Internationale Kommunikationskulturen

10. Kulturelle Faktoren: Kleidung und Anstand

5. Teil V: Anstand


von Margarete Payer

mailto: payer@hdm-stuttgart.de


Zitierweise / cite as:

Payer, Margarete <1942 - >: Internationale Kommunikationskulturen. -- 10. Kulturelle Faktoren: Kleidung und Anstand. -- 5. Teil V: Anstand. -- Fassung vom 2001-05-13. -- URL: http://www.payer.de/kommkulturen/kultur105.htm. -- [Stichwort].

Erstmals publiziert: 2001-05-13

Überarbeitungen:

Anlass: Lehrveranstaltung, HBI Stuttgart, 2000/2001

Unterrichtsmaterialien (gemäß § 46 (1) UrhG)

©opyright: Dieser Text steht der Allgemeinheit zur Verfügung. Eine Verwertung in Publikationen, die über übliche Zitate hinausgeht, bedarf der ausdrücklichen Genehmigung der Herausgeberin.

Dieser Text ist Teil der Abteilung Länder und Kulturen von Tüpfli's Global Village Library


0. Übersicht



1. Einleitung



Abb.: Japan (©Corel)

Da "Anstand" oft in Zusammenhang mit Kleidung und Aussehen verwendet wird ("anständig gekleidet", "anständig frisiert", "unanständige Kleidung"), wird er hier kurz behandelt.


2. Anstand


Deutsche Schriftsteller  über Anstand

"Serlo, der selbst als Marinelli den Hofmann rein, ohne Karikatur vorstellte, äußerte über diesen Punkt manchen guten Gedanken. »Der vornehme Anstand«, sagte er, »ist schwer nachzuahmen, weil er eigentlich negativ ist und eine lange anhaltende Übung voraussetzt. Denn man soll nicht etwa in seinem Benehmen etwas darstellen, das Würde anzeigt; denn leicht fällt man dadurch in ein förmliches, stolzes Wesen; man soll vielmehr nur alles vermeiden, was unwürdig, was gemein ist, man soll sich nie vergessen, immer auf sich und andere achthaben, sich nichts vergeben, andern nicht zu viel, nicht zu wenig tun, durch nichts gerührt scheinen, durch nichts bewegt werden, sich niemals übereilen, sich in jedem Momente zu fassen wissen und so äußeres Gleichgewicht erhalten, innerlich mag es stürmen, wie es will. Der edle Mensch kann sich in Momenten vernachlässigen, der vornehme nie. Dieser ist wie ein sehr wohlgekleideter Mann: er wird sich nirgends anlehnen, und jedermann wird sich hüten, an ihn zu streichen; er unterscheidet sich vor andern, und doch darf er nicht allein stehenbleiben; denn wie in jeder Kunst, also auch in dieser soll zuletzt das Schwerste mit Leichtigkeit ausgeführt werden: so soll der Vornehme, ungeachtet aller Absonderung, immer mit andern verbunden scheinen, nirgends steif, überall gewandt sein, immer als der Erste erscheinen und sich nie als ein solcher aufdringen.

Man sieht also, dass man, um vornehm zu scheinen, wirklich vornehm sein müsse; man sieht, warum Frauen im Durchschnitt sich eher dieses Ansehen geben können als Männer, warum Hofleute und Soldaten am schnellsten zu diesem Anstande gelangen.«"

[Goethe, Johann Wolfgang von <1749 - 1832>: Wilhelm Meisters Lehrjahre. -- Berlin : Unger, 1795/96. -- In: Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka. -- Studienbibliothek. --  Berlin : Directmedia, 2000. -- 1 CD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; Band 1). -- ISBN 3898531015. -- S. 51405f. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie diese CD-ROM  bei amazon.de bestellen}] 

"Erst alsdann, wenn erstlich der NATUR ihr Recht ist angetan worden, und wenn zweitens die VERNUNFT das ihrige behauptet hat, ist es dem ANSTAND erlaubt, die dritte Forderung an den Menschen zu machen und ihm, im Ausdruck sowohl seiner Empfindungen als seiner Gesinnungen, Rücksicht gegen die Gesellschaft aufzulegen und sich - als ein zivilisiertes Wesen zu zeigen."

[Schiller, Friedrich <1759 - 1805>: Über das Pathetische. -- Entstanden 1793, Erstdruck als zweiter Teil des Aufsatzes »Vom Erhabenen« in: Neue Thalia (Leipzig), 2. Jg., 1793, Heft 3 und 4. -- In: Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka. -- Studienbibliothek. --  Berlin : Directmedia, 2000. -- 1 CD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; Band 1). -- ISBN 3898531015. -- S. 149061. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie diese CD-ROM  bei amazon.de bestellen}] 
[Schiller: Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 148628]

"Gib nur acht auf ihn, wie alle Vortrefflichkeiten, die sonst schon einzeln andre Ritter edel machen, in ihm vereinigt glänzen; wie einnehmend sein fremder Anstand ist, dass er die hiesige italienische Sitte nicht in seiner Gewalt hat, wie seine stille Bescheidenheit weit mehr wahre Höflichkeit ist, als die studierte und gewandte Galanterie der hiesigen Ritter. Er ist immer in Verlegenheit, dass er niemand Besseres ist, als er, und doch sollte er stolz darauf sein, dass er niemand anders ist, denn so wie er ist, ist er das Schönste, was die Natur nur je hervorgebracht hat."

[Tieck, Ludwig <1773 - 1853>: Die Märchen aus dem Phantasus. -- Erstdruck: Berlin : Realschulbuchhandlung, 1812-1815. -- In: Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka. -- Studienbibliothek. --  Berlin : Directmedia, 2000. -- 1 CD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; Band 1). -- ISBN 3898531015. -- S. 165223. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie diese CD-ROM  bei amazon.de bestellen}] 

"Sie war schlank und fein gewachsen, trotz ihres hohen Alters beweglich und aufmerksam, keine Städterin und keine Bäuerin, sondern eine wohlwollende Frau; jedes Wort, das sie sprach, war voll Güte und Anstand, Duldung und Liebe, Freude und Leid, von aller Schlacke übler Gewohnheit gereinigt, gleichmäßig und tief."

[Keller, Gottfried <1819 - 1890>: Der grüne Heinrich. -- Erste Fassung. -- Erstdruck: Braunschweig : Vieweg, 1853/55. -- In: Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka. -- Studienbibliothek. --  Berlin : Directmedia, 2000. -- 1 CD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; Band 1). -- ISBN 3898531015. -- S. 107045. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie diese CD-ROM  bei amazon.de bestellen}] 

In diesem Teil wird Anstand verstanden als grundlegendes Verhaltensmuster, das vermeidet, den anderen auf voraussehbare und vermeidbare Weise unnötiger Weise zu verletzen. In diesem Sinn ist Anstand ein Teil (nicht das Ganze) von 

Was anständig ist, ist bestimmt

Das Wort "Anstand" wird hier als Bezeichnung für das benutzt, was Hans Himmelheber als "Gesittung" bezeichnet:

"In diesem Buch soll von der Gesittung der Neger in Afrika die Rede sein. Gesittung ist nicht dasselbe wie Sitte. Sitte oder Brauchtum ist ein umfassenderer Begriff, der auch vieles einschließt, was nicht zur Gesittung gehört. Unter Gesittung verstehen wir die Summe jener Umgangsregeln, die sich die Menschen überall über den Bereich der Gesetze hinaus geschaffen haben, um das menschliche Zusammenleben angenehm zu gestalten. Die Gesetze verbieten und bestrafen, was dem Zusammenleben schädlich ist. Wer hingegen der Gesittung zuwiderhandelt, wird nicht bestraft, aber er wird getadelt, missachtet oder gar geächtet. Umgangsformen, Lebensart, Anstand, gesellschaftliche Ideale -- dies alles gehört zur Gesittung.

Schon die alten Afrika-Reisenden stellten zu ihrem Erstaunen fest, dass die Neger in ihrer Weise wohlgesittet sind, so etwa Adaneons 1748: «Bei Negern und Mauren hatte ich viel Menschlichkeit und ein geselliges Wesen bemerkt.» -- «Sie gehen nicht zum Essen, sie haben dann zuvor ihren Leib gewaschen und mit Palmöl geschmiert», schreibt der Missionar Johann Wilhelm Müller 1675 von der Goldküste. Die Forscher unserer Zeit sind oft bereit, die Gesittung der Neger der unseren gleich- oder gar überzuordnen. «Viele der Ibo sind die geborenen Gentlemen.» Eine kanadische Missionarin, die zwanzig Jahre im Hinterlande Liberias unter den Bassa und Dan gewirkt hat, sagte zu mir: «Diese Eingeborenen haben eine höhere Kultur als wir -- alles was sie brauchen, ist Christus.»

Alle Höflichkeitsregeln der Neger werden als eine unumstößliche Pflicht aus innerem Drang befolgt, nicht als eine Form des Benehmens, die man sich als eine zwar erwünschte, aber nicht zwingend notwendige Gewohnheit auferlegt hat. Sie müssen darum auch im engsten Familienkreis beobachtet werden. Das wird von den Forschern immer wieder festgestellt, z. B. von Weeks bei den Boloki: «Die Familienangehörigen begegnen einander mit großer Höflichkeit, und jede Abweichung von den gewohnten Regeln findet scharfe Missbilligung. Die Boloki sind sehr streng in der Beobachtung äußerer Formen... Daher sind sie außerordentlich gewissenhaft, besonders in der Beobachtung der Grußformen beim Begegnen, Besuchen oder Aneinandervorbeigehen.»

Die meisten Umgangsformen der Neger werden von ihnen in ihrem ursprünglichen Sinne noch unmittelbar verstanden. Bei uns ist das nur noch selten der Fall, unser Handkuss, das Hutabnehmen, das Abgeben von Visitenkarten, das Rechts-gehen-Lassen sind leere Formen, deren Inhalt längst verlorengegangen ist. Darum werden bei uns die Umgangsformen nicht mehr mit gleicher Strenge gefordert."

[Himmelheber, Hans <1908 - >: Der gute Ton bei den Negern. -- Heidelberg : Richters, ©1957. -- S. 7f.]


2.1. Deutsche Umgangssprache über Anstand


Ein Blick auf Ausdrücke der deutschen Umgangssprache im Umfeld von Anstand ist aufschlussreich -- bevor allem bezüglich der Vorurteile, die sich oft darin zeigen:

[Bedeutungen und Belege nach: Küpper, Heinz: Wörterbuch der deutschen Umgangssprache. - Berlin : Directmedia, 2000. - 1 CD-ROM  -- (Digitale Bibliothek ; 36). -- ISBN 3898531368. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie diese CD-ROM  bei amazon.de bestellen}] 

Noch einige deutsche Redensarten:


3. Sanktionen für Unanständigkeit


"Unanständigkeit" kann rechtlich verfolgt werden (z.B. Bußgeld gegen Flitzer, Verhaftung bei Oben-ohne-Baden), normalerweise wird sie aber sozial "bestraft" durch

Als Beispiel diene die Beschämung bei den Dan:


Abb.: Karte von Liberia und Elfenbeinküste, dem Siedlungsgebiet der Dan (©MS-Encarta)

"Um Mittag machen wir eine größere Rast auf einer Pflanzung [bei den Dan in Ostliberia und westliche Elfenbeinküste], weil die freundlichen Leute uns und die ganze Mannschaft zum Essen einladen. Sie haben nämlich nicht nur ihren schönen neuen Reis anzubieten, sondern dazu auch zwei in der vorigen Nacht erlegte Erdferkel.

Als wir um die Töpfe sitzen, kommt noch ein junger Bursche nach. Er kauert sich hin und greift so kräftig zu, dass man bald erkennt: so kann der Reis nicht für alle reichen. Die andern Esser werfen sich Blicke zu, und plötzlich schieben sie dem Burschen die noch halbvollen Schüsseln hin, erheben sich und entfernen sich rasch. Auf Tames Wink tue ich es ihnen nach. Da sitzt er nun, der allzu Gierige, und kann, wenn er will, das Mittagsmahl allein essen. Oh nein! Es ist ihm schrecklich peinlich, so dazusitzen inmitten all der Töpfe, während die Mädchen ab und zu gehen. Rasch räumt er alles weg, ergreift sein Buschmesser und eilt hinaus auf die Pflanzung, um dort durch doppelten Eifer anzuzeigen, dass es nur seine große Arbeitsleistung war, die ihn ausnahmsweise mal so unbescheiden gemacht hat.

So tadeln die Neger einander nicht, wie wir das so gerne tun, mit dröhnender Stimme. Benimmt sich einer nicht richtig, so suchen sie ihn in eine Lage hinein zu manövrieren, in der er sich schämen muss. Sie sind nämlich äußerst empfindlich gegen jede Herabwertung ihrer Persönlichkeit."

[Himmelheber, Hans <1908 - >: Der gute Ton bei den Negern. -- Heidelberg : Richters, ©1957. -- S.74f.]


4. Anstand als Vorwand für Unterdrückung


"9. Du sollst sauber und anständig leben und Deine Familie achten."

[Ulbricht Walter <1893 - 1973 ; Erster Sekretär der SED>: 10 Gebote für den neuen sozialistischen Menschen". -- Verkündet auf dem V. Parteitag der SED. -- 1958-07-10]

Als anständig sieht man sich meist selbst, als unanständig die anderen ("Wilden", "Unzivilisierten"). Deshalb wird "Anstand" oft in ganz unanständiger Weise benutzt, um andere zu verachten oder gar zu unterdrücken. Man verachtet andere wegen ihrer anderen Sitten, ihres anderen Aussehens, ihrer anderen Kleidung und Frisur; oder man bekämpft und verfolgt sie deswegen, sei's in Familie, Gruppe, Religionsgemeinschaft oder Staat.

Im Folgenden einige Beispiel für weltweiten Terror im Namen von "Anstand":


4.1. Zum Beispiel: DDR: "Lange Haare sind unmenschlich!"


"Am 14. Oktober 1965 brachte die Junge Welt auf der ersten Seite die Geschichte eines vorbildlichen Gewaltaktes: »Ein FDJ-Sekretär erzählt: Der Rowdy musste Haare lassen. Eine Klassenlektion für Eckhard Boschhardt, wie man sich anständig benimmt.« Unter voller Namensnennung der Beteiligten wurde berichtet, wie einem aufsässigen, für die Rolling Stones schwärmenden Schüler einer Berliner Oberschule von FDJlern gewaltsam die Haare gestutzt worden seien: »Da reichte es uns. Ein paar Jungen hielten ihn, und mit der Schere besorgten wir selbst die unappetitliche Arbeit.« Kommentare in anderen Zeitungen gaben Flankenschutz, indem sie von »hygienischer Behandlung« der Gammler sprachen: »Sie waschen sich nicht und stinken, ihre zottelige Mähne ist verfilzt und verdreckt, sie gehen der Arbeit und dem Lernen aus dem Wege ... Es geht uns um den Dreck! Und darum, dass diese jugendlichen faul sind, nicht lernen und nicht arbeiten!« In Leipzig forderte die SED-Bezirksleitung mit warnender Anspielung auf die Waldbühnenkrawalle: »Dem Missbrauch der Jugend keinen Raum!« Ein Kernsatz des Artikels lautete: »Lange Haare sind unmenschlich!« Als daraufhin Auftrittsverbot über zahlreiche Beatcombos verhängt wurde, kam es zum »Leipziger Gammleraufstand«, einer Protestaktion von Jugendlichen, die den Behörden einen willkommenen Vorwand zum harten Durchgreifen lieferte.

Daraufhin wurde in Leipzig ein Flugblatt verteilt, das die verfängliche Frage stellte: »Geht's um Musik oder Geisteshaltung?« Selbstverständlich ging es denen, die dort für ein »sauberes und ordentliches Antlitz« der Jugend eintraten und damit gewalttätige Repressalien rechtfertigten, genauso um Geisteshaltung wie den Beamten des Reichssicherheitshauptamtes, die 1944 den »erzieherischen Schock einer kurzfristigen Freiheitsentziehung« zum Zwecke der Einordnung von Jugendlichen in die Volksgemeinschaft empfahlen. In Leipzig und anderswo wurde folgerichtig angewandt, was man damals schon zur »Zähmung« unangepasster Jugendlicher an möglichen Auflagen erwogen hatte, »mit deren freiwilliger Erfüllung er beweisen kann, dass es ihm mit der geforderten Umkehr ernst ist«. Darunter war auch die »milde« Anordnung, »dass er sich mit ordentlichem Haarschnitt, in ordentlicher Kleidung oder zu einer bestimmten Zeit, einmal oder in regelmäßigen Abständen, auf der Dienststelle vorstellt«."

[Parteiauftrag: ein neues Deutschland : Bilder, Rituale und Symbole der frühen DDR / hrsg. von Dieter Vorsteher. -- München [u.a.] : Koehler & Amelang, ©1997. -- ISBN 3733802128. -- S. 109. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]


4.2. Zum Beispiel: Singapur: das Diktat der Saubermänner



Abb.: Wegwerfen verboten! -- Strafe $1.000


Abb.: Lage von Singapur (©MS-Encarta)

"Vier lange, schnelle Rolltreppen führen in der U-Bahn-Station Raffles City in die Tiefe. Der Einstieg ist von einem Mäuerchen aus dunkelrotem Marmor umfasst. Da saßen sie immer: Jugendliche, die auf Freunde warteten, nach der Schule klönten oder einfach die kühle Luft der exzellenten Klimaanlage im Untergrund genossen. Sie tranken nicht und rauchten nicht, aßen nicht, kauten kein Kaugummi, hörten keine Musik, fuhren nicht Skateboard, spuckten nicht, brachten keine Hunde, Katzen, nichts Lebendes mit. Denn all das ist verboten. Sie saßen nur da. Und nun ist auch das verboten.

Ein neues Schild kam zu den Abertausenden Schildern, die den Singapurern auf Schritt und Tritt sagen, was sie zu tun, und vor allem, was sie zu lassen haben. Die Schilder sind bewehrt mit zahllosen Augen uniformierter Staatsdiener, die prompt und unbestechlich das Gesetz exekutieren. Nun also ist Sitzen verboten und kostet --  Fine 500 Dollars -- 500 Mark Strafe.

Doch erstmals wirkte die Drohung nicht wie gewohnt. Swee Yin Wang sitzt trotzdem auf dem Mäuerchen. Beineschlenkernd unterhält sie sich mit ihren Freunden und wagt es, das neue Schild in ihrem Rücken «totalen Quatsch» zu nennen. Obwohl sie ein Foto von sich in der staatstragenden Zeitung Straits Times riskiert. Sünder gegen die öffentliche Ordnung werden in Singapur stets mit Namen, Adresse und Bild veröffentlicht. Aber diesmal erlaubt sich Swee, die blau gewandete Exekutive mit hoch erhobenen Händen zu fragen: «Warum kann ich hier nicht sitzen?»

Weil die Regierung meint, gammelnde Jugendliche seien ein «Schandfleck». Dieses Argument wurde später ersetzt durch das der Fürsorge des Staates, mit der er  seine Bürger vorm Fallen bewahre. «Das Sitzen auf dem Mäuerchen ist gefährlich» schrieb die U-Bahn-Behörde in der Zeitung. Und weil Swee Yin Wang und Konsorten das nicht einsehen, «muß nun eben die Strafe her». Swees vager Teenagerprotest auf dem Mäuerchen in der U-BahnStation Raffles City sorgte tagelang für Schlagzeilen in der Presse und schließlich für eine im staatlichen Fernsehen übertragene Parlamentsdebatte.
So handelt die absolute Autorität einer konfuzianischen Regierung, die immer weiß, was gut für ihre Bürger ist. Nach diesem Muster hat sie 2,7 Millionen Menschen programmiert, die aus der winzigen Insel einen wirtschaftlichen Riesen formten."

[Deckenbach, Karin: Das Diktat der Saubermänner. -- In: Singapur & Malaysia. -- (Geo Special ; Nr. 5/1992). -- ISBN 3570010799. -- S.38 - 40]


5. Zum Beispiel: Multikulturalismus als Anstandsform in den USA


In den multikulturellen Gegenden der USA, in denen europastämmige Weiße eine Gruppe neben anderen sind, fielen folgende Einsichten von Paul Feyerabend <1924 - 1994> -- u.a. Professor an der University of California Berkeley -- in manchen Hochschulen auf fruchtbaren Boden:

"Und doch liegt es auf der Hand, dass jede Verbindung zur Welt verlorengegangen war, und dass die erzielte Stabilität, der Anschein absoluter Wahrheit, der sich im Denken wie in der Wahrnehmung äußerte, nichts anderes war als das Ergebnis eines absoluten Konformismus."
"Man erzwingt einen blinden Konformismus und redet von der Wahrheit; man lässt intellektuelle Fähigkeiten und die Einbildungskraft verkommen und redet von tiefer Einsicht; man zerstört die kostbarste Gabe der Jugend -- ihre kolossale Phantasie -- und redet von Bildung.

Zusammengefasst: Eine einheitliche Meinung mag das Richtige sein für eine Kirche, für die eingeschüchterten oder gierigen Opfer eines (alten oder neuen) Mythos oder für die schwachen und willfährigen Untertanen eines Tyrannen. Für die objektive Erkenntnis brauchen wir viele verschiedene Ideen. Und eine Methode, die die Vielfalt fördert, ist auch als einzige mit einer humanistischen Auffassung vereinbar. "

Das Werk, dem diese Zitate entnommen sind (S. 67f.), wurde zur Bibel des Multikulturalismus:

Feyerabend, Paul <1924 - 1994>: Wider den Methodenzwang : Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie. -- Frankfurt a. M. : Suhrkamp, 1976. -- 444 S. : Ill. -- ISBN 3518281976. -- Originaltitel: Against method : outline of an anarchistic theory of knowledge (©1975). -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}

Das Anything goes  aus diesem Buch wurde zum Schlachtruf der akademischen "Multikultis":

"Wer sich dem reichen, von der Geschichte gelieferten Material zuwendet und es nicht darauf abgesehen hat, es zu verdünnen, um seine niedrigen Instinkte zu befriedigen, nämlich die Sucht nach geistiger Sicherheit in Form von Klarheit, Präzision, »Objektivität«, »Wahrheit«, der wird einsehen, dass es nur einen Grundsatz gibt, der sich unter allen Umständen und in allen Stadien der menschlichen Entwicklung vertreten lässt. Es ist der Grundsatz: Anything goes (Mach, was du willst)." (S. 45)

Zum Verständnis ist ein Blick auf die Biographie von Paul Feyerabend nützlich, nämlich auf seine Erfahrungen während der sogenannten Studentenrevolution 1968 an der Universität Berkeley, CA. Feyerabend beschreibt dies im Rückblick so:

"In der Zeit der sogenannten Studentenrevolution besprach ich die Theorien, die frühere Revolutionsbewegungen begleitet hatten. Cohn-Bendit, Lenins Schrift Der linke Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus, Aufsätze des Vorsitzenden Mao und Mills On Liberty standen auf meiner Literaturliste. Ich bat die Studenten, Diskussionen zu veranstalten oder Demonstrationen vorzubereiten, statt Referate zu schreiben, und ich forderte Außenseiter auf, ihren Standpunkt darzustellen. Ein Student, der Transformatorenhäuschen gesprengt hatte, erläuterte im Seminar die Gründe für seine Aktionen. »Wer nicht für mich ist, ist gegen mich«, schrie er. »Ihr Weißen seid doch keine Menschen mehr«, sagte ein Schwarzer, Nehemiah Pitts, während einer meiner Vorlesungen. Wir, die Studenten, die Assistenten und ich, traten nachher auf ihn zu und sprachen mit ihm, ohne ihm zu widersprechen. Wie viele Leute, darunter auch Berühmtheiten (zum Beispiel Lenny Bruce oder Artaud), schien Nehemiah unter erheblichem Druck zu stehen, der durch eine Lage hervorgerufen wurde, die in der Tat unmenschlich war. Immer mehr Schwarze tauchten in meinen Kursen auf (dem Prozentsatz nach viel mehr, als man heute auf dem Campus antrifft), und ich geriet häufig in Verlegenheit. Sollte ich sie weiterhin mit intellektuellen Delikatessen füttern, die ein Teil der weißen Kultur waren? Ich war Lehrer, sogar Professor, und wusste eine Menge über alle möglichen Dinge. Ich hatte in vielen Bereichen feste Überzeugungen und nur wenig Respekt vor den Größen meines Fachs. Aber jetzt fühlte ich mich ratlos und inkompetent. Eine hübsche resolute Schwarze lud mich nach Hause ein. »Passen Sie auf«, sagte sie. »Meine Tochter durchschaut jeden Trick.« Ich lehnte ab. Ich wollte, ich hätte ihr erklären können, dass mein Grund nicht Überheblichkeit war, sondern Scheu. Ich verstand, warum die Studenten Huey Newton, Bobby Seale und ihre Anhänger empfingen, als wären sie Götter. Malcolm X kam und hielt eine wohldurchdachte Rede. Er war wie ein Geschäftsmann gekleidet, ordentlich und mit einer Aktenmappe, die seine Unterlagen enthielt. Ich las seine Autobiographie (die Alex Hailey, der spätere Verfasser von Roots, geschrieben hatte). Ich fühlte Sympathie und sogar Liebe und hatte das Bedürfnis, wenigstens einen winzigen Teil zum Leben dieses außerordentlichen Menschen beizutragen.

Auf meine Einladung hin erklärten vietnamesische Studenten die Geschichte ihres Landes und die Gründe des Widerstandes. Eine Gruppe junger Schwuler beschrieb, wie man sich als Minderheit unter lauter spießigen und ignoranten Bürgern fühlt. Jan Kott, dessen Shakespeare our Contemporary jahrelang auf meiner Literaturliste gestanden hatte, inszenierte den Orest von Euripides. Orest und Pylades erschienen auf Motorrädern, Menelaos war ein General, Tyndareos ein südländischer Politiker und Helena, tja, Helena war eine gewöhnliche Hure. »Er hat wahrscheinlich viele Details verändert«, sagte ich zu Alan, der die Produktion leitete. »Er hat kein einziges Detail verändert«, erwiderte Alan. Und tatsächlich passten alle Teile hervorragend zueinander, als ob das Stück heute geschrieben worden wäre. Kott, Alan und ich fuhren auch nach San Francisco und sahen uns eine Aufführung im Height-Ashbury District an. Kott war wie ein Kind. Er interessierte sich für alles und behandelte die gewöhnlichsten Ereignisse, als wären es Botschaften vom Mars.

Meine Freundin Joan McKenna, eine ausgewiesene Hexe mit einer kessen Lippe und einem Herzen aus Gold, wagte einmal ein Experiment. Während eines Gastvortrags, zu dem sie eingeladen war, sprach sie nach der Einführung ungefähr zwanzig Minuten. Dann unterbrach sie und forderte das Publikum auf, Fragen zu stellen. Ihre Antworten waren unfair, höhnisch und autoritär. Niemand griff ein. Im Gegenteil: die Leute, die neben den Opfern ihrer Bemerkungen saßen, rückten ein wenig weg, als ob sie sagen wollten: mit diesen Dummköpfen wollen wir nichts zu tun haben. Dann erklärte Joan ihr Vorgehen und seinen Grund. »Sehen Sie sich an, was Sie tun!«, rief sie aus. »Ich antworte auf eine lächerliche und autoritäre Weise. Und Sie schlucken das nicht nur, sondern behandeln die einzigen Studenten, die den Mut aufbringen, etwas dagegen zu sagen, wie Außenseiter. Da ist es kein Wunder, wenn Professoren sich alles erlauben können.« Danach diskutierten wir darüber, wie man den Ekeln unter den Professoren beikommen kann. Angenommen, eines dieser höheren Wesen sagt etwas, das dumm und unverständlich klingt. Was werden Sie tun? Sie stehen auf und bitten um eine Erklärung. Nehmen Sie an, Sie werden mit einer autoritären Geste abgewimmelt. Nun, dann steht ein anderer auf und wiederholt die Frage. »Ich verstehe das auch nicht.« Wenn dann der Professor noch ärgerlicher und sarkastischer reagiert, steht ein dritter Student auf: »Sie sollen uns unterrichten und nicht zum besten halten. Geben Sie deswegen bitte eine Erklärung.« »Werden Sie nicht unverschämt!« »Er ist nicht unverschämt«, sagt ein vierter Student. »Er hat Sie nur um eine Erklärung gebeten, und Sie haben sie ihm nicht gegeben.« Und so weiter. Früher oder später, sagte ich, wird der Professor gefälligere Antworten geben. »Das können wir nicht machen«, erwiderten einige Studenten. »Da bekommen wir schlechte Noten.« »Das machen wir nicht«, sagten andere. »Es ist einfach die Mühe nicht wert.«

Die Studenten, die am Free Speech Movement teilnahmen, wollten das alles ändern. Sie wollten die Universität von einer Wissensfabrik (wie ihr Präsident Clark Kerr sie genannt hatte) in eine Gemeinschaft und ein Instrument zur Erreichung gesellschaftlicher Verbesserungen verwandeln. Ihre Aktionen sprachen sogar die zurückhaltendsten Menschen an. Sie blühten auf, wenn sie zu reden anfingen, und es wurde deutlich, dass jeder interessante und wertvolle Ideen hatte. Es war ein riesiger Erfolg, als die Fakultät den Standpunkt der Studentenführer übernahm und die Universitätsleitung zum Nachgeben zwang. Die Bewegung hatte offenbar ihr Ziel erreicht. »Bitte geht jetzt noch nicht nach Hause«, sagte Mario Savio, einer der Studentenführer und ein hervorragender Redner. »Wir müssen uns jetzt noch mit dem Vietnamkrieg beschäftigen.« Jetzt änderte die Bewegung ihre Richtung und wurde aggressiver. Schwarze aus Oakland kamen hinzu, hielten Reden auf dem Campus und sprachen mit den weißen Studenten über ihr Leben. Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg begannen im ganzen Land. Aber in Kalifornien machte Ronald Reagan den Reformen ein Ende. In gewissem Sinne haben die Unruhen zu seinem Erfolg beigetragen. Die Studenten stießen bei vielen Wählern auf Ablehnung, da sie sich überwiegend mit ihren eigenen Problemen beschäftigten, eine gesunde Verachtung für die weiße Mittelklasse, der meistens ihre Eltern und Verwandten angehörten, an den Tag legten und vor den Fernsehkameras Obszönitäten skandierten, statt Erklärungen zu geben. Man braucht nicht zu erwähnen, dass Reagan davon profitierte.

Vor zwei Wochen sah ich einen Film, den man 1990 aus Wochenschauberichten, lokalen Reportagen und den Erinnerungen einiger Teilnehmer zusammengestellt hatte. Susan Griffin, eine führende Feministin, schrieb einen Teil des Textes und trat auch mit Kommentaren auf. Es war ein aufregendes, aber auch sehr bedrückendes Dokument. Der Enthusiasmus, die Hoffnung auf eine neue Art von Lehrbetrieb sind schon lange verschwunden, und an ihre Stelle sind Lethargie, Bemühungen um gute Noten und Angst vor der Zukunft getreten."

[Feyerabend, Paul <1924 - 1994>: Zeitverschwendung. -- Frankfurt a. M. : Suhrkamp, ©1995. -- ISBN 3518392220. -- S. 167 - 171. --  Originaltitel: Killing time (1994). -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]

Feyerabend fasst in der Einleitung zu Against method seine "Theorie" des Multikulturalismus (der Ausdruck stammt nicht von ihm) so zusammen:

"Der moderne Staat ist, im Idealfall, der ideologisch gereinigte Staat. Ideologie, Religion, Magie, Mythos haben einen Einfluss, aber nur auf dem Wege über politisch einflussreiche Parteien. Ideologische Prinzipien werden gelegentlich in die Staatsstruktur aufgenommen, aber nur durch Mehrheitsbeschluss nach einer öffentlichen Diskussion. In den öffentlichen Schulen lernt man die Religionen als historische Phänomene kennen, nicht als Bestandteile der Wahrheit, außer die Eltern dringen darauf, den Kindern ihre Segnungen in mehr direkter Weise zugänglich zu machen. Auch die finanzielle Unterstützung von Ideologien geht nicht über die finanzielle Unterstützung von politischen Parteien und Privatgruppen hinaus. Staat und Ideologie, Staat und Kirche, Staat und Mythos sind scharf voneinander getrennt.

Staat und Wissenschaft aber arbeiten eng zusammen.

Unsummen werden zur Förderung wissenschaftlicher Ideen ausgegeben. Selbst Scheinfächer wie die Wissenschaftstheorie, die der Wissenschaft ihren Namen, der diese aber keine einzige brauchbare Idee verdankt, werden weit über den Wert ihrer positiven Beiträge hinaus finanziert. In den öffentlichen Schulen sind fast alle wissenschaftlichen Fächer Pflichtfächer. Während sich die Eltern eines sechsjährigen Kindes entschließen können, ihr Kind protestantisch oder katholisch oder religionslos aufwachsen zu lassen, besteht eine solche Freiheit im Falle der Wissenschaft nicht. Physik, Astronomie, Geschichte müssen gelernt werden. Man kann sie nicht durch Astrologie, natürliche Magie oder Legenden ersetzen.

Man begnügt sich auch nicht mit einer bloß historischen Darstellung physikalischer (astronomischer, historischer etc.) Tatsachen und Prinzipien. Man sagt nicht: in der Welt gibt es Leute, die glauben, dass sich die Erde um die Sonne dreht, während andere die Erde für eine Hohlkugel halten, die die Sonne umschließt. Man sagt: die Erde bewegt sich um die Sonne -- alles andere ist Dummheit.

Schließlich ist die Annahme oder die Ablehnung wissenschaftlicher Tatsachen und Prinzipien völlig vom demokratischen Prozess der öffentlichen Informationsaufnahme, Diskussion und Abstimmung getrennt. Man akzeptiert Gesetze und Tatsachen, man lehrt sie in den Schulen, man gründet entscheidende politische Beschlüsse auf sie, aber ohne sie einem Votum unterworfen zu haben. Konkrete Vorschläge werden gelegentlich diskutiert, und man stimmt über sie ab, aber in den Prozess der Erzeugung allgemeiner Theorien und grundlegender Tatsachen mischt man sich nicht ein. Die moderne Gesellschaft ist eine »kopernikanische« Gesellschaft nicht darum, weil der Kopernikanismus zur Abstimmung vorgelegt und mit Stimmenmehrheit akzeptiert wurde, sondern weil die Wissenschaftler Kopernikaner sind, und weil man ihr Urteil in Fragen des Weltenbaus heute ebenso kritiklos annimmt wie früher das Urteil von Bischöfen und Kardinälen.

Diese Verschmelzung von Staat und Wissenschaft führt zu einer peinlichen Paradoxie für die Demokratie und das liberale Denken.

Liberale Intellektuelle sind für Demokratie und Freiheit. Sehr hörbar verteidigen sie das Recht der freien Meinungsäußerung, das Recht der Ausübung jeder Religion, das Recht auf Arbeit. Liberale Intellektuelle sind auch für den Rationalismus. Ihr Rationalismus und ihre Begeisterung für die Demokratie sind zwei Seiten einer und derselben Münze. Wissenschaft und rationales Denken haben zur Demokratie geführt, Wissenschaft und rationales Denken allein sind geeignet, technologische, soziale, ökonomische, psychologische etc. etc. Probleme zu lösen. Das heißt aber, dass die Religionen, deren freie Ausübung so tapfer verteidigt, und die Ideen, deren ungehinderte Verbreitung so dringend gefordert wird, nicht völlig ernst genommen werden: als Rivalen der Wissenschaft kommen sie nicht in Betracht. Zum Beispiel, sie kommen nicht in Betracht als die Grundlage der öffentlich finanzierten Erziehung. Diese intolerante Seite des Liberalismus wird kaum bemerkt. Die meisten Theologen und Mythenforscher akzeptieren ja das Urteil der Wissenschaft wie eine neue Offenbarung und entfernen aus Religion und Mythos alle Ideen oder Andeutungen, die der Wissenschaft widersprechen könnten (Entmythologisierung). Die verbleibende Leiche, durch existentialistische Schlagworte oder psychoanalytischen Jargon zu einem regen Scheinleben erweckt, ist keine Gefahr für die Wissenschaft, und die allgemeine Öffentlichkeit nimmt an, dass wir den wahren Artikel und nicht eine miserable Fälschung vor uns haben. Die Lage ändert sich, wenn versucht wird, die Ideen älterer oder vom westlichen Szientismus verschiedener Kulturen unverfälscht wieder einzuführen und zur Grundlage der Erziehung und des Zusammenlebens ihrer Anhänger zu machen. Und damit haben wir unser Paradoxon: Demokratische Prinzipien, so wie sie heute verstanden werden, sind unvereinbar mit dem völligen, ungestörten Überleben spezieller Kulturen. Eine westliche Demokratie kann keine Hopi-Kultur im vollen Sinn des Wortes enthalten. Sie kann keine Jüdische Kultur im vollen Sinn des Wortes enthalten. Sie kann keine Schwarze Kultur im vollen Sinn des Wortes enthalten. Sie kann diese Kulturen nur als sekundäre Auswüchse in einer Grundstruktur dulden, die in einer unheiligen Allianz von Wissenschaft und Rationalismus« (und Kapitalismus) besteht.

Aber -- so höre ich den Leser ungeduldig ausrufen -- ist dieses Vorgehen nicht völlig berechtigt? Besteht nicht in der Tat ein gewaltiger Unterschied zwischen der Wissenschaft auf der einen Seite und Religion, Ideologie, Mythos auf der anderen? Ist der Unterschied nicht so groß und offenkundig, dass es überflüssig ist, auf ihn zu verweisen, und lächerlich, ihn zu bestreiten? Enthält nicht die Wissenschaft Tatsachen und Hypothesen, die die Wirklichkeit direkt widerspiegeln, so dass wir sie verstehen und beherrschen können, während Religion und Mythos ein Traumreich errichten, in dem alles möglich ist und das die wirkliche Welt, falls überhaupt, nur an wenigen Stellen berührt? Ist es daher nicht nur berechtigt, sondern sogar geboten, Religion und Mythos vom Zentrum der modernen Gesellschaft zu entfernen und die Wissenschaft an ihre Stelle zu setzen?

Nur Geduld!

Alle diese Fragen haben eine klare, einfache, aber vielleicht etwas unerwartete Antwort.

Mythen sollen von der Basis der modernen Gesellschaft entfernt und durch die Methoden und die Ergebnisse der Wissenschaft ersetzt werden. Der Privatmann aber hat nach wie vor das Recht, sie zu studieren, zu beschreiben, vorzutragen. Sehen wir zu, wie weit dieses Recht geht.

Der Privatmann kann lesen, schreiben, propagieren, was ihm beliebt, und er kann auch Bücher mit den verrücktesten Ideen veröffentlichen. Im Falle einer Erkrankung hat er das Recht, so behandelt zu werden, wie er es wünscht, durch Handauflegen, wenn er an die Künste von Handauflegern glaubt, von einem »wissenschaftlichen« Arzt, wenn ihm die Wissenschaft näher liegt. Es ist ihm nicht nur erlaubt, als einzelner Ideen dieser Art zu propagieren, er kann Vereinigungen gründen, Schulen, die seine Ideen verbreiten, Organisationen, die sie zur Grundlage der Forschung machen, vorausgesetzt, er kommt entweder selbst für die Unkosten solcher Unternehmungen auf oder er findet die finanzielle Unterstützung Gleichgesinnter. Die finanzielle Unterstützung von öffentlichen Schulen und Landesuniversitäten liegt aber in den Händen der Steuerzahler. Sie sind es also, die die letzte Autorität über den Lehrplan dieser Institutionen besitzen. Entschließen sich die Bürger Kaliforniens, den biologischen Unterricht an der Landesuniversität Kaliforniens umzubauen und Darwin durch Genesis zu ersetzen, dann heißt das, dass von nun an Fundamentalisten und nicht wissenschaftliche Biologen den Ursprung des Menschen erläutern werden. Die Meinung von Fachleuten wird natürlich in Betracht gezogen, aber der Fachmann hat nicht das letzte Wort. Das letzte Wort ist der Beschluss der demokratisch konstituierten Ausschüsse, und in diesen haben die Laien eine überwältigende Mehrheit.

Haben Laien die zum Fassen solcher Beschlüsse nötige Bildung ? Werden sie nicht groteske Irrtümer begehen? Ist es daher nicht nötig, grundlegende Probleme der Entscheidung eines Konsortiums von Fachleuten zu überlassen?

Sicher nicht in einer Demokratie.

Eine Demokratie ist eine Versammlung reifer Menschen und nicht eine Versammlung von Schafen, geleitet von einer kleinen Gruppe von Besserwissern. Reife fällt nicht vom Himmel, Reife muss erworben werden. Sie wird erworben durch Übernahme und Ausübung der Verantwortlichkeit für alle wichtigen Ereignisse und Entscheidungen im Staatswesen. Reife ist wichtiger als Spezialwissen, denn sie entscheidet über die Anwendung und die Tragweite solchen Wissens. Ein Wissenschaftler nimmt natürlich an, dass nichts besser ist als die Wissenschaft. Die Bürger einer Demokratie können bei einem solchen frommen Glauben nicht stehen bleiben. Die Teilnahme von Laien an grundlegenden Beschlüssen ist daher selbst dann geboten, wenn sie die Erfolgsrate dieser Beschlüsse herabsetzt.

Gerade ein solcher Effekt ist aber nicht sehr wahrscheinlich. 

  1. Erstens kommen Fachleute in grundlegenden Fragen oft zu voneinander abweichenden Ergebnissen. Wer hat es nicht erlebt, dass ein Arzt eine Operation empfiehlt, ein zweiter sie ablehnt, während ein dritter eine von den beiden ersten ganz verschiedene Prozedur vorschlägt? Oder dass eine Gruppe von Experten die Sicherheit eines Kernreaktors garantiert, während eine andere Gruppe die Sicherheit bestreitet? In solchen Fällen liegt die Entscheidung in den Händen der betroffenen Bürger, der Verwandten im ersten Fall, der Bewohner der umliegenden Städte und Dörfer im zweiten, das heißt sie liegt in den Händen von Laien. Aber ein einmütiges Urteil der Fachleute ist nicht weniger problematisch -- eine abweichende Meinung kann sich jeden Tag einstellen. Es ist die Aufgabe von Laien, nach solchen Meinungen zu suchen und im Falle ihrer Abwesenheit die Lage zu beurteilen. 
  2. Zweitens bedarf die Meinung der Fachleute eines Korrektivs, das sie an die von den Bedürfnissen der Wissenschaften verschiedenen Bedürfnisse des Alltags angleicht und die Fehler aufdeckt, die beim Verfolgen spezielle Wege unvermeidlich eintreten: Wissenschaftler halten sich oft an eine spezielle Ideologie, ihre Ergebnisse sind bedingt durch die Prinzipien dieser Ideologie. Die Ideologie wird nur selten untersucht. Sie wird entweder nicht bemerkt, oder sie gilt als zweifellos richtig, oder sie ist so in die Forschung eingebaut, dass jede kritische Untersuchung zu ihrer Bestätigung führen muß. Eine solche tugendhafte Engstirnigkeit stört nicht den Verkehr mit dem Kollegen vom Fach, ganz im Gegenteil, sie macht diesen Verkehr erst möglich. Bei der Diskussion von Problemen des Unterrichts (zum Beispiel: sollen wir Darwin lehren, oder Genesis, oder beides?) oder des Aufbaus sozialer Institutionen (zum Beispiel: ist das Zusammenleben der Menschen nach den Prinzipien des Behaviorismus, oder der Genetik, oder des Christentums zu regeln?) oder fundamentaler Annahmen der Wissenschaften selbst (zum Beispiel: ist die Kausalität ein grundlegendes Erklärungsprinzip wissenschaftlichen Denkens ?) wird sie aber selbst Gegenstand der Untersuchung. Niemand ist zu dieser Untersuchung besser geeignet als ein Außenstehender, d. h. ein kluger und lernwilliger Laie

Betrachten wir das Verfahren eines Schwurgerichts. Das Gesetz verlangt, dass die Aussage von Experten der Analyse des Verteidigers und dem Urteil der Geschworenen unterworfen werde. Dieser Regelung liegt die Annahme zugrunde, dass Experten auch nur Menschen sind, dass sie oft Fehler machen, dass die Quelle ihres Wissens nicht so unzugänglich ist, wie sie vorgeben, und dass jeder Laie sich durch Studium in wenigen Wochen die zum Verständnis und zur Kritik einer bestimmten wissenschaftlichen Aussage nötigen Kenntnisse aneignen kann. Zahlreiche Gerichtsverhandlungen zeigen die Wahrheit dieser Annahme. Eingebildete und furchterregende Gelehrte, bedeckt mit Ehrendoktoraten, Lehrstühlen, Präsidentschaften wissenschaftlicher Organisationen, gesalbt durch ein langjähriges Studium ihres Spezialfaches, das sie fast schon bis an die Sterne zu entrücken scheint, werden durch die unschuldigen Fragen eines Anwalts zu Fall gebracht, der das Talent hat, den eindrucksvollsten Fachjargon zu durchschauen und dem erfolgreichsten Besserwisser auf die Spur zu kommen. Und bedenke, lieber Leser, dass sich dieses Talent nicht nur bei hochbezahlten Großstadtanwälten findet, denen wissenschaftliche Freunde und ein Stab von Spezialisten bei der Vorbereitung jedes Falles helfen, sondern selbst beim kleinsten Dorfadvokaten: die natürliche Schläue des Menschengeschlechts ist der Wissenschaft durchaus gewachsen.

Wir sehen, es gibt sowohl allgemein politische als auch besondere praktische Gründe gegen die Ausbreitung der Autorität der Wissenschaft. In allgemeinen Fragen ist die Autorität demokratischer Beschlüsse immer höher anzusetzen als die Autorität des besten Fachmannes und der glänzendsten Versammlung von Wissenschaftlern. Die Gründe für die Beschränkung der Wissenschaft und des Rationalismus sind aber damit noch lange nicht erschöpft.

Spezielle Fragen, so argumentieren unsere Gelehrten, müssen von Spezialisten behandelt werden und nach den in den Spezialfächern üblichen Methoden. Damit meinen sie nicht etwa, dass astrologische Probleme dem Astrologen, Probleme der Akupunktur dem Kenner des Nei Ching, Probleme der Beeinflussung von Mitmenschen unter anderem auch dem Wodu-Fachmann zu unterbreiten sind und dass man diese Experten, denn das sind sie ja, in Erziehungsfragen und in Fragen des Aufbaus der Gesellschaft konsultieren soll -- oh nein! Alle diese Probleme müssen dem entsprechenden Wissenschaftler zur Behandlung übergeben werden. Das wäre ein etwas undemokratisches, aber weiter nicht schädliches Vorgehen, wenn der Wissenschaftler nur wüsste, wovon in den usurpierten Disziplinen die Rede ist. Gerade das ist aber nicht der Fall. Während ein Wissenschaftler in seinem eigenen Fach jahrelang zögert und zaudert, bevor er eine Entdeckung publiziert oder ein Grundprinzip angreift, reichen die lächerlichsten Argumente und ein Minimum von Studium aus, um einem Mythos oder einer nicht-wissenschaftlichen Kosmologie den Garaus zu machen. Die Argumente sind entweder allgemein oder spezifisch. Allgemeine Argumente bestehen etwa in der Bemerkung, dass die kritisierten Ideen nicht auf wissenschaftliche Weise gewonnen wurden und daher unbrauchbar sind. Das setzt voraus, dass es so etwas wie eine »Methode der Wissenschaft« gibt und dass sie allein zu Resultaten führt. Fragt man Wissenschaftler, worin die angebliche Methode besteht, dann erhält man die verschiedensten Antworten, und diese Antworten zeigen, dass Wissenschaftler nur selten wissen, was sie im Verlauf ihrer eigenen Forschung tun. Warum sollen wir ihnen glauben, wenn sie zu beurteilen versuchen, was andere tun? Der zweite Teil der Voraussetzung aber, dass nur die Wissenschaft Resultate hat, ist ganz offenkundig falsch. Jede Ideologie, jede Lebensform hat Resultate. »Aber«, so lautet der Einwand, »nicht die gewünschten Resultate«. Hat die Wissenschaft immer die gewünschten Resultate? Und gelingt es nicht umgekehrt dem Praktiker des Wodu oder der Chinesischen Medizin, den Tod eines Feindes oder die Heilung funktioneller Erkrankungen herbeizuführen ?

Der letzte Fall ist besonders lehrreich. Exotische Schulen der Medizin können Krankheiten diagnostizieren und heilen, die dem westlichen Mediziner unzugänglich sind und deren Verlauf er nicht versteht. Noch entscheidender sind die Ergebnisse der neueren Archäologie und Anthropologie. Sie zeigen, dass moderne »Primitive« und der Mensch der Urzeit (ältere Steinzeit und später) uns bekannte Beziehungen und Vorgänge, wie etwa die Präzession der Aquinoktien, auf ungewöhnliche Weise dargestellt und unbekannte, der Wissenschaft unzugängliche Beziehungen aufgrund dieser besonderen Darstellungsweise entdeckt haben. Darstellungsweise und Methode sind in einem Mythos vereinigt, der den Einzelmenschen an den Stamm bindet und seinem Leben einen Sinn verleiht. Dieser Mythos ist also nicht nur Lebensweisheit, er ist auch ein Repositorium von Kenntnissen, die man in der Wissenschaft nicht findet, obwohl man die Wissenschaft, wie auch jeden anderen Mythos, durch ihre Übernahme bereichern und verändern kann. Der Übernahmeprozess hat bereits begonnen. Und die Behauptung der Wissenschaftler, allein brauchbare Methoden und Erkenntnisse zu besitzen, erweist sich damit als ein Zeichen nicht nur ihrer Einbildung, sondern auch ihrer Ignoranz." [S.12 - 23]

Auf diesem geistigen Hintergrund und anderen Hintergründen entstand in den USA (und Kanada) eine Kultur des Multikulturalismus, d.h. man sah ein, dass es vor allem

europäischstämmige, meist protestantische Weiße der Mittelschicht

sind (bzw. waren), die in Amerika bestimmten

ist. 

Demgegenüber trat ein kultureller Relativismus, der dazu führte, dass z.B.


Abb.: Logo der University of Nebraska-Lincoln für Ethnic Studies -- Multicultural Studies
[Quelle: http://class.unl.edu/final_web/courses/socialstudies/c019ethnicstudies/c019ethnicstudies.htm. -- Zugriff am 2001-04-24]

Selbstverständlich führte auch Multikulturalismus zu mancherlei Torheiten und Intoleranz (gegen die anders als die Multikultis Denkenden). 

Was hat das alles mit Anstand zu tun? Multikulturalismus ist eine Ausprägung des Anstands im von uns definierten Sinne als

Allerdings muss eine solche Haltung keineswegs auf einem radikalen Relativismus à la Feyerabend beruhen. Es genügt Toleranz wie sie Voltaire (1694 - 1778) 1764 im Dictionaire philosophique portativ definiert hat:

Qu'est-ce que la toérance? C'est l'apanage de l'homanité. Nous sommes tous pétris de faiblesses et d'erreurs; pardonnons-nous réciproquement nos sottises,  c'est la première loi de la nature.

Qu'à la bourse d'Amsterdam, de Londres, ou de
Surate, ou de Bassora, le guèbre, le banian, le juif,
le mahométan, le déicole chinois, le bramin, le chrétien grec, le chrétien romain, le chrétien Protestant, le chrétien quaker trafiquent ensemble; ils ne lèveront pas le poignard les uns sur les autres pour gagner des âmes à leur religion. Pourquoi donc nous sommes-nous égorgés presque sans Interruption depuis le Premier concile de Nicée?"

"Was ist das Toleranz? Es ist die schönste Gabe der Menschlichkeit. Wir sind alle voller Schwächen und Irrtümer; vergeben wir uns also gegenseitig unsere Torheiten. Das ist das erste Gebot der Natur.

Wenn an der Börse in Amsterdam, in London, in Surat oder Basra der Anhänger Zarathustras, der an die Seelenwanderung glaubende Inder, der Jude, der Mohammedaner, der gottesfürchtige Chinese, der Brahmane, der griechische, der römische, der protestantische und der Quäker-Christ miteinander Handel treiben, heben sie ja auch nicht den Dolch gegeneinander, um für ihre Religion Seelen zu gewinnen. Warum haben wir uns dann seit dem Nizänischen Konzil [325 n. Chr.] fast ohne Unterbrechung umgebracht?"

[Zitat und Übersetzung: Voltaire <1694 - 1778>: 16 Artikel aus dem philosophischen Taschenwörterbuch = 16 articles du dictionnaire philosophique portatif. -- Ebenhausen b. München : Langewiesche-Brandt, 1966. -- (Edition Langewiesche-Brandt ; 84). -- S. 88 - 91. -- Originaltitel: Dictionnaire philosophique portatif (1764)]

Webportale:


Zu Kapitel 11: Wohnung und Privatsphäre