Internationale Kommunikationskulturen

6. Kulturelle Faktoren: Lehr- und Lernstile

2. Teil II: Einige Konzepte


von Margarete Payer

mailto: payer@hdm-stuttgart.de


Zitierweise / cite as:

Payer, Margarete <1942 - >: Internationale Kommunikationskulturen. -- 6. Kulturelle Faktoren: Lehr- und Lernstile. -- 2. Teil II: Einige Konzepte. -- Fassung vom 2011-03-03. -- URL: http://www.payer.de/kommkulturen/kultur062.htm. -- [Stichwort].

Erstmals publiziert: 2001-01-07

Überarbeitungen: 2011-03-03 [kleinere Korrekturen]

Anlass: Lehrveranstaltung, HBI Stuttgart, 2000/2001. MBA der HdM Stuttgart und der Westsächsischen Hochschule Zwickau 2011

Unterrichtsmaterialien (gemäß § 46 (1) UrhG)

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Dieser Text ist Teil der Abteilung Länder und Kulturen von Tüpfli's Global Village Library


0. Übersicht



1. Einleitung


In diesem Teil sollen einige Begriffe, Ansichten und Erziehungsentwürfe vorgestellt werden, die hilfreich sind, wenn man sich Klarheit schaffen will über die Rollenerwartungen bezüglich Lehrenden und Lernenden in verschiedenen Kulturen und Subkulturen.


2. Lernarten


Im Folgenden liegt zwar quantitativ der Schwerpunkt auf Lernen unter Mitwirkung eines Lehrenden, doch ist diese Form des Lernens weder die wichtigste noch die häufigste im menschlichen Leben. Viel wichtiger sind die verschiedenen Formen des Lernens in voller Eigenverantwortung oder des Lernens in Gruppen von Gleichartigen.


Abb.: Deutsche Jugendbewegung: Tanz um einen Baum als Ausdruck des Strebens nach Einklang von Mensch und Natur, 1922 (Bildquelle: Archiv der Deutschen Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein, Witzenhausen)

In Deutschland fand die bewusste Emanzipation der Erziehung und des Lernens von den Erwachsenen ihren organisatorischen Ausdruck in vielen Gruppierungen (Bünden) der Jugendbewegung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. 14 verschiedene solcher Gruppierungen schlossen sich locker zur Dachorganisation Freideutsche Jugend zusammen und riefen 1913 zum  Ersten Freideutschen Jugendtag auf dem Hohen Meißner (bei Kassel) auf:

"Die Jugend, bisher nur Anhängsel der älteren Generation, aus dem öffentlichen Leben ausgeschaltet, beginnt sich auf sich selbst zu besinnen."

Man formuliert dieses Ziel in der sogenannten Meißnerformel:

"Die Freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein."



Abb.: Lernen durch Nürnberger Trichter (noch nicht erfunden) (©ArtToday)

Nach der Eigenart des Ablaufs des Lernen kann man u.a. folgende Lernarten unterscheiden:


Lernen am Vorbild (Modell-Lernen, Beobachtungslernen, Nachahmungslernen): Lernen am "Vorbild" der Eltern, Geschwister, anderer Personen, an symbolischen Vorbildern (Vorbilder aus Erzählungen, Lektüre, Film, Fernsehen) . Weil Vorbilder so einen großen Einfluss haben können, sollte man als Vorbereitung auf ein fremdes Land sich über die dort üblichen Vorbilder kundig machen. Für Indien z.B. Mahatma Gandhi als Kämpfer für die Unabhängigkeit, Shahrukh Khan als bekannter Schauspieler, Sachin Tendulkar als bekannter Spieler im indischen Nationalsport Cricket.


Abb.: Twiggy [Lesley Hornby, geb. 1949], Vorbild von Generationen magersüchtiger Mädchen und Frauen, 1966 (©Corbis)


Lernen im Spiel: eine der wichtigsten Lernarten mit dem Vorteil, dass es Spaß macht. Die biologische Grundfunktion von Spiel ist die mit positiven Emotionen belegte Einübung von für das Leben wichtigen Verhaltensweisen (siehe z.B. die Spiele von Beutefängern -- Katzen u.a. -- im Tierreich)


Abb.: Ohne Spiel entdecken wir die Welt nicht (©Corbis)


Lernen durch Versuch und Irrtum: man probiert Neues aus und lernt aus seinen Misserfolgen. Sehr wichtige Lernart, die in der bewussten Erziehung und in den Rollenerwartungen oft unterdrückt wird: belohnt wird in Schule, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft oft nicht der auf neuartigen Ideen und Versuchen beruhende Misserfolg, sondern der Erfolg in ausgetretenen Pfaden. In konservativen, innovationsfeindlichen Kulturen -- und nicht nur in diesen --  sagt man: "Es geschieht dir ganz recht, dass du auf die Nase gefallen bist! Warum hast du dich auch nicht an das Altbewährte gehalten". Das Gegenteil zu Lernen durch Versuch und Irrtum sind phantasielose Fehlervermeidungsstrategien


Abb.: Hurra, ein Fehler! (©ArtToday)


Lernen über Einsicht (Problemlösung): man wälzt ein Problem und kommt auf unbewussten Wegen zu einer Lösung ("Aha-Erlebnis") (Denken ist kein bewusster Vorgang, deshalb werden große Entdeckungen oft göttlicher Inspiration, mythischen Vorfahren usw. zugeschrieben.)


Abb.: "Es leuchtet mir ein" (©ArtToday)


Lernen durch Gewohnheitsbildung (bis hin zur Dressur): Lernen durch Wiederholung, Übung, Training, Drill, Aufbau von psychischen oder biologischen Abhängigkeiten (Zusammenleben mit Partner, Drogenabhängigkeit u.ä.)


Abb.: Übung macht den Meister (©ArtToday)


Lernen durch Konditionierung, d.h. Verstärkung durch Verbindung eines -- angenehmen oder unangenehmen -- Reizes mit einem anderen Reiz, der mit dem ersten Reiz gar nichts zu tun hat (z.B. in der Reklame Verbindung von Autos mit sexuellen Reizen von Models, oder Verbindung von synthetischen Bademitteln mit Natur u.ä.)


Abb.: Konditionierendes Lernen: Wer Marlboro® raucht,  ist wie ein Cowboy (©Corbis)


Lernen durch Verstärkung (Lob, Tadel, Erfolg, Misserfolg)


Abb.: Lernen durch Verstärkung (Erfolg ) (©ArtToday)


Lernen durch Neukombination und Strukturierung (Superzeichen) (z.B. Lesen eines Buches mit Filzstift zum Unterstreichen des Wichtigen keine Kästchenbildung im Kopf, sondern Verbindung verschiedenster Gebiete)


Abb.: Schubladen im Kopf -- das Gegenteil von Lernen durch Neukombination (©ArtToday)


Lernen der sozialen Regeln


Abb.: Lernen sozialer Regeln: richtiges Benehmen (©Corbis)

Wie ein Bub aus der Chamaar-Kaste, eine Kaste von Gerbern und Lederverarbeitern, in einem indischen Dorf lernt, wie er sich als Kastenangehöriger zu benehmen hat:

"Außer Gerben und Lederverarbeitung lernte Dukhi auch, was es bedeutete, ein Chamaar zu sein, ein Unberührbarer in der Dorfgesellschaft. Für diesen Teil seiner Erziehung war kein besonderer Unterricht erforderlich. Wie der Schmutz toter Tiere, der ihn und seinen Vater bei ihrer Arbeit bedeckte, war die Moral des Kastensystems überall verschmiert. Und wenn das noch nicht reichte, füllten die Gespräche der Erwachsenen, die Unterhaltungen zwischen seiner Mutter und seinem Vater, die Lücken in seinem Wissen um die Welt. " ... "So lauschte Dukhi jeden Abend seinem Vater, wie er die ungeschönten Tatsachen über Ereignisse im Dorf berichtete. Im Verlauf seiner Kindheitsjahre meisterte er einen vollständigen Katalog der wirklichen und eingebildeten Verbrechen, die ein niederkastiger Mensch begehen konnte, und die entsprechenden Bestrafungen waren in seinem Gedächtnis eingegraben. Als er dreizehn war, hatte er bereits sämtliches Wissen erworben, das er brauchte, um diese unsichtbare Kastenlinie wahrzunehmen, die er nie überschreiten konnte, wenn er wie seine Vorfahren in dem Dorf überleben wollte, mit Demütigung und Selbstbeherrschung als ständigen Gefährten."

[Mistry, Rohinton: Das Gleichgewicht der Welt : Roman. - 15. Aufl. - Frankfurt am Main : Fischer-Taschenbuch-Verl., 2010. - 863 S. -- ([Fischer-Taschenbücher] ; 14583). --  EST: A fine balance <dt.>. -- ISBN 978-3-596-14583-6 . -- S. 142ff.]


Lernen durch Handeln (learning by doing)


Abb.: Learning by doing: Landwirtschaftsschule, Quito, Ecuador, 1969 (UNESCO)


Entdeckendes Lernen


Abb.: Entdeckendes Lernen (©ArtToday)


Lebenslanges Lernen (life-long learning): eine unerlässliche Voraussetzung zum Überleben in einer modernen Gesellschaft.


Abb.: Lebenslanges Lernen: Hochschulabschluss im Seniorenalter (©Corbis)


Die genannten Lernarten sind keine sich gegenseitig ausschließenden Kategorien!

Die Gewichtung der einzelnen Lernarten ist kulturell, subkulturell und individuell verschieden. 

[Teilweise nach: Köck, Peter ; Ott, Hans: Wörterbuch für Erziehung und Unterricht. -- 6., mehrfach überarbeitete und aktualisierteAufl. -- Donauwörth : Auer, 1997. -- ISBN 3403024555. -- Passim. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]


3. Kopfkulturen und Buchkulturen


Abb.: "Weißt du was und bist du klug,
So schreib's in' Kopf und nicht ins Buch;
Was hilft es, wenn dein Buch ist gelehrt,
Verlierst du es -- bist du nichts wert."

[Münchener Bilderbogen. -- Nr. 33]

 

Unter Kopfkultur verstehe ich eine Kultur, in der Wissensvermittlung und Lernen in erster Linie zunächst einmal Auswendiglernen heißt. Dies schließt nicht aus, dass in einem zweiten Schritt das Gelernte ausführlichst und sehr klug diskutiert wird. Ja in Kopfkulturen hat die Disputation oft einen großen Stellenwert: ein Verteidiger und ein Angreifer diskutieren eine These schärfstens nach streng vorgegebenen Regeln. Lebendig war eine solche Kultur in der Klerikerausbildung der Katholischen Kirche bis zum 2. Vatikanischen Konzil (1962 - 1965). Heute ist eine solche Kopf/Diskussionskultur noch lebendig in der Ausbildung zu geistlichen Gelehrten in den verschiedenen Richtungen des Buddhismus, im Islam sowie in der klassischen Gelehrsamkeit Indiens. Auch bei vielen kleineren Ethnien ist eine solche Kultur noch lebendig z.B. in der Ausbildung zum Medizinmann/Heiler.


Abb.: Tibetische Geistliche bei Disputation, Kloster Tashilunpo, Shigatse, Tibet (©Corbis)

Unter Buchkultur verstehe ich dagegen eine Kultur, in der Wissensvermittlung und Lernen wesentlich durch Bücher, Aufzeichnungen, Datenbanken u.ä. geschieht. Lernen bestand in solchen Kulturen früher zu einem wichtigen Teil in Exzerpieren und Abschreiben, heute in Kopieren und aus dem Internet Herunterladen. Buchkulturen könnte man heute also ironisch als Kopier- und Ausdruckkulturen bezeichnen.


Abb.: Klassische westliche Kopierkultur (©ArtToday)

Ein klassisches Land für "Kopfkultur" ist Indien: Ziel eines Autors war es in Indien bis ins 19. Jahrhundert hinein nicht, dass seine Werke die Regale von Bibliotheken schmücken, sondern dass ihre Werke in einer lebendigen Tradition des Auswendiglernens über die Jahrhunderte erhalten bleiben.

Folgende Verse [frei flotierende Panditsprüche] illustrieren diese Einstellung zu Geschriebenem:

dyuta.m pustaka-´su´srû.sâ 
nâ.takâsaktir eva ca
striyas tandrî ca nidrâ ca 
vidyâ-vighna-karâ.ni .sa.t
"Die sechs Hindernisse des Wissens sind: Glücksspiel, Bücherhörigkeit, Theatersüchtigkeit, Frauen, Trägheit und Schlaf
pustakasthâ tu yâ vidyâ 
parahastagata.m dhanam
kâryakâle samâyâte 
na sâ vidyâ na tad dhanam
"Wissen, das sich in Büchern befindet, Geld, das jemand anderer besitzt, das ist, wenn man sie bräuchte, kein Wissen und kein Geld."

Es gab in Indien verschiedene Methoden mündlicher Überlieferung, z.B.:


Abb.: Indischer gelehrter Brahmane -- in seinem Kopf befindet sich wortwörtlich der Inhalt eines mittleren Bücherschranks (©Corbis)

Es war bis vor kurzem keine Seltenheit, auf einen indischen Sanskritgelehrten zu treffen, der einen mittelgroßen Bücherschrank auswendig kann. In seinem Gehirn sind all diese Texte verknüpft, sodass er seinen Stoff wirklich hypertextmäßig verknüpft beherrscht. In den jüngeren Generationen stirbt diese Art der Gelehrsamkeit aus und weicht einer westlich geprägten Buchkultur.

Eine faszinierende Verbindung von Kopfkultur und Buchkultur bieten islamische Kulturen. Einerseits Lernen als zunächst einmal Auswendiglernen, andrerseits die Fixierung auf ein Buch, den Koran, samt der daraus entstandenen großartigen Schreib- und Schriftkultur.


Abb.: Koran in Kufi-Schrift (©Corbis)


3.1. Zum Beispiel: Studierende aus dem islamischen Orient an deutschen Universitäten


Der Tübinger Ägyptologe Hellmut Brunner schrieb 1980 über Studierende aus dem islamischen Orient an deutschen Universitäten:

"Die deutschen Hochschullehrer orientalischer Studenten sollten vor allem die Art des dortigen Schulunterrichts bedenken, wie er, fast überall auf dem Lande, aber in vielen Ländern auch noch in Großstädten, vorherrscht - europäische Schulen in den Hauptstädten selbstverständlich ausgenommen: Anfang und Ende ist das Auswendiglernen. Es kann geschehen, dass ein Student aus dem Orient einem deutschen Professor, der ihm ein kleines Fachbuch oder einen Aufsatz, der für sein Studium gerade wichtig ist, gegeben hat, am nächsten Morgen diesen wörtlich und fehlerlos auswendig aufsagt, was durchaus nicht bedeuten muss, dass er mit dem darin gebotenen Stoff umzugehen weiß. Lernen ist das Erste, was eine Schule im Orient verlangt, wobei Lernen Auswendiglernen, nicht notwendig Verstehen bedeutet. (Ich enthalte mich jeder Wertung, geschweige denn einer Abwertung dieser Methode, die auch in unseren Breiten vor gar nicht langer Zeit üblich war.) Orientalen sind oft erstaunt, wenn in einem Schlussexamen Wissen verlangt wird, das in den Anfangssemestern gelernt wurde: das sei doch längst „abgeprüft"!

Größere Schwierigkeiten bei der Aneignung abendländischer Wissenschaft treten häufiger bei den Geisteswissenschaften (einschließlich der Orientalistik!) auf als bei den Naturwissenschaften. Der Übernahme und dem Austausch geistiger Güter wie Sprache, Dichtung, gar Religion sind erheblich engere Grenzen gesetzt als bei naturwissenschaftlichen und technischen. Hier pflanzen sich die Erkenntnisse fast von selbst über die Grenzen von Völkern, Sprachen und Kulturen fort. Offenbar gehören Mathematik und Naturwissenschaft zu den wenigen potentiellen Gemeingütern der Menschheit. Auf der unteren Ebene der reinen Wissensvermittlung ziehen hier orientalische Studenten, ist erst einmal die Sprachschranke überwunden, mit deutschen gleich, ja sie übertreffen sie in der Regel, soweit es sich um reinen Lernstoff handelt, da ihnen ein geschultes Gedächtnis und bewährte Lernmethoden zur Verfügung stehen. Schwierigkeiten, denen der Hochschullehrer oft verwundert oder gar hilflos gegenübersteht, treten auf, sobald kritisches, prüfendes, wertendes Denken und Urteilen verlangt wird. In den geisteswissenschaftlichen Fächern verschmelzen diese beiden Phasen sehr früh, da der Historiker oder der Philologe schon in den ersten Semestern angehalten wird, nicht wortgläubig, sondern fragend an Primär- wie Sekundär-Literatur heranzugehen.
Dass der Neuling aus dem Osten zunächst, wie die meisten, auch westlichen, Ausländer, ja auch viele heutige deutsche Studenten, der Fülle des Angebots, die nicht durch einen Stundenplan geordnet wird, schier erliegt - darüber ist hier nicht zu handeln, zumal die Universitäten sich bemühen, Hilfen zu bieten - ohne dass man deshalb gleich von Verschulung sprechen sollte.

Die entscheidende Krise kommt beim Umgang mit wissenschaftlicher Literatur und beim Besuch mehrerer Vorlesungen, in denen ähnliche Themen behandelt werden. Man muss nur einmal das tiefe Erschrecken, ja die wie ein Abgrund aufklaffenden Zweifel an jeder Wissenschaft und aller Vertrauens- und Glaubwürdigkeit erlebt haben, wenn ein Student aus dem Orient feststellt, dass zwei anerkannte Handbücher oder zwei Professoren in ihren Vorlesungen einander in einem Punkt widersprechen und er dann auf seine Frage, wer denn nun recht habe, was er lernen solle, die Auskunft bekommt, das möge er selbst feststellen, indem er den Fall prüfe. Wenn er gar noch die Weisung erhält, bei dieser Prüfung sei der neuern und neusten Literatur zunächst ein prae zu geben gegenüber der älteren, dann ist die Kehrtwendung, die ihm abverlangt wird, eine vollkommene hat er doch daheim gelernt, dass eine Quelle umso wertvoller sei, je älter sie ist - wobei diese Ansicht von den Nachrichten über den Propheten [Muhammad] stammt.


Abb.: Haji Ali bei der Koranrezitation in seinem Haus, Chango, Baltistan, Pakistan (©Corbis)

Die Achtung vor dem geschriebenen oder gar gedruckten Wort ist so groß, dass auch das Selbstgeschriebene davon betroffen ist. Ein Professor, der sich die Mühe gemacht hatte, eine Prüfungsarbeit vor dem offiziellen Einreichen durchzusehen und dazu mehrere Seiten Notizen dem Studenten zurückreichte, fand zu seinem Erstaunen, dass von diesen Bemerkungen bei der nächsten Besprechung nichts eingearbeitet worden war - der Text war unverändert. Auf die verärgerte Frage, ob er denn die Notizen nicht benützt habe, erhielt er die unerwartete Antwort, die hebe er sich als Dokument sorgfältig auf; aber am geschriebenen Text dürfe man doch nichts ändern, das stehe doch so da!

Je weiter das Studium fortschreitet, desto größer wird die Kluft zwischen westlichen und orientalischen Studenten - wird doch in unseren Schulen systematisch zu „kritischer Haltung" gegenüber jeder überlieferten Lehrmeinung erzogen, und so mancher junge Wissenschaftler möchte sich dadurch profilieren, dass er Ergebnisse, die als sicher galten, in Frage stellt. Dem Orientalen genügt es oft genug zu wissen, wie etwas ist; die Frage, warum er oder seine Quelle das für richtig hält, worauf eine Meinung basiert, wie sicher eine Folgerung ist, kommt ihm überraschend und bleibt ihm oft schon im Ansatz unverständlich.
Besondere Sorge bereitet den deutschen Lehrern orientalischer Studenten immer wieder die Großzügigkeit im Kleinen, die diese zeigen - wobei freilich die Differenz zu deutschen Kommilitonen geringer wird in dem Maße, in dem etwa auf Rechtschreibung wie überhaupt auf die Treue im Detail auch in deutschen Schulen immer weniger gegeben wird.

Orientalischer Freude an der Vielfalt widerspricht es, Literaturverweise und -abkürzungen immer gleich zu schreiben -- Variationen werden als schöner empfunden. Es ist ein mühevoller Weg, dem Studenten den inneren Zusammenhang zwischen Exaktheit in handwerklicher Arbeit etwa eines Elektrikers oder Automechanikers, derselben Eigenschaft eines Wissenschaftlers einerseits, andererseits erfolgreicher Technik, ergebnisbringender Forschung und dem Wohlstand einsichtig zu machen, zumal dann, wenn er bei heute deutschen Kommilitonen ähnliche Nachlässigkeit feststellen kann. Warum soll die Jahreszahl eines Zeitschriftenbandes nicht einmal in Kommas, das nächste Mal in Klammern eingeschlossen werden und das dritte Mal ganz fehlen? Man wird das Gesuchte schon finden! wie oft muss man das heute hören -- und nicht nur von Orientalen! Hier kommt bei diesen etwas ins Spiel, was gewiss auch als Überlegenheit gesehen zu werden verdient: Die Phantasie, an der es in unserer nüchternen technischen Welt so sehr gebricht. Es ist eine große, fast unlösbare, aber doch dankbare Aufgabe für den Lehrer, diese Gabe bei den Studenten des Ostens nicht zu ersticken, sie im Gegenteil der wissenschaftlichen Arbeit nutzbar zu machen, sie aber dadurch zu bändigen, dass sie mit der unentbehrlichen Instanz der Selbstkritik gekoppelt wird. Hier gilt es, den jeweiligen Stellenwert der eigenen Vorstellung von den Fakten und dem der Fakten selbst zu klären, ebenso wie es darauf ankommt, zwischen dem Wert von Primär- und Sekundärquellen zu unterscheiden bei Leuten, für die zunächst alles Gedruckte von hoher Autorität ist."

[Brunner, Hellmut <1913 - >: Orientalische Studenten bei deutschen Hochschullehrern. -- In: Kulturprobleme außereuropäischer Länder : Philosophie, Religion, Literatur, Geographie, Ausbildung / hrsg. ... durch Jürgen H. Hohnholz. -- Stuttgart : Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, ©1980. -- ISBN 3-8047-0633-9. -- S. 96 - 98]


4. Die menschliche "Natur": Optimisten und Pessimisten


Für den Unterrichts- und Erziehungsstil spielt es eine Rolle, was man von der "Natur" des Menschen hält, so wie dieser Mensch uns als neugeborenes entgegentritt. Sieht man das Böse in der Welt schon im Neugeborenen grundgelegt oder hält man dieses für ein Wesen in einem unverdorbenen Urzustand, das erst durch falsche soziale Einflüsse verdorben wird. Je nach Ansicht in diesen Fragen wird man das Heil der Menschheit u.a. in der richtigen Erziehung sehen und ein Paradies auf Erden für möglich erachten. Die Versuche, einen neuen Menschen heranzuziehen, wie sie in der chinesischen Kulturrevolution (1966 - 1976)  und noch konsequenter von den Roten Khmer in Kambodscha (1975 - 1979, ca. 2 Millionen Opfer!) unternommen wurde, zeigen in ihren unmenschlichen Konsequenzen, dass die Frage nach der Natur des Menschen keine rein akademische Angelegenheit ist.


4.1. Pessimisten: Heidelberger Katechismus (1563)


Der Pessimismus bezüglich der menschlichen "Natur" hat im Christentum eine lange Tradition. Sein einflussreichster Vertreter war der Hl. Augustinus (354 - 430) mit seiner Formulierung der Lehre von der Erbsünde. Besonders ausgeprägt ist die Auffassung, dass die menschliche Natur nach dem Sündenfall Adams und Evas verderbt ist, bei den Reformierten, d.h. den Anhängern der schweizerischen Reformation  (Huldrych Zwingli <1484 - 1531>, Heinrich Bullinger <1504 - 1575>, Johannes Calvin <1509 - 1564>). Im Heidelberger Katechismus von 1563 [Catechismus oder Christlicher Unterricht, wie der in Kirchen und Schulen der Churfürstlichen Pfalz getrieben wird], einer Bekenntnisschrift der reformierten Kirchen, wird dies so formuliert:

"DER ERSTE TEIL: Von des Menschen Elend

FRAGE 3: Woher erkennst du dein Elend?
Aus dem Gesetz Gottes (Röm 3,20).

FRAGE 4: Was fordert denn das göttliche Gesetz von uns?
Dies lehrt uns Christus zusammenfassend in Matth. 22: »Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und allen Kräften. Dies ist das erste und das größte Gebot. Das zweite aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. In diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten« (Mt 22,37-40; Lk 10,27).

FRAGE 5: Kannst du dies alles vollkommen halten?
Nein (Röm 3,10.23; 1.Joh 1,7.8), denn ich bin von Natur aus geneigt, Gott und meinen Nächsten zu hassen (Röm 8,7; Eph 2,3).

FRAGE 6: Hat denn Gott den Menschen so böse und verkehrt erschaffen?
Nein (1.Mose 1,31); sondern Gott hat den Menschen gut und nach seinem Ebenbild erschaffen (1.Mose 1,26.27), das heißt in wahrhaftiger Gerechtigkeit und Heiligkeit, damit er Gott, seinen Schöpfer, recht erkennt und von Herzen liebt und in ewiger Seligkeit mit ihm lebt, um ihn zu loben und zu preisen (2.Kor 3,18; Kol 3,9.10; Eph 4,23.24).

FRAGE 7: Woher kommt denn dieses verdorbene Wesen des Menschen?
Aus dem Fall und Ungehorsam unserer ersten Eltern, Adam und Eva, im Paradies (1.Mose 3,1-6; Röm 5,12.18.19); damals wurde unsere Natur so vergiftet, dass wir alle in Sünden empfangen und geboren werden (Ps 51,7; 1.Mose 5,3).


Abb.: Tizian <1477 - 1576>: Der Sündenfall, um 1568

FRAGE 8: Sind wir aber dermaßen verdorben, dass wir ganz und gar unfähig sind zu irgendeinem Guten und geneigt zu allem Bösen?
Ja (Joh 3,6; 1.Mose 6,5; Hiob 14,4; 15,16.35; Jes 53,6), es sei denn, dass wir durch den Geist Gottes wiedergeboren werden (Joh 3,5).

FRAGE 9: Tut denn Gott dem Menschen nicht Unrecht, dass er in seinem Gesetz von ihm fordert, was er nicht tun kann?
Nein (Eph 4,24.25); denn Gott hat den Menschen so erschaffen, dass er es tun konnte. Der Mensch aber hat sich und alle seine Nachkommen, vom Teufel angestiftet, durch mutwilligen Ungehorsam dieser Gaben beraubt (Röm 5,12).

FRAGE 10: Will Gott diesen Ungehorsam und Abfall ungestraft hingehen lassen?
Mitnichten (Röm 5,12; Hebr 9,27); sondern er zürnt schrecklich, sowohl über angeborene als auch über selbst begangene Sünden, und will sie aus gerechtem Urteil zeitlich und ewig strafen, wie er gesprochen hat: »Verflucht sei jedermann, der nicht bleibt in all dem, was geschrieben steht in dem Buch des Gesetzes, dass er's tue« (5.Mose 27,26; Gal 3,10).

FRAGE 11: Ist denn Gott nicht auch barmherzig?
Gott ist wohl barmherzig (2.Mose 34,6.7), er ist aber auch gerecht (2.Mose 20,5; Ps 5,5-7; 2.Kor 6,14-17), deshalb fordert seine Gerechtigkeit, dass die Sünde, die gegen die allerhöchste Majestät Gottes begangen wird, auch mit der höchsten, das heißt der ewigen Strafe an Leib und Seele, gestraft wird."

Einige der zugrunde liegenden Bibelstellen

1.Mose 3,1-6:  "Aber die Schlange war listiger als alle Tiere auf dem Felde, die Gott der HERR gemacht hatte, und sprach zu dem Weibe: Ja, sollte Gott gesagt haben: ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten? Da sprach das Weib zu der Schlange: Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten; aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret sie auch nicht an, dass ihr nicht sterbet! Da sprach die Schlange zum Weibe: Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esset, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist. Und das Weib sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. Und sie nahm von der Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon, und er aß."

1.Mose 6,5:  "Als aber der HERR sah, dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar, ..."

 Hiob 15,16: "Wieviel weniger der Mensch, der gräulich und verderbt ist, der Unrecht säuft wie Wasser!"

Hiob 15,35: Sie gehen schwanger mit Mühsal und gebären Unglück, und ihr Schoß bringt Trug zur Welt. 

Ps 51,7: "Siehe, ich bin als Sünder geboren, und meine Mutter hat mich in Sünden empfangen."  

Röm 3,10: " ... wie geschrieben steht: »Da ist keiner, der gerecht ist, auch nicht einer. ...« "

Röm 3,23: "... sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten, ..."

Röm 5,18.19: "Wie nun durch die Sünde des Einen die Verdammnis über alle Menschen gekommen ist, so ist auch durch die Gerechtigkeit des Einen für alle Menschen die Rechtfertigung gekommen, die zum Leben führt. Denn wie durch den Ungehorsam des einen Menschen die Vielen zu Sündern geworden sind, so werden auch durch den Gehorsam des Einen die Vielen zu Gerechten."

[Heidelberger Katechismus. -- URL: http://www.ubf-info.de/heidelberg/hdkat/index.htm. -- Zugriff am 2011-03-02]

Auch außerhalb der christlichen Tradition gibt es in Europa Pessimismus bezüglich der menschlichen Natur. Am Bekanntesten ist wohl Niccolo Macchiavelli (1469 - 1527):

"perché li uomini sempre ti riusciranno tristi, se da una necessità non sono fatti buoni." "denn von den Menschen lässt sich nur Schlechtes erwarten, wenn sie nicht zum Guten gezwungen sind."

[Macchiavelli, Niccolo <1469 - 1527>: Il principe, 1513. -- Kap 23. -- URL: http://www.classiciitaliani.it/index007.htm. -- Zugriff am 2011-03-02]


4.2. Optimisten: Jean-Jacques Rousseau (1712 -1778)


Der Urvater aller Optimisten in Bezug auf die menschliche Natur unter abendländisch Beeinflussten ist Jean-Jacques Rousseau (französisch-schweizerischer Philosoph, 1712 - 1778). Folgendes Zitat aus seinem 1762 erschienenen erzählerisch angelegtem pädagogischen Lehrbuch »Émile ou De l'éducation« (deutsch »Émile, oder über die Erziehung«) zeigt diesen Optimismus:

"Setzen wir als unbestreitbare Maxime fest, dass die ersten Regungen der Natur immer richtig sind. Es gibt keine ursprüngliche Verdorbenheit im menschlichen Herzen. Es gibt dort nicht ein einziges Laster, von dem man nicht sagen könnte, wie und woher es dort eingedrungen ist. Die einzige dem Menschen natürliche Leidenschaft ist die Selbstliebe oder, in weiterem Sinn, die Eigenliebe. Diese Eigenliebe, an und für sich oder in Beziehung auf uns selbst, ist gut und nützlich. Und da sie keinerlei notwendige Beziehung auf andere hat, ist sie in dieser Hinsicht von Natur indifferent: Sie wird gut oder schlecht erst in ihrer Anwendung und ihren Beziehungen. Bis zu dem Augenblick, da die Vernunft, die Führerin der Eigenliebe, erwacht, ist es daher von höchster Wichtigkeit, dass das Kind nichts tut, weil es gesehen oder gehört wird, nichts, mit einem Wort, in bezug auf andere, sondern nur das, was die Natur von ihm fordert; dann wird es nur recht tun . . . .

Die erste Erziehung muss also rein negativ sein. Sie besteht keineswegs darin, Tugend und Wahrheit zu lehren, sondern darin, das Herz vor dem Laster und den Geist vor dem Irrtum zu bewahren. Wenn es euch gelänge, nichts zu tun und nichts geschehen zu lassen, wenn es euch gelänge, euren Zögling gesund und kräftig bis zu seinem zwölften Lebensjahr zu bringen, ohne dass er seine rechte von seiner linken Hand zu unterscheiden vermöchte, so würden sich die Augen seines Verständnisses vom ersten Augenblick an unter eurer Obhut der Vernunft öffnen. Ohne Vorurteile, ohne Gewohnheiten wäre nichts in ihm, was euren Bemühungen entgegenwirken könnte. Bald würde er unter euren Händen der weiseste aller Menschen, und indem ihr zu Anfang gar nichts getan hättet, hättet ihr ein Wunder an Erziehung vollbracht.


Abb.: Emile als Gärtner

Tut das Gegenteil dessen, was der Brauch ist, und ihr werdet fast immer das Richtige tun. Wenn man aus einem Kind kein Kind, sondern einen Gelehrten machen will, können Väter und Lehrer nicht früh genug anfangen, es zu schelten, zu verbessern, zu maßregeln, ihm schön zu tun oder zu drohen, ihm Versprechungen zu machen, es zu belehren und ihm Vernunft zu predigen. Macht ihr es besser, seid selbst vernünftig, aber verlangt es nicht von eurem Zögling, vor allem zwingt ihm gegen seinen Willen keine Zustimmung ab. Denn für unangenehme Dinge immer Einwände der Vernunft zu hören, macht sie ihm nur langweilig, und sie gerät vorzeitig in Misskredit bei einem Geist, der noch außerstande ist, sie zu begreifen. Trainiert seinen Körper, seine Organe, seine Sinne und seine Kräfte, aber lasst seine Seele so lange wie möglich in Ruhe. Fürchtet für ihn alle Meinungen, ehe sich nicht seine Urteilskraft gebildet hat, die sie zu bewerten vermag; haltet fremde Eindrücke von ihm fern, und habt es nicht so eilig, das Gute zu tun, um das Schlechte zu verhüten. Denn ohne die Erleuchtung der Vernunft ist es nicht gut. Nehmt jede Verzögerung als Vorteil, denn es ist viel damit gewonnen, wenn man sich dem Ziel nähert, ohne etwas verloren zu haben. Lasst die Kindheit im Kinde reifen. Welche Belehrung ihm immer notwendig sein mag, hütet euch, sie heute zu erteilen, wenn ihr sie ohne Gefahr auf morgen verschieben könnt."

[Rousseau,  Jean-Jacques <1712 - 1778>: Emile oder Über die Erziehung. -- Stuttgart : Reclam, 1963. -- (Reclams Universal-Bibliothek ; Nr. 901/909f). -- ISBN: 3150009014. -- Originaltitel: Emile ou De l'éducation. -- S. 136. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}.]


Abb.: Aus dem Verbrecheralbum der Menschheit: Jean-Jacques Rousseau (1712 - 1778)

Rousseaus vor Menschlichkeit triefende Worte dürfen nicht verschleiern, dass er selbst seinen eigenen Kindern gegenüber ein Schwerverbrecher war: er setzte fünf Kinder in die Welt und brachte sie jeweils nach der Geburt ins Findelhaus! So sehen manchmal "Wohltäter der Menschheit" aus: Heuchelei regiert die Welt!


5. Rollen und Erwartungen



Abb.: Mädchenschule, Pakistan, 1969 (UNESCO)

Eine sehr wichtige Rolle bei Lernen und Lehren sind die verschiedenen Rollenbilder und die daraus resultierenden Erwartungen. Die verschiedenen Rollenbilder, wie z.B. Mädchen, Buben, Frauen, Männer, Bauern, Arbeiter idealerweise sich zu verhalten haben, bestimmen in verschiedenen Kulturen und Subkulturen 

 entscheidend. 

Als der preußische Kultusminister Konrad von Studt 1907 die  Reform des Mädchenschulwesens erläuterte, die nach der bisher meist einseitigen Ausrichtung auf Gefühl und Ästhetik mehr Gewicht auf die Förderung des Verstandes legte, sah sich der Minister genötigt, zu erklären:

"Die intellektuelle Bildung soll in keiner Weise dazu führen, dass der große Schatz, den unser deutsches Volk in der Herzensreinheit und Gemütstiefe deutscher Frauen und Mädchen allezeit hochgehalten hat, irgendwie noch eine Beeinträchtigung erfahre."

Einige Rollenbilder
Behinderte: sollen sie überhaupt Zugang zu Schulen haben, sollen sie integriert werden mit Nichtbehinderten ... ?


Abb.: Geistig Behinderte, Frankreich, 1997 (UNESCO)

Frauen und Mädchen: Brauchen sie überhaupt Schulbildung, haben sie gleiches Anrecht auf Bildung, sollen sie das Gleiche wie Buben und Männer lernen ... ?


Abb.: Eine Frau fährt den Traktor, die Studierenden sind aber alles Männer, Philippinen (UNESCO)


Abb.: Ausbildung im Schneidern an der Lehrerinnenbildungsanstalt, Sudan, 1972 (UNESCO)


Abb.: Chemieunterricht für Mädchen, Sekundarstufe, Colombo, Sri Lanka (UNESCO)


Abb.: Biologieunterricht für Mädchen: "Lebenszyklen einer Fliege", Nordindien (UNESCO)

Erwachsene: Bis zu welchem Alter ist man lernfähig, lohnen sich Bildungsinvestitionen für Erwachsene ... ?


Abb.: Erwachsenenschule, Tunesien, 1975 UNESCO)


Abb.: Telelearning (Schulfunk) für  Erwachsene, Tunesien, 1975 (UNESCO)


6. Der Kampf um die Schule



Abb.: Der Kampf um die Schule. -- Karikatur in: Kladderadatsch. -- 1920

Da Weltverbesserer aller Art immer wieder dem optimistischen Irrtum erliegen, man müsse nur die Kinder und Jugendlichen richtig formen, damit die Welt besser werde, sind und waren Schulen weltweit ein beliebtes Ziel im Gerangel und Kampf um Einflussnahme. Auch Pessimisten kämpften und kämpfen um die Schulen, da sie meinen, man müsse die Menschen schon von klein an in Zucht halten und bändigen. Ob es sich um 

handelt, es geht immer um die Macht über Schulen und die Hoffnung, die lieben Kleinen nach eigenem Bild und Gleichnis formen zu können. 


Abb.: Fundamentalismus in Württemberg: Konfessionell getrennte Aborte in Evangelische bzw. Katholische Volksschule (= Regelschule!) Weil der Stadt, 1930er-Jahre

[Quelle der Abb.: 450 Jahre Kirche und Schule in Württemberg. -- Stuttgart : Calwer Verlag, 1984. -- ISBN 3766807560. -- S. 225]


Abb.: Koranschule, Pakistan (UNESCO)


7. Aktivitätsformen und Sozialformen des Unterrichts


Karl Aschersleben unterscheidet zur Klassifizierung von Unterrichtsmethoden:

[Aschersleben, Karl: Frontalunterricht - klassisch und modern : eine Einführung. -- Neuwied : Luchterhand, ©1999. -- (Studientexte für das Lehramt ; Bd. 1). -- ISBN 3472033940. --  S. 63. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]

Wenn man beide Klassifikationskriterien (Aktivitätsform und Sozialform) kombiniert, erhält man grob folgendes Schema. Dieses Schema soll die Behandlung von Unterrichtsstilen erleichtern, ist aber nicht exklusiv gedacht: eine tatsächliche Unterrichtseinheit kann mehrere Methoden enthalten. (Schemata dienen der Organisation in unseren Köpfen, die Wirklichkeit kümmert sich aber meistens recht wenig darum, ob sie genau in eines der Schächtelchen im Schema passt!)


8. Unterrichtsstile


8.1. Autoritäre Unterrichtsstile



Abb.: Albert Anker <1831 - 1910>: Das Schulexamen, 1862

"Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber liebhat, der züchtigt ihn beizeiten."

Sprüche Salomonis 13,24

"Es dient zu eurer Erziehung, wenn ihr dulden müsst. Wie mit seinen Kindern geht Gott mit euch um; denn wo ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtigt?"

Hebräerbrief 12,7

"Zucht und Züchtigung"
Dem Lehrer nehmt die Rute nicht,
Ihr tut's dem Kind zu Leide;
Wer ist, der bösen Willen bricht
mit Sammet und mit Seide.

 

Des Vaters Hand, des Lehrers Hand,
Darf wie sein Aug' nicht schlafen;
Sie rühre sich, doch mit Verstand,
Wenn sein muss auch zum Strafen.

 

Für Gut und Bös des Kindes Herz
Im Urteil früh zu schärfen,
Der Schöpfer legte Lust und Schmerz 
In seine zarten Nerven.

 

Den Schmerz zur Straf', die Lust zum Lohn;
So will's Natur und Logik;
Das galt bei unsern Vätern schon
Als beste Pädagogik.

 

Wer weiß, wo seine Rute hangt,
Der wird gehorchen lernen;
Wer Stunden und sonst nichts verlangt,
Der mag sie ja entfernen.

 

Es kann die Zucht die Züchtigung
Nicht schlechterdings entraten;
Fragt Jeden, der einst selber jung,
Ob's bloße Worte taten.

 

[Dürrenmatt, Ulrich: Das Liederbuch der »Buchsi-Zeitung«. -- Bd. IV. -- Herzogenbuchsee, 1899]

 

Abb.: Drill Sergeant, Royal Military Academy of Canada, Kingston, Ontario, Canada (©Corbis)

Autoritären Erziehungsstil in seiner Reinform definiert Dr. med. Daniel Gottlob Moritz Schreber (1808 - 1861) -- der "Erfinder" des Schrebergartens -- ganz klar: 

"Unsere ganze Einwirkung auf die Willensrichtung des Kindes erstreckt sich zur Zeit [schon vor Vollendung des ersten Lebensjahrs] auf die Gewöhnung an unbedingten Gehorsam, worauf dasselbe durch Anwendung der bisher aufgestellten Grundsätze schon sehr vorbereitet ist . . . Es darf in dem Kinde der Gedanke gar nicht aufkommen, dass sein Wille herrschen könne, vielmehr muss die Gewohnheit, seinen Willen dem Willen der Eltern oder Erzieher unterzuordnen, in ihm unwandelbar befestigt werden . . . Mit dem Gefühle des Gesetzes vereinigt sich dann das Gefühl der Unmöglichkeit, dem Gesetz zu widerstreben: der kindliche Gehorsam, die Grundbedingung aller weiteren Erziehung ist auch für die Folge fest begründet".

"Die Mittel und Wege nun, die sittliche Willenskraft, den Charakter zu entwickeln und zu befestigen, brauchen nicht erst gesucht zu werden . . . Die allgemeinste Bedingung zur Erreichung dieses Zieles ist der unbedingte Gehorsam des Kindes".

"War dasselbe [Kind] schon in der ersten Altersperiode - unter einem Jahr - auf dem Wege der Gewöhnung zum unbewussten Gehorsam geführt worden, so ist es nunmehr an der Zeit und zur Erreichung des würdigen Erziehungszieles unerlässlich, dass diese Gewohnheit nach und nach zu einem Akte des freien Willens erhoben, dass der Gehorsam ein selbstbewusster werde. Das Kind soll . . . zu edler Selbständigkeit und Vollkraft des eigenen Willens erzogen werden".

"Das Kind muss allmählich mehr und mehr erkennen lernen, dass ihm die physische Möglichkeit gegeben ist, anders zu wollen und zu handeln, dass es aber aus freier Selbsttätigkeit sich zu der moralischen Unmöglichkeit erhebe, anders zu wollen und zu handeln. Dies wird erreicht: einesteils durch kurze Angabe der Gründe der Ge- und Verbote, insoweit es angemessen und tunlich (denn selbstverständlich muss sich das Kind auch bescheiden und ebenso unbedingt gehorchen, wenn zuweilen die Angabe des Grundes unterbleibt); andernteils durch erzählende Hinweise auf die auch im Kinde liegende Willensfreiheit: 'du könntest wohl anders, aber ein gutes Kind will nicht anders . . .'"

"Fast bei jedem Kinde aber, selbst dem bestgezogensten, taucht wenigstens einmal die Erscheinung der Widerspenstigkeit oder des Trotzes auf -- ein Überbleibsel der natürlichen Rohheit welche das
erwachende Selbstgefühl nach der falschen Richtung zieht. Meist fällt dies gegen das Ende des zweiten Jahres. Das Kind verweigert plötzlich und oft in überraschender Weise gerade da, wo es seit lange
schon die vollste Willigkeit gezeigt hat, den Gehorsam. Die Veranlassung dazu mag sein, welche sie wolle, eine bedeutendere oder an sich ganz gleichgültige -- gleichviel es kommt alles darauf an, dass der Trotz gebrochen werde, und zwar auf der Stelle bis zur Wiedererlangung des vollen Gehorsams, nötigenfalls durch fühlbare Züchtigung".

[Schreber, Daniel Gottlob Moritz <1808 - 1861>: 1861): Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit durch naturgetreue und gleichmäßige Förderung normaler Körperbildung. -- Leipzig : Fleischer, 1858. -- S. 66, 135f. -- Zitiert in: Schatzmann, Morton: Die Angst vor dem Vater : Langzeitwirkung einer Erziehungsmethode ; eine Analyse am fall Schreber. -- Hamburg : Rowohlt, ©1974. -- Originaltitel: Soul murder (1973). -- S. 38 - 41]

Abb.: Eine der vielen "orthopädischen" Erfindungen Dr. Schrebers: Gürtel, um das Kind im Schlaf in der richtigen Position zu halten

Abb.: Der Schlafgürtel im Gebrauch


8.1.1. Zum Beispiel: Erziehung zu bewusster Disziplin in der DDR


Die Konflikte zwischen einer repressiven und autoritären Gesellschaftsordnung und dem Bedürfnis nach selbständig denkenden und handelnden Persönlichkeiten in einer modernen Gesellschaft zeigt sich besonders deutlich in der Erziehung zu bewusster Disziplin in der ehemaligen DDR. Im Endeffekt musste der autoritäre Stil siegen. 


Abb.: Mitgliedskarte für Jungpioniere

"Erziehung zu bewusster Disziplin: Ein wesentliches Merkmal der für die Gestaltung und Sicherung der sozialistischen Gesellschaftsordnung erforderlichen sozialistischen Persönlichkeit und ein sichtbarer Ausdruck ihres »sozialistischen Bewusstseins« soll das bewusst- disziplinierte Verhalten in allen gesellschaftlichen Bereichen, besonders aber beim Arbeiten, Lernen und militärischen Dienst sein. Alle für die Bildung und Erziehung verbindlichen Gesetze und Bestimmungen fordern daher die zielstrebige, systematische und permanente Erziehung der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen zur bewussten Disziplin, d.h. zur Fähigkeit und Bereitschaft, ihr Verhalten entsprechend den Normen der sozialistischen Gesellschaft aktiv und selbständig aus innerem Antrieb zu steuern. Da der Produktionsprozess infolge der Wissenschaftlich-technischen Revolution (WTR) immer komplizierter wird und in ihm immer wertvollere Maschinen und Anlagen benutzt werden, müssen die Arbeitskräfte nicht nur über eine hochqualifizierte fachliche Ausbildung, sondern sollen auch -- und das gilt auch schon für die Lehrlinge und für die Schüler während der produktiven Arbeit im Rahmen des polytechnischen Unterrichts -- über die Fähigkeit und Bereitschaft zu Selbststeuerung und Selbstkontrolle im Arbeitsprozess verfügen, d.h. bewusste Arbeitsdisziplin üben, die vor allem in der gewissenhaften, ordnungs- und fristgemäßen Erfüllung der gestellten Arbeitsaufgaben sowie in der sorgsamen und ökonomischen Verwendung von Maschinen, Material und Arbeitszeit zum Ausdruck kommt.


Abb.: Bewusste Disziplin: "Der erste Arbeitstag". -- Eulenspiegel. -- Berlin (DDR). -- Nr. 35, 1989

Auch die Erziehung zu bewusster Disziplin in der Schule soll über die strikte Unterordnung unter Schulordnung und Lehrkräfte hinaus eine »aktive und schöpferische Haltung den gesellschaftlichen Normen gegenüber« eine bewusste Schuldisziplin beinhalten. Dies führt allerdings auch dazu, dass sich vor allem die älteren Schüler manchmal »aktiv, schöpferisch und bewusst« mit den geltenden Verhaltensregeln auseinandersetzen. Dies wird jedoch nur so weit zugelassen, wie sich diese Auseinandersetzung im Rahmen der normativen Grundlinien hält. Mit der Erziehung zu bewusster Disziplin soll also die Spannung zwischen der Erziehung zu selbständigem und kreativem Denken und Handeln einerseits und der Erziehung zu strikter Einhaltung der politisch-ideologischen Normen andererseits dialektisch aufgehoben werden. Dies gelingt jedoch -- wie zahlreiche Klagen von Lehrern und Erziehern erkennen lassen --, zumindest nicht in dem gewünschten Maße, so dass das gezeigte disziplinierte Verhalten hauptsächlich der Ausdruck einer (meist wohl kalkulierten) Anpassung sein dürfte.
Neben der überzogenen Form und der Eintönigkeit, in der die Erziehung zu bewusster Disziplin häufig durchgeführt wird, macht es auch der Einfluss anderer Erziehungs- bzw. Sozialisationskräfte, so angeblich besonders der »Westsender«, der Schule offensichtlich vornehmlich bei älteren Schülern immer schwerer, die Vielfalt der erzieherischen Einflüsse den Zielen und Normen der politisch-ideologischen bzw. staatsbürgerlichen Erziehung entsprechend zu koordinieren, zu kanalisieren und zu integrieren. Im Zusammenhang mit der Kollektiv- und Arbeitserziehung wird auch der Einfluss der Gruppen innerhalb einer Schulklasse in die Erziehung der Schüler zu bewusster Lern- bzw. Schuldisziplin einbezogen und die Möglichkeit berücksichtigt, dass die Normen der Gruppe von den Schülern häufiger ernster genommen werden als die Normen des Lehrers bzw. der Schule. So will man auf die Disziplin der Mitschüler des Schülerkollektivs positiv regulierend einwirken, damit sich die Schüler auch in neuen und für sie ungewohnten Situationen, ohne auf besondere Anordnungen und Befehle zu warten, selbständig und aus eigenem Antrieb diszipliniert verhalten und notfalls auch bei speziellen Bedingungen notwendige ergänzende Verhaltensnormen festlegen (Selbständigkeit); sie sollen die Forderungen, die an sie gestellt werden oder die sie an sich selbst stellen, nicht nur überhaupt, sondern so vollkommen wie möglich erfüllen (Vollständigkeit) und schließlich ihre Diszipliniertheit als ein konstantes und habituelles Verhalten ohne größere situations- oder stimmungsabhängige Schwankungen durchhalten (Stetigkeit).

Eine besondere Rolle in der Erziehung zu bewusster Disziplin kommt der Wehrerziehung zu."

[DDR-Handbuch / Bundesministerium des Innern. -- 1985. -- In: Enzyklopädie der DDR -- Berlin : Directmedia, 2000. -- 1 CD-ROM. -- (Digitale Bibliothek Band 32). -- ISBN 3932544447. --  {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}. -- S. 2130ff.] 


8.1.2. Zum Beispiel: Erziehung bei den Kpelle in Liberia



Abb.: Karte Liberias (©MSEncarta)

Die Kpelle sind ein Volk, das mit ca. 1 Million Angehörigen ca. 20% der Bevölkerung Liberias ausmacht. Wie bei vielen Völkern werden die Knaben im Rahmen von Initiationsritualen gemäß den Stammesidealen erzogen und unterrichtet. Zwischen dem siebten und fünfzehnten Lebensjahr traten Kpelle-Knaben für vier Jahre in die Buschschule des Poro-Geheimbundes ein. Der Deutsche Afrikanist Diedrich Westermann (1875 - 1956) besuchte 1914 die Kpelle und beschreibt das Erziehungsziel der "Buschuniversität" so:

"Auf meine Frage an einen jungen Mann, was sie im Porobusch lernten, antwortete er: wir lernen gehorchen. Damit ist sicher ein wichtiger Punkt der Erziehung angegeben: unbedingter Gehorsam gegen die im Busch befehlenden Alten und überhaupt Achtung vor allen Erwachsenen des Stammes. Dem Befehl eines der Ordensleiter Widerstand entgegen zu setzen, wäre undenkbar. Der Schüler darf selbst bei den größten Anforderungen nie sagen: das ist mir zu schwer; er darf sich nicht fürchten, er soll lernen, ein Mann zu sein und wie ein Mann sich zu benehmen. Seinen Körper muss er abhärten, ohne jegliche Kleidung gehen, wenigstens zeitweise auf dem nackten Boden im Freien ohne Bedeckung schlafen, Züchtigungen mit lachendem Gesicht ertragen, durch Ausdauer im Laufen, Springen und Klettern sich stählen. ...

Der Schüler soll ferner lernen zu schweigen. Anvertrautes bei sich zu behalten, überhaupt beim Reden und im ganzen Benehmen sich im Zaum halten, Maß üben: i fe dondo ye kpola, i dondo ye kena nu »sprich nicht wie ein Laie, sprich wie ein Eingeweihter« i fe dondo i deyin i nun ma »sprich nicht unüberlegt«."

[Westermann, Diedrich <1875 - 1956>: Die Kpelle : ein Negerstamm in Liberia ; dargestellt auf der Grundlage von Eingeborenen-Berichten. -- Göttingen, 1921. -- Zitiert in: Palla, Rudi <1941 - >: Die Kunst, Kinder zu kneten : ein Rezeptbuch der Pädagogik. -- Frankfurt a. M. : Eichborn, ©1997. -- (Die andere Bibliothek ; Bd. 153). -- ISBN 382184468X. -- S. 224f. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]


8.2. Gleichgültige Unterrichtsstile



Abb.: Papierflieger -- Typische Schülerbeschäftigung bei gleichgültigem Unterrichtsstil (©Corbis)

Von den im Folgenden behandelten nichtautoritären und antiautoritären Unterrichtsstilen ist der gleichgültige Unterrichtsstil zu unterscheiden. Bei ihm haspelt die Lehrperson ihr Pensum ab und es ist ihr gleichgültig, was die Schüler machen oder mitbekommen. Beliebte Beschäftigungen der Lernenden dabei sind: Schwätzen, Schlafen, "Schiffe versenken", Lesen, überhaupt fernbleiben. Ein solcher Unterrichtstil kann von den Lernenden direkt gefordert werden: als ein indischer Hochschullehrer bei den Studierenden mangelnde Mitarbeit und Leistung bemängelte, gaben ihm diese zur Antwort: "Kümmere du dich um deine Angelegenheiten. Du wirst dafür bezahlt, dass du deine Vorlesungen hältst. Was wir tun, geht dich einen Dreck an!"


8.3. Nichtautoritäre Unterrichtsstile



Abb.: Nichtautoritärer Unterrichtsstil (©Corel)

Das Hauptmotiv für die vielen Versuche nichtautoritärer Unterrichtsstile hat John Holt in seiner Untersuchung über das Versagen amerikanische High Schools klar formuliert 

Selbst gute Schüler "sind nicht imstande, mehr als nur einen winzigen Bruchteil der ungeheuren Fähigkeit zum Lernen, Verstehen und Erfinden zu nützen, mit der sie geboren wurden und von der sie in den ersten zwei oder drei Lebensjahren noch vollen Gebrauch machten."

Holt zeigt, dass sehr viele amerikanische High Schools in den Kindern nicht Freude am Lernen entwickeln, sondern nur eine lähmende Angst vor dem Versagen. Die Kinder haben Angst, eine falsche Antwort zu geben und sich vor dem Lehrer und den Mitschülern lächerlich zu machen. Diese Angst lässt sie gewissermaßen erstarren, hindert sie am Denken und macht es in letztendlich auch unmöglich, die richtigen Antworten zu finden.

Für diese Schüler ist für Holt die Schule kaum besser als ein Gefängnis:

Die Schule "ist ein Ort, in den sie einen schicken und wo sie einem sagen, was man tun soll, wo sie versuchen, einem das Leben zur Hölle zu machen, wenn man nicht oder nicht richtig lernt. Für die Kinder besteht der Hauptzweck der Schule nicht im Lernen ... er besteht darin, die täglichen Aufgaben mit einem Minimum an Anstrengung und Ärger zu erledigen oder wenigstens aus dem Weg zu räumen."

[Holt, John Caldwell: Wie Kinder lernen. -- Weinheim [u.a.], 1971. -- ISBN 3-407-28133-1. -- Originaltitel: How children learn]

Charles E. Silbermann, ein anderer Kritiker des amerikanischen Schulsystems, beschreibt die Misere so:

"Es ist unmöglich, sich über längere Zeit hinweg in irgend einem Klassenzimmer aufzuhalten, ohne von Entsetzen über die überall sichtbare Verstümmelung befallen zu werden -- Verstümmelung

... Erwachsene halten die Schule so sehr für eine Selbstverständlichkeit, dass sie überhaupt nicht bemerken, was für grausame und freudlose Orte die meisten amerikanischen Schulen sind."

[Silbermann, Charles E.: Die Krise der Erziehung : eine allgemeine Bestandsaufnahme des Zustandes und der Perspektiven öffentlicher Erziehung, dargestellt am speziellen Fall Amerikas. -- Weinheim [u.a.] : Beltz, 1973. -- ISBN 3-407-83002-5. -- Originaltitel: Crisis in the classroom]

Acht italienische Jugendliche, die in der Schule gescheitert sind, schreiben in ihrer Anklage gegen das italienische Schulsystem:

"Tagein, tagaus lernen sie für Noten, für Zeugnisse und Diplome. Dabei verlieren sie alles Interesse an den Dingen, die sie lernen. Sprachen, Naturwissenschaften -- alles setzt sich bei ihnen nur noch in Zensuren um.

Hinter diesen Blättern und Urkunden steht nichts anderes als die Gier nach persönlichen Vorteilen. Das Diplom bedeutet bares Geld ... Wer in unseren Schulen ein glücklicher Schüler sein will, muss deshalb bereits als Zwölfjähriger vom Willen zum gesellschaftlichen Aufstieg besessen sein.

Aber nur wenige Zwölfjährige sind gesellschaftliche Streber. Woraus folgt, dass die meisten Kinder und Jugendlichen die Schule hassen."

[Letter to a teacher  / [by] schoolboys of Barbiana. -- New York: Random House, [1970]. -- Originaltitel: Lettera a una professoressa]

[Alle Zitate in: Edson, Lee: Wie wir lernen. -- [Amsterdam] : Time-Life, ©1976. -- (Menschliches Verhalten). -- S. 137 - 140 (Ohne Stellennachweis)]

Noch ein Beispiel der Erziehungskritik aus dem modernen China:


Abb.: "Kinderarbeit einst und jetzt". -- Karikatur in: Beijing Volkszeitung. -- Auslandsausgabe. -- 1987-7-1

Aufgrund solcher und ähnlicher Diagnosen entstanden -- vor allem zwischen ca. 1900 und 1930 -- die verschiedenen reformpädagogischen Bestrebungen und Bewegungen:

Reformpädagogische Richtungen (Auswahl)
Richtung Wichtige Vertreter
"Vom Kinde aus": statt wie bisher vom Stoff her soll die Erziehung vom Kind aus, von seinen Anlagen, seiner Entwicklung, seinen Bedürfnissen aus geschehen Ellen Karolina Sofia Key (1849 - 1926, Schweden, einflussreiches Buch: Das Jahrhundert des Kindes, 1900)

Maria Montessori (1870 - 1952, Italien)

Ovide Decroly (1871 - 1932, Belgien)

Célestin Freinet (1896 - 1966, Frankreich)

Alexander Sutherland Neill (1883 - 1973, Großbritannien, Gründer der Schule Summerhill)

Landerziehungsheimbewegung: Leben und Lernen in der ländlichen Natur, fern von den Großstädten und verknöchertem staatlichem Unterricht, sollen die Kinder heranwachsen und ein "Sauerteig" für die Erneuerung des "gesunden" Volkslebens werden Hermann Lietz (1868 - 1919, Deutschland, Gründer des ersten Landerziehungsheims)

Gustav Wyneken (1875 - 1964, Deutschland, Mitbegründer der Freien Schulgemeinde Wickersdorf)

Kurt Hahn (1886 - 1974, Deutschland, Leiter des Landerziehungsheims Schloss Salem)

Arbeitsschulbewegung: Betont die Wichtigkeit manueller Arbeit in der Bildung. "Probleme selbständig lösen" "Handeln lernen" sind die beiden Maximen (Kerschensteiner). Bürgerlich oder sozialdemokratisch  ausgerichtet Georg Kerschensteiner (1854 - 1932, Deutschland)

Robert Seidel (1850 - 1933, schweizerischer Nationalrat)

John Dewey (1859 - 1952, USA)

Produktionsschulbewegung: marxistisch ausgerichtete Arbeitschulbewegung Pavel Petrovic Blonskij (1884 - 1941, Sowjetunion, Begründer der polytechnischen Bildung, die offizielle Grundlage des Schulwesens der meisten Ostblockstaaten wurde)

8.3.1. Zum Beispiel: Leo Tolstoi (1828 - 1910)



Abb.: Leo Tolstoi, 1868

"Lev Nikolaevic Tolstoj: Seine pädagogische Hauptthese lautet: 

»die einzige Grundlage der Erziehung (ist) die Erfahrung und ihr einziges Kriterium die Freiheit«. 

Mit seinem Ausgehen von der Erziehungswirklichkeit und mit seinen Versuchen auf seinem Gut in Jasnaja Poljana nimmt der russische Dichter und Erzieher die Initiativen zum Aufbau der modernen, auf Erfahrung gegründeten Erziehungswissenschaft sowie zahlreiche Impulse der Reformpädagogischen Bewegung -- angefangen von BERTHOLD OTTOS Hauslehrerschule in Berlin-Lichterfelde bis zu ALEXANDER SUTHERLAND NEILLS »freier Schule« in Summerhill mit ihrer Freiheit von Schuldisziplin, und Schulbesuchspflicht, von Stundenplan und Sitzordnung -- vorweg. 

Mag jedoch sein Einfluss auf die frühsowjetische Pädagogik auch beachtlich sein, die Pädagogik im Westen bleibt davon weitgehend unberührt. Seine bedeutsamste -- über mancherlei Wandlungen und Widersprüche hinweg durchgehaltene -- Intention: Erziehung und Bildung als Interaktionsprozesse zu begreifen und zu gestalten und damit einen notwendigen und fruchtbaren Beitrag zur Demokratisierung der Gesellschaft zu leisten -- diese Intention wird in beiden Systemen ignoriert.


Abb.: Lage des Gouvernements Tula (©MS-Encarta)

Als Abkömmling eines im siebzehnten Jahrhundert nach Russland ausgewanderten deutschen Kaufmanns, der seinen Namen DICK in die Landessprache übersetzt und sich TOLSTOJ nennt, 1828 in Jasnaja Poljana im Gouvernement Tula geboren, studiert Graf LEV NIKOLAEVIC TOLSTOJ ab 1844 an der Universität Kazan Orientalistik, bricht dieses Studium jedoch nach drei Jahren ab -- angewidert von dem scholastischen Hochschulbetrieb: » . . . glücklich die Universität, in der auf 50 Professoren auch nur einer kommt, den die Studenten lieben und achten«. 1848, nach nur einwöchiger Vorbereitung (!), besteht er an der Universität Petersburg das juristische Staatsexamen mit der Note »genügend«. 


Abb.: Tolstois Gutssitz in Jasnaja Poljana

Ein Jahr später gründet er auf dem väterlichen Gut in Jasnaja Poljana eine Schule für Bauernkinder, die allerdings nur zwei Jahre lang besteht. 1851 kämpft er als Freiwilliger im Krimkrieg. Ab 1854 -- mit dem Erscheinen seiner ersten Werke Knabenalter und Sevastopol -- beginnt sein literarischer Ruhm. 1857 und 1860 /1861 unternimmt er pädagogische Studienreisen nach Westeuropa, sammelt Erfahrungen über das Bildungswesen in Deutschland, Italien, Frankreich, England, Belgien sowie in der Schweiz und gewinnt -- vom engstirnigen, formalistischen und freiheitsfeindlichen Erziehungs- und Unterrichtsbetrieb im Europa der Restauration einigermaßen enttäuscht -- die Überzeugung, als Erzieher und Pädagoge ganz von vorne beginnen zu müssen. Die psychische Verfassung der Kinder in den von ihm bereisten Ländern nennt er bissig »den Schulzustand der Seele«: »Auf die Fragen . . . , die das Leben selber stellt, erhält das Kind keine Antwort, und das um so weniger, als es nach dem Polizeireglement der Schule nicht einmal den Mund auftun und um Erlaubnis bitten darf, hinausgehen zu dürfen, sondern sich durch Zeichen verständlich machen muss, um die Ruhe nicht zu stören und die Lehrer nicht zu unterbrechen . . . Die Schule wird nicht organisiert, damit die Kinder einen guten Unterricht in ihr genießen, sondern damit es der Lehrer beim Unterrichten recht bequem habe.« Eine solche Schule bewirkt es, »dass die dümmsten Kinder die besten Schüler werden, während die klügsten die schlechtesten sind«.

TOLSTOJ hingegen sucht nach einer Erziehung, die dem natürlichen Seelenzustand des Kindes gerecht wird -- des Kindes als eines fröhlichen und lernwilligen Wesens, »mit einem Lächeln auf Mund und Augen, das überall Belehrung sucht, die eine Lust für es ist«. Und er weiß um jene »geheimen Tiefen der Seele . . . , die uns verschlossen sind und bis zu denen wohl das Leben, aber keine Moralpredigt und keine Strafen dringen . . . Unsere Kinderwelt, die Welt einfacher, unabhängiger Menschen, soll rein bleiben von Selbstbetrug und von dem verbrecherischen Glauben an die Gerechtigkeit der Strafe, von dem Glauben und dem Selbstbetrug, als ob das Gefühl der Rache dadurch zu etwas Gerechtem werden könne, dass man es Strafe nennt . . . Die Bildung geht ihren eigenen Weg unabhängig von der Schule«.


Abb.: Das Dorf Jasnaja Poljana

Zwischen 1859 und 1862 gründet TOLSTOJ zu Hause etwa zwanzig Schulen, die erste wiederum in Jasnaja Poljana, an der er selbst Religion, Russisch, Zeichnen und Gesang unterrichtet. Kurze Zeit später werden seine Schulen durch die Polizei aufgelöst und TOLSTOJ, dem man Erziehung zu Anarchie, Negation und Chaos unterstellt, muss sich eine Durchsuchung seines Hauses gefallen lassen. Auch seine 1862 erstmals herausgegebene pädagogische Kampfschrift Jasnaja Poljana, in der er seine Gedanken über eine neue, jeglichem Zwang absagende, eine » freie Ordnung« begründende und interaktiv gestaltete Erziehung darlegt, muss noch im gleichen Jahr ihr Erscheinen einstellen.

In den folgenden Jahren widmet er sich seinem dichterischen Werk: 1864 erscheint der erste Teil seines wohl bekanntesten Romans Krieg und Frieden. 1875 veröffentlicht er seine weltberühmten Vier Lesebücher für Kinder und 1877 Anna Karenina. Zwischen 1869 und 1875 unterrichtet er auch in seinen inzwischen wiedereröffneten Schulen. Sein Eintreten für die verarmten russischen Bauern, für ihre Bildung, für die Hebung ihres sozialen Status und ihre Unterstützung während der Hungerjahre zwischen 1891 und 1898, seine Absage an Gewalt, Zwang und Krieg, sein Verzicht auf persönliches Eigentum und auf seine Position als Gutsbesitzer, sein radikales Ernstmachen mit dem Geist der Bergpredigt und schließlich sein Gesuch an Zar ALEXANDER III. um Begnadigung der Mörder ALEXANDERS II. -- dies alles bringt ihn in scharfen Gegensatz zu den anderen Gutsbesitzern und zu den kirchlichen und staatlichen Stellen und entfremdet ihn nicht zuletzt seiner eigenen Familie.

Im Oktober 1910 verlässt er seine Angehörigen und beabsichtigt, den Rest seines Lebens in Askese und Einsamkeit zu verbringen. Einen Monat später stirbt er im Stationshäuschen zu Astapovo im Gouvernement Tambov --  zweiundachtzigjährig.

Zwei Einflüssen vor allen andern verdankt TOLSTOJ Richtung und Geist seines eigenen Lebens- und Denkweges: »Seit meinem 15. Jahr war Rousseau mein Lehrer. Rousseau und das Evangelium . . . « Beide Anregungen verarbeitet der neben ANTON SEMENOVIC MAKARENKO bekannteste und bedeutendste russische Erzieher und pädagogische Denker allerdings in recht eigenwilliger Weise und schafft dabei etwas völlig Originäres. 

So überzeugt ihn zwar ROUSSEAUs Konzept der negativen Erziehung -- aber nicht in der Bedeutung eines vor allen gesellschaftlichen Einwirkungen geschützten Wachsenlassens des im Kinde angelegten guten Entwicklungspotentials, sondern im Sinne einer von jeglichen Herrschaftsansprüchen und gewaltsamen Zugriffen seitens des Erziehers und Lehrers befreiten »edukativen Interaktion«, in der Menschen: Erwachsene und Kinder, Erzieher und Edukanden, Lehrer und Schüler, auch Schüler untereinander -- frei von vorgegebenen Zielen und sogenannten altbewährten Methoden und freiwillig zusammengekommen -- eine Strecke ihres individuell-persönlichen Weges gemeinsam gestalten und dabei, in ihrem Zusammenleben und gegenseitigen Agieren, Bildung sich ereignen lassen.

Und auch in seiner Nachfolge Christi sucht der Russe den eigenen -- urchristlichen -- Weg, den seine Kirche nicht akzeptiert, indem sie ihn aus ihrer Gemeinschaft ausschließt.

TOLSTOJs erzieherisches Wirken und pädagogisches Reflektieren verläuft und wandelt sich in drei Perioden. 

In der Experimentierphase, die mit der polizeilichen Schließung seiner Schulen endet, sammelt er Erfahrungen im Ausland, verfasst seine ersten pädagogischen Abhandlungen und definiert die auch im Russischen gebräuchlichen und unterschiedlich verwendeten pädagogischen Grundbegriffe Erziehung und Bildung recht eigenwillig: 

»Erziehung ist die zwangsgemäße, gewaltsame Einwirkung einer Person auf die andre, mit der Absicht, solche Menschen heranzubilden, die uns gut zu sein scheinen; während Bildung ein freies Verhältnis von Menschen untereinander ist, das einerseits das Bedürfnis, Kenntnisse zu erwerben, zur Grundlage hat, und andererseits das Verlangen, schon erworbene Kenntnisse mitzuteilen . . . Der Unterschied zwischen Erziehung und Bildung liegt allein in dem Zwang, dessen Recht die Erziehung für sich in Anspruch nimmt. Erziehung ist Zwangsbildung. Bildung ist frei . . . Die Erziehung ist kein Gegenstand der Pädagogik, wohl aber eine von den Erscheinungen, an denen die Pädagogik nicht vorüber gehen kann. Der Gegenstand der Pädagogik ist und kann nur sein: die Bildung . . . Erziehung ist ein zum Prinzip erhobenes Streben nach sittlichem Despotismus . . . Ein Recht der Erziehung gibt es nicht. Ich kann es nicht anerkennen, auch das junge Geschlecht erkennt dieses Recht nicht an, hat es nie getan und wird es nie tun, weil es sich überall und immer gegen die Vergewaltigung der Erziehung auflehnt.«


In der Formgebungsphase -- zwischen 1869 und 1875 -- überwindet TOLSTOJ aufgrund der Erfahrung der eigenen Erziehungs- und Unterrichtspraxis den ursprünglichen Negativismus. Zwar hält er an der Absage an Zwang und Prägung unverbrüchlich fest. Aber sein Freiheitsverständnis bereichert er nunmehr mit positiven Prinzipien. Er weiß jetzt: Freiheit ist kein Naturgeschenk an das Menschenkind. Auch sie will -- weil sittliches Phänomen -- erlernt sein. Und ohne ein Minimum an Disziplin erreicht sie niemand.

In der Ausbreitungsperiode -- während der letzten drei Lebensjahrzehnte -- , in der er seine Anhänger bei der Verwirklichung und Verbreitung seiner pädagogischen, ethischen und religiösen Ideen und bei der Gründung freier Bildungsgemeinschaften unterstützt, lehnt TOLSTOJ die schroffe Trennung von Erziehung und Bildung endgültig ab und wirbt -- zumeist in Briefen und Tagebuchnotizen -- für die Selbstbildung und für die absolute Ehrlichkeit der Erzieher: 

»Es ist besser, dass die Kinder die Schwächen ihrer Eltern kennen, als dass sie fühlen, dass ihre Eltern ein doppeltes Leben führen . . . Die einzige Erziehung ist die Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit den Kindern gegenüber.«

Bereits 1865 schreibt er: 

»Der Erzieher ist dem Kind der erste und nächste Mensch, an dem es seine Beobachtungen macht und jene Schlüsse zieht, nach denen es später die ganze Menschheit beurteilt.«

TOLSTOJ wird nicht müde zu betonen, dass »Bildung ein freies Verhältnis von Menschen untereinander ist«. 

Will der Erzieher in Erfahrung bringen, »was gut und was schlecht ist, muss der Zögling die volle Freiheit haben, seine Unzufriedenheit auszudrücken, oder wenigstens sich der Erziehung zu entziehen, von der er instinktiv fühlt, dass sie ihn nicht befriedigt; das einzige Kriterium der Pädagogik ist und bleibt allein die Freiheit«. 

Und von Jasnaja Poljana berichtet der russische Humanist: 

»Die Schule entwickelte sich von Anfang an völlig frei, aus Prinzipien, die Lehrer und Schüler in sie hineintrugen. Trotz des überlegenen Einflusses seitens des Lehrers hatte der Schüler immer das Recht, nicht in die Schule zu gehen, oder selbst wenn er in die Schule ging, nicht auf den Lehrer zu hören . . . Die Schüler sind Menschen -- zwar kleinere als wir, aber doch Menschen mit denselben Bedürfnissen, und sie denken nach denselben Regeln, wie wir; sie wollen alle lernen, und deshalb gehen sie auch bloß in die Schule; daher werden sie auch sehr leicht zu dem Schlusse kommen, dass man sich bestimmten Bedingungen fügen muss, wenn man lernen will. Aber mehr noch -- sie sind nicht bloß Menschen, sondern eine Gesellschaft von Menschen, die durch einen Gedanken verbunden ist. Und: wo drei versammelt sind in Meinem Namen, da bin Ich mitten unter ihnen! Indem sie sich nur den natürlichen Gesetzen fügen, die allein aus ihrer Natur stammen, sträuben sie sich nicht und murren nicht; wenn sie sich aber unseren voreiligen Eingriffen unterordnen, glauben sie nicht an die Gerechtigkeit unserer Gesetze, Stundenpläne und Regeln.«

Für TOLSTOJ liegt der »bildende Einfluss . . . nur in dem Zusammenleben junger Leute, die mit derselben Sache beschäftigt sind«. Und diese Beschäftigung gelingt am besten in einer reformierten Bildungsinstitution. Hier 

»wird die Schule vielleicht nicht die Schule sein, wie wir sie verstehen mit Bänken, Wandtafeln, Lehrstühlen und Professorenkathedern, sie wird vielleicht nur ein Puppenspiel, ein Theater, eine Bibliothek, ein Museum, oder eine Unterhaltung sein; es wird sich vielleicht überall ein ganz anderes Wissenschaftssystem und ein ganz anderes Lehrprogramm ausbilden«.

In einer solchen Schule wird der Schüler nicht durch Abfragen oder durch Hausaufgabenkontrolle und dergleichen mehr gequält: 

»Er bringt nur sich selber, seine empfängliche Natur und die Überzeugung mit, dass es in der Schule heut genau so lustig sein wird, wie gestern. Er denkt nicht eher an die Stunde, als bis sie angefangen hat.« »Wenn wir so die Erscheinung der Bildung als die gemeinsame Tätigkeit von Schüler und Lehrer betrachten, sehen wir, dass diese Tätigkeit in beiden Fällen das Streben der Menschheit nach Gleichheit des Wissens zur Grundlage hat.«

[März, Fritz <1934 - >: Personengeschichte der Pädagogik : Ideen, Initiativen, Illusionen. -- 2. Aufl. -- Bad Heilbrunn : Klinkhardt, ©2000. -- ISBN 3781509095. -- S. 589 - 593. --{Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]

Tolstoi selbst entsprach -- zumindest in der Unterrichtung seiner eigenen Kinder -- nicht seinen Erziehungsidealen. Seine Tochter Tatjana Tolstoj (1864 - 1950) schildert die Ungeduld und das Aufbrausen ihres Vaters, wenn er sie Mathematik unterrichtete, sehr anschaulich:

 "Am härtesten war die Rechenstunde mit Papa. Im alltäglichen Leben kannte ich keine Furcht vor ihm und erlaubte mir sogar Streiche, was meine Brüder nie gewagt hätten. So machte es mir zum Beispiel Spaß, ihn unter den Armen zu kitzeln und zu sehen, wie er in dröhnendes Gelächter ausbrach und seinen zahnlosen Mund aufriss.

Aber während der Rechenstunde erwies er sich als strenger und ungeduldiger Lehrer. Ich wusste, dass er bei meinem kleinsten Zögern in Zorn ausbrechen, die Stimme erheben und mich in Grund und Boden verdonnern würde. Zu Anfang noch war Papa fröhlich, und alles ging gut. Wenn mein Kopf klar war, verstand ich die Probleme und konnte sie auch lösen. Aber ich ermüdete schnell, und trotz aller Anstrengung verweigerte mir mein Gehirn nach einer gewissen Zeit den Dienst.

Ich weiß noch, wie schwer mir das Bruchrechnen fiel. Und Papas ungeduldige Stimme machte alles nur noch schlimmer.

»Wieviel sind zwei Fünftel und drei Fünftel?« Schweigen. Papa erhebt die Stimme.
» Wieviel sind zwei Kuchen und drei Kuchen?« »Fünf Kuchen«, sagte ich kaum hörbar.
»Richtig. Und wieviel sind nun zwei Fünftel und drei Fünftel?«
Vergebliche :Mühe. Ich schweige, und die Tränen steigen mir in die Augen. Ich getraue mich nicht zu sagen, dass zwei Fünftel und drei Fünftel fünf Fünftel, und somit ein Ganzes, ergeben. Das scheint mir zu einfach.

Papa erkennt meinen Zustand und besänftigt sich wieder.

»Los! Spring ein wenig!«

Ich kenne seine Methode seit langem; und ohne zu fragen, stehe ich auf, die Augen noch voller Tränen, und hüpfe missmutig auf der Stelle, aber tatsächlich: meine Gedanken werden wieder klarer. Jetzt bin ich sicher, dass zwei Fünftel und drei Fünftel fünf Fünftel ergeben und dass dies einem Ganzen entspricht. Warum stellt Papa mir nur so merkwürdige Fragen?"

[Tolstoi, Tatjana <1864 - 1950>: Ein Leben mit meinem Vater : Erinnerungen an Leo Tolstoi. -- Köln : Kiepenheuer & Witsch, ©1978. -- Originaltitel: Avec Leon Tolstoi : souvenirs (1975). -- S. 111]

Tolstois Sohn Leo W. Tolstoj berichtet: über seinen Vater:

"Moralische Überzeugungen, unabhängig von religiösen Geboten, hatte er [Tolstoi] schon gar nicht. Sein Leben war so erfüllt von allen möglichen Passionen, dass er weder Zeit noch das Bedürfnis hatte, darüber nachzudenken. In späteren Jahren formte er dann feste Grundsätze und Anschauungen, nicht von moralischer oder religiöser, sondern von praktischer Überzeugung geleitet; diese Handlungsweise, diese Lebensform gaben ihm Glück oder Zufriedenheit, er hielt sie für gut und so meinte er -- es sollten also alle darnach leben. Er sprach überzeugend, und diese Gabe begünstigte die Dehnbarkeit seiner Grundsätze. Er konnte den gleichen Vorgang als harmlosen Scherz und als niedrige Erbärmlichkeit schildern.

Als Vater zeigte er sich gern gnädig, liebte es, mit seinen Kindern zu glänzen und war -- aber nur in Gegenwart anderer - auch zärtlich; nicht etwa, weil er sich verstellte, sondern weil Zuschauer ihn anregten. Ja, er brauchte Publikum, um etwas Gutes zu tun."

[Tolstoj, Leo W.: Porträt eines Vaters. -- In: Südwestpresse. -- 9.12.2000. -- (Ohne Quellenangabe)]


8.4. Antiautoritäre Unterrichtsstile



Abb.: Paradigmenwechsel im Lehrstil. -- Karikatur in: Nebelspalter. -- 26.5.1971

Der Begriff "antiautoritäre Erziehung" wird ziemlich unklar für alles mögliche verwendet. Hier soll "antiautoritär" im ursprünglichen Wortsinn, als aktiv gegen bestimmte Autoritäten gerichtet verwendet werden. Eine in diesem Sinne antiautoritäre Erziehung kann durchaus autoritär sein, wenn z.B. wie im Falle KEKS (s. unten) die antiautoritären Ziele nicht von den Betroffenen formuliert, sondern von ihren Eltern dekretiert werden.

Auf die Auseinandersetzung zwischen "bürgerlichen" Antiautoritären und "proletarischen" Antiautoritären in Berliner Kinderläden 1969 bis 1971  kann hier nur hingewiesen werden:

Werder, Lutz von <1939 - >: Von der antiautoritären zur proletarischen Erziehung : ein Bericht aus der Praxis. -- Frankfurt a. M. : Fischer, ©1972. -- 212 S. -- (Fischer Taschenbuch ; 1265). -- ISBN 3-436-01521-0


8.4.1. Zum Beispiel: Aktionsgruppe KEKS München (1970)


Als Beispiel für antiautoritären Unterrichts- und Erziehungsstil diene folgendes Flugblatt der Münchner Aktionsgruppe KEKS aus dem Jahr 1970:

"DIE ZEIT
MODERNES LEBEN Freitag, 5. Juni 1970

LÄRMT UND SEID FRECH!

Die letzte Chance zu Spielplätzen zu kommen

Die 'sehr geehrten Mieter' eines Hamburger Wohnunternehmens bekamen von den Eigentümern folgenden Brief; sein Inhalt ähnelt den vielen Briefen, die viele andere Vermieter an ihre Mieter geschrieben haben:

'Dieses Schreiben möchte alle Eltern ansprechen, die Kinder haben. Sofern sie sich nicht angesprochen fühlen, können Sie das Schreiben in den Papierkorb werfen. Sie dürfen es aber auch lesen, damit Sie sehen, dass wir uns bemühen, einige Dinge zu ordnen, die aus dem Lot geraten sind.

Aus dem Lot geraten ist das Verhalten vieler Kinder aus Schmuckshöhe. Sie schreien und lärmen, verschmutzen Eingänge, Wege und Garagentore, beschädigen abgestellte Wagen, spielen und toben zwischen den Anpflanzungen und auf den Rasenflächen. Sie werden frech und antworten auf Ermahnungen oft unverschämt. Der von manchen Kindern verursachte Lärm wird zur Unerträglichkeit für viele, nicht nur empfindliche Anwohner. Der Aufenthalt auf den Balkonen wird verleidet und zur Qual. Viele Mieter, besonders solche aus den Häusern 2a bis 6c und 8a bis 12c haben sich in letzter Zeit beschwert und um Abhilfe gebeten.

Wir rufen daher die Eltern dieser Kinder auf und bitten sie, auf ihre Kinder mit allem Nachdruck einzuwirken, dass die beanstandeten Missstände aufhören. Helfen Sie unserer Hausverwaltung, die stets bemüht ist, die Anlagen in gutem Zustand zu halten. Erlauben Sie Ihren Kindern bitte nicht das Spielen auf Rasenflächen, selbst wenn der Rasen infolge des Tobens der Kinder kaum noch zu sehen ist. Und bedenken Sie bitte, dass nicht nur Ihre Kinder, sondern alle Mieter Freude am Wohnen auf der Schmuckshöhe haben wollen!'

Erstens: Man kann dem Rat des Absenders folgen und das Papier in den Papierkorb werfen.

Zweitens: Man kann die Klagen der gequälten Mitmenschen ernst nehmen, seine Kinder einsperren wie die Kanarienvögel in feste, doch im Namen der Liebe zum Tier einfallsreich geschmückte Käfige; und wenn die süßen Rangen brüllen? Einfach eine Decke drüber.

Drittens: Man kann auch ein Manifest verfassen vervielfältigen und in allen modernen, Licht, Sonne, Sauberkeit und Ordnung beheimatenden Siedlungen Hamburgs und der gesamten Bundesrepublik (und West-Berlin) verteilen.

Es sollte lauten:

KINDER ALLER LÄNDER DER BUNDESREPUBLIK VEREINIGT EUCH!

Sammelt Euch, wo immer Ihr könnt, und wo die gepflegten, vor Betreten geschützten Anlagen dazu einladen! Rottet Euch zusammen! Schreit und lärmt, verschmutzt Eingänge, Wege und Garagentore, erobert Euch die Rasenflächen, damit sie kaum noch zu sehen sind! Seid frech und antwortet auf Ermahnungen unverschämt! Verursacht einen so großen Lärm, dass er nicht nur den Bewohnern der Häuser 2a bis 6c und 8a bis 12c im Hamburger Siedlungsviertel auf Schmuckshöhe den Aufenthalt auf Balkonen verleidet und zur Qual macht, sondern allen Menschen in allen Siedlungen der Bundesrepublik, besonders in den modernen, lichten, luftigen, gesunden, sozialen, sonnigen, sauberen Wohnanlagen draußen im Grünen! Verwüstet das öffentliche Grün; funktioniert es um, macht Spiel- und Bolzplätze daraus, errichtet Tore zum Fußballspielen, baut Euch Verstecke und Hütten aus Blech und Holz! Besetzt alle Brunnen, klettert auf alle Denkmale, spielt mit dem Feuer! Kinder! Ihr bringt die Erwachsenen, denen Ihr hilflos ausgeliefert seid, die Euch demütigen, isolieren, unterdrücken, nur mit Raserei zur Raison. Kein Gespenst geht um in der Bundesrepublik -- die Kinder gehen um.

Ihr werdet sehen: dann, dann werden sie Euch ernst nehmen und Platz für Euch suchen und plötzlich eine Menge Platz für Euch finden -- die Vermieter und die Vermietfirmen, die sozialen und unsozialen und die unsozialen sozialen Siedlungshersteller, die profitierenden und die gemeinnützigen, der Allgemeinheit wenig nützenden Baukonzerne. Und Eure Eltern auch.


KEKS im Aktionsraum 1 

gezeichnet: Manfred Sack"

Für die Kinder wurde das "Manifest" -- wohl auch von Erwachsenen -- in Comics mit Sprechblasen umgewandelt:


Abb.: Rückseite des obigen Flugblatts des KEKS München, 1970


Zu Kapitel 6, Teil III: Beispiele