Internationale Kommunikationskulturen

7. Kulturelle Faktoren: Betriebskulturen und Entscheidungsfindung

2. Teil II: Entscheidungsfindung


von Margarete Payer

mailto: payer@hdm-stuttgart.de


Zitierweise / cite as:

Payer, Margarete <1942 - >: Internationale Kommunikationskulturen. -- 7. Kulturelle Faktoren: Betriebskulturen und Entscheidungsfindung. 2. Teil II: Entscheidungsfindung. -- Fassung vom 2011-03-06. -- URL: http://www.payer.de/kommkulturen/kultur072.htm. -- [Stichwort].

Erstmals publiziert: 2001-03-07

Überarbeitungen: 2011-03-06 [kleinere Korrektur]

Anlass: Lehrveranstaltung, HBI Stuttgart, 2000/2001. MBA der HdM und der Westsächsischen Hochschule Zwickau 2011

Unterrichtsmaterialien (gemäß § 46 (1) UrhG)

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Dieser Text ist Teil der Abteilung Länder und Kulturen von Tüpfli's Global Village Library


0. Übersicht



1. Einleitung



Abb.: Scheinbare Entscheidungsträger: Marionettenfiguren: die "Drahtzieher" sind unsichtbar. Birmanische Marionettenfiguren

[Quelle der Abb.: »... ich werde deinen Schatten essen« : das Theater des Fernen Ostens. -- Berlin : Akademie der Künste, ©1985. -- ISBN 3-88725-185-7. -- S. 74]

"»Wenn die Bundesrepublik High-Tech-Land bleiben will, dann braucht sie in Zukunft Menschen, die autonom und flexibel entscheiden und in den Arbeitsprozess selbständig eingreifen können. Der Taylorismus hat einen gegenteiligen Menschentyp herangezogen. Heute braucht man noch eine ganze Garde von Reparaturschlossern, Aufpassern, Vorarbeitern, Vizemeistern, das kann doch alles wegfallen« (Franz Steinkühler (geb. 1942), damals Vorsitzender der IG-Metall, Wirtschaftswoche, 19.5.1989). In einer Stellungnahme in der Mitgliederzeitung der IG-Metall zur Lean Production werden der »bürokratische Irrsinn« der nach tayloristischem Vorbild organisierten Fabriken und »vollfette Manager« gegeißelt und unter Berufung auf das Konzept Lean Production »flache Hierarchien«, »selbständige Teams« und »sinnvolle (Produktions-)Arbeit« gefordert. Resümierend kommt der Artikel zu der Botschaft: »Das alles rechnet sich vorteilhaft für beide Seiten. Für die Arbeitnehmer stehen unter dem Strich eine sinnvollere Arbeit, erweiterte Qualifikationen und damit mehr Lohn. Für die Unternehmer werden solche Mehrkosten bei weitem von den Rationalisierungsgewinnen übertroffen, die sie durch effizientere Arbeit und höhere Qualität einstreichen« (ebd., S. 13). 

Der Artikel zitiert den Gesamtbetriebsratsvorsitzenden von VW, der auf einer Betriebsversammlung forderte: »Wir müssen die dicke bürokratische Lehmschicht, die überall hemmt, blockiert und verzögert, endlich durchbrechen. Die alten Zöpfe im Management müssen endlich abgeschnitten werden« (ebd., S. 11). 

In ähnlicher Weise wird der Gesamtbetriebsratsvorsitzende von Mercedes-Benz in einer Zeitungsmeldung zitiert, in der er die »aufgeblähte Hierarchie und gewaltige Bürokratie« kritisiert und fordert, dass das »Riesenheer« der Kontrolleure, die beispielsweise die Arbeitszeit der Belegschaft überwachen, abgeschafft werden müsse (vgl. Südwest-Presse vom 23.4.1992)."

[Dezentralisierung von Unternehmen : Bürokratie- und Hierarchieabbau und die Rolle betrieblicher Arbeitspolitik / Michael Faust .... -- 3., erweiterte Aufl., mit neuem Nachwort. -- München : Hampp, ©1999. -- (Schriftenreihe industrielle Beziehungen ; Bd. 7). -- ISBN 3879883831. -- S. 166f. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]

Im folgenden Teil werden ziemlich unsystematisch -- und sehr unvollständig -- einige Phänomene und Konzepte dargestellt, die für betriebliche Kommunikation in Bezug auf Entscheidungsfindung und Entscheiden wesentlich sind.

In diesem Teil gehe ich in einigen Punkten etwas ausführlicher auf gruppendynamische Experimente ein. Dies, obwohl das Ergebnis solcher Experimente auch kulturabhängig ist und diese Experimente meist in den USA erstmals durchgeführt wurden. Dennoch spielen diese und ähnliche Experimente in der Literatur über Entscheidungsprozesse in Gruppen eine solche Rolle, dass es mir wichtig erscheint, dass man die Art dieser Experimente kennt. Entsprechen Gruppenprozesse irgendwo nicht den durch solche Experimente nahegelegten Erwartungen, kann dies ein Zeichen für kulturelle oder subkulturelle Unterschiede sein (es muss allerdings überlegt werden, ob nicht andere Bedingungen für das andere Ergebnis verantwortlich sind).


2. Führungsstile



Abb.: Autoritärer Führungsstil (©ArtToday)

Führungsstil in Wien 1896
"Wir erzeugen Kartons für Krawatten, Hemden und Krägen. Die Beschäftigten sind zumeist Kinder von Arbeitern. Anfangs waren wir nach der Woche bezahlt, und da ist man sehr streng gewesen. Wenn eine ein paar Minuten zu spät gekommen ist, hat es geheißen:  »Wenn Sie noch einmal zu spät kommen, schmeiße ich Sie hinaus.« Da sind 20 oder 30 Kreuzer abgezogen worden, je nachdem es der Frau oder dem Herrn beliebt hat. Wenn zum Beispiel ein Stück Papier ruiniert wird, gibt es Strafen. Die Abzieherin kann nichts dafür, wenn der Streifen einreißt, aber der Herr sagt: »Das kostet 10 Kronen, das müssen Sie zahlen.« Wenn sich eine Arbeiterin steift und sagt, das tut sie nicht, so heißt's: »Ich schmeiß Sie hinaus über die Stiege, dass Sie die Haxen in die Höh' strecken.« So drückt der sich aus. »Sie Luder, Sie niederträchtiges, Sie Viech, Sie Schwein, Sie!«"

Eine Arbeiterin in einer Kartonfabrik

Enquete über die Lebens- und Arbeitsbedingungen von arbeitenden Frauen. -- Wien, 1896. -- Zitiert in: Von der Waschfrau zum Fräulein vom Amt : Frauenarbeit durch drei Jahrhunderte / Franz Severin Berger / Christiane Holler. - Wien : Ueberreuter, ©1997. -- ISBN 3-8000-3661-4. -- S. 97f.

Eine besonders in der amerikanischen Managementliteratur verbreitete Unterscheidung von Führungsstilen ist die sogenannte Kontinuum-Theorie der Führungsstile von Robert Tannenbaum und Warren H. Schmidt aus dem Jahr 1958:

Pol: Autoritärer Führungsstil

Vorgesetzter entscheidet allein und ordnet an autoritär
Vorgesetzter ordnet an und begründet seine Entscheidung patriarchalisch
Vorgesetzter schlägt Ideen vor und gestaltet Fragen informierend
Vorgesetzter entscheidet vorläufig, holt Meinungen ein und entscheidet endgültig beratend
Vorgesetzter zeigt das Problem auf und legt den Entscheidungsspielraum fest; Gruppe entscheidet partizipativ
Gruppe entscheidet autonom, Vorgesetzter fungiert als Koordinator demokratisch
Pol: Demokratischer Führungsstil

[Vorlage: Schulte-Zurhausen, Manfred: Organisation. -- 2., völlig überarbeitete und erweiterte Aufl. -- München : Vahlen, ©1999. -- ISBN 3800624052. -- S. 198. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]


Abb.: Demokratischer Führungsstil (©ArtToday)

Lutz von Rosenstiel (geb. 1938) versucht etwas grobschlächtig eine Zuordnung von Führungsstilmerkmalen zu verschiedenen Kulturen. Da dieses Schema öfters verwendet wird, sei es hier mit der Warnung vor groben Stereotypen angeführt:

Pol: Partizipativer Führungsstil
Länder Führungsstilmerkmale
USA Führung durch gemeinsame Entscheidungsvorbereitung

Entscheidungs- und Führungsinstanzen durch formelle Normen am Machtmissbrauch weitgehend gehindert

geringe Sicherheitsbedürfnisse bei den Unterstellten

Niederlande, Flamen
Schweden
Großbritannien
Belgien, Frankreich Führung überwiegend am Rat und an der Meinung der Mitarbeiter interessiert/orientiert

mittlerer Delegationsgrad

Unterstellte erwarten keinen hohen Grad an Entscheidungsautonomie

Dänemark, Norwegen
Australien
Japan
Spanien, Deutschland
Italien
Griechenland, Türkei
Südamerikanische Länder
sehr geringer Delegationsgrad, zentralistische Entscheidungen

Statussymbole und Privilegien für Führungskräfte sichtbar und legitim

Autorität wird nicht hinterfragt, sondern akzeptiert

kaum Informationen zwischen den Ebenen

Malaysia, Indonesien
Thailand
arabische Länder
Indien, Pakistan
Pol: Autoritärer Führungsstil

[Rosenstiel, Lutz von <1938 - >: Menschenführung im Ausland : Motivation und Führungsstil in Auslandsniederlassungen. -- In: Handbuch der Internationalen Unternehmenstätigkeit : Erfolgs- und Risikofaktoren, Märkte, Export-, Kooperations- und Niederlassungs-Management / hrsg. von Brij Nino Kumar und Helmut Haussmann. - München : Beck, 1992l. -- ISBN 3-406-35079-8. -- S. 831]


2.1. Macht- und Kompetenzkämpfe


"Entscheidungsträger"


Abb.: Brünstige Hirsche beim Kampf (©Corbis)


Abb.: Frosch: je "aufgeblasener" und lauter quakend, desto erfolgreicher (©Corbis)

Alle schönen Führungsmodelle dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in Betrieben und Unternehmen sehr oft nicht um sachliche Entscheidungen geht, sondern um Macht, Kompetenz und Status gekämpft wird. Insofern ist für betriebliche Entscheidungsprozesse oft weniger Managementtheorie und ähnliches zuständig, sondern Verhaltensbiologie. Es geht darum, wer Alpha-Tier bzw. Platzhirsch (bzw. Platzmann) ist. Spitzenmanager und andere benehmen sich kein bisschen  weniger "blöd" als Hirsche, Frösche und andere Viecher. Verkennung dieser verhaltensbiologischen Grundlage verhindert eine realistische Einschätzung von Entscheidungsvorgängen.


3. Einzelentscheidung versus Gruppenentscheidung



Abb.: Hermann Groeber: Verwaltungsrat der I. G. Farbenindustrie A.G., Ölbild, 1926

Ansfried B. Weinert fasst die heutige "herrschende Meinung" so zusammen:

"Vor allem im Hinblick auf die Frage, wann Probleme und Aufgaben qualitativ besser, schneller und effizienter von Einzelpersonen oder von Gruppen gelöst werden können, kommt dem Fällen von Entscheidungen eine große Bedeutung zu. In heutigen Organisationen wird die Mehrzahl der Entscheidungen von Gruppen, Teams oder Kommissionen gemacht. Deshalb ist die Frage berechtigt, ob denn Gruppenentscheidungen prinzipiell den Entscheidungen von Einzelpersonen vorzuziehen sind. Anstatt allerdings zu fragen, ob Einzelpersonen oder Gruppen „bessere" Entscheidungen fällen, ist es richtiger zu fragen, unter welchen Umständen und Bedingungen effektivere und qualitativ bessere Entscheidungen getroffen werden können. Um diese Frage zu klären, sind eine Reihe von Forschungsarbeiten durchgeführt worden.

Die wesentlichsten Ergebnisse dieser Untersuchungen sind dabei:

  1. Der entscheidende Faktor für eine qualitative Überlegenheit der einen über die andere Methode ist die Art des Problems;
  2. Gruppenentscheidungen sind den Entscheidungen einzelner Personen überlegen, wenn möglichst viele, verschiedene oder ungewöhnliche Ideen entwickelt werden sollen (= erhöhte Vielfalt von Meinungen und Heterogenität des Entscheidungsprozesses);
  3. Gruppenentscheidungen sind den Entscheidungen einzelner Personen dann überlegen, wenn viel Information herbeigeschafft oder ins Gedächtnis zurückgerufen werden muss (= Vervollständigung der Information und des Wissens);
  4. Gruppen treffen bessere Entscheidungen als Einzelpersonen, wenn es sich um die Bewertung unklarer, ungewisser und unsicherer Situationen handelt:
  5. Einzelpersonen fällen dagegen bessere Entscheidungen, wenn diese Entscheidungsprozesse zum Finden einer Lösung eine Reihe von Teilentscheidungen oder ein tieferes, geistiges Durchdringen der Probleme in jeder Phase verlangen (z.B. das Erstellen von Anweisungen. Regeln, Bestimmungen).
  6. Gruppenentscheidungen sind für gewöhnlich genauer im Sinne von besserer Qualität und höherer Effektivität, nicht aber im Sinne von Geschwindigkeit der Entscheidungsfindung. Wenn es aber um die Effizienz geht, dann sind Einzelpersonen überlegen. Ein möglicher Entscheidungsfaktor in der Überlegung, ob die Wahl eher eine Gruppe oder eine Einzelperson sein soll, sollte deshalb in der Frage liegen, ob die Effektivität oder die Effizienz vorrangig ist.
  7. Gruppen sind Einzelpersonen bei Entscheidungen im allgemeinen auch dann überlegen, wenn die Kreativität der Entscheidung ein wichtiger Faktor ist.

Über die Frage der rein qualitativen Überlegenheit hinaus sprechen noch weitere Punkte für die Gruppenentscheidung: 

Die in vielen Organisationen sich ständig verstärkende Forderung nach Mitbestimmung beim Fällen relevanter Entscheidungen ist auch verbunden mit der Forderung nach einer breiteren Streuung von Macht und Einfluss. 

Die Vorteile sind darin zu sehen, 

Daneben muss allerdings auch berücksichtigt werden, dass Gruppenentscheidungen unter Umständen für Gruppe und Organisation mit erheblichem Mehraufwand an Kosten und v.a. an Arbeitszeit verbunden sein können. Damit zeigen sich auch die Limitierungen und Nachteile der Gruppenentscheidung, die den Vorteilen gegenübergestellt werden müssen:

[Weinert, Ansfried B.: Organisationspsychologie : ein Lehrbuch. - 4., vollständig überarbeitete und erweiterte Aufl.. -- Weinheim : PsychologieVerlagsUnion, ©1998. -- ISBN 3621273999. -- S. 375 - 377 (dort Quellenhinweise). -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]


4. Gruppenautonomie


Für das Maß der Entscheidungsbefugnis einer Gruppe sind wichtig:

Nach dem Inhalt der Entscheidungsbefugnis hat Jon Gulowsen (geb. 1940) 1972 als Maß ein Kontinuum der Arbeitsgruppenautonomie (a measure of work-group autonomy) entwickelt:

[Nach:  Weinert, Ansfried B.: Organisationspsychologie : ein Lehrbuch. - 4., vollständig überarbeitete und erweiterte Aufl.. -- Weinheim : PsychologieVerlagsUnion, ©1998. -- ISBN 3621273999. -- S. 378 (dort Quellenhinweise). -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]

In der Organisationstheorie widmet man in den letzten Jahren folgenden Arten von  Gruppen besondere Aufmerksamkeit:

  1. "In Problemlöseteams tauschen die Mitglieder ihre Vorstellungen und Vorschläge über die Verbesserung eines Arbeitsprozesses oder einer Arbeitsmethode aus. Allerdings kommt es nur selten vor, dass solche Teams dazu autorisiert sind, von sich aus einen vorgeschlagenen Handlungsweg zu implementieren. In besonderem Maße stellvertretend dafür sind die «Qualitätszirkel».

    Qualitätszirkel bilden einen Ansatz zur Arbeitsstrukturierung, der innerhalb weniger Jahre in allen Industrieländern einen großen Verbreitungsgrad gefunden hat. Sie bestehen in der aktiven Einbeziehung von Mitarbeitern in Entscheidungen, die sowohl Verbesserungen in der Produktivität, der Qualität von Produkten und anderen Arbeitsergebnissen wie auch Kostensenkungen betreffen -- eine Einrichtung, die wir auch als Qualitätskontroll-Zirkel bezeichnen. Es handelt sich hierbei um kleine Gruppen von Mitarbeitern, die sich auf freiwilliger Basis zu regelmäßig durchgeführten und moderierten Gesprächsrunden treffen, um Probleme und Schwachstellen im eigenen Arbeitsbereich zu identifizieren, zu analysieren und zu lösen. Schließlich werden Empfehlungen erarbeitet, um diese zu präsentieren. Die Gruppen haben in der Regel 5-10 Mitglieder, die aus demselben Arbeitsbereich oder aus miteinander in bezug stehenden Arbeitsbereichen kommen, die also bei ihrer Arbeit mit dem gleichen Problem konfrontiert sind und einen gemeinsamen Bezugsrahmen haben. Der Grundgedanke der Qualitätszirkel besteht in dem Ziel, das geistige, praktische und Erfahrungspotential der Mitarbeiter auszuschöpfen, ihre Ideen und Erfahrungen in höherem Maße zu nutzen (mitarbeiterorientierte, partizipative Führung). Darüber hinaus liegt hier eine motivationstheoretische Zielsetzung vor: die Steigerung des Selbstwertgefühls und die stärkere Identifikation mit Arbeit, Produkt und Organisation. In der Regel wird das Arbeitsverhalten positiv beeinflusst (z.B. Häufigkeit des Fernbleibens von der Arbeitsstelle oder des Zuspätkommens) und die Qualität des Arbeitslebens (ausgedrückt durch die individuelle Wahrnehmung teilnehmender Mitarbeiter) erhöht. ... 

    [Es] werden insgesamt vier verschiedene Arbeitsbereiche zur Verbesserung von „Qualität" angesprochen:

    Obgleich sich der Grundgedanke des Qualitätszirkel, der schon in den 50er Jahren in Japan durch [Kaoru] Ishikawa [geb. 1915] initiiert wurde, erst in den 70er Jahren in den USA, seit Beginn der 80er Jahre in verschiedenen Varianten auch in den westeuropäischen Industrieländern stark verbreitet hat, sind heute mehrere Millionen von Arbeitnehmern in Qualitätszirkeln organisiert. Dies entspricht nicht nur den häufig zitierten ökonomischen Notwendigkeiten, sondern vielmehr den veränderten Werten in unserer Gesellschaft im Hinblick auf eine breitgestreute Teilnahme an Denk- und Entscheidungsprozessen, eine stärkere Organisationsverbundenheit, verantwortungsbewusstes Handeln und die Bemühung, Probleme gleich an der Basis zu lösen. ...

  2. Die sog. Autonome Arbeitsgruppe (AAG) unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht und in sehr wesentlichem Maße von den oben diskutierten Qualitätszirkeln. Letztere setzen sich üblicherweise aus freiwilligen Mitgliedern und aus eher niedrigeren Rängen der Organisation zusammen, aus der Produktion, und sie bieten dem Organisationsmanagement Rat und Vorschläge zur Verbesserung der Produktionsqualität und zur Erhöhung der Produktivität an - dies allerdings nur auf den unteren Ebenen. Autonome Arbeitsgruppen dagegen sind formal von der Organisationsführung ernannt (oder die Autonome Arbeitsgruppe wählt ihre Mitglieder selbst), und sie können sich aus Mitarbeitern aller Ebenen jedweder Organisation zusammensetzen. Sie mögen sowohl Entscheidungen fällen als auch die Arbeit (z.B. Verbesserungen) selbst durchführen, und sie nehmen auch alle Führungsfunktionen wie Planen, Organisieren, Controlling oder das Besetzen von Stellen selbst vor. Da sie sich auf eine solide Basis aus Spezialisten und Technikern verlassen können, haben sie einen breiten Einfluss."

[Weinert, Ansfried B.: Organisationspsychologie : ein Lehrbuch. - 4., vollständig überarbeitete und erweiterte Aufl.. -- Weinheim : PsychologieVerlagsUnion, ©1998. -- ISBN 3621273999. -- S. 398 - 401. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]


5. Formelle Regelungen der Beschlussfassung


Formelle Regelungsmöglichkeiten der Beschlussfassung von Kollegialorganen zeigt folgende Tabelle:

Prinzip Form Besondere Rechte des Vorsitzenden Rechte der übrigen Mitglieder
Direktorialprinzip reine Form Alleinentscheidungsrecht Beratungs- und Antragsrecht
abgeschwächte Form Entscheidungsrecht Vetorecht unter bestimmten Bedingungen
Kollegialprinzip Primatskollegialität bei Stimmengleichheit Stimmenausschlag Stimmrecht
Abstimmungskollegialität keine besonderen Rechte bzw. kein Vorsitzender Stimmrecht
Kassationskollegialität keine besonderen Rechte bzw. kein Vorsitzender Stimmrecht und Vetorecht, d.h. Einstimmigkeit ist erforderlich
Beschlussfassungsmodelle


Abb.: Direktorialprinzip: Papst Johannes Paul II. ernennt Kardinäle (©Corbis)


Abb.: Abstimmungskollegialität: Landsgemeinde in Appenzell, Schweiz (Bildquelle: Pressedienst)


Abb.: Kassationskollegialität: Buddhistische Mönchsordination. Jeder Mönch gibt seine Zustimmung durch Schweigen kund

V. H. Vroom und P. W. Yetton haben in ihrem Werk

Vroom, Victor Harold  <1932- > ; Yetton, Philip W. <1943-  >: Leadership and decision-making. -- [Pittsburgh] : University of Pittsburgh Press, [1973]. -- 233 S. : Ill. -- ISBN 0822932660

folgende Typologie für Entscheidungsstile bei Gruppenproblemen vorgeschlagen:

[Nach:  Weinert, Ansfried B.: Organisationspsychologie : ein Lehrbuch. - 4., vollständig überarbeitete und erweiterte Aufl.. -- Weinheim : PsychologieVerlagsUnion, ©1998. -- ISBN 3621273999. -- S. 463. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]


6. Mitsprache, Delegation, Partizipation, Empowerment


Arbeitsfelder, in denen Mitsprache usw. verwirklicht sein können, sind u.a.


7. Gefrier-Effekt


Als Gefrier-Effekt bezeichnet man die Tatsache, dass Menschen dazu neigen, auf dem zu beharren, was sie als ihre Entscheidungen betrachten, und sich dementsprechend zu verhalten. 

Der Gefrier-Effekt führt auch in Betrieben zu absurden Konsequenzen, zur Eskalation der Selbstverpflichtung: 

"Ausgerechnet in der äußerst seriösen Sphäre einer Business School, wo die Manager für das Amerika von morgen herangebildet werden, hat Staw 

[Staw, B. M.: Knee-deep in the big muddy : a study of escalting commitement to a chosen course of action. -- In: Organizational behaviour and human performance. -- 16 (1976). -- S. 22 - 44]

im Jahre 1976 ein beunruhigendes Experiment durchgeführt. Bestimmte Studenten wurden gebeten, sich in die Haut eines leitenden Mitarbeiters zu versetzen, der vor einer wichtigen Finanzentscheidung steht: Ein Sonderentwicklungsfonds soll einer der beiden Filialen seiner Gesellschaft zugesprochen werden. Man händigte den Studenten ein Dossier aus, welches das Unternehmen und seine wirtschaftlichen Eckdaten kennzeichnete. Als sie die erste Entscheidung getroffen hatten, sollten sich die Studenten vorstellen, dass einige Jahre verflossen wären und eine zweite Entscheidung anstünde. Es handelte sich darum, erneut eine Geldsumme unter beiden Filialen aufzuteilen. Aber bevor sie die zweite Entscheidung trafen, wurden die Studenten davon informiert, dass die erste nicht die erhofften Ergebnisse gebracht hatte. Ein neues Dossier enthüllte sehr deutlich, dass sich die Wirtschaftsbilanz der mit dem Sonderfonds bedachten Filiale nicht verbessert, sondern sogar verschlechtert hatte.

Staw stellte fest, dass die künftigen Manager, obwohl die ihnen gelieferten Informationen für sich sprachen, kurioserweise dazu neigten, gerade die Filiale mit mehr Geld zu bedenken, in die sie zuerst investiert hatten, dass sie also auf ihrer ursprünglichen Finanzentscheidung beharrten.

Man könnte natürlich einwenden, dass die Studenten nicht ganz so unvernünftig waren, wie wir es suggerieren. Jeder weiß, dass es keine kluge Unternehmensführung ist, wenn der Geldhahn brutal zugedreht wird, nachdem sich erste negative Resultate abgezeichnet haben. Dieser Einwand ist hier jedoch unbegründet. Staw realisierte nämlich eine weitere Versuchsbedingung, die zeigt, dass die zweite Entscheidung der Studenten aus dem strikten Beharren auf der ersten herrührte und nicht die Frucht ihrer Weisheit war. Die Studenten sollten sich nun vorstellen, dass sie Hals über Kopf ihren bei einem Flugzeugabsturz umgekommenen Direktor ersetzen müssten. Dieser hatte einige Jahre zuvor persönlich beschlossen, den Sonderentwicklungsfonds einer der beiden Filialen seiner Gesellschaft zukommen zu lassen. Die Studenten hatten in dieser Versuchsbedingung nur die Aufgabe, die zweite Finanzentscheidung zu treffen und erneut eine Geldsumme unter beiden Filialen aufzuteilen.

Genau wie die Studenten der ersten Versuchsbedingung wurden sie davon in Kenntnis gesetzt, dass die mit dem Sonderfonds bedachte Filiale enttäuschende Leistungen erbracht hatte. Wie wir es schon andeuteten, konstatierte Staw, dass die Studenten nicht an der Entscheidung ihres früheren Direktors festhielten: mit gesundem Menschenverstand überwiesen sie der Filiale, die beim ersten Mal die Zuwendung erhalten hatte, weniger Geld.

Im Gegensatz zu den anderen waren diese Studenten demnach fähig, die gelieferten Informationen vernünftig zu verarbeiten, selbst auf die Gefahr hin, eine frühere (freilich von anderen getroffene) Finanzentscheidung widerrufen zu müssen.

Die Ergebnisse dieses Experiments gestatten uns, den Begriff des Gefrier-Effekts ... besser zu verstehen. Sie zeigen, dass Menschen dazu neigen, an einer einmal getroffenen Entscheidung (ob sie gerechtfertigt war oder nicht, ist hier uninteressant) selbst dann festzuhalten, wenn sie nicht die erwarteten Auswirkungen hat. Man sieht auch, wie sehr der Gefrier-Effekt vom Entscheidungsakt selbst ausgeht und nicht von den Gründen, die diesen Akt motivieren. In dieser Hinsicht ist es symptomatisch, dass die Ökonomiestudenten aus Staws Experiment eine frühere Finanzentscheidung aufrechterhielten, obwohl sie über Informationen  verfügten, welche die Berechtigung ihrer Beweggründe in Frage stellten.
Wir sind hier auf einen spezifischen Prozess gestoßen. Kennzeichnend für ihn ist, dass man sich im Verlauf einer Handlung, die bisher keine Früchte getragen hat, immer stärker engagiert. Man nennt diese Tendenz, die Leute veranlasst, sich an eine ursprüngliche Entscheidung zu klammern, selbst wenn diese durch Fakten klar in Frage gestellt wird, nach Staw Eskalation der Selbstverpflichtung (escalation of commitment)."

[Joule, Robert-Vincent <1948 - > ; Beauvois, Jean-Léon <1943 - >: Kurzer Leitfaden der Manipulation zum Gebrauch für ehrbare Leute. -- Berlin : Aufbau, 1998 (©1997). -- ISBN 3746614090. --S. 22 - 24. -- Originaltitel: Petit traité de manipulation à l'usage des honnétes gens (1995). -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]


8. Kritik am Konsensprinzip


Lee Iacocca (geb. 1924, 1979 - 1992 Vorstandsvorsitzendes von Chrysler), kritisiert Management durch Konsens so:

"Das Riesenspektakel um Management durch Konsens läuft auch nur auf, viel Lärm um (fast) nichts hinaus.

Die Konsensbefürworter sind große Bewunderer des japanischen Management-Stils. Für Konsens sind die Japaner berühmt. Ich aber kenne die Japaner ziemlich gut: Sie erinnern sich mit Hochachtung an General MacArthur und verbeugen sich noch immer vor dem Kaiser. Wenn ich mit ihnen verhandle, stelle ich fest:

Japaner reden zwar dauernd über Konsens, aber im Hintergrund gibt es immer einen, der die harten Entscheidungen trifft.

Ich kann mir kaum vorstellen, dass Mr. Toyota oder Mr. Morita von Sony in einem Komitee herumsitzen und sagen: »Wir müssen erreichen, dass jeder in der Firma, angefangen beim Hausmeister, mit dieser Entscheidung einverstanden ist." Die Japaner halten wirklich viel davon, ihre Arbeiter frühzeitig einzubinden, und sie legen Wert auf das Feedback von den Angestellten. Und wahrscheinlich hören sie besser zu als wir. Aber ich gehe jede Wette ein: Wenn es ernst wird, entscheidet der Häuptling. Und wir verschwenden derweil unsere Zeit bei dem Versuch, etwas nachzumachen, was es vermutlich gar nicht gibt.


Abb.: Lee Iacocca (©Corbis)

Geschäftsstrukturen sind verkleinerte Abbilder anderer Strukturen. Im fünfzehnten Jahrhundert gab es keine Konzerne. Aber es gab Familien. Es gab Stadtverwaltungen, Provinzen, Armeen. Und es gab die Kirche. Und überall herrschte, anders kann man es nicht sagen, eine eindeutige Hackordnung.

Warum? Weil man nur so Anarchie vermeidet. Sonst kommt eines Morgens einer zu Ihnen rein und sagt: »Gestern habe ich keine Lust mehr gehabt, die Kabrios rot anzumalen, darum bin ich zu hellblau übergegangen.« Auf diese Weise schaffen Sie nie, dass etwas richtig gemacht wird.

Was ist eigentlich so bewundernswert am Konsens-Management? Es liegt in der Natur der Sache, dass es langsam ist. Es kann niemals kühn sein. Es gibt dabei keine echte Verantwortlichkeit und erst recht keine Flexibilität. So ungefähr der einzige Vorteil, der mir einfällt, ist, dass die Unternehmensziele und die Strategien verlässlich und berechenbar sind. Aber soviel Berechenbarkeit kann auch Profil kosten, und das ist auch ein Problem. Jedenfalls kann ich mir nicht vorstellen, dass es hierzulande funktioniert. Für die Unternehmer, ob groß oder klein, liegt der Spaß am Geschäft in der Freiheit des Wirtschaftssystems, nicht in der größtmöglichen Übereinstimmung mit möglichst vielen."

[Iacocca, Lee <1924 - >: An autobiography. -- 1984. -- Zitiert in: Faszination Business : was sie von den Legenden der Wirtschaft lernen können / [hrsg. von] Peter Krass. -- 2. Aufl. -- Landsberg : mi, ©1999. -- ISBN 3478368804. -- Originaltitel: The book of business wisdom (1998). -- S. 165f. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]


9. Konvergenz und Normierung


Konvergenz und Normierung sind zwei für das Verständnis von Kulturen und Gruppenentscheidungen so grundlegende Phänomene, dass hier die hervorragenden Darstellungen des Psychologen Peter R. Hofstätter etwas ausführlicher zitiert werden.

"Wieviel komplexer wir die Zusammenhänge heute sehen müssen, lässt sich im Anschluss an eines der ältesten «massenpsychologischen» Experimente zeigen, das den Vorzug besitzt, leicht wiederholbar zu sein. Es ist Andersens Märchen von den neuen Kleidern des Kaisers, die gar nicht vorhanden waren, nachgebildet. H. Clark (1916) forderte die Hörer einer Vorlesung auf, zu melden; sobald sie den von einem eben geöffneten Fläschchen ausströmenden Geruch wahrnehmen würden. Natürlich handelte es sich um eine geruchlose Flüssigkeit. Trotzdem liefen aus den ersten Reihen des Saales die frühesten Meldungen schon nach 10 Sekunden ein. Die Abbildung zeigt einerseits den Prozentsatz der Hörer in jeder Reihe, die den Geruch wahrzunehmen glaubten, und andererseits die bis zur letzten Meldung aus jeder Reihe verstrichene Zeit. Am Reiz-Reaktions-Modell ist bloß abzulesen, dass 20% der Versuchspersonen (33 von 168 Studenten) der Suggestion unterlagen. Man könnte also daran denken, da die «Suggestibilität» dieser Versuchspersonen eine kritische Schranke überschritt. Damit ist aber noch keineswegs erklärt, wieso die Ausbreitung des nichtvorhandenen Geruches dem Diffusionsgesetz genau folgen konnte, derart nämlich, dass die zurückgelegte Strecke der Quadratwurzel der Zeit proportional ist.


Abb.: Ausbreitung eines fiktiven Geruchs in einem Hörsaal (nach Clark)

Die räumliche Verteilung der «Riecher» über die Sitzreihen hinweg lässt erkennen, dass diese sich in einem kritischen Zwiespalt befanden. Am stärksten inklinierte [neigte] die dritte Reihe zur Annahme der Suggestion (50%), sehr viel weniger die erste Reihe (25%) und fast gar nicht die letzten vier Reihen (je 3%). In der ersten Reihe bestand aber auch die beste Kontrollmöglichkeit, während in den letzten Reihen vermutlich auch ein tatsächlich ausströmender Geruch nicht mehr wahrnehmbar gewesen wäre. Die Hörer in der dritten Reihe standen somit an der Kippe. Sie verhielten sich aber in Ansehung der zahlreichen Behauptungen, die man in einem Hörsaal auf Treu und Glauben hinzunehmen gewohnt ist, gar nicht wirklich unvernünftig. «Suggestion» bedeutet hier also bloß die Bereitschaft zur Deutung der in einem mit 168 Personen besetzten Saal stets vorhandenen Düfte im Sinne einer Anregung."

[Hofstätter, Peter R. <1913 - >: Gruppendynamik : die Kritik der Massenpsychologie. -- Reinbeck : Rowohlt, ©1957. --  (rde ; 38). -- S. 50 -52]

"Das Sherifsche Experiment

Eine sehr hübsche Versuchsanordnung, mit deren Hilfe sich das Entstehen eines Miteinander verfolgen lässt, ist dem türkischen, jetzt in den Vereinigten Staaten wirkenden Psychologen Muzafer Sherif [1905 - 1988] zu danken. Er verwendet das schon seit langer Zeit bekannte, sogenannte autokinetische Phänomen, bei dem in einem völlig verdunkelten Raum ein sehr kleiner und intensitätsschwacher Lichtpunkt für kurze Zeit dargeboten wird. Da auch bei fester Fixation unsere Augenachsen niemals ganz ruhig bleiben (Nystagmus), scheint sich der Lichtpunkt, der objektiv fest steht, zu bewegen. Die Versuchspersonen besitzen in diesem Fall auch nicht die Möglichkeit, den subjektiven Charakter dieser Bewegungserscheinung zu erkennen, da es dazu eines festen Bezugssystems bedürfte. Ist außerdem die Entfernung des Lichtpunktes unbekannt ( der Projektor befindet sich hinter einem Schirm, der erst nach Verdunkelung weggezogen wird), so fällt die Schätzung der scheinbaren Bewegungsweite des Punktes überaus schwer.


Abb.: Die Konvergenz der Schätzungen beim autokinetischen Phänomen.

Die Abbildung zeigt die von 3 Versuchspersonen in einem eigenen Experiment des Verfassers gelieferten Schätzungen. Zunächst wurden mit jeder Versuchsperson vier Einzelversuche (A1 - A4) durchgeführt, sodann drei Gruppenversuche (Z1 - Z3), in denen jede Versuchsperson ihre Schätzung ausrief, und schließlich abermals vier Einzelversuche (A5 - A8). Die Ordinate gibt die Schätzungsbeträge in Zentimetern. Die zu einer Gruppe zusammengefassten Versuchspersonen wurden im Hinblick auf einen möglichst großen Unterschied zwischen ihren Alleinschätzungen (A1 - A4) ausgewählt. Zwischen der ersten Gruppe der Alleinschätzungen, den drei Zusammenschätzungen und der zweiten Gruppe der Alleinschätzungen lag jeweils eine Spanne von 3o Minuten, während deren die Versuchspersonen im Sinne einer Konkurrenz dreistellige Zahlen miteinander multiplizierten. Dies hatte einmal den Zweck, eine Diskussion zu verhindern, zum andern sollten dadurch die geschätzten Zahlenwerte nach Möglichkeit verwischt werden.

In Übereinstimmung mit den Befunden Sherifs zeigt sich in diesem Experiment eine deutliche Konvergenz der Schätzungen während der drei Gemeinschaftssituationen (Z1 - Z3). Das Resultat dieses Vorganges erhielt sich auch in den darauf folgenden vier Einzelsituationen (A5 - A8). Der Konvergenzpunkt entsprach dem geometrischen Mittel der ursprünglichen Einzelschätzungen (Kreis zwischen A2 und A3) sehr genau. ...

Im Sherifschen Experiment handelt es sich um eine besondere einfache Form des Miteinander. Die Versuchspersonen diskutierten ihre Aufgabe zwar nicht miteinander, sie beeinflussen sich aber gegenseitig durch die ausgerufenen Schätzungen. Auf diese Weise geben sie einander gegenseitig Anhaltspunkte in einer an sich sehr unbestimmten Situation. Im Endeffekt einigen sie sich -- ohne direkte Verabredung -- bezüglich eines Sachverhaltes (der Bewegungsweite des Lichtpunktes), der als objektive Gegebenheit gar nicht besteht. Der Punkt b leibt unbeweglich. Hier wird somit innerhalb einer sehr kleinen Gruppe eine Behauptung über die Konstitution der gemeinsamen Umwelt formuliert, die unbeschadet ihrer Falschheit eine gewisse Verbindlichkeit besitzt. Die Gruppe trägt, wie man auch sagen könnte, eine neue Ordnungstatsache in das Bild ihrer Welt.

Die Erinnerung daran, wie entzückend harmlos der Hergang der Dinge im Experiment ist, dürfte kaum erforderlich sein. Offenbar stand für die Versuchspersonen gar nichts auf dem Spiele; sie hätten also, so sollte man denken, bei ihren weit auseinanderklaffenden Anfangsschätzungen bleiben können. Dass sie dies nicht taten, verlangt eine Erklärung. Um diese zu finden, müssen wir auf eine bisher noch nicht erörterte Eigenheit des Versuchsergebnisses zurückgreifen. Wie kommt es nämlich, dass sich im wiederholten Einzelversuch (A1-A4) die Schätzungen jeder einzelnen Versuchsperson innerhalb sehr enger Grenzen (15  - 19 cm, 8 - 12 cm, 1 - 3 cm) halten? Warum verteilen sie sich nicht über die ganze Skala von 1 - 19 cm und eventuell noch darüber hinaus? Selbst in der Illusion herrscht eine gewisse Ordnung. Ohne dass sie sich dessen eigentlich bewusst werden, haben die Versuchspersonen -- jede für sich -- ein unbestimmt fluktuierendes Erlebnis normiert. Der Punkt benimmt sich nunmehr, sozusagen, in verlässlicher Weise. Damit ist diese neue Situation einigermaßen bewältigt. Das ist an sich nicht besonders wichtig, jedoch spiegelt sich darin unser immerwährender Anspruch auf eine geordnete Umwelt. In der ersten Gemeinschaftssituation (Z1) erweisen sich diese individuellen Ordnungen nun freilich als sehr zweifelhaft. Von hier aus verläuft die Entwicklung aber in Richtung auf eine neue Ordnung, die darum besonders verlässlich ist, weil sie von mehreren geteilt wird. Die Konvergenz entspricht demnach einem Vorgang, den der typisch menschliche Anspruch auf eine geordnete Umwelt motiviert. An dieser Stelle unserer Überlegungen empfinden wir aber die spielerische Harmlosigkeit des Experiments nur kaum mehr als störend, da nunmehr die Folgerung möglich wird, dass ein ähnliches Gehaben in belangvolleren Situationen um so eher zu erwarten sein müsste.

Die Normierung von Sachverhalten

Wir halten kurz inne, um einen Grundgedanken der Gehlenschen Anthropologie einzufügen: 

[Gehlen, Arnold <1904 - 1976>: Der Mensch : seine Natur und seine Stellung in der Welt. -- 13. Aufl.. -- Wiesbaden : Quelle und Meyer, 1997. - 410 S. -- (UTB für Wissenschaft ; 1995). -- ISBN 382521995X. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]

Der Mensch als das nur minimal durch Instinkte in seiner Welt festgelegte Wesen schafft sich seinen eigenen Halt in dieser durch die Normierung von Tatbeständen. Zum Teil vermag er die Richtigkeit der vorgenommenen Setzungen am Erfolg seines eigenen Agierens zu ermessen. Auf diese Weise überzeugen wir uns z. B. von der Gleichheit zweier Strecken, deren eine vor uns vertikal steht, während die andere horizontal verläuft. Ohne eine handlungsmäßige Kontrolle würden wir -- einer bekannten optischen Täuschung folgend -- die vertikale Länge überschätzen. Es gibt nun aber sehr viele Fälle der Urteilsbildung, in denen uns die Möglichkeit der aktiven Kontrolle nicht zu Gebote steht. Wie sollte man z. B. herausfinden können, ob ein junger Mann mit 17, 18 oder erst mit 24 Jahren «erwachsen» wird, oder ob die Heirat zwischen Blutsverwandten vierten Grades bedenklich ist oder nicht? Vielleicht könnte man die Entscheidung überhaupt vermeiden und sich auf das sokratische Bekenntnis des Nichtwissens zurückziehen, wobei man allerdings teilweise auf die Fiktion des Lebens in einer geordneten Welt zu verzichten hätte. Viel wahrscheinlicher ist eine ihrem Wesen nach durchaus produktive Gruppenleistung, durch die der pragmatischen Bestätigung entzogene Sachverhalte eine normative Fixierung erhalten. Wir verankern uns als soziale Wesen durch gegenseitige Abstimmung unserer Urteile in der Welt. Meistens tun wir noch ein übriges, um die getroffene Festsetzung zu sichern, wir statten diese nämlich mit dem Prädikat der «Selbstverständlichkeit» aus.

Betrachtet man das Laboratoriumsexperiment unter einem gewaltigen Vergrößerungsglas, so zeigen sich in ihm die Ansätze zu einer normativen Regelung an sich unbestimmter Sachverhalte. Mehr lässt sich nicht erwarten. Das Experiment besitzt jedoch auch sein eigenen Wert, indem es eine Möglichkeit aufweist, die sich für die Kulturanalyse nutzbar machen lässt. Die gegenseitige Abstimmung der Urteile unserer drei Versuchspersonen erfolgte ohne Zwang und ohne direkte Verabredung einfach dadurch, dass jeder der drei Partner die drei verschiedenen Meinungen als gleichberechtigt akzeptierte und mit einander vereinigte. Dass diese Kombinationsleistung nicht auf explizitem Wege, rechnerisch, erfolgte, kann bei der Kürze der zu Verfügung stehenden Zeit als sicher gelten. Die nachträgliche Befragung der Versuchspersonen ergab für diese Vermutung auch keinerlei Anhaltspunkte. Außerdem erfolgte die Urteilskombination ja nicht nach dem Schema der einfachen Bildung eines arithmetischen Durchschnitts (AM = [a+b+c]/3 ) sondern nach dem rechnerisch sehr viel umständlicheren des geometrischen Mittels (GM = 3. Wurzel aus a x b x c). Für diese Behauptung ist eine einzige Gruppe natürlich nicht beweiskräftig; die an 15 Gruppen von je drei Personen gewonnenen Resultate sprechen aber sehr stark zugunsten dieser Annahme, die sich auch darauf berufen kann, dass die freie Schätzung der Mitte zwischen zwei quantitativ verschiedenen Reizen sehr oft auf das geometrische Mittel führt. ...

Der etwas fachwissenschaftlich geratenen Argumentation kurzer Sinn ist jedenfalls, dass wir eine gewaltlose und nahezu spontane Urteilsvereinigung in der Gruppe für möglich halten. Damit lassen wir aber das Denkmodell des Knetens, der Suggestion und der Nachahmung weit hinter uns. Hinzuzufügen ist nunmehr bloß, dass sich verschiedene Gruppen auf durchaus verschiedene Endwerte einigen können. Diese Konsequenz ergibt sich aus der Abhängigkeit des Endwertes der Schätzungen vom geometrischen Mittel der Anfangswerte. 

Leistungen vom Typus des Bestimmens

Als von der «Erfindung der Gruppe» die Rede war, stützten wir uns auf zwei erfahrbare Formen des Gruppenvorteils, die näherungsweise Addition der physischen Kräfte bei Leistungen vom Typus des Tragens und Hebens und den Fehlerausgleich bei Leistungen vom Typus des Suchens. Neben diese beiden tritt jetzt eine dritte Vorteilskategorie hinsichtlich der Leistungen vom Typus des Bestimmens. Wo die Suche nicht zu einer Stabilisierung der Gegebenheiten führt -- in Situationen also, von denen das Wort «quot homines, tot sententiae» [Wie viele Menschen -- so viele Meinungen]  gilt --, vermag die Gruppe eine Lage definitorisch zu fixieren.

Ich neige zu der Auffassung, dass diese dritte Art des Gruppenvorteils von fundamentalerer Natur ist als die beiden anderen, da diese kaum zur Geltung kommen könnten, wenn die Problemlage nicht schon durch die Gruppe in einem Bestimmungsakt fixiert worden wäre. Dies lässt sich an dem hypothetischen Fall veranschaulichen, dass die sieben Versuchspersonen des Figurenexperiments zwischen verschiedenen Möglichkeiten der Stellungnahme zu ihrem Problem zu wählen gehabt hätten. 

[Gemeint ist ein Experiment von Albert Theodor Poffenberger (geb. 1885, Experiment von 1932), bei dem Versuchspersonen 10 geometrische Figuren mit nur geringfügig verschiedenem Flächeninhalt dem Flächeninhalt nach ordnen sollen]

Als Alternativen hätten etwa die folgenden in Frage kommen können:

  1. Akzeptierung der vom angesehensten Gruppenmitglied gelieferten Rangordnung.
  2. Eine Losentscheidung darüber, wessen Rangordnung akzeptiert werden soll.
  3. Zurückweisung der Aufgabe in dem Sinne, dass jede der 10 Figuren den gleichen Rangplatz zugewiesen erhält.
  4. Erstellung einer gemeinsamen Rangreihe auf Grund der durchschnittlichen Rangordnung sämtlicher Partner (optimale Strategie).
  5. Bildung eines Komitees von drei Personen, die sich auf eine dann von der Gruppe zu akzeptierende Rangordnung einigen sollen.

Angesichts dieser Alternativen hätte es nun in den Überlegungen der Gruppe zu einer Konvergenz kommen können, die dem Vorgang im Sherifschen Experiment prinzipiell nicht unähnlich gewesen wäre. Allerdings ließe Sich der Ablauf in diesem Falle nicht so leicht veranschaulichen, da die Ordnung der aufgezählten fünf Alternativen in einer Dimension (entsprechend den Längenschätzungen in Zentimetern) auf Schwierigkeiten Stößt.

Sehr viel einfacher liegen die Dinge in der folgenden Situation: Nach dem Stücklohn bezahlte Arbeiter schaffen nebeneinander. Den zwischen ihnen bestehenden Unterschieden des persönlichen Tempos, der Geschicklichkeit und des Fleißes entsprechend produzieren Sie in der gleichen Arbeitszeit ungleich viel. Eine allgemeine Erfahrung geht aber nun dahin, dass sich in einer solchen Gruppe sehr bald eine Norm einstellt, auf die hin die produktiven Leistungen der Mitglieder konvergieren, wobei es auch in der Regel nicht an sehr deutlichen und manchmal handgreiflichen Ermahnungen fehlt, durch die der «übernormal» Schaffende gebremst wird. Normen dieser Art bezeichnen aber oftmals nicht die in der Tat «normale» Leistungsfähigkeit des Durchschnittsarbeiters; sie müssen vielmehr als gruppenspezifische Bestimmungen angesichts objektiv nicht mit Sicherheit zu entscheidender Sachverhalte aufgefasst werden. Bis zu einem gewissen Grade lässt sich sogar voraussagen, wo die entsprechende Norm in der Gruppe liegen wird, sofern man nur die individuellen Leistungsmöglichkeiten der Gruppenmitglieder kennt. Die Regel vom geometrischen Mittel, das jeweils kleiner ist als das arithmetische Mittel derselben Beträge, erweist sich auch hier als verwendbar.

Einen Versuch zur Nutzbarmachung des Konvergenzprinzips und damit gleichzeitig zur Beeinflussung gruppenspezifischer Normen stellt die russische Methode der «Stachanoff-Arbeit» dar. 

[Nach dem sowjetischen Bergmann Alexej G. Stachanow 81905 - 1977) benannte Wettbewerbsbewegung in der UdSSR zur Steigerung der Arbeitsproduktivität und zur Kostensenkung durch höchste Arbeitsleistungen. Stachanow hat 1935 seine Arbeitsnorm mit 1300% übertroffen. Dies diente als Vorbild für die Aktivistenbewegung  in der DDR undÿanderen kommunistischen Ländern.]

Dass die Leistung späterhin besonders ausgezeichneter Arbeiter mitunter sehr weit über den Durchschnitt herausragt, berechtigt keineswegs immer zu der Annahme einer gefährlichen und ungesunden Übersteigerung des Leistungsanspruchs; solche Leistungen weisen nicht selten auf die Existenz allgemein anerkannter, aber sachlich nicht begründeter Gewohnheitsnormen hin. 


Abb.: In Zeitung der UdSSR gefeierte Stachanow-Arbeiter, 1930er/1940er-Jahre

Auf Grund des Sherifschen Experiments würden wir freilich erwarten, dass der im Extrem Schaffende sich durch Produktionsverringerung der in seiner Gruppe eingestellten Norm anpassen würde. Gerade in diesem Punkt schaltet sich aber die mit dem Begriff des Stachanoff-Arbeiters verbundene Unternehmer-Taktik ein; sie besteht vor allem darin, dass dem Normbrecher nicht nur die regulären finanziellen Vorteile seiner Mehrarbeit zugänglich gemacht werden, sondern weit höhere Kompensationen durch «Ehrengeschenke», Auszeichnungen usw. Auf diese Weise trachtet die Werksleitung der Konvergenztendenz entgegenzuwirken. Sie fixiert den Maximalwert und hofft, dass dadurch die Leistungswerte der übrigen Gruppenmitglieder aufwärts gezogen werden. Inwieweit ein solches Vorgehen ethisch zu rechtfertigen ist, braucht hier nicht untersucht zu werden; für uns genügt der Hinweis auf eine durchaus ernsthafte Parallele zu dem völlig harmlosen Laboratoriumsexperiment. Abermals sei angemerkt, dass die Erklärung der Stachanoff-Wirkung im Sinne einer suggestiven Einflussnahme des «Leistungshelden» auf seine Kameraden weder erforderlich noch auch nur plausibel ist."

[Hofstätter, Peter R. <1913 - >: Gruppendynamik : die Kritik der Massenpsychologie. -- Reinbeck : Rowohlt, ©1957. --  (rde ; 38). -- S. 53 -59]


10. Außenseiter, Polarisierung und Einigung



Abb.: Außenseiter (©Corbis)

"Der Künstler ist ein Außenseiter, der als solcher aber eine ganz bestimmte Funktion in der Gruppe besitzt. Er ist ein notwendiges Ärgernis, durch das die Bestimmungsleistungen der Gruppe davor bewahrt werden, in der Belanglosigkeit zu erstarren. Die Gruppe begibt sich dieser Möglichkeit allerdings, wenn sie den Künstler auf die Bewahrung des Hergebrachten verpflichtet und ihn ansonsten unter das Drohwort von der «entarteten Kunst» stellt. Abermals handelt es sich um die Verkennung des Unterschiedes zwischen den Leistungen vom Typus des Suchens und denen vom Typus des Bestimmens, die zur Identifikation des Nicht-Selbstverständlichen mit dem Natur-Widrigen, Entarteten oder Falschen führt. Die Achtung des Außenseiters wird sich daher gerade in den Gruppen am ehesten erwarten lassen, die von der unverrückbaren Selbstverständlichkeit der von ihnen vorgenommenen Bestimmungen am festesten überzeugt sind oder die eine solche Überzeugung am lautesten proklamieren müssen, um ihren inneren Halt nicht zu verlieren. Im ersten Fall sei an eine Intoleranz aus Überzeugung, im zweiten an eine überkompensierende Intoleranz gedacht. So sehr man dies auch aus Gründen der Menschlichkeit und im Hinblick auf die jeweils betroffenen Individuen bedauern muss, ist doch festzustellen, dass ein gewisses Maß der Intoleranz zu den (im statistischen Sinn) normalen und (im dynamischen Sinn) notwendigen Erscheinungen des Gruppenlebens gehört.

Experimente mit Diskussionen

Die Situation des 'Künstlers lässt sich im Laboratorium nicht nachbilden, wohl aber kann man -- wie dies S. Schachter (1951) und in Wiederholungen seines Versuches R. M. Emerson (1954) getan haben -- Gruppen zusammenstellen, in die man Personen einführt, die sich der Tendenz zur Konvergenz der Urteile nicht fügen. In den genannten Untersuchungen wurden Studenten und Gymnasiasten danach befragt, welchem von 2 Clubs sie lieber beitreten würden, einem Club zur Diskussion sozialer Fragen oder einem Club zur Erörterung journalistischer Probleme. Einbezogen wurden in die Untersuchung aber nur solche Versuchspersonen, die sich zugunsten des Sozial-Clubs und gegen den Zeitungs-Club ausgesprochen hatten. Der aufs Geratewohl herausgegriffenen Hälfte dieser Versuchspersonen wurde sodann dargelegt, dass sie trotzdem in einen Zeitungs-Club eingegliedert werden müssten, auch wenn dies nicht ganz ihren Interessen entspräche. Die andere Hälfte der Versuchspersonen kam in den gewünschten Sozial-Club. Vermutlich muss man sich bereits an dieser Stelle der amerikanischen Gleichung zwischen «Einsamkeit» und «Angst» erinnern, um überhaupt verstehen zu können, dass sich Versuchspersonen -- nota bene Studenten! -- entgegen ihren Interessen in den Zeitungsclub schicken ließen. Erreicht werden aber sollte durch diese Maßnahme, dass sich die einen Versuchspersonen (Sozial-Club) mit größerer innerer Anteilnahme an ihren Club binden würden als die anderen (Zeitungs-Club). Die Befragung der Versuchspersonen bestätigte diese Erwartung: Während 98% der Angehörigen des Sozial-Clubs in diesem zu verbleiben wünschten, bekundeten eine solche Absicht nur 68% der Angehörigen des Zeitungs-Clubs. Im Fachjargon spricht man hier von «stark-kohärenten» und «schwach-kohärenten» Gruppen, d. h. von solchen, deren Mitglieder sich an die Gruppe entweder stark oder schwach gebunden fühlen. Als Gruppenkohärenz (oder «Kohäsion») wird nach dem Vorschlag L. Festinger's und seiner Schule (Universität von Michigan) die Resultierende all der «Kräfte» verstanden, die ein Mitglied zum Verbleiben in einer Gruppe veranlassen.

Im ganzen wurden je acht Clubs der einen Art und der anderen mit im Durchschnitt 6 - 7 Angehörigen gebildet. In diese Clubs wurden aber auch 3 zusätzliche Mitglieder eingeführt, geschulte Hilfskräfte des Versuchsleiters, die sich aber als solche nicht zu erkennen gaben. Ihre Aufgabe bestand darin, in der ersten Gruppendiskussion spezifische Rollen anzunehmen, und zwar die des Konformisten (mode), des Konvertiten (slider) und des Extremisten (deviant). Bei der ersten Diskussion des Clubs ging es um den Fall eines jugendlichen Rechtsbrechers, für dessen Behandlung Vorschläge zu machen waren. Wie erwartet, bewegten sich diese Vorschläge zwischen den Extremen einer hingebend-liebevollen Behandlung (Abbildung, Pos. Nr. 1) und einer streng-bestrafenden (Pos. Nr. 7). Die Versuchspersonen hatten sich jeweils für eine dieser Positionen zu entscheiden und deren Nummer durch eine auf ihrem Arbeitstisch gut sichtbar aufgestellte Karte ihren Diskussionspartnern kenntlich zu machen. Es stand ihnen jedoch frei, ihre Position im Verlauf des Gesprächs zu verändern und dies durch einen Wechsel der Karte zu bekunden. In diesem Arrangement liegt natürlich eine gewisse Künstlichkeit, schaltet es doch die für viele Diskussionen so belastende Ungewissheit darüber aus, «wo» der Partner eigentlich stehe. Es ließe sich übrigens erwägen, ob ein ähnliches Verfahren nicht auch manchen ernsten Diskussionen zugute kommen könnte.

Der «Konformist» hielt sich mit seinen Meinungsäußerungen genau beim Gros der Gruppe, das sich fast immer zugunsten einer mehr liebevollen Behandlung des Delinquenten aussprach (Pos. Nr. 3). Der «Konvertit» begann als ein Vertreter der Extremposition «Strenge Bestrafung» (Nr. 7), ließ sich aber -- anscheinend unter dem Eindruck der vorgebrachten Argumente -- zur Majoritätsposition hindrängen. Der «Extremist» verblieb hingegen völlig unbekümmert bei der Extremmeinung (Nr. 7), von der sich der «Konvertit» hatte abbringen lassen.

Das Ergebnis dieses Versuches, das sich leicht voraussagen lässt, spricht dafür, dass die Club-Situation zumindest einen gewissen Grad der Lebensechtheit erreicht hat. Wir fassen es in vier Punkten zusammen:

  1. Der Extremist wird als ein unsympathischer Mensch abgelehnt - unbeschadet seiner menschlichen Qualitäten. (Die 3 Rollen wurden unter den Hilfskräften ausgetauscht).
  2. Die Ablehnung des Extremisten ist in stark-kohärenten Gruppen (Sozial-Club) deutlicher als in schwach-kohärenten Gruppen (Zeitungs-Club).
  3. Der Extremist wird von den übrigen Gesprächspartnern sehr viel öfter angeredet, sieben- bis elfmal so oft, als der Konformist und immerhin noch im Durchschnitt drei- bis viermal so oft als der Konvertit.
  4. Die Durchschnittsmeinung der Gruppe verschiebt sich im Zuge der Diskussion geringfügig aber merkbar in Richtung auf die Position des Extremisten.

Es zeigt sich somit, dass die Rolle des Außenseiters sogar in einer an sich harmlosen und keineswegs belangvollen Laboratoriumsgruppe alles eher als beneidenswert ist. Sie ist dies um so weniger, je stärker der innere Zusammenhalt der Gruppe wird. Das ist aber nur die eine Seite des Bildes; auf der andern lässt sich nämlich erkennen, dass der Meinungsaustausch in einer Gruppe erheblich reger ist, wenn diese einen Extremisten enthält. Damit leistet dieser aber einen positiven Beitrag zum inneren Zusammenhalt der Gruppe, da -- wie noch auszuführen sein wird -- das Ausmaß des Meinungsaustausches innerhalb einer Gruppe deren Kohärenz proportional zu sein pflegt.

Vereinheitlichung der Meinungen

Dass der Extremist sehr viel öfter angesprochen wird als andere Gruppenmitglieder, ergab sich auch in einem Experiment von Leon Festinger (geb. 1919) und John W. Thibaut (1951), in dem ebenfalls der Fall des jugendlichen Kriminellen von einem Teil der Versuchsgruppen (jeweils 6 bis 14 Studenten) diskutiert wurde; die übrigen Gruppen diskutierten ein Problem der Fußballtaktik, an dem keines der Mitglieder sonderlich interessiert war. Die «Diskussion» erfolgte hier auf schriftlichem Wege, d. h. durch den Austausch kurzer Mitteilungen. Dass einzelne Versuchspersonen extreme Positionen einnehmen würden, war dadurch sichergestellt worden, dass diese zusätzliche Informationen über den Diskussionsgegenstand erhielten, wie z. B., dass die Mutter des Delinquenten bereits erfolglos versucht habe, diesem ein liebevolles Heim zu bereiten. Außerdem wurden in dieses Experiment verschiedene Grade des Druckes zur Meinungsuniformität eingeführt, indem von den Versuchspersonen als Endresultat entweder eine einstimmige Entscheidung verlangt wurde (starker Druck), oder indem ihnen bloß versichert wurde, nach dem Urteil von Fachleuten gäbe es eine und nur eine richtige Lösung (mittlerer Druck), oder indem sie in dem Glauben belassen wurden, der Versuchsleiter interessiere sich mehr für die Diskussion als für deren Ergebnis (geringer Druck). Vergleicht man die Streuung der Meinungen innerhalb der Gruppen vor und nach der 20 Minuten dauernden Diskussion, so ergibt sich mit zunehmendem Druck eine stärkere Konvergenz der Standpunkte und zugleich eine Tendenz zur verstärkten Beachtung des Extremisten. Allgemein gilt dabei, dass Partner um so häufiger angesprochen werden, je stärker die von ihnen vertretene Anschauung von der des Sprechers abweicht.

Sofern die Gruppe in mehr oder minder verbindlicher Weise dazu aufgefordert ist, einstimmig zu entscheiden, ist das Ergebnis des Versuches nicht sonderlich überraschend. Die gleiche Erscheinung stellt sich aber, wie das Schachtersche Experiment zeigt, auch dort ein, wo keine äußere Veranlassung zur Einigung besteht. Damit sehen wir uns noch einmal genötigt, das Phänomen der Meinungskonvergenz in Gruppen -- oder was man auch deren «Tendenz zur Uniformität» (Festinger) genannt hat -- ins Auge zu fassen. Konvergenz liegt dann vor, wenn in einer Gruppe die Streuung der Standpunkte abnimmt; im Extremfall der Einigung auf einen einzigen Standpunkt wird die Streuung gleich Null.

Vorauszuschicken ist, dass nicht jede Diskussion zur Meinungsvereinheitlichung führt. Die Absicht dazu besteht zwar sehr oft, wenn Aussprachen anberaumt werden, jedoch stellt sich nicht selten der gegenteilige Erfolg ein, d. h. dass einander am Ende der Debatte zwei Untergruppen gegenüberstehen, die sich nicht zu einigen vermögen. Diese Entwicklung veranschaulicht die Abbildung in schematischer Weise; sie wird als «Polarisation» bezeichnet. Offenbar haben wir es hier nur mit einer scheinbaren Ausnahme von der allgemeinen Konvergenz-Regel zu tun. An die Stelle der einen Gesamtgruppe drohen im Falle hochgradiger Polarisation zwei Tochtergruppen zu treten, deren eine in unserem Schema nur die Position 1 - 4 anerkennt, während die andere nur die Position 4 - 7 für überhaupt diskutabel erklärt. Dabei ergibt sich allerdings eine Schwierigkeit für die Inhaber der Pos. Nr. 4, die von beiden Teilgruppen anerkannt und zugleich beansprucht werden. Ihre Lage ist der des Neutralen zwischen zwei Kriegführenden nicht unähnlich.

Der Erfahrungssatz, dass der Meinungsaustausch in Gruppen zu einer Konvergenz (Streuungsverringerung) der Standpunkte führt, besitzt somit zwei Realisationsmöglichkeiten. 


Abb: Polarisation und Einigung als Resultate einer Gruppendiskussion.

Es kann 

Die Gruppe sichert ihre Einheitlichkeit in beiden Fällen, allerdings trennt sie sich im zweiten von einer Gegengruppe, bzw. sie schließt die Vertreter gewisser Anschauungen aus. Dieses Schicksal kann natürlich auch einem einzelnen Extremisten drohen, der an seiner «unpopulären» Position festhält. Im. Schachterschen Experiment gibt es gewisse Hinweise darauf, dass die gesteigerte Kommunikation mit dem Extremisten allmählich nachlässt, wobei dieser mit der Zeit anscheinend so behandelt wird, als gehöre er gar nicht mehr dazu. Er wird zwar nicht formell ausgeschlossen, aber er ist bald «Luft» für die übrigen Gesprächsteilnehmer. Diese verzichten nunmehr darauf, ihn in die Meinungskonvergenz einzubeziehen.

Der Konvergenzsatz -- in seinen beiden Formen - beschreibt Erfahrungen mit Gruppen in befriedigender Weise. Man kann nun auch an größere Zusammenhänge denken, z. B. an das Leben einer Partei, aus der ein «Flügel» mitunter ausscheidet oder ausgestoßen wird. Es gibt im politischen Leben auch zahlreiche Beispiele dafür, dass Extremisten «kaltgestellt» werden, d. h. dass niemand mehr darauf achtet, was sie zu sagen haben. In stark-kohärenten Gruppen kann es für sie auch zu einem Rede-Verbot oder noch Schlimmerem kommen. Das «Totschweigen» ist eine andere Taktik mit dem gleichen Ziel."

[Hofstätter, Peter R. <1913 - >: Gruppendynamik : die Kritik der Massenpsychologie. -- Reinbeck : Rowohlt, ©1957. --  (rde ; 38). -- S. 71 - 75]


10.1. Zum Beispiel: Konfliktscheu als Grundhaltung von Thailändern und anderen Südostasiaten



Abb.: Karte von Thailand, Laos, Kambodscha (©MS-Encarta)

Der thailändische Psychologe Suntaree Komin bestätigt in seiner empirischen Untersuchung

Komin, Suntaree: Psychology of the Thai people : values and behavioral patterns. -- Bangkok : NIDA, ©1990. -- 307 S. -- ISBN 974-85744-8-2

den Eindruck, den man im Umgang mit Thailändern gewinnt, dass Konfliktscheu zu den tiefstsitzenden Bereichen thailändischer Kultur gehört. 


Abb.: Buddhistischer Mönch, Thailand (©Corbis)

Nach dieser Untersuchung gehört zu den wichtigsten Verhaltensregeln von Thais

Diese Konfliktscheu muss im persönlichen und geschäftlichen Umgang mit Thais unbedingt respektiert werden, wenn man etwas erreichen will. Das bedeutet, dass man sehr oft indirekte Wege gehen muss.

Da die thailändische Kultur folglich keine Mittel zur Verfügung stellt, Konflikte und Meinungsverschiedenheiten offen auszutragen, schlägt bei Thais (wie auch z.B. Kambodschanern) unterdrückte Aggressivität schnell in brutale Gewalt um (Mord). 


Abb.: Karte Kambodschas aus den Schädeln von durch Rote Khmer Ermordeten, Tuol Sleng Museum, Phnm Penh, Kambodscha (©Corbis)

Die unvorstellbaren Gräueltaten der Roten Khmer von 1975 bis 1979 in Kambodscha -- als weite Teile des Volkes zu Mördern an ca. 2 Mio. Mitmenschen wurden --  lassen sich auch damit erklären, dass die Kultur keine zivilisierteren Mittel zur Austragung von Interessenkonflikten zur Verfügung stellte.


11. Groupshift


Gruppendiskussionen führen zu einer Verschiebung der Positionen der einzelnen Mitglieder zu extremeren Positionen. Die Verschiebung geschieht in der Richtung, die jede Person schon vor der Sitzung eingenommen hat. Dieses Phänomen nennt man Groupshift. Dies bedeutet:

Wie schon dargelegt, verstärkt Gruppendiskussion also die ursprüngliche Position der Gruppe oder sie polarisiert.


12. Groupthink



Abb.: Der innere Beraterzirkel von US-Präsident Lyndon Baines Johnson (1908 - 1973; US-Präsident 1963 - 1969), Washington D.C., 1966; dieser geschlossene Zirkel hat aufgrund von groupthink verheerende Entscheidungen im Vietnamkrieg zu verantworten

[Bildquelle: National Archives and Records Administration. -- URL: http://www.nara.gov/cgi-bin/starfinder/13295/images.txt. -- Public domain]

"Ein enger Gruppenzusammenhalt ist jedoch nicht immer von Vorteil. Steht die Gruppe vor der Aufgabe, anhand komplexer und häufig widersprüchlicher Information Entscheidungen zu fällen, sollten die Mitglieder sich frei genug fühlen, um kontrovers zu diskutieren. Bei starker Gruppenkohäsion wird das gewöhnlich nicht gerne gesehen. Mit Gruppendenken beschreibt Janis (1972) eine Situation, in der sich eine sehr kohäsive Gruppe -- gewöhnlich unter dem Einfluss eines starken und dynamischen Führers - von der Realität entfernt und ein komplexes Problem von nur einer Seite betrachtet. Die Gruppe ist überzeugt von der eigenen Kompetenz und voll Selbstvertrauen, und es festigt sich die Überzeugung, dass nichts - auch nicht der Zweifel am eigenen Tun - wichtiger ist als der Zusammenhalt der Gruppe."

[Forgas, Joseph P.: Soziale Interaktion und Kommunikation : eine Einführung in die Sozialpsychologie. -- 4. Aufl. -- Weinheim : Psychologie Verlags Union, ©1999l. -- ISBN 3621271457. -- S. 272. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]

In seinem grundlegenden Werk

Janis, Irving Lester <1918 - >: Groupthink : psychological studies of policy decisions and fiascoes. -- 2. ed. -- Boston [u.a.] : Houghton, ©1982. -- 349 S. -- ISBN 0395317045. -- Titel der 1. Auflage: Victims of groupthink . a psychological study of foreign-policy decisions and fiascos (1972).. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}

untersucht der Autor, wie einige außenpolitisch verheerende Entscheidungen amerikanischer Präsidenten zustande gekommen sind. Er kann diese Fehlentscheidungen auf das von ihm so genante Groupthink Syndrome (Gruppendenken-Syndrom) zurückführen.

Dieses Syndrom hat acht Symptome, die sich in drei Gruppen einteilen lassen:

  1. Überschätzung der Macht und Moral der Gruppe
    1. Illusion der Unverwundbarkeit bei allen oder den meisten Gruppenmitgliedern. Diese Illusion führt zu maßlosem Optimismus und verleitet, dass man extreme Risiken eingeht
    2. Fragloser Glaube an die der Gruppe eigene Moral. Dies führt dazu, dass man die ethischen oder moralischen Folgen seiner Entscheidungen nicht beachtet
  2. Scheuklappendenken
    1. Gemeinsame Anstrengung, die eigenen Entscheidungen  zu rationalisieren, um Warnungen oder andere Informationen zu entwerten, die dazu führen könnten, dass man seien Entscheidungen nochmals überdenkt und gegebenenfalls revidiert
    2. Stereotype Sicht der Gegner als zu böse, um mit ihnen echte Verhandlungen zu versuchen, oder als zu schwach oder zu dumm, um den riskanten eigenen Vorgehensweisen zu begegnen
  3. Uniformitätsdruck
    1. Selbstzensur gegen Abweichungen vom anscheinenden Gruppenkonsens. Die einzelnen Gruppenmitglieder halten deshalb Bedenken oder Einwände zurück
    2. Illusion der Einmütigkeit
    3. Druck auf Gruppenmitglieder, die Einwände vorbringen gegen Stereotype, Illusionen und Engagements der Gruppe. Widerspruch wird als Illoyalität gebrandmarkt
    4. Auftreten von selbsternannten Zensoren, die die Gruppe abschirmen von Informationen und Meinungen, die die Gruppe in ihrer Selbstgefälligkeit und Selbstgerechtigkeit erschüttern könnten 

[a.a.O., S. 174f.]

Groupthink führt dazu,

[a.a.O., S. 175]


13. Entindividualisierung



Abb.: Entindividualisierung (©ArtToday)

Zu den gefährlichsten Phänomenen von Gruppenentscheidungen gehört die Entindividualisierung. Entindividualisierung gibt es sowohl in "individualistischen" als auch in "kollektivistischen" Kulturen.

Massenbewegungen

1914: Seine Majestät, der Kaiser kommt: "Hoch!"

1918: Revolution: "Nieder mit dem Kaiser!"

1930: NSDAP-Parteibewegung: "Heil!"

Jährlich: Volksfest: Prost!"

Quelle der Abb.: Karl Arnold: Das Volk als Masse. -- In: Simplizissimus. -- 1932

"Die Mitgliedschaft in einer Gruppe bringt es häufig mit sich, dass sich der einzelne weniger unmittelbar für sein Handeln verantwortlich fühlt. In gewissem Sinne »verstecken« wir uns als einzelne hinter der Gruppe. Folglich tun wir als Gruppenmitglied gelegentlich Dinge, zu denen wir uns alleine nie bereit gefunden hätten. Diesem handlungserleichternden Effekt von Gruppen haben seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts viele Autoren nachgespürt. Französische Soziologen wie LeBon und Tarde beschrieben das Verhalten des Mobs und der Masse als normaler menschlicher Rationalität und Ethik zuwiderlaufend. 

[LeBon, Gustave <1841 - 1931>: Psychologie der Massen. -- 15. Aufl.. - Stuttgart : Kröner, 1982. -- 156 S. -- (Kröners Taschenausgabe ; Bd. 99). -- ISBN 3-520-09915-2. -- Originaltitel: Psychologie des foules (1895)

Tarde, Gabriel de  <1843-1904>: Les lois de l'imitation : étude sociologique. -- 2. éd.. -- Paris : Alcan, 1895. -- 428 S.]

Der einzelne verschmilzt jenseits aller Vernunft mit dem Emotionalismus der Menge. Und tatsächlich kann die Zugehörigkeit zu einer Gruppe dem einzelnen ein Gefühl nie gekannten Selbstbewusstseins und persönlicher Stärke vermitteln.

Aber abgesehen von solchen emotionalen Einflüssen bedeutet die Zugehörigkeit zu einer Gruppe auch, dass wir als Individuen weniger in Erscheinung treten. Unser normales Identitätsgefühl kann zeitweise einer Gruppenidentität Platz machen, und unsere Handlungen stehen vorübergehend nicht mehr unter individueller Kontrolle. Je weniger Menschen als Individuen identifizierbar sind, um so wahrscheinlicher wird die Erfahrung der »Entindividualisierung«. Die Uniformen der Polizei, die Hüte der KuKlux Klan-Leute, die Uniformjacken und Insignien von Rockergruppen oder Fußballanhängern leisten diesem Gefühl der Entindividualisierung und Gruppenidentität Vorschub.

Macht man die einzelnen als Individuen weniger kenntlich, steigt auch die Wahrscheinlichkeit aggressiven Verhaltens. In einem Experiment von [Philip G.] Zimbardo (1970) bekamen die Probandinnen Gelegenheit, einem anderen Mädchen einen elektrischen Schlag zu versetzen. Einige der Probandinnen hatten lange, weite Laborkittel an und trugen eine Haube, waren also als Personen nicht zu identifizieren. Die andere Gruppe trug Namensschilder, die ihre Identität offenbarten. Die „entindividualisierte" Gruppe verabreichte doppelt soviele Elektroschocks wie die namentlich gekennzeichnete. Anonymität scheint somit übliche individuelle Verhaltensschranken aufzuheben. Gruppenmitgliedschaft kann oft zu solcher Anonymität verhelfen.

»Entindividualisierung« kann zu ganz bizarrem Verhalten führen. Wir wissen aus zahlreichen Berichten, wie Gruppen einen potentiellen Selbstmörder zum Sprung in die Tiefe geradezu ermutigt haben. Leon Mann (1981) hat etliche derartige Vorfälle untersucht. Fast immer wurde die Entindividualisierung begünstigt durch eine größere Menschenansammlung, Dunkelheit und eine gewisse Dauer der Situation. Und das sind genau die Bedingungen, unter denen Menschen sich von einer Gruppenatmosphäre beeinflussen lassen, ihr Gefühl für Identität und Selbstverantwortung verlieren und etwas tun, wovor sie als einzelne vermutlich zurückgeschreckt hätten: einen anderen Menschen dazu zu drängen, sich umzubringen."

[Forgas, Joseph P.: Soziale Interaktion und Kommunikation : eine Einführung in die Sozialpsychologie. -- 4. Aufl. -- Weinheim : Psychologie Verlags Union, ©1999l. -- ISBN 3621271457. -- S. 273f. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]


14. Consulting statt Management


Jörg Staute, selbst ein Consultant, schreibt in seinem lesenwerten Consulting-Report:

"Consultants sind ein Problem. Das Grundproblem rund um die Berater ist ein entscheidungstheoretisches. Die Probleme mit den Consultants fangen da an, wo sie zur Legitimation von Entscheidungen engagiert werden. Sie werden in Unternehmen geholt, um den Kopf für Entscheidungen hinzuhalten und innerbetrieblichen Arger auf sich zu ziehen. Die Leistung der Consultants ist dann die eines innerbetrieblichen Blitzableiters ohne jede Verantwortung. Haftung übernehmen die Externen nicht. Berater agieren quer zu jeder Firmenhierarchie und quer zu demokratischen Strukturen. Sie unterwerfen sich dem Vorstand, aber darunter sind alle gleich und den Consultants zu Diensten. Durch das Engagement von Beraterinnen und Beratern kann sich das Management abseits von eingespielten Willensbildungsprozessen eine neue Plattform zur Durchsetzung eigener Entscheidungen geben. Das Topmanagement engagiert die externen Berater immer dann, wenn es sich selbst nicht mehr durchsetzen kann. Dabei haben Beraterinnen und Berater keine formale Entscheidungskompetenz. Die bleibt bei der Unternehmensspitze. Doch das Management wird seinen Aufgaben nicht gerecht, wenn es Entscheidungen an Außenstehende delegieren möchte. Es profitiert von der Berateraura, und die Consultants profitieren vom Versagen des Managements. Die Berater lassen sich ihre Rolle teuer bezahlen. Externe Organisationsberatung wird dort notwendig, wo herkömmliche Diagnose- und Änderungsmechanismen versagen. Consultants werden vielfach engagiert, damit sie

Der Consulting-Markt konnte im beschriebenen Maße expandieren, da sich die Unternehmens- und Verwaltungsspitzen gerne die Legitimation für das eigene Handeln erkaufen. Die Consultants profitieren davon, dass das Management nicht die Arbeit tut, für die es bezahlt wird. Darum sind ihre Auftragsbücher voll. Darum der Beratungsboom."

[Staute, Jörg <1964 - >: Der Consulting-Report : die Wahrheit über die Beraterzunft. -- Ungekürzte Taschenbuchausgabe. -- München : Heyne,1998 (©1996). -- (Heyne Business ; 22/2042). -- ISBN 3453132238.. -- S. 214f. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]


15. Orte für Absprachen


"Das WEF [World Economic Forum 2001] in Davos hat nach 30 Jahren seine Unschuld definitiv verloren. Das private Manager-Forum von einst hat sich zu einem der wichtigsten Gipfeltreffen von Staats- und Konzernchefs überhaupt entwickelt. In idyllischer Bergkulisse treffen sich heute die Mächtigsten dieser Welt: Sie betreiben Ego-Marketing und Erfahrungsaustausch, schließen Geschäfte ab, fädeln politische Projekte von internationaler Bedeutung ein."

[Neue Zürcher Zeitung. --  2001-01-29. --  S. 9]

Besonders kulturabhängig sind die Orte und der Kontext, in dem Entscheidungen und Verabredungen angebahnt, eingeleitet bzw. (informell) getroffen werden. So ist es z.B. für einen thailändischen Geschäftsmann völlig undenkbar, den oft stundenlangen Staus auf den Strassen Bangkoks durch Videokonferenzen oder Telefonkonferenzschaltungen zu entgehen. Gemeinsam essen oder in einen Massageklub (=Bordell) gehen kann man via Telekommunikation (noch) nicht. Beides aber ist für thailändische Geschäftbeziehungen unerlässlich.

Da solche Orte und solcher Kontext  meist auf eine männliche Geschäftswelt abgestimmt ist, haben Frauen in führenden Stellungen oft das Problem, dass sie von wichtigen Begegnungen (im Bordell, bei Saufgelagen) ausgeschlossen sind.

Grobschlächtig kann man unterscheiden

Wichtige Orte und Kontexte für die Anbahnung von Abmachungen und Entscheidungen sind u.a.

Orte für Absprachen


Abb.: Restaurants (©Corbis)


Abb.: Clubs (©Corbis)

Abb.: Nachtclubs und Bordelle Abb.: Spielcasinos

Abb.: Hotels und Ferienresorts

Abb.: Sauna Abb.: Golfclub

Alle Abb.: ©Corel


16. Zum Beispiel: Interessenvertretung und Konfliktlösung auf den Philippinen



Abb.: Karte der Philippinen (©Corbis)

Die folgenden ausführlichen Ausführungen zu den Philippinen sollen exemplarisch für kulturelle Gegebenheiten stehen, die bei Entscheidungsfindung von zentraler Bedeutung sind:

"Hiya - Ein Gefühl für Scham und Schande"

 ... "Hiya ist der wichtigste soziale Wert der philippinischen Gesellschaft, ist ihr Dreh- und Angelpunkt, der individuelles und soziales Verhalten kontrolliert und motiviert.

Hiya ist das Gefühl für Scham und Schande. Es ist ein allgemein verbreitetes soziales Zwangsmittel und erzeugt jenes zutiefst im Innern verankerte Gefühl des Versagens, wenn man sich bewusst wird, den Anforderungen und Erwartungen der Gesellschaft nicht entsprochen zu haben. Vor dem philippinischen Hintergrund wurde die allgemeine Bedeutung von hiya als das unangenehme Gefühl beschrieben, das die Erkenntnis begleitet, sich in einer sozial unakzeptablen Situation zu befinden oder sozial unakzeptabel zu handeln.

Der Begriff ist schwer zu definieren. Es kommt einem schwerwiegenden sozialen Verstoß gleich, dieses Gefühl für hiya nicht zu besitzen -- und es ist die gröbste Beleidigung, jemanden als walang-hiya (»ohne jede Scham«) zu bezeichnen.

Hiya ist ein gesellschaftliches Kontrollinstrument. Es begrenzt die Verhaltensmöglichkeiten einer Person, ihr Benehmen in der Öffentlichkeit wird daran gemessen, entweder gutgeheißen oder abgelehnt. Die eigene Selbstachtung steigt oder fällt, je nachdem wie man sein eigenes hiya in der Öffentlichkeit einschätzt. In der Öffentlichkeit lächerlich gemacht oder kritisiert zu werden oder sich in einer Weise zu verhalten, die von der Öffentlichkeit verurteilt wird, bedeutet, an hiya zu leiden -- dem Verlust der Selbstachtung. Bemerkt man hingegen nicht, dass man sich unangemessen verhalten hat, oder fährt fort, sich in solch unangebrachter Art und Weise zu benehmen, dann bedeutet dies, gar kein hiya zu besitzen. Und dieses Brandmal allein reicht aus, einem die Anerkennung der sozialen Gruppe, wenn nicht gar der ganzen Gemeinschaft, zu entziehen. Ein Filipino, der die Unterstützung seiner Gruppenangehörigen verliert, ist ein sozial Ausgestoßener, eine zutiefst unglückliche Person. Darüber könnte nur jemand hinwegsehen, der Individualismus und Nonkonformismus als höchsten Wert betrachtet, da sein Verhalten mehr von individuellen Schuldgefühlen geprägt ist als von Gruppennormen." ...

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Abb.: Tänzchen im Stadtpark, Manila, Philippinen (©Corbis)

"Amor-propio - Die Selbstachtung

Der traditionelle, aus vorkolonialer Zeit stammende Wert hiya wird noch verstärkt durch den spanischen Begriff amor-propio, wörtlich übersetzt »Liebe des Selbst«, womit Selbstachtung gemeint ist. Offene Kritik demütig zu akzeptieren oder Gästen nicht die angemessene Gastfreundschaft zukommen zu lassen sind Beispiele eines Fehlens von amor-propio.

In der philippinischen Gesellschaft ist der Aufbau und Erhalt der Selbstachtung lebenswichtig, und zu diesem Zweck verstärkt amor- propio hiya. Und auch die traditionelle fernöstliche Vorstellung des Gewinnens und Verlierens von »Gesicht« spielt auf den Philippinen eine Rolle und betont wiederum die Bedeutung von hiya und amor-propio." ...

"Anders als westliche, von einem festgefügten System von Richtig und Falsch abhängende Verhaltensweisen -- eine Person fühlt sich schuldig, wenn sie feststellt, falsch gehandelt zu haben -- behauptet hiya auch dann noch seine Stellung, wenn der Betroffene vollkommen im Recht und der andere im Unrecht ist. Denn hiya und amor- propio stehen in Wechselwirkung zueinander. Wer das amor-propio eines anderen verletzt, lädt damit zum Konflikt oder gar zur Gewaltanwendung ein; hiya hingegen hält einen Filipino davon ab, die Selbstachtung eines anderen zu verletzen. Aus diesem Grunde mag er zum Beispiel zögern, eine längst fällige finanzielle Schuld oder einen entliehenen Gegenstand einzufordern. Denn man könnte das amor-propio des anderen gefährden, indem man eine solche Angelegenheit von Angesicht zu Angesicht diskutiert." ...

"Der Vermittler

Konfliktsituationen, die Offenheit verlangen, sind möglichst zu vermeiden oder äußerst taktvoll zu handhaben, da andernfalls hiya und amor- propio ins Spiel kommen könnten. In solchen Fällen wird ein Vermittler eingeschaltet, um die Wogen zu glätten. Ein Vermittler ermöglicht es, Dinge auszusprechen und zu klären, die den anderen erregen könnten; und die vom Vermittler angesprochene Person kann sich frei genug fühlen, ein Anliegen abzulehnen, Beschuldigungen zu widersprechen oder die eigene Einstellung zu erklären, ohne das amor-propio des anderen zu bedrohen, was bei einer Aussprache von Angesicht zu Angesicht der Fall wäre." ...

Ein Vermittler wird z. B. tätig:

"Beschönigung und indirekte Kritik

Auch Beschönigung und indirekte Kritik dienen der Aufrechterhaltung glatter, harmonischer zwischenmenschlicher Beziehungen."

Die Anwendung von Zweideutigkeiten, Notlügen und beschönigenden Ausflüchten ermöglichen ebenfalls diese "hiya" zu befriedigen. Besonders wichtig ist es, Kritik nur indirekt auszusprechen, so etwa `Das ist wirklich gut, aber könnte man nicht auch ...´.

Auch ein Vermittler wird sein Anliegen nicht direkt ansprechen, sondern erstmal ein gutes Gesprächklima schaffen. Für westliche Ausländer ist es oft erstmal unklar, worauf ein Gespräch hinaus soll. Geduld und Zeit ist gefragt.

"Die Weitschweifigkeit und die zeitraubenden Höflichkeiten sind Teile einer Dynamik, die um die Wahrung der zerbrechlichen Selbstachtung kreist. Hiya und amor- propio sind auf Umgangsformen angewiesen, die die wertvolle Selbstachtung vor möglichem Schaden bewahren. Und harmonische, glatte zwischenmenschliche Beziehungen vermögen diesen Zustand zu sichern.

Der Unterschied zwischen den zwischenmenschlichen Beziehungen in westlichen Ländern und auf den Philippinen rührt daher, dass wir Konflikte durch das bewusste Herbeiführen, Filipinos hingegen durch das Vermeiden einer Konfrontation lösen."

[Aarau, Alice ; Alfredo Roces ; Grace Roces: Reisegast auf den Philippinen. -- 2. Aufl. -- Dormagen : Iwanowski, 1998. -- ISBN 3923975759. -- S. 33 - 39. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}] [Man findet u.a. sehr viele Beispiele, wie man sich geschickt ausdrücken kann.]


Zu Kapitel 7, Teil III: Arbeitnehmerkoalitionen, Mitbestimmung und Solidaritätsgruppen