamus nostra promissa, quantum quod credimus illius promissis, alteram erga hominem, cui sumus fideles, servantes et tenaces pactorum ac promissorum."

(Kommentar zum Galaterbrief, 1519, WA 2, 595, 29 - 33).

"So finden wir auch einen doppelten Glauben:
  1. einen Gott gegenüber, dem wir gläubig sind, nicht so sehr, dass wir unsere Versprechungen einhalten, als dass wir Gottes Versprechungen glauben.
  2. Den anderen Glauben dem Menschen gegenüber. dem wir gläubig sind, indem wir beharrlich und fest stehen zu unseren Abmachungen und Versprechungen."

Der göttliche Glaube ist nicht auf den Glauben zwischen Mitmenschen gegründet (etwa auf die Glaubwürdigkeit des Verkündigers):

"Das ist auch der rechte unterscheyd des göttlichen glawbens und menschlichen glawbens: Das der menschl. glawbe hafftet auff der person, glewbt, trawt und ehret das wort umb des willen, der es sagt. Aber der gottlich glaub widerumb hafftet auff dem wortt, das gott selber ist, glewbt, trawt und ehret das wortt nicht umb des willen, der es gesagt hatt, sondern er fulet, das ßo gewiss war ist, das yhn niemant davon mehr reyssen kan, wens gleych derselb prediger thett."

(Weihnachtspostille, zu Lk 2,15-17, 1522, WA 10 I 1,130,1-6).


1.2.2. Bestimmung des wahren Glaubens


Nun soll Glaube feiner bestimmt werden, und zwar zuerst sein Verhältnis zu anderen Bezeichnungen für 'rechte Haltung Gott gegenüber', mit denen 'Glaube' weitgehend übereinstimmt: nämlich sein Verhältnis zu 'Liebe zu Gott', zu 'Hoffnung', und zu 'visio Dei' [Schau Gottes].


1.2.2.1. Verhältnis des Glaubens zu anderen rechten Haltungen zu Gott


1.2.2.1.1. Liebe


In der Auslegung zum ersten Gebot im Sermon von den guten Werken, 1520, erinnert Luther an Augustinus: dieser spricht:

"das des erstenn gebottis werck sin/glauben/hoffen/und lieben. Nu ist droben gesagt/das solch zuvorsischt und glaub/bringt mit sich lieb und hoffnung. Ja wan wirs recht ansehn/ßo ist die lieb das erst/oder yhe/zu gleich/ mit dem glauben. Dan ich mocht gotte nicht trawen/wen ich nit gedecht er wolle mir gunstig und hold sein. Dadurch ich yhm widder holt/und bewegt werd/ym hertzlich zutrawen und allen guttis zu ym vorsehen."

(Sermon von den guten Werken, 1520; WA 6, 210; Clemen I, 234f.).

"Sih also fleusset auß dem glauben die lieb und lust zu gott/"

(Freiheit eines Christenmenschen, 1520, WA 7,36; Clemen II,25, zum 27.).

Glaube und Liebe zu Gott gehören untrennbar zusammen:

"Eyn ander frage: Wie die liebe des nehisten sey des gesetzs erfüllung, so wyr doch auch gott uber alle ding, auch uber den nehisten lieben sollen? Antwort: das hat Christus selbs aufgeloset, da er Matt 22 spricht: Das ander gepot sey dem ersten gleich und macht aus der liebe gottis und des nehisten gleyche liebe. Und das darumb: Auffs erst, das Gott unser werck und wolthat nichts bedarff. Sondern hat uns damit zu dem nehisten geweiset, das wir demselben thun, was wir yhm thun wöllten. Er darff nicht mehr, denn das man yhm gleube und für Gott halte. Denn auch seyn ehre, predigen und loben und danken darumb geschicht auff erden, das der nehist da durch bekeret und zu Got bracht werde. Und heysset doch auch alles Gottes liebe und geschieht auch Gott zu liebe, aber alleyn dem nehisten zu nutz und gut."

(Fastenpostille, 1525, zu Röm 13,8ff., WA 17 II,98f.).

Liebe zu Gott ist also eine notwendige Folge des Glaubens, sie wirkt sich aber ganz dem Nächsten gegenüber aus in Dankbarkeit gegenüber Gott. An obiger Stelle fährt Luther fort:

"Auffs ander, so hat Gott die wellt zur nerryn gemacht und will hinfurt geliebt seyn auch unter dem kreutz und elend, wie S. Paulus sagt, 1Corin 1: Weyl die wellt durch yhre weysheyt Gott ynn seiner weysheyt nicht erkennet, hats yhm gefallen durch törichte predigt selig zu machen die gleubigen. Darumb hat er sich selbs auch an dem creutz ynn töd und iamer geben und das selb alle den seynen auff gelegt, das wer vorhyn nich hat wöllen Gott lieben, das er essen, trincken, gut und ehre hat geben, der mus ihn itzt lieben ynn hunger und kummer, ynn ungluck und schanden, das also alle werck der liebe gerichtet sollen sein auff die elenden notturftigen nehesten. Da soll man gott finden und lieben, da soll man yhm dienen und gutts thun, wer yhm guts thun und dienen will, das also das gepot von der liebe Gottis gantz und gar herunder ynn die liebe des nehisten gezogen ist."

(Fastenpostille, 1525, zu Röm 13,8ff., WA 17 II,99.).

Die Stelle 1.Cor. 13,13 erklärt Luther so:

"Maior horum charitas, id est charitas manebit etiam in futuro saeculo, fides et spes cessabunt:"

(WATR 1,786; erste hälfte 1530er Jahre, überliefert von V. Dietrich und M. Medler).

"Größer als diese ist die Liebe, d.h. die Liebe wird auch im zukünftigen Äon bleiben, Glaube und Hoffnung aber werden vergehen."

Die Liebe bleibt im zukünftigen Äon, ist also mit der Schau Gottes vereinbar, was der Glaube nicht ist (fides est rerum non apparentium [Glaube bezieht sich auf nicht-sichtbare Dinge])


1.2.2.1.2. Hoffnung


Was ist nun das Verhältnis von Glaube und Hoffnung? Luther sagt in der Auslegung zu Gal. 5,5, dass Hoffnung auf zweierlei Art  verstanden werden muss:

"Sic hic [spes] potest accipi dupliciter:
  1. pro re sperata, i.e. expectamus in fide rem iustitiae nostrae i.e. iustitiam speratem,
  2. et proprius sensus: sicut nondum sumus iutificati, et tamen sumus iustificati, sed iustitia nostra pendet adhuc in spe. Donec enim vivimus in carne, hec manent: 'leges peccati' etc.; illis instantibus nobis manet ibi locus spei, quod iustitia non est, ut debet, expectamus autem per primitias spiritus, accepimus primitias, sed speramus, ut perfecte. Sic nostra non in re, sed spe."

(Vorlesung zum Galaterbrief, 1531, Mitschrift Rörer, WA 40 II,23,10 - 24,7.).

"So kann hier 'Hoffnung' doppelt aufgefasst werden:
  1. für die erhoffte Sache, dann heißt die Stelle: wir erwarten die Sache unserer Gerechtigkeit, d.h. die erhoffte Gerechtigkeit.
  2. Und der eigentliche Sinn: wie wir noch nicht gerechtfertigt ind und dennoch gerechtfertigt sind, aber unsere Gerechtigkeit noch in der Hoffnung hängt. Solange wir nämlich noch im Fleische leben, bleibt dies: 'die Gesetze der Sünde' etc. Da diese uns gegenwärtig sind, bleibt dort ein Ort für die Hoffnung, weil die Gerechtigkeit nicht ist, wie sie sein soll. Wir erwarten sie aber durch das Angeld des Geistes. Wir haben das Angeld empfangen, aber wir hoffen, dass sie vollkommen sein wird. So ist die Gerechtigkeit unser nicht in Wirklichkeit, sondern in Hoffnung."

Der Glaube bezieht sich auf den gegenwärtigen Stand des Christen coram Deo [vor Gott]: er ist durch Glauben gerecht, sieht aber, dass er zugleich Sünder ist. So hofft der Glaubende, dass Christus sich immer mehr gegen den Teufel durchsetzt, d.h. empirisch gesprochen: der Glaubende wartet darauf — gegen die Erfahrung seiner Schlechtigkeit, die im hiesigen Leben nicht aufhören wird —, dass er immer gerechter wird. Kurz drückt das Luther so aus:

"Fides est fiducia praesentis promissionis, spes est expectatio futurae liberationis."

(WATR 4,4613, 1539, A. Lauterbach).

"Glaube ist das Vertrauen auf die gegenwärtige Verheißung, Hoffnung ist die Erwartung der zukünftigen Befreiung."

Vielleicht kann man sagen, der Glaube beziehe sich auf die Gerechtigkeit des fröhlichen Wechsels (iustitia fidei), die Hoffnung dagegen richte sich auf die Endgerechtigkeit (iustitia finalis, iustitia gloriae).

Der Gebrauch von 'Hoffnung' und 'Glaube' kann sich bei Luther sehr überschneiden. 'Glaube' kann so gefasst sein, dass er den Aspekt der Hoffnung in sich fasst, dann aber auch wieder so, dass beide säuberlich geschieden sind, was nur eine Beobachtung über den Sprachgebrauch — auch der Bibel — ist und nicht bedeutet, sie seien zwei verschiedene Tugenden oder dergleichen. Beispielhaft dafür ist folgende Tischrede: viele was in ihr über die Hoffnung gesagt ist, lässt sich ebensogut über den Glauben sagen:

"Glaub und Hoffnung sind auf mancherlei Weise unterscheiden.
  1. Erstlich des Subiecti halben, in welchem ein iglichs ist. Denn der Glaube ist im Verstande des Menschen, Hoffnung aber im Willen, und diese zwei können nicht voneinander gesondert werden wie die zween Cherubim aufm Gnadenstuhl.
  2. Zum andern des Amts halben, denn der Glaube dictieret, unterscheidet, lehret und ist die Wissenschaft und Erkenntnis; Hoffnung aber vermahnet, erzwecket, höret, wartet und duldet.
  3. Zum Dritten von wegen des Obiecti; der Glaube siehet auf das Wort oder die Verheißung, das ist die Wahrheit; Hoffnung aber siehet auf das, so das Wort verheißen hat, das ist, die Güte.
  4. Zum Vierten der Ordnung halben; der Glaub ist am ersten vor allen Trübsalen und Widerwärtigkeiten und des Lebens Anfang, Heb.11, Hoffnung aber folget hernach und kömmet aus Trübsalen Rm.5.
  5. Zum Fünften ex contrariis, von wegen der Widerwärtigkeit, denn der Glaube streitet wider Irrtum und Ketzerei, prüfet, richtet und urteilt die Geister und die Lehren; Hoffnung aber kämpfet wider Trübsal und Anfechtung und wartet Gutes unterm Bösen.

Darum ist der Glaube in Theologia die Klugheit und Fursichtigkeit und gehört zur Lehre; Hoffnung aber ist die Mannheit und Freudigkeit in der Theologei und gehöret zum Vermahnen. Glaub ist die Dialectica, denn er ist anders nicht denn Weisheit und Klugheit; Hoffnung aber ist die Rhetorica, denn sie ist nichts anders denn ein freudig Herz, das getrost und aufgericht ist.

Gleich nu wie Klugheit oder Verstand ohne Mannheit und Freudigkeit unnütz ist und nichts ausrichtet, also ist der Glaub ohn Hoffnung nichts, denn Hoffnung duldet und überwindet das Unglück und Böse. Und gleich wie ein freudig Herz ohn Verstand und Fursichtigkeit ist Dummheit und Frevel, also ist auch Hoffnung ohne Glauben Vermessenheit im Geiste."

(WATR 1,1231; erste Hälfte 1530er Jahre; Aurifaber).


Abb.: Ausgabe der Tischreden  Luthers von Johann Aurifaber, 1567, Titelblatt


1.2.2.2. Abgrenzung des Glaubens gegenüber Haltungen, die nur der Welt gegenüber am Platz sind


Nachdem das Verhältnis von Glaube - amor dei [Liebe zu Gott] - Hoffnung und visio dei [Schau Gottes] bestimmt ist, ist nun der Glaube abzugrenzen gegenüber Haltungen, die nur der Welt gegenüber am Platz sind.

Dies sind Haltungen

Werden diese Haltungen Gott gegenüber angewandt, so ist das Aberglaube und Unglaube. Wird umgekehrt das Vertrauen, das nur Gott verdient, der Kreatur zugewandt, so ist das wiederum Götzendienst und Aberglaube. Es kommt also alles darauf an, das coram mundo [vor der Welt] und das coram deo [vor Gott] scharf zu unterscheiden.


1.2.2.2.1. Abgrenzung gegenüber dem Tun


Glaube ist reine Empfängnis, eine Passivität, also das Gegenteil jeglichen Tuns:

"auff das deyn glawbe lautter bleyb, nichts thue denn hallte stille, las yhm wolthun und empfahe Christus werk und lasse Christus seyne liebe an yhm üben."

(Adventspostille, 1522, zu Mt 11,2-10; WA 10 I 2,168).

In De votis monasticis, 1521, schreibt Luther zu Ps 61 (Vulgata: At ad deum silentium animae meae):

"Hae est enim vera via salutis, subdi deo, in fide ei cedere et silere, ponere tumultum praesumptionis operum, quibus quaerunt impii eum invenire, et sese ductilem praebere, ut ipse in nobis operetur, non nos operemus. Videmus enim in sanctorum sectatoribus nihil nisi tumultum operum, quae in sanctis viderunt, iis enim die et nocte sese fatigant, nunquam autem silent deo subditi per fidem. ideo moventur et sunt instabiles corde, cum non possit cor per opera quietari; fiducia eorum est in operibus ab exemplo sanctorum petitis, quibus praesumunt pervenire, quo illi venerunt sola fide."

(De votis monasticis, 1521, WA 8,589; Clemen II, 207).

"Das ist nämlich der wahre Weg des Heils, sich Gott unterwerfen, ihm im Glauben weichen und schweigen, den Lärm der Anmaßung der Werke beiseitestellen, mit denen die Gottlosen Gott finden wollen, und sich ganz gefügsam Gott geben, dass er in uns wirke, und nicht wir wirken. Wir sehen nämlich bei den Nachahmern der Heiligen nichts außer Lärm der Werke, die sie bei den Heiligen gesehen haben. Mit diesen Werken plagen sie sich Tag und Nacht ab, niemals aber schweigen sie, Gott durch den Glauben untergeben. Deshalb sind sie auch unruhig und ungewiss im Herzen, da das Herz nicht durch Werke zur Ruhe gebracht werden kann. Ihr Vertrauen liegt in den Werken, die die vom Beispiel der Heiligen her haben. Mit diesen Werken suchen sie dorthin zu kommen, wohin die Heiligen allein mit dem Glauben gekommen sind."
"Oportet hic, nihil facere sed tantum recipere, quia est Christus thesaurus possesus per fidem!"

(Vorlesung zum Galaterbrief 1531, zu Gal 2,16; WA 40 I, 324; Mitschrift Rörer).

"Es ist hier notwendig, nichts zu tun, sondern nur zu empfangen, weil Christus ein Schatz ist, der durch den Glauben besessen wird."

1.2.2.2.2. Abgrenzung des Glaubens gegenüber Wissen und Begreifen


"... longe aliud esse credere, aliud intelligere, ut Paulus ait: Video non, spero, aliud etiam invisibilis, aliud visibilis. Hic theologia et philosophia differunt. Nemo putet unum esse, cum utraque subeat aliud primum et finem, quam sequitur ... Hec igitur causa est disputationis huius et summa, quod Deus non sit subiectus rationi et Syllogismis, sed verbo dei et fidei. Nam ut Deus condidit sphaeras distinctas in coelo, sic et in terra regna, ut unaquaeque res et ars suum locum et speciem retineat neque versetur extra suum centrum, in quo positum est."

(Disputatio über Joh 1,14, 1539, Vorrede; WA 39,2; 7,26 - 8,8.).

"Es ist bei weitem etwas anderes: Glauben und Verstehen — wie Paulus sagt: Ich sehe nicht, ich hoffe: etwas anderes ist auch das Unsichtbare, etwas anderes das Sichtbare. Hier unterscheiden sich Theologie und Philosophie. Niemand meine, sie seine dasselbe, da jede ein anderes Prinzip hat und ein anderes Ziel, da sie verfolgt ... Dies ist also die Streitsache dieser Disputation, und das Ergebnis ist, dass Gott nicht der Vernunft und den Syllogismen unterworfen ist, sondern dem Worte Gottes und dem Glauben. Denn wie Gott am Himmel verschiedene Sphären gründete, so auch auf der Erde Reiche, damit jede Sache und jede Kunstfertigkeit ihren Ort und ihre Art erhalte und sich nicht außerhalb ihres Zentrum bewege, in dem sie liegt."

Also: Vernunft und Glaube haben disparate Anwendungsbereiche: der Vernunft ist die Weltorganisation unterworfen, nicht aber ist Gott ihr unterworfen. Gott ist nur seinem Worte und dem Glauben unterworfen! Macht sich die Vernunft zur Richterin über die Offenbarung, so erscheint ihr nichts absurder als diese:

"Unter der Sonne ist kein Religion und Glaube närrischer denn der Christen. Denn welche Vernunft und Weisheit kann einen Menschen bereden, dass ein Gott sei? [= Christus] Wenn da menschliche Vernunft dreinfällt und Erasmus' Kopf und Verstand, so verlacht und verspott ers. Darum kann die Religion unsers christlichen Glaubens nimmer genug gelehrt werden in der Welt. So schrecklich und greulich ist der Fall des Menschen."

(WATR 6,6743; Jahr fraglich; Aurifaber).

Dies gilt aber nur für die Vernunft des Menschen im Stand der Erbsünde. Wird die Vernunft aber erleuchtet, so ist sie ein Instrument des Glaubens:

"... Die Vernunft ist vor dem Glauben und Erkenntnis Gottes, ehe ein Mensch neu geboren wird, eitel Finsternis, weiß und verstehet nichts in göttlichen Sachen; aber in eim Gläubigen, der nu vom Hl. Geist durchs Wort neu geboren und erleuchtet ist, da ist sie ein schön herrlich Instrument und Werkzeug Gottes. Denn gleichwie alle Gaben Gottes und natürliche Instrumente und Geschicklichkeiten an Gottlosen schädlich sind, also sind sie an den Gottseligen heilsam, Vernunft, Wohlredenheit, Sprachen etc. fördern und dienen als denn dem Glauben, da sie zuvor vur dem Glauben hinderten."

(WATR 3,2938b, 1533; Konrad Cordatus).

Nie aber darf die Vernunft Richterin über den Glauben sein: in De voti monasticis, 1521, schreibt Luther im Kapitel 'Vota adversari fidei':

"Petra ergo nostra firma invenitur, et dispulsis nubibus principium perfidiae illorum subvertit, stat quoque Paulus incocussus: Ome quod non est ex fide peccatum est [Röm 14,23], nec curat, quod sententia illis dura videatur. Dura fuit et mors Christo pro nobis suscepta, magnum fuit filium dei incarnari et dari pro nobis. Nihilo tamen minus factum credimus. Non oportet sequi in rebus dei nostrum iudicium, nec definire secundum quod nostro sensui aliquid durum, molle, grave, leve, bonum, malum, iustum, iniustum videtur. Non facies (inquit Deutro. xii), quod tibi rectum videtur, sicut faciunt tamen impiissimae facultates scholarum, omnia divina ad humani sensus iudicium aestimantes, et pro petris fidei arenas et paludes perfidiae suae in principia fidei collocantes. Sed ad verba fidei aptandus est noster sensus, captivandusque intellectus in obsequium Christi."

(De voti monasticis, 1521, WA 8,592; Clemen II,210).

"Unser Fels wird also als fest befunden, und nachdem die Nebel vertrieben sind, wird das Prinzip ihres Unglaubens zunichte, es steht auch Paulus unerschüttert fest: Alles, was nicht aus Glauben ist, ist Sünde (Röm 14,23); und es macht nichts, dass diese Meinung jenen hart erscheint! Hart war auch der Tod für Christus, den er für uns auf sich genommen hat, groß war es, dass der Sohn Gottes Mensch wird und für uns dahingegeben wird. Nichts desto weniger glauben wir, dass es geschehen ist. Wir dürfen in Dingen Gottes nicht unserem Urteil folgen, noch danach entscheiden, dass unserem Sinn etwas hart, weich, schwer, leicht, gut, schlecht, gerecht oder ungerecht erscheint. Du sollst nicht tun, was die richtig erscheint (sagt Deut. 12,8), wie es dennoch die total gottlosen Fakultäten der Scholastiker machen, dass sie alles Göttliche nach dem Urteil des menschlichen Sinnes einschätzen, und statt der Felsen des Glaubens die Sandplätze und Sümpfe ihres Unglaubens zu Prinzipien des Glaubens anhäufen. Aber unser Sinn muss den Worten des Glaubens angepasst werden, und unser Verstand in den Gehorsam Christi eingesperrt werden."

Am meisten ärgert sich die Vernunft an der Predigt vom Kreuze Christi und der Rechtfertigung allein aus Glauben.


1.2.2.2.3. Abgrenzung des Glaubens gegenüber der notitia (der neutralen Kenntnisnahme) sowie der fides historica (historischer Glaube)


Da es der Glaube mit Wort und Tat Gottes zu tun hat, die Gott auf den Menschen richtet, ist reine Kenntnisnahme davon zu wenig:

Nam si fides esset sola notitia, tunc Diabolus certe salvaretur, quia habet summam notititiam de Deo, omnium operum et miraculorum Dei a condito mundo. Ideo fides aliter intelligenda, quam quod sit notitia, sed est partim assensus."

(WATR 4,4655; (1539); A. Lauterbach).

"Wäre der Glaube reines Zurkenntnisnehmen, dann würde der Teufel gewiss gerettet werden, weil er die größte Kenntnis von Gott hat — von allen Werken und Wundern Gottes seit Gründung der Welt. Also muss der Glaube anders verstanden werden, als dass er [reine] Kenntnisnahme sei, sondern er ist teilweise Zustimmung."

Deshalb genügt auch die reine fides historica (Historischer Glaube) nicht:

"Haec noticia est ipsa 'fides', non tantum 'historica', qua diabolus et credit et Deum praedicat quem admodum et haeretici. Sed est agnitio experimentalis, et fides significat hoc vocabulum: 'cognovit Adam uxorem suam', id est, sensu cognovit expertus eam suam uxorem, non speculative aut historice, sed experimentaliter; Inde etiam ipsum verbum 'Iada' [ידע] saepe vertitur pro 'doctrina', id est, vera, viva cognitione, non tantum, qua audio ac narro, sed qua apprehendo, innitor et sector hanc cognitionem, quod intrat in cor, ut sperem et non dubitem, acquiescam et confidam, quod Christus pro me sit passus. Hoc non facit historica fides, non addit hanc experientiam, sensitivam et experimentalem cognitionem; dicit quidam: credo, quod Christus passus sit, atque etiam pro me, sed non addit hanc senitivam, experimentalem. Vera autem fides hoc statuit: dilectus meus mihi et ego apprehendam eum cum laeticia, ut Simeon canit: 'Nunc dimittis servum tuum, Domine'. Erat visio non tantum speculativa, sed experimentalis, qua movetur, cum anima tum corpus sentit innovationem quandam et motum vitalem."

(Ennaratio 53. Capitis Esaae; zu Jes 53,11; WA 40 III, 738,4 - 20; hrsg. 1550 von St. Tucher nach einer Mitschrift Rörers 1544).

"Diese Kenntnis ist selbst 'Glaube', nicht nur 'Historischer Glaube, durch den auch der Teufel glaubt und Gott predigt', wie auch die Häretiker. Sondern es ist erfährungsmäßige Anerkennung, und Glaube bezeichnet dieses Wort: 'Adam erkannte sei Weib', d.h.: er hat mit dem Sinn erkannt, nachdem er sie als seine Frau erfahren hatte, nicht spekulativ oder historisch, sondern erfahrungsmäßig; deshalb wird auch das Wort 'Iada' [ידע] oft für 'Lehre' verwendet, d.h. ich stütze mich auf die wahre, lebendige Erkenntnis, nicht nur, durch die ich höre und erzähle, sondern durch die ich ergreife, und ich folge dieser Erkenntnis, weil sie ins Herz eintritt, sodass ich hoffe und nicht zweifle, dass ich beruhigt bin und vertraue, dass Christus für mich gelitten hat. Das macht nicht der historische Glaube, er gibt nicht diese Erfahrung, die gefühlte und erfahrene Erkenntnis; er sagt zwar: ich glaube, dass Christus gelitten hat — und auch für mich — aber er gibt nicht diese gefühlte und erfahrene Erkenntnis. Wahrer Glaube stellt aber das fest: Mein Geliebter ist mein, und ich empfange ihn mit Freuden, wie Simeon singt: 'Nun entlässest du deinen Knecht, o Herr'. Es war nicht nur ein spekulatives Sehen, sondern erlebtes, durch welches Simeon bewegt wird: Seele und Körper fühlen Erneuerung und Lebensbewegung."

An dieser Stelle zeigt sich, dass der Sinn des 'pro nobis' [für uns] darin liegt, dass es gefühlt und als gewiss erfahren wird, nicht einfach in einem — vielleicht auf Autorität begründetem — Zustimmen zum 'pro nobis'.


1.2.2.2.4. Abgrenzung des Glaubens gegenüber der Erfahrung und dem Fühlen des Alltags


Der Glaube ist notwendig Erfahrung. Diese Erfahrung unterscheidet sich aber von der Alltagserfahrung, die 'jedermann jederzeit prinzipiell zugänglich ist', mit der man 'experimentieren' kann. Die Erfahrung des Glaubens dagegen  kommt ungesucht und unbegehrt:

"der glawbe hält sich an die ding, die er nit sihet, fulet noch empfindet, widder im leyb noch seele, sondern wie er ein gutte vermutung hat zu got, so ergibt er sich dreyn und erwegt sich drauf, tzweiflet nit, es geschehe yhm, wie er sich vermutet, so geschicht ihm auch gewisslich also. Und kommt ihm das fulen und empfinden ungesucht und unbegert, eben in und durch solch vermuten oder glauben."

(Auslegung des Evangelii von den 10 Aussätzigen, Lk 17,11-19; zu Hebr 11,1; 1521; WA 8, 357,20-25).

Diese Erfahrung des Glaubens ist aber gewisser als alle Erfahrungen, die der Mensch aus sich heraus machen kann:

"Spiritus sanctus non est Scepticus, nec dubia aut opiniones in cordibus nostris scripsit, sed assertiones ipsa vita et omni experientia certiores et firmiores."

(De servo arbitrio, 1525, WA 18,605; Clemen III,100).

"Der Heilige Geist ist kein Skeptiker, und hat nichts Zweifelhaftes oder bloße Meinungen in unsere Herzen geschrieben, sondern Behauptungen, die gewisser und sicherer sind als das Leben selbst und alle Erfahrung."
"... Drumb so mus das Erkenntnis herkommen nicht aus unsern gedanken, nicht aus unserm Vergnügen, nicht aus unserm Herzen, sondern der heilig Geist mus dasselbige geben, auf dass, wenn der Tod hergehet, die Sunde hereiner bricht, die Helle den Rachen aufsperret, und schüttele mich, als wollt es alles zu Trümmern gehen, ich dennoch sagen darf: Es sei der Teufel so grausam er immer wolle, Es sei die Sunde noch so groß, der Tod noch so stark, die Helle noch so weit und erschrecklich, so weiß ich dennoch, daß Gott mein gnediger und gütiger Herr sei, um des Christi willen, an den ich mich henge. Einen solchen Mut und Trotz muß der heilig Geist machen, Fleisch und Blut vermags nicht. Darumb hab ich gesagt, es müße ein geistlich Erkenntnis sein."

(Roths Winterpostille, 1528, zu Mt 21,1-9; WA 21,7,13-23).

Eine Form des Erfahrens ist das Fühlen. Der Glaube muss fühlen, dass das Wort Gottes wahr ist, und was Gottes Wort ist:

"Denn dw must nicht Luthers/Sondernn Christus schuler seinn/unnd ist nicht gnug das dw sagist/Luther/Petrus odder Paulus hat das gesagt/ßondern dw must bey dyr selbs ym gewissen fulen/Christum selbs/und unwenglich ampfinden/das es gottis wort sey/wenn auch alle welt dawidder stritte/ßo lange dw das fulenn nicht hast/ßo lange hastu gewisslich gottis wort noch nicht gechmeckt/und hangist noch mit den oren an menschen mund odder feder/und nicht mit des hertzen grund am wort/und weyssist noch nicht was das ist Matt xxiii."

(Von beiderlei Gestalt, 1522, WA 10 II,23; Clemen II,320f.).

Dieses Fühlen ist also die Erfahrung mit Gottes Wort selber: Betrachtet sich dagegen der Mensch selber, so fühlt er nicht, dass das gerechtsprechende Wort wahr ist (simul iustus et peccator [gerecht und Sünder zugleich]):

"Consolatio est haec, ut tempore tribulationis sic te iustum [sentias], ut plus sentias de [deo]. Sensus peccati perturbat te, non solum reluctantem sed captivantem sentis, i.e. tu aliud nihil sentis quam te absorbtum in peccato; sed revera non est, sed meus sensus iudicat ita. Ibi disce et expecta tuum Christum et tenta, quantum de Christo. Etiamsi captivas me et nihil sentiam quam peccatum, mortem, tamen credo in Iesum Christum, et sic sum iustificatus spriritu et in istis malis expecto iustitiam, quam iam habeo inceptam, revelandam. sic consolari te potes: habeo iustitiam, quod deus remittit mihi peccatum; etsi tenuiter sentio, tamen apprehendo Christum in ista promissione; et illa scintilla erit fornax et elementaris ignis, sed prae sensu peccati non potes aestimare magnitudines istas spei et fidei. Luctare ideo; si senseris te captum, noli credere.

Etiam aversus, Christus non est aversus et deus etc. Et sic persuade tibi promissionem Christi, quod habes iustitiam, hoc est tibi credendum. Das heißt consolari per spem etc. Das sey der text, qui clare docet opera non iustificare nec consolari; sed hoc facit spiritus in fide Christi, qui dat spem."

(Vorlesung zum Galaterbrief, 1531, zu Gal 5,5; Mitschrift Rörer; WA 40 II,30,5 - 31,11).

"Dies ist der Trost, dass du dich in der Zeit der Anfechtung so gerecht fühlst, dass du mehr von Gott hältst. Das Gefühl der Sünde verwirrt dich, du fühlst, dass es sich dir nicht nur entgegenstellt, sondern dich gefangenhält, d.h. du fühlst nichts anderes als dass du in der Sünde aufgehst. Dies ist aber in Wirklichkeit nicht so, sondern mein Gefühl urteilt so. In dieser Situation lerne deinen Christus kennen und erwarte ihn und versuche, wieviel du von Christus hast. Auch wenn du mich gefangenhältst und ich nichts erfahre als Sünde, Tod, glaube ich dennoch an Jesus Christus, und so bin ich im Geist erlöst und erwarte in diesen Übeln, dass die Gerechtigkeit, die ich schon anfänglich in mir habe, offenbar werde. So kannst du dich trösten: ich habe die Gerechtigkeit, weil Gott mir die Sünde vergibt; wenn ich es auch kaum spüre, so erfasse ich doch Christus in jener Verheißung; und jenes Fünkchen wird zum Feuerofen und zum gewaltigen Feuer, aber wegen des Gefühls der Sünde kannst du die Größe des Glaubens und der Hoffnung nicht abschätzen. Widersetze dich also; wenn du dich gefangen fühlst, glaube nicht!

Auch wenn du dich verlassen fühlst, Christus und Gott haben sich nicht abgewendet usw. Und so überzeuge dich von der Verheißung Christi, dass du die Gerechtigkeit hast. Das musst du glauben. Das heißt durch die Hoffnung usw. trösten. Das sey der Text, der klar lehrt, dass die Werke weder rechtfertigen noch trösten. Sondern das macht der Geist in Glauben Christi, der Hoffnung schenkt."

Die recht verzwickte Sachlage von Erfahrung und Glaube bei Luther habe ich versucht so schematisch darzustellen:

Erfahrung ist doppelt:

  1. Jemand kann mir sagen: "Das ist so und so", ich stelle fest: "Ja es verhält sich so, ich habe nachgeschaut"". Dies ist Erfahrung, die man aus eigener Kraft machen kann. Glaube ist immer wider diese Erfahrung.
  2. Die Erfahrung des Glaubens: Wenn ich höre: "Du bist vor Gott gerecht" und erfahre, dass dies gewiss wahr ist, obwohl es jedem Augenschein widerspricht.
    Die Erfahrung des Glaubens kann auch wieder doppelt sein:
    1. Ich fühle, dass das Wort mich gewiss, frei und froh macht. Diese Erfahrung ist für den Glauben notwendig, ist aber nicht immer vorhanden, der Geist kann einen aber daran erinnern.
    2. Ich erfahre, dass ich dem Wort glaube ohne jedes Fühlen und wider alles Fühlen. Dies geschieht in der tentatio [Anfechtung]. So erfahre ich, dass es der Heilige Geist ist, der mich hält.

Die Erfahrung des Glaubens ist unverfügbar: dies ist ein Zeichen der Passivität des Glaubens (raptus [Entrückung], gemitus [Betrübnis]).


1.2.2.3. Perversion dieser Haltungen auf Gott hin


Wendet man die genannten Haltungen — des Wirkens, des Wissens und Begreifens, des zur Kenntnisnehmens und des Vertrauens auf menschliche Autorität hin, des Erfahrens und des Fühlens des Alltags, die alle der Welt gegenüber ihren Platz haben — Gott gegenüber an: so wird dieses Verhalten zu Illusion, Wahn oder alles zusammenfassend: Unglaube, der notwendig zum Zweifel und zur Verzweiflung führen muss. Der Mensch stützt sich dann Gott gegenüber auf etwas anderes als auf Gott — nämlich auf die Prinzipien seiner Vernunft, seiner Erfahrung, sein eigenes Fühlen, seine eigenen Werke. D.h. er vertraut mit ganzem Herzen darauf und macht es so zum Abergott.

Die einzige Norm Gottes ist aber Gott selber.

Verlässt man sich auf einen der genannten Abgötter, so tritt der Zweiflung und die Verzweiflung auf: sie können uns nicht die Gewissheit geben, die wir in der Todesstunde brauchen:

Die Perversion der genannten Haltungen auf Gott hin, ist Unglaube. Während dem Glauben Gewissheit eigen ist, ist em Unglauben Zweifel und Verzweiflung eigen. Zusammenfassend kann man Unglaube folgendermaßen beschreiben:


1.2.2.3.1. z.B. die Werke


Deutlich tritt dies perverse Verhalten im Pochen auf unsere Werk Gott gegenüber zutage:

"Darüber ist auch ein falscher Gottesdienst/und die hohiste abgötterey/so wir bisher getrieben haben/und noch ynn der welt regieret/darauff auch alle geistliche stende gegründet sind/welche allein das gewissen betrifft/das da hülffe/trost/und selickeit suchet ynn eigenen wercken/vermiset sich gott den himel abe zu zwingen/und rechnet/wie viel es gestifftet/gefastet/Messe gehalten hat/etc. Verlesset sich und pochet darauff/als wolle es nichts von yhm geschenckt nemen/sondern selbs erwerben oder überflüssig verdienen/gerade als muste er uns zu dienst stehen/und unser schuldner/wir aber seine lehenherrn sein. Was ist das anders/denn aus Gott einen götzen/ja einen apfelgott gemachet/und sich selbs fur Gott gehalten und auffgeworffen? Aber das ist ein wenig zuscharff/gehöret nicht für die jungen schüler."

(Großer Katechismus, 1529, Auslegung des ersten Gebotes; WA 30 I,135; Clemen IV,6f.).

Götzendienst ist auch das Vertrauen auf die eigene Heiligkeit:

"Grickel vocat se adhuc filium dei. Hoc est proprium omnium haereticorum, quod credunt se habere spiritum dei et et quod nihil norunt de peccato originali, putant se esse sanctos. Sed ego in me non reperio aliquid sanctitatis, sed magnam infirmitatem. Vix cum sum in tentatione, intelligo spiritum, sed caro tamen pugnat. Idolatria contra primam tabulam."

(WATR 4,5073, 1540; Joh. Mathesius).

"Grickel [=Johann Agricola] nennt sich Sohn Gottes. Dies ist das Eigentümliche aller Ketzer, dass sie glauben, sie hätten den Geist Gottes, und dass sie nicht wissen von der Erbsünde; sie glauben, sie seien heilig. Aber ich habe in mir keine Heiligkeit gefunden, sondern große Schwachheit. Kaum bin ich in der Anfechtung, erfahre ich den Geist, aber das Fleisch kämpft dennoch. Götzendienst gegen die erste Tafel."

Beides, das Vertrauen auf Werke wie das auf Selbstgerechtigkeit, ist Zweifel an Gottes Güte und muss, wenn der Mensch seinen so verstandenen Glauben ernst nimmt, zur Verzweiflung führen. Wenn nämlich zwischen Gott und dem Menschen Werke stehen, die dieser tun muss, um zu Gott zu gelangen, kann er sich ja nicht allein auf Gott verlassen.


1.2.2.4. Positive Bestimmung des Glaubens


Nach der negativen Abgrenzung ergibt sich als positive Bestimmung des Glaubens:

  1. Glaube ist ein fest Vertrauen, der Glaubende hängt sein Herz allein an Gott
  2. Glaube nimmt Gott so, wie er sich selbst gibt. Er macht nichts zur Norm über Gott (z.B. Vernunft, Erfahrung)
  3. Glaube ist reine Empfänglichkeit, der Glaubende tritt mit leeren Händen vor Gott
  4. Glaube bezieht sich auf das, was nicht offenkundig ist. Ja die Grundstruktur des Inhalts des Glaubens ist sogar absconditas sub contrario [Verborgenheit unter dem Gegenteil]:
  5. "fides est rerum non apparentium. Ut ergo fidei locus sit, opus est, ut omnia, quae creduntur, abscondantur, quam sub contrario obiectu, sensu, experientia. Sic Deus dum vivificat, facit illud occidendo, dum iustificat, facit illud reos faciendo, dum in coelum vehit, facit id ad infernum ducendo, ut dixit scriptura: Dominus mortificat et vivificat, deducit ad infernos et reducit, 1.Re. 2. de quibus nunc non est locus prolixius dicendi, Qui nostra legerunt, habent haec sibi vulgatissima. Sic aeternam suam clementiam et misericordiam abscondit sub aeterna ira, Iustitiam sub iniquitate. Hic est fidei summus gradus, credere illum esse clementem, qui tam paucos salvat, tam multos damnat, credere iustum, qui sua voluntate nos necessario damnabils facit, ut videatur, referente Erasmo, delectari cruciatibus miserorum et odio potius quam amore dignus. Si igitur possem ulla ratione comprehendere, quomodo is Deus sit misericors et iustus, qui tantam iram et iniquitatem ostendit, non esset opus fide; Nunc, cum id comprehendi non potest, fit locus exercendae fidei, dum talia praedicantur et invulgantur, non aliter, quam, dum Deus occidit, fides vitae in morte exercetur."

    (De servo arbitrio, 1525; WA 18,633; Clemen III,124).

    "Der Glaube bezieht sich auf das, was nicht offenkundig ist. Damit also für den Glauben Platz sei, ist es nötig, dass alles, was geglaubt wird, verborgen sei. Nicht aber ist etwas tiefer verborgen als unter dem Gegenteil dessen, was uns entgegentritt, was gefühlt und erfahren wird. So: wenn Gott lebendig macht, tut er das, indem er tötet; wenn er gerecht macht, tut er das, indem er zu Angeklagten macht; wenn er in dien Himmel zieht, tut er das, indem er in die Hölle führt, wie die Schrift sagt: Der Herr tötet und macht lebendig, führt zur Hölle hinab und wieder heraus, 1. Sam 2,6. Davon eingehender zu reden, ist hier nicht der Ort. Die, die unsere Werke kennen, denen ist das ganz vertraut. So verbirgt Gott sine Bramherzigkeit und Milde unter ewigem Zorn, seine Gerechtigkeit unter Ungerechtigkeit. Hier ist der höchste Grad des Glaubens, zu glauben, dass derjenige mild ist, der so wenige errettet, so viele verdammt; zu glauben, dass der gerecht ist, der aufgrund seines Willens uns notwendig verdammungswürdig macht, so dass er — gemäß Erasmus — scheint, sich an den Leiden der Elenden zu freuen, und mehr des Hasses als der Liebe würdig erscheint. Wenn ich  also auf irgendeine Weise begreifen könnte, wie der Gott barmherzig und gerecht sein soll, der solchen Zorn und solche Ungerechtigkeit zeigt, dann wäre Glaube nicht nötig. Da nun dies nicht begriffen werden kann, gibt es Platz, um den Glauben zu üben, wenn solches gepredigt und verbreitet wird; dies ist nichts anderes als: Wenn Gott tötet, wird der Glaube des Lebens im Tode geübt."

    Die absconditas sub contrario [Verborgenheit unter dem Gegenteil] zeigt sich also besonders in dem, was die Formel simul iustus et peccator [gerecht und Sünder zugleich] ausdrückt

  6. Diese absconditas sub contrario [Verborgenheit unter dem Gegenteil] des Geglaubten führt zur tentatio, der Anfechtung; die Anfechtung geht bis zur Erfahrung der scheinbaren Verlassenheit von Gott. Sie kann eine fleischliche sein: der Mensch fühlt sich der Welt und dem Teufel ausgeliefert; sie kann eine geistliche sein: die Erfahrung der absoluten Gottverlassenheit.

    In dieser tentatio [Anfechtung] erfährt man erst, was Glaube und Glaubensgewissheit ist:

    "Außer dem Creuz und ohn Anfechtunge weiß Niemand, was Glaube und wie kräftig er sei, allein in Anfechtungen und Widerwärtigkeiten verstehet man. Ich meine und rede nicht von fleischlichen Sünden, welche die Gottseligen nach ihrer Art auch plagen, sondern von geistlichen Anfechtungen, welche nur die verstehen, die sie gefühlet und erfahren haben."

    (WATR 2,2126b, 1531, nach Aurifaber).

    "Es muß einer in einer not stecken, sonst meint er, fides [Glaube] sei nur ein opinio [Meinung]. Ich wollte, daß sie in die schulen kemen, da ich inne bin gewest: ad portas mortis [zu den Toren des Todes]."

    (Die ersten 25 Ps. auf der Koburg ausgelegt, 1530; WA 31,I,293,15; zitiert nach WA 58, I, 125),

  7. In der Anfechtung kann der Mensch nur mehr durch den Heiligen Geist seufzen. Seufzen und Glauben sind dann identisch.

  8. In der tentatio [Anfechtung] kann der Mensch allein auf das gehörte Wort vertrauen — auf die Zusage Gottes, die der Mensch als Trost empfängt: denn das Wort allein macht das Nicht-offenkundige offenbar: Gottes 'Gemälde' sind ja ein wunderlich Ding, die man nur versteht, wenn Gott darüber schreibt, was sie sind:
     
    "... si Christum non suscipimus in scriptura, nemo suscipit. Ut malus pictor, quando vult pingere vaccam et depingit equum, oportet druber schreiben vacca. Sic deus schreibt boß Ding. Scribit deus se mittere salvatorem, statim imaginatur equos, deus verderbt das gemeld et  facit puerum pauperrimum ... et depingit mundo eum miserrimum infantem, qui plus indigeat humano auxilio quam alius infans. Si hoc facit, oportet druber schreib: hic ist der heyland ... Si iudicas, ut vides, es perditus. Si vero das wort geht: Hic et salvator tum hengstu dich an die wort et dicis: male pinxisti, sed quod am gemel verderbt hast, hastu dester bas ausgestrichen durch die Schrift. Spiritus Sanctus novit, quod in Dei operibus non possumus haerere, sunt zu wunderlich, ideo damnamus nisi verbum erhalt..."

    (Predigt über Math. 2,1-12 vom 6.1.1528, Mitschrift Rörer; WA 27,14,1 - 15,9.).

    "Wenn wir Christus nicht in der Schrift aufnehmen, dann nimmt ihn niemand auf. Wie ein schlechter Maler, der eine Kuh malen will, aber ein Pferd malt, darüber schreiben muss: 'Kuh'. So schreibt Gott böse Dinge. Gott schreibt, er schicke den Retter, sofort stellt er sich Pferde vor; Gott verdirbt das Bild und macht einen ganz armen Buben ... und malt ihn der Welt als ganz armseliges Kind, das mehr menschlicher Hilfe bedarf als irgendein anderes Kind. Wenn er dies macht, mu er darüber schreiben: 'Hier ist der Heiland' -- Wenn du urteilst nach dem, wie du siehst, bist du verloren. Wenn aber das Wort ergeht: 'Hier ist der Retter', dann hängst du dch an dies Wort und sagst: 'Du hast schlecht gemalt, aber, was du am Gemälde verdorben hast, hast du umso besser herausgestrichen durch die Schrift. Der Heilige Geist weiß, dass wir nicht an den Werken Gottes hängen können: sie sind zu wunderlich. Deshalb verdammen wir sie, wenn wir nicht das Wort erhalten."
  9. Im Hören des Wortes wird der Mensch froh, frei und gewiss. Dem Wort Gottes entspricht die Erfahrung, dass es Gottes Wort ist. Diese Erfahrung ist die Gewissheit des Glaubens und zeigt sich in der Anfechtung, bewährt sich im Ausharren durchs ganze Leben und beim Sterben. Gerade trotz und wegen der absconditas sub contrario [Verborgenheit unter dem Gegenteil], in der der Mensch allein auf seine Erfahrung des Glaubens — auf das Hören des Wortes — angewiesen ist, ist der Glaube eine feste Gewissheit, stärker als alle Gewissheit:
    "... quoties verbum dei praedicatur, reddit laetas, latas, securas conscientias in deum, quia est verbum gratiae, remissionis, bonum et suave."

    (Kommentar zum Galaterbrief, 1519, zu Gal 1,1; WA 2,453,2-6)

    "Sooft Gottes Wort verkündigt wird, macht e fröhliche, weite, sichere Gewissen zu Gott; denn es ist das Wort der Gnade, der Vergebung, — ein gutes und angenehmes Wort."
  10. Der Glaubensgewissheit entspricht ein starker Glaube, der sich in allem auf Gott verlässt und sich entsprechend dem Mitmenschen gegenüber verhält. Aus einem rechten starken Glauben würde das Paradies auf Erden folgen. Starker Glaube ist der bergeversetzende Glaube, der Wunder tun kann. Faktisch aber ist wegen der Schwäche des Menschen der Glaube oft ein schwacher Glaube:
     
    "Wenn ich so viel Glauben hätte, wie ich wol haben sollte, wollt ich längst den Türken erschlagen und die Tyrannen kirre gemacht haben. Ich hab mich wol also mit ihnen zuplaget, aber es feilet mir am Glauben. Doch ist ein schwacher Glaub auch ein Glaub, denn Gott spricht: 'Laß dir genügen ab meiner Gnad; denn in Schwachheit bin ich stark' (2 Cor 12,9)"

    (WATR 2,2657b, 1532, Aurifaber). 

    Und weil das Fleisch immer wieder den Geist besiegen will, muss der Glaube geübt werden, und Gott um Stärkung des Glaubens gebeten werden.

    "Die rechtschaffenen Gläubigen meinen immerzu, sie glauben nicht; darum kämpfen, ringen, winden, befleißigen und bemühen sie sich ohn Unterlaß, den Glauben zu erhalten und zu mehren. Gleich wie die guten und kunstreichen Werkmeister sehen und merken allzeit, daß an ihrem Werk etwas, ja viel mangelt und feilet; die Hümpler aber lassen sich dünken, es mangel ihnen an nichts, sondern es sei Alles recht vollkommen, was sie machen und tun."

    (WATR 1,1063, erste Hälfte 1530er Jahre, Aurifaber).

    Wenn der Gläubige durch die Frage nach seiner Prädestination angefochten wird, darf er nicht an Gottes Geschenk zweifeln, sondern kann gewiss sein, dass Gott seine Verheißung hält:

    "Willtu der desperation vel odii [Verzweiflung oder Zorn] entlauffen, so las dein speculiren an steen; ehr will ichs [=Gott] nit thun. Du mußt sonst dein lebentag ein dubitant [Zweifler] pleiben.
    Deus enim non venit de coelo, ut te de praedestinatione incertum faceret aut faciat te contemnere sacramenta. Haec ideo instituit, ut te certissimum faceret et eiciat istas cogitationes ex animo tuo. Nam qui dubitat de hac Dei revelata voluntate, ille perit, nam ubi est dubitatio, ibi nulla est salus."

    (WATR 5,5658a, Jahr fraglich, aus Hs Clm 937).

    Gott kommt nämlich nicht vom Himmel, damit er dich deiner Prädestination ungewiss mache oder dich die Sakramente verachten lasse. Diese hat er deshalb eingesetzt, damit er dich ganz gewiss mache und jene Gedanken aus deinem Herzen werfe. Denn wer an diesem offenbarten Willen Gottes zweifelt, der geht zugrunde; denn wo Ungewissheit ist, dort ist kein Heil."
  11. Da der Glaube immer unvollkommen ist — wenn der Gläubige seinen Glauben betrachtet — kann der Mensch sich auch nie auf seinen Glauben stützen, sondern allein auf Christus, das Wort. Der Glaube ist immer aufs extra nos [außerhalb von uns] angewiesen, ist also nie ein habitus [Charaktereigenschaft] des Menschen, den er vorweisen könnte (sozusagen als Ersatz für die guten Werke).
     
    "Ergo Christianus non est securus, non dicit: ich bin supra montem, sum perfectus, scilicet 'apprehendi'. In seipso potest dicere: habeo omnia perfecte, Mors victa, Baptisatus. Si spectes in Christum, in quem credis; sed tua fides non perfecta, nondum es totus purus."

    (In XV Psalmos grad., zu Ps 126,4; WA 40, III, 1888, 11ff.; Mitschrift Rörer).

    "Alo ist der Christ nicht sicher, er sagt nicht: 'Ich bin über dem Berg, ich bin vollkommen, ich habe nämlich 'ergriffen'. Bei ich selbst kann er sagen:'Ich habe alles vollkommen, der Tod ist besiegt, denn ich bin getauft.' Wenn du auf Christus schaust, an den du glaubst; aber dein Glaube it nicht vollkomen, noch bist du nicht ganz rein."
    "Darumb mussen wyr unß unter dießer [= Christus] gluckhennenn flügel schmucken unnd nit ynn eygenß glawbenß vormessenheytt ausfliehen, der kuchelwey wyrt unß sonst schwind fressen ... Sihe, das ist der rechte Christliche glawbe, der nit ynn und auff yhm selber, wie die Naturlichen Sophisten davon trewmen, sondern yn Christum kreucht und unter yhn unnd durch yhn behallten wirtt."

    (Weihnachtspostille, 1522, zu Tit 3,4-7; WA 10, I, 1; 125,9 + 127)


1.3. Der Ort des Glaubens


"Nun das wort kan man mit kainem ding fahen weder mit henden noch mit füssen noch mit dem ganzen leib, sonder allein mit dem hertzen, mit dem glauben."

(Sermon von der Himmelfahrt Marie, 1522, Druck, WA 10, III, 271, 35f.).

Der Ort des Glaubens ist das Herz: denn 'Glauben' heißt das Herz an Gott hängen.

Der Ort des Glaubens ist nicht eine partikulare Fähigkeit des Menschen: Verstand, Wille oder Gefühl. Der Glaube it vielmehr im vorgängigen Einheitspunkt von all dem: im Herzen. Das Herz ist der ganze innere Mensch, der Mensch coram deo [vor Gott]. Mit dem Herzen und Gewissen fühlt und erfährt der Mensch den Glauben und wird dessen gewiss. Durch mündliche Predigt wird das Herz erleuchtet, und der Mensch wird neu. Das heißt: er bekommt einen neuen Verstand, Sinn und Willen, denn der Christ sieht alle Dinge anders an, als er es vorher getan hat. Aus dem natürlichen Menschen mit seinem eigenen Verstand, seinem eigenen Willen usw., ist nun ein geistlicher Mensch geworden. (WATR 3,2938b siehe oben 1.2.2.2.2.)

"... quia patimur salutaria, quod creamur in novam creaturam"

(Gal 1531, zu Gal 4,7; WA X, 397, Hs.).

"Weil wir Heilsames erleiden, dass wir in zu einem neuen Geschöpf erschaffen werden."

Zu: 2. Teil: Theologisch-christologische Bestimmung des Glaubens