Internationale Kommunikationskulturen

13. Kulturelle Faktoren: "Aberglauben" und Religion

3. Zum Beispiel: Religion in den USA
2. Teil 2: Religion als Kommunikationshindernis


von Margarete Payer

mailto: payer@hdm-stuttgart.de


Zitierweise / cite as:

Payer, Margarete <1942 - >: Internationale Kommunikationskulturen. -- 13. Kulturelle Faktoren: "Aberglauben" und Religion. -- 3. Zum Beispiel: Religion in den USA. -- 2. Teil 2: Religion als Kommunikationshindernis -- Fassung vom 2002-03-15. -- URL: http://www.payer.de/kommkulturen/kultur1332.htm. -- [Stichwort].

Erstmals publiziert: 2002-03-15

Überarbeitungen:

Anlass: Lehrveranstaltung, HBI Stuttgart, 2000/2001

Unterrichtsmaterialien (gemäß § 46 (1) UrhG)

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Dieser Text ist Teil der Abteilung Länder und Kulturen von Tüpfli's Global Village Library


0. Übersicht



1. Einleitung


Religion als Kommunikationshindernis in den USA zeigt sich vor allem 

Obwohl entsprechende Phänomene in allen Religionen (Christen, Muslimen, Buddhisten, Hindus usw.) der  USA zu finden sind, beschränkt sich dieser Abschnitt auf christliche Denominationen.

Für einen weltweite Behandlung von "Fundamentalismen" in den verschiedensten Religionen ist unentbehrlich:

The Fundamentalism project / edited by Martin E. Marty and R. Scott Appleby ; a study conducted by the American Academy of Arts and Sciences. -- Chicago : University of Chicago Press
Vol. 1.  -- Fundamentalisms observed. -- 1991. -- 872 S. -- ISBN 0226508773. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}
Vol. 2. -- Fundamentalisms and society. -- 1993. -- 592 S. --  ISBN 0226508803. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}
Vol. 3. -- Fundamentalisms and the state. -- 1993. -- 655 S. -- ISBN 0226508838. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}
Vol. 4. -- Accounting for fundamentalisms. -- 1994. -- 852 S. -- ISBN 0226508854. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}
Vol. 5. -- Fundamentalisms comprehended. -- 1995. -- 522 S. -- ISBN 0226508870. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}

In diesen Bänden werden auch die verschiedenen Aspekte amerikanischer Fundamentalismen ausführlich und fachkundig behandelt.


2. Die Kluft zwischen liberalen und konservativen Christen


"Gegen Ende einer Kirchenkonferenz, die 1984 in Chicago stattfand, bekannte ein liberaler Pfarrer, die Versammlung sei für ihn eine einzigartige Erfahrung gewesen. Es sei -- wie nur selten -- eine echte Kommunikation zwischen liberalen und konservativen Christen zustandegekommen. Diese Bemerkung löste eine landesweite Untersuchung aus, die feststellen sollte, wie es um die wechselseitigen Beziehungen zwischen Menschen mit liberalen und mit konservativen religiösen Ansichten bestellt war. Die Ergebnisse waren bemerkenswert, wenn auch nicht ganz unerwartet.

Die Mehrheit der Befragten war tatsächlich der Meinung, es gäbe zwischen liberalen und konservativen Gläubigen ernsthafte Differenzen. Diese Differenzen, so erklärten sie, wurzelten in der jeweiligen Vergangenheit der Menschen und in grundlegenden Meinungsverschiedenheiten über Glaubensangelegenheiten. Auch widersprüchliche Ansichten über soziale Fragen, unterschiedliche Gottesdienstformen, historische Divergenzen und die jeweils eigenen Persönlichkeiten und das Selbstverständnis wurden für die unterschiedlichen Auffassungen verantwortlich gemacht.

In der Art, wie sie antworteten waren Aspekte der Spannungen zwischen liberalen und konservativen Gläubigen zu erkennen. Personen, die sich als liberal bezeichneten, neigten dazu, ihre konservativen Glaubensgeschwister als intolerant, moralisch verknöchert, fanatisch, unkultiviert, engstirnig und naiv zu typisieren. Die feindseligen Äußerungen der Gegenseite waren genauso übertrieben. Diejenigen, die sich als konservativ betrachteten, beschrieben die Liberalen als Menschen mit loser Moral, die sich zu sehr auf soziale Fragen versteiften und keine Ahnung hätten, worum es im Christentum eigentlich geht, die nur eine oberflächliche Bibelkenntnis besäßen und stark durch weltlichen Humanismus beeinflusst seien.

Im Gegensatz zur Auffassung des Pfarrers aus Chicago ergab die Untersuchung, dass liberale und konservative Gläubige mehr oder weniger regelmäßig miteinander zu tun hatten. Die meisten Konservativen gaben an, sie hätten persönlich mit Liberalen zumindest »einigermaßen viel« Kontakt gehabt. Ähnlich viele Liberale sagten dasselbe über ihre Kontakte mit Konservativen. Beide Lager benannten Freunde, Nachbarn und Menschen aus ihrer jeweiligen Kirchengemeinde als Anhänger der theologischen Gegenseite, mit denen sie häufig in Berührung kamen. Die Art dieser Kontakte ließ allerdings viel zu wünschen übrig. Nur ein Drittel der liberalen Gläubigen bezeichnete ihren Umgang mit Konservativen als überwiegend angenehm. Die übrigen beschrieben ihre Kontakte als zwiespältig oder unangenehm. Auch für etwa sechs von zehn konservativen Gläubigen war ihr Verhältnis zu Liberalen unangenehm oder bestenfalls zwiespältig.

Die Untersuchung bestätigte also, worüber schon oft spekuliert worden war, dass eine tiefe Spaltung innerhalb der amerikanischen Religion bestand, ein Graben zwischen selbsternannten theologisch »Konservativen« beziehungsweise »Liberalen«, die jeweils das Verhältnis zum anderen Lager als deutlich gespannt beschrieben. Zu den wechselseitigen Vorurteilen, stereotypen Vorstellungen und unerfreulichen Kontakten, welche diese Beziehungen kennzeichneten, kamen noch tiefe Unterschiede der jeweiligen religiösen, moralischen, sozialen und politischen Orientierung hinzu. Die Konservativen blieben ihrem Etikett treu und bekannten sich zu doktrinär orthodoxen biblischen und theologischen Anschauungen, zu harten Standpunkten bezüglich Abtreibung und Pornographie und zu politisch konservativen Ansichten über Staatsausgaben und Verteidigung. Die Liberalen hatten zu all diesen Themen völlig andere Ansichten. Darüber hinaus belegte die Untersuchung, dass die Bevölkerung sich beinahe gleichmäßig auf diese beiden Lager aufteilte: 43 Prozent der Befragten identifizierten sich als theologisch liberal (19 Prozent als sehr liberal), 41 Prozent als konservativ (18 Prozent als sehr konservativ), und nur 16 Prozent konnten sich nicht auf die eine oder andere Bezeichnung festlegen. Die Untersuchung dokumentierte auch noch eine Vielzahl anderer potentieller Brüche in der amerikanischen Öffentlichkeit, doch keiner war nur annähernd so gravierend wie derjenige zwischen theologisch Liberalen und Konservativen.

Die Ergebnisse solcher Umfragen sind natürlich mit Vorsicht zu betrachten. Die Befrager können die Ergebnisse beeinflussen, indem sie in ihre Fragen bestimmte Prämissen einbauen. Doch gibt es auch von anderer Seite genügend Belege für die Feindseligkeit zwischen konservativen und liberalen Gläubigen, die diese Ergebnisse mehr als glaubhaft erscheinen lassen. So beschreibt beispielsweise ein Kirchenbeamter etwa denselben Bruch, den auch die Umfrage aufzeigt:

»Die Liberalen hassen den Dünkel, die Selbstgerechtigkeit, die scheinbar absolute Gewissheit, die ständige Aburteilung und die Lieblosigkeit eines engen, dogmatischen Glaubens. [Die Konservativen] verachten die Unbestimmtheit, die gummiartigen Überzeugungen, das alles Überwölbende, das eine formale Mitgliedschaft bedeutungslos macht, die »Alles-ist-erlaubt«-Haltung, die sogar die Heilige Schrift als relativ ansieht. Beide Anschauungen karikieren häufig das Schlimmste der jeweils anderen Seite, und versäumen es, das Beste wahrzunehmen.«

Die Kirchenführer beider Seiten beschimpfen die jeweils andere. Beide verfügen über Interessengruppen, die sich für die eigene Seite einsetzen und die Bemühungen der Gegenseite aufhalten möchten. Die Nachrichtenmedien freuen sich natürlich über die Sensation, dass fromme Gläubige auf diese Weise aufeinander einprügeln.«

[Wuthnow, Robert: Der Wandel der religiösen Landschaft in den USA seit dem zweiten Weltkrieg. -- Würzburg : Ergon, ©1996. -- (Religion in der Gesellschaft ; Bd. 2). -- ISBN 3932004051. -- S. 151 - 153. -- Originaltitel: The restructuring of American religion (1988). -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]


3. Evangelikale und Fundamentalisten


Man muss sich davor hüten, zu erwarten, amerikanische konservative Christen seien an einem konservativen Äußeren (lange Röcke, Dutt oder dergl.) erkennbar. Berit Bretthauer, eine Pastorentochter aus der DDR, beschreibt sehr anschaulich, welche stereotypen Vorstellungen sie revidieren musste:

"So überraschte mich beispielsweise die Nähe der »persönlichen Fassade« von konservativen Christen und liberalen Amerikanern. Auf der Suche nach Kostümen mit langen Röcken war ich im Herbst 1995 vergeblich in die Fachgeschäfte der Berliner Innenstadt geeilt, nur um festzustellen, dass die Mitarbeiterinnen des charismatischen Fundamentalisten Robertson selbst modisch kurze Röcke trugen. Auch die eigens für die Forschungsreise gewählte längere Haarfrisur war keineswegs typisch für die Aktivistinnen der Telekirchen. Im Gegenteil, viele der Mitarbeiterinnen und weiblichen Mitglieder der untersuchten Netzwerke folgten in Kleidung und Haarfrisur den aktuellen amerikanischen Modetrends. 

Es wäre jedoch ein Irrtum, von der modischen Kleidung auf die liberalen Einstellungen ihrer Trägerinnen zu schließen. Eine jugendliche Interviewpartnerin mit auffällig kurzem Kleid und stark geschminktem Gesicht berichtete z.B., dass sie geschworen habe, als Jungfrau zu heiraten. Ähnliches teilte mir eine im äußeren Erscheinungsbild eher der »Techno«-Szene nahestehende junge Frau aus Robert Schullers Gemeinde mit. Die modische Selbstpräsentation dieser weiblichen Aktivistinnen des konservativen Protestantismus kann also durchaus mit traditionellen Moralvorstellungen wie beispielsweise der vorehelichen Keuschheit einhergehen. Meine Verwirrung ob dieser Kontraste machte deutlich, dass ich mich tatsächlich in einem fremden Milieu bewegte, in dem eigene, aus Erfahrung gewonnene Deutungen nicht greifen würden."

[Bretthauer, Berit: Televangelismus in den USA : Religion zwischen Individualisierung und Vergemeinschaftung. -- Frankfurt/Main [u.a.] : Campus, ©1999. -- Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1998. -- ISBN 3593362171. -- S. 162f. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]

Im Zusammenhang mit dem konservativen amerikanischen Christentum stößt man immer wieder auf die Begriffe "Fundamentalisten" und "Evangelikale". Meist werden beide Begriffe nicht scharf voneinander abgehoben, denn beiden gemeinsam ist die Ablehnung des theologischen -- besonders bibelwissenschaftlichen -- Modernismus. Wenn man aber unterscheiden will, dann so

Wichtigstes gemeinsames -- fundamentales --  Grundprinzip der Evangelikalen und Fundamentalisten (im engeren Sinn) ist der Glaube an die Unfehlbarkeit des buchstäblichen Wortlauts der Bibel. Deswegen sind sie


3.1. Dispensationalismus und Millenarismus


"Es braucht nicht viel, um mich davon zu überzeugen, dass ... die Menschheit auf einem winzigen Felsvorsprung über dem Abgrund völliger Vernichtung steht und dass in den nächsten zehn oder vielleicht fünf Jahren ein Atomkrieg stattfinden wird, der diesen Felsvorsprung zerschmettern und unsere gegenwärtige Epoche beenden wird." Viele seiner Glaubensgeschwister, sagte er, seien zu der Ansicht gekommen, dass nicht mehr viel Zeit sei - so wenig Zeit, dass man nichts weiter tun könne als vor dem Jüngsten Gericht noch ein paar Seelen zu retten. Sie seien der Ansicht, „dass das Feuer im Haus der Menschheit außer Kontrolle geraten ist, und anstatt unsere Kraft zu vergeuden, indem wir es mit Wasser zu löschen versuchen oder indem wir als Ersatz für die brennenden Zimmer neue Räume an das Haus anbauen, müssen wir alle Bestrebungen darauf richten, möglichst viel vom Mobiliar zu retten."

Ein junger Wissenschafter, der im Rahmen des Manhattan-Projekts an der Entwicklung der Atombombe beteiligt gewesen und selbst ein konservativer Protestant war, 1948

[Zitiert und übersetzt in: Wuthnow, Robert: Der Wandel der religiösen Landschaft in den USA seit dem zweiten Weltkrieg. -- Würzburg : Ergon, ©1996. -- (Religion in der Gesellschaft ; Bd. 2). -- ISBN 3932004051. -- S. 46f. -- Originaltitel: The restructuring of American religion (1988). -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]

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Abb.: Chart of dispensations [Quelle: http://www.e-grace.net/chart.html. -- Zugriff am 2001-06-27]

"Der Dispensationalismus, um 1820 in der kleinen Sekte Plymouth Brethren in England und Irland entstanden und von John Nelson Darby nach 1859 in die Vereinigten Staaten exportiert, bettete ältere religiöse Traditionen prämillenaren Denkens in ein religiöses Stufenmodell ein. Ein Verständnis des Dispensationalismus ist nur möglich, wenn man die Unterschiede zwischen prä- und postmillenaren Orientierungen beachtet: Sowohl der Prä- als auch der Postmillenarismus sind innerhalb des breiten evangelikalen Spektrums der USA beheimatet. Sie unterscheiden sich vor allem in ihren Prophezeiungen über den Zeitpunkt der Rückkehr Jesu auf die Erde. Beide Prophetien gehören dem Millenarismus oder auch Chiliasmus an. 

Der Millenarismus ist der Glaube an das unmittelbar bevorstehende Weltenende, dem eine neue, perfekte und harmonische Welt folgt. 

  • Die Postmillenaristen glauben nun, dass dieses tausendjährige Reich der Glückseligkeit eine Zeit irdischen Wohlergehens sei, nach deren Ende Christus zur Erde zurückkehren werde. Sie setzen daher auf politische und soziale Reformen, um die Welt dem angestrebten »Himmelreich auf Erden« nahezubringen. 
  • Der Prämillenarismus hingegen vertritt die Annahme, dass jenes göttliche Reich nicht auf Erden, sondern als himmlisches Reich erst nach der Rückkehr Jesu auf die Erde beginnen werde. Vor dem Millennium sei jedoch der vollständige Verfall der Welt und der Sieg des Antichrist zu erwarten. Prämillenaristen sind daher kulturpessimistisch gestimmt und lehnen politische Aktivität in der dem Untergang geweihten Welt ab. 

Die Vertreter des Dispensationalismus gehörten zu den weltabgewandten Prämillenaristen. Sie stellten sich die menschliche Geschichte als Abfolge verschiedener Stufen -- Dispensationen -- vor. Die Scofield Reference Bibel zählte sieben Dispensationen: 

  1. Unschuld, 
  2. Gewissen, 
  3. menschliche Regierung,
  4. Versprechen, 
  5. Gesetz, 
  6. Gnade und 
  7. das Millennium. 


Abb.: Dispensations of the Bible [Quelle: http://www.matthewmcgee.org/dispensa.gif. -- Zugriff am 2001-06-27]

In jeder Dispensation galten andere Grundregeln, die Gott zur Anleitung des menschlichen Handelns setzte. Diese Unterteilung der Geschichte in unterschiedliche Stufen stellte keine religionshistorisch bedeutsame Neuerung dar. Auch andere religiöse Gruppierungen wie z.B. die Siebenten-Tags-Adventisten hatten Stufenmodelle der menschlichen Erlösungsgeschichte entwickelt.

Der Dispensationalismus war allerdings durch wichtige Innovationen in anderen Bereichen gekennzeichnet. Seine Vertreter setzten sich für eine buchstabengetreue Interpretation der biblischen Vorhersagen ein. Außerdem trennten sie zwischen der Kirche und dem Volke Israel. Diese strikte Unterscheidung zwischen himmlischem und irdischem Volk hatte weitreichende Konsequenzen. Das gesamte dispensationalistische System basierte auf der Überzeugung, dass Gott verschiedene Pläne für das irdische Volk (Israel) und sein himmlisches Volk (die Kirche) umsetzen wollte: Nachdem das »auserwählte Volk« Gott zunächst in der Person Jesus Christus verraten hatte, gründete dieser ein neues, himmlisches Volk -- die Kirche. Die Dispensationen bildeten nur verschiedene Stufen in der Geschichte des irdischen Volkes. Über die Kirche hingegen stellten die Dispensationalisten keine Prophetien auf, mit einer Ausnahme: 

Wie alle futuristischen Prämillenaristen glaubten die Dispensationalisten an 

  • die »tribulation« (Herrschaft des Antichrist) und 
  • die »rapture« (Aufstieg der wahren Gläubigen in den Himmel). 

Da die Dispensationalisten jedoch das Geschick des irdischen und des himmlischen Volkes trennten, konnte die Herrschaft des Antichrist nicht die Kirche treffen, sondern nur das irdische Volk. Die »kleine Schar der Gläubigen« würde in der »pretribulational rapture« -- bereits vor der Ankunft des Antichrist -- stillschweigend in den Himmel abberufen werden. 

Dieser Gedanke stellte eine Innovation dar. Während zuvor immer behauptet wurde, auch die Gläubigen müssten die Herrschaft des Antichrist durchleben, prophezeite der Dispensationalismus nun den »wahren Christen« persönliche Erlösung noch vor den zu erwartenden Weltendramen. Die Anhänger des Dispensationalismus rechneten jederzeit und ohne Vorwarnungen mit ihrer »Himmelfahrt«. Ihre Idee von der »pretribulational rapture« wurde auch »doctrine of any moment coming« genannt und besagte, dass Jesus augenblicklich die Gläubigen zu sich in den Himmel rufen und die Ungläubigen der Herrschaft des Antichristen überlassen könne. Es überrascht daher kaum, dass die Dispensationalisten der Mission oberste Priorität einräumten. Angesichts des unmittelbar bevorstehenden Weltenendes ging es ihnen darum, so viele Seelen zu retten wie möglich.

Die eindeutige Trennung von Kirche und irdischem Volk prägte den Dispensationalismus auch in anderer Hinsicht. Angesichts des erwarteten Weltuntergangs machte es für die Dispensationalisten keinen Sinn, feste religiöse Institutionen aufzubauen. Die wahre Kirche wurde nicht als etablierte religiöse Gemeinschaft gedacht, sondern als eine Versammlung individueller Gläubiger, die sich in der Erwartung ihrer bevorstehenden Erlösung zusammenfanden. Dieses Kirchenverständnis des Dispensationalismus hat mit dazu beigetragen, dass sich die fundamentalistische Bewegung bis heute eher in unabhängigen Gemeinden organisiert als in größeren Denominationen. Dies ist eine entscheidende Stärke des Fundamentalismus. In der amerikanischen Gesellschaft, die in wachsendem Maße durch ein voluntaristisches Verhältnis zur Religion gekennzeichnet ist, besitzt diese Abgrenzung von den etablierten Kirchen eine zunehmende Attraktivität. Das individualistische Glaubensverständnis brachte die fundamentalistische Bewegung außerdem in Verbindung mit der Heiligungslehre, die zeitgleich enormen Einfluss in den USA erlangte.

Abb.: Drei Ansichten zu Rapture: pre-tribunational, mid-tibunational, post-tribunational [Quelle der Abb.: http://www.bprc.org/mapchart/rapchart.html. -- Zugriff am 2001-06-27]

Der Dispensationalismus unterschied sich von anderen millenaren Prophetien jedoch nicht nur durch die Doktrin der »pretribulational rapture« oder durch eine gewisse Kirchenskepsis; die Dispensationalisten propagierten auch die buchstäbliche Gültigkeit der einzelnen Bibelstellen. Damit wichen sie von der bildlichen oder symbolischen Deutung der Bibel durch andere religiöse Strömungen ab. Der Glaube an die umfassende Autorität der Bibel war natürlich keine Erfindung des Dispensationalismus, sondern im evangelikalen Lager weit verbreitet. Auch die Puritaner traten bereits für eine buchstabengetreue Deutung der Bibel ein. Im Unterschied zu den Puritanern behaupteten die Dispensationalisten aber, ihre eigenen Klassifikationen direkt in der Bibel vorzufinden. Die Trennung von Kirche und irdischem Volk, die sieben Dispensationen und zwei Auferstehungen galten ihnen als biblische Vorgaben. Als die göttliche Inspiration der Bibel später zum Gegenstand theologischen Disputes wurde, brachte die strenge Buchstabengläubigkeit den Dispensationalisten viele neue Anhänger aus dem konservativ-protestantischen Spektrum."

[Bretthauer, Berit: Televangelismus in den USA : Religion zwischen Individualisierung und Vergemeinschaftung. -- Frankfurt/Main [u.a.] : Campus, ©1999. -- Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1998. -- ISBN 3593362171. -- S. 63 .- 66. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]

(1)Zu jener Zeit wird (a) Michael, der große Engelfürst, der für dein Volk eintritt, sich aufmachen. Denn (b) es wird eine Zeit so großer Trübsal sein, wie sie nie gewesen ist, seitdem es Menschen gibt, bis zu jener Zeit. Aber zu jener Zeit wird dein Volk errettet werden, alle, die (c) im Buch geschrieben stehen.
(2)Und viele, die unter der Erde schlafen liegen, werden aufwachen, (a) die einen zum ewigen Leben, die andern zu ewiger Schmach und Schande.
(3)Und (a) die da lehren, werden leuchten wie des Himmels Glanz, und (b) die viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich.
(4)Und du, Daniel, verbirg diese Worte, und (a) versiegle dies Buch bis auf die letzte Zeit. Viele werden es dann durchforschen und große Erkenntnis finden.
(5)Und ich, Daniel, sah, und siehe, es standen zwei andere da, einer an diesem Ufer des Stroms, der andere an jenem Ufer.
(6)Und er sprach zu dem Mann in (a) leinenen Kleidern, der über den Wassern des Stroms stand: Wann sollen denn diese großen Wunder geschehen?
(7)Und ich hörte den Mann in leinenen Kleidern, der über den Wassern des Stroms stand. Er hob seine rechte und linke Hand auf gen Himmel und schwor bei dem, der ewiglich lebt, dass es (a) eine Zeit und zwei Zeiten und eine halbe Zeit währen soll; und wenn die Zerstreuung des heiligen Volks ein Ende hat, soll dies alles geschehen.
(8)Und ich hörte es, aber ich verstand's nicht und sprach: Mein Herr, was wird das Letzte davon sein?
(9)Er aber sprach: Geh hin, Daniel; denn es ist verborgen und versiegelt bis auf die letzte Zeit.
(10)Viele werden gereinigt, geläutert und geprüft werden, aber die Gottlosen werden gottlos handeln; alle Gottlosen werden's nicht verstehen, aber die Verständigen werden's verstehen.
(11)Und von der Zeit an, da (a) das tägliche Opfer abgeschafft und das Gräuelbild der Verwüstung aufgestellt wird, sind tausendzweihundertneunzig Tage.
(12)Wohl dem, der da wartet und erreicht tausenddreihundertfünfunddreißig Tage!
(13)Du aber, Daniel, geh hin, bis das Ende kommt, und ruhe, bis du auferstehst zu deinem Erbteil am Ende der Tage!

Daniel 12

Vorbemerkung: im folgenden Text wird der Ausdruck Prämillenarismus in einem weiteren Sinn verwendet als in der zuvor gegebenen Definition.

"Diese buchstäbliche Interpretation [der Bibel] ist ein Herzstück des fundamentalistischen Denkens. Es führt ganz logisch zum Prämillenniarismus, zu der Überzeugung, die Wiederkunft Christi stehe jeden Moment bevor. Andere Auslegungsschulen müssen immer wieder behutsam zwischen wörtlichem und übertragenem Sinn auswählen, was ihre Anhänger dem Vorwurf der Unbeständigkeit aussetzt: wenn man zum Beispiel die Geschichte von Adam und Eva als Metapher ansieht, weshalb dann nicht auch die Auferstehung und die unbefleckte Empfängnis? Die Schlüsselpassagen für die Prämillenniaristen finden sich in den prophetischen Versen der Bücher Hesekiel, Daniel und in der Offenbarung; wenn diese 'Texte buchstäblich wahr sind -- und das müssen sie sein --, können sie sich nur auf zukünftige Ereignisse beziehen: auf die bevorstehende Schlacht von Harmagedon und auf die Rückkehr Christi als Herrscher der Welt.

Prämillenniaristische Gedanken sind seit langem in den missionarischen Flügeln der meisten protestantischen Konfessionen Amerikas verwurzelt. Sie werden von den zahllosen Bibelschulen und Bibelversammlungen verbreitet, die die Verteidiger der biblischen Unfehlbarkeitslehre gegründet haben. Das Wissen, dass die Welt in Kürze enden wird, verleiht dem Eifer des Predigers besondere Dringlichkeit: es wird zur philanthropischen Pflicht, so viele Seelen wie möglich zu retten, ehe das Tausendjährige Reich anbricht und alle nicht Erretteten in die Hölle kommen.

Der Prämillenniarismus ist alles andere als eine esoterische Doktrin, der nur eine Randgruppe von irregeleiteten Gelehrten anhängt. Im neunzehnten Jahrhundert entwickelten John Nelson Darby [1800 - 1882] und sein 1921 verstorbener Schüler Cyras Ingerson Scofield [1843 - 1921] das dazugehörige Weltuntergangs-Szenario, und 1970 erschien mit Hal Lindseys Alter Planet Erde wohin? eine modernisierte Fassung davon. 

Lindsey, Hal <1929 - >: The late great planet earth / by Hal Lindsey, with C. C. Carlson. -- Grand Rapids : Zondervan, [1970]. -- 192 S.

[Siehe den Videoclip: http://www.worshipradio.com/ZolaVideo.htm. -- Zugriff am 2001-07-28]

Dieser Roman wurde nach Angaben der Herausgeber in über 18 Millionen Exemplaren verkauft; nach der Scofield-Bibel ist es damit der wohl einflussreichste Text auf der Bücherliste der christlichen Rechten. Lindseys Buch ist eine Mischung aus biblischem Epos, Science fiction und Katastrophenfilm. Die erste Voraussetzung für die Erfüllung der Prophezeiungen ist demnach bereits dabei, sich zu erfüllen: »Das Volk der Juden wird seinen Staat wieder auf der alten Heimaterde in Palästina errichten«, ein von »ungläubigen Juden durch irdische Anstrengung« vollbrachtes Werk. Nach der Wiederherstellung des Tempels beginnt der siebenjährige »Countdown« bis zum Entscheidungskampf in Harmagedon. Diese Schlacht wird von der »größten Vernichtung gekennzeichnet sein, die der Mensch je über sich gebracht hat. Die Menschheit wird am Rande der Selbstzerstörung stehen, wenn auf einmal Christus wiederkehrt, um dem Krieg aller Kriege, der Harmagedon heißt, ein Ende zu setzen.« Danach folgt die Herrschaft des Antichristen, eines europäischen Diktators, der »die Regime von Hitler, Mao und Stalin im Vergleich dazu wie Pfadfinderinnen mit einem Kranz aus Gänseblümchen im Haar aussehen lassen wird«. Dem Antichristen wird »absolute Macht und die Kraft des Satans verliehen sein«. Der Antichrist wird den 144 000 Juden den Krieg erklären, die sich zum Glauben bekehren lassen, Jesus sei der Messias. » 144 000 jüdische Billy Grahams werden auf der Erde losgelassen sein«, schreibt Lindsey. »Nie zuvor wird die Erde eine Zeit der Evangelisierung wie diese erlebt haben.« Die wiedergeborenen Christen werden dann bereits verschwunden sein, da sie »entrückt« sind, also körperlich durch die Luft davongetragen wurden. »Ohne Zutun der Wissenschaft, ohne Raumanzüge oder interplanetare Raketen werden manche zu einem herrlichen Ort befördert werden, schöner und gewaltiger, als wir es je begreifen können.« Eine Beschreibung dieser erstaunlichen Begebenheit legt Lindsey einem Augenzeugen in den Mund: »Als ich gerade auf der Schnellstraße fuhr, geriet ich auf einmal in einen wahren Hexenkessel. Plötzlich begannen viele Autos ziellos durcheinander zu fahren, und in keinem einzigen saß ein Fahrer. Ich meine, es war einfach verrückt. Ich dachte, da wäre eine Invasion der Außerirdischen im Gange.« Aufkleber auf Autos in Dallas und anderen Städten des Südens verkünden oft Botschaften wie ACHTUNG: FAHRER LÖST SICH BEI ENTRÜCKUNG IN LUFT AUF.


Abb.: Tim La Haye [Bildquelle: http://www.timlahaye.org/about_ministry/index.php3?p=bio&section=Biography. -- Zugriff am 2001-07-28]

Einer der Hauptexponenten der Harmagedon-Theologie - abgesehen von Hal Lindsey - ist der Reverend Tim La Haye [Webpräsenz: http://www.timlahaye.org/. -- Zugriff am 2001-07-28]. Als ich La Haye im Dezember 1987 für den BBC World Service interviewte, hatte er gerade seine Baptistenkirche in San Diego für ein Büro in der Bundeshauptstadt aufgegeben, vermutlich um dem Zentrum der Macht näher zu sein. Er war ein nüchterner, würdevoller Mann in einem braunen Anzug. Sein Büro im achten Stock eines modernen Gebäudes auf der C Street von Washington D.C., mit weichen Flauschteppichen und gepflegten Sekretärinnen, war der letzte Ort, an dem man religiösen Extremismus erwartet hätte. La Haye selbst machte keineswegs den Eindruck eines Verrückten. Er wirkte wie jeder andere tüchtige, vernünftige Manager, der den Tag damit verbringt, an seinem Schreibtisch zu telephonieren und Briefe oder Protokolle zu diktieren. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Vorsitzender der »Amerikanischen Koalition für Traditionelle Werte« [Webpräsenz: http://www.traditionalvalues.org/. -- Zugriff am 2001-07-28], einer der größten Dachorganisationen der religiösen Rechten. Seine Gattin Beverly hilft ihm bei der Arbeit, indem sie den »Besorgten Frauen Amerikas« [Webpräsennz: http://www.cwfa.org/. -- Zugriff am 2001-07-28] vorsteht, einer landesweiten antifeministischen Anti-Abtreibungs-Bewegung. Nach Jerry Falwell sind die La Hayes vermutlich die einflussreichsten Gestalten in dem neuen, politisierten Fundamentalismus.

»Die Bibel sagt: 'Von dem Tage aber und der Stunde weiß niemand<', sagt La Haye. »Aber die Epoche können wir bestimmen. Wissen Sie, ich versuche, die Epoche des Untergangs sozusagen zu extrapolieren, und alle Anzeichen weisen darauf hin, dass wir vielleicht schon mitten darin leben. Eines der wichtigsten Anzeichen ist, dass Israel und Russland beide eine beherrschende Rolle in der Weltpolitik spielen, genau wie es die Propheten vor 2500 Jahren vorhergesagt haben. Bis zu unserer Generation war Russland ja eine völlig unwichtige Macht, und Israel hatte noch nicht einmal einen eigenen Staat.« Er zitierte dazu eine Passage aus Hesekiel über die Eroberung Israels aus dem Norden.

»In diesem Bibeltext«, erklärte er, »steht geschrieben, dass Gott auf übernatürliche Weise eingreifen wird, um Russland inmitten eines Angriffs auf Israel zu zerstören. Dann wird Israel, also das Judenreich, alles Kriegsgerät verbrennen. Aber wie in aller Welt wollen sie das ganze Metall, die Textilien und das Plastikzeug und all das verbrennen? Ich kann es Ihnen sagen: sie werden es mit Lasern verbrennen.«

Bestand nicht die Gefahr, fragte ich ihn, dass ein US-Präsident auf die Idee kommen könnte, selbst Gottes Werk zu tun, indem er Russland mit Hilfe von Kernwaffen zu vernichten suchte? Das Harmagedon-Szenario könnte eine solche Entwicklung ja durchaus ermutigen -- vor allem bei einem fundamentalistischen Präsidenten wie Pat Robertson, der damals gerade seine Kampagne als republikanischer Präsidentschaftskandidat betrieb. La Haye beeilte sich, mich zu beruhigen: »Ganz im Gegenteil«, sagte er. »Es finden sich mindestens acht Stellen in der Schrift, wo Gott es ganz deutlich macht, dass er Russland auf übernatürliche Weise zerstören wird, damit alle Welt erfährt, dass Er der Herr ist. Teilweise geht es einfach darum, seine übernatürliche Macht zu demonstrieren. Seit über 1950 Jahren hat es Gott gefallen, relativ stumm zu bleiben. Er hat immer erwartet, dass die Menschen an ihn und seinen Sohn allein aufgrund der biblischen Lehre glauben. Heute aber sehnen sich die Menschen danach, dass er ihnen ein Zeichen gibt. Ein Zeichen seiner Übernatürlichkeit, weil es so viele Skeptiker gibt. Natürlich glaube ich, dass Gott heute Wunder wirken kann. Aber es sind keine Eins-A-Reagenzglas-Wunder, die ich meinen weltlich-humanistischen Freunden zeigen kann, um ihnen zu sagen: 'Schaut her, da habt ihr den unwiderlegbaren Beweis, dass Gott existiert.' Aber wenn Er Russland auf übernatürliche Weise zerstört, dann erfährt dadurch die ganze Welt - über Satellit und Fernsehen -, dass es einen übernatürlichen Gott gibt, der schließlich doch noch seine Existenz demonstriert hat. In der Folge wird es eine gewaltige Hinwendung von Millionen Menschen zu Gott geben.«

Dieses Interview wurde am selben Tag geführt, an dem Michail Gorbatschow in Washington den Vertrag zur Verringerung der atomaren Mittelstreckenwaffen unterzeichnete."

[Ruthven, Malise <1942 - >: Der göttliche Supermarkt : auf der Suche nach der Seele Amerikas. -- Frankfurt a. M. : Fischer, ©1991. -- ISBN 3-10-068507-5. -- S. 197 - 200. -- Originaltitel: The divine supermarket : travels in search of the soul of America (1989)]


4. Die religiöse Rechte und die Politik der USA


Die "religiöse Rechte" versteht sich ausgezeichnet auf die Methoden des Lobbying und ist deswegen ein ernstzunehmender Faktor in der amerikanischen Innen- und Außenpolitik. Da diese Politik der einzigen wirklichen Weltmacht weltweit Rahmenbedingungen für Kommunikation (nicht nur dafür!) setzt, seien hier die wichtigsten Institutionen der religiösen Rechten der USA kurz genannt.

Die angegebenen Webpräsenzen geben einen guten Eindruck von den Zielen, Tätigkeiten und Methoden der "Religiösen Rechten".

Eine gute Quelle für die Tätigkeiten der religiösen Rechten ist die Webpräsenz der Anti-Religiöse-Rechte-Organisation:

People for the American Way. -- URL: http://www.pfaw.org/. -- Zugriff am 2001-07-28


Zu Kapitel 13, Teil 4: Zum Beispiel: Religionen in Indien