Internationale Kommunikationskulturen

13. Kulturelle Faktoren: "Aberglauben" und Religion

4. Zum Beispiel: Religionen in Indien
2. Teil 2: Religionen gegeneinander
2. Muslimfundamentalisten


von Margarete Payer

mailto: payer@hdm-stuttgart.de


Zitierweise / cite as:

Payer, Margarete <1942 - >: Internationale Kommunikationskulturen. -- 13. Kulturelle Faktoren: "Aberglauben" und Religion. -- 4. Zum Beispiel: Religionen in Indien. -- 2. Teil 2: Religionen gegeneinander. -- 2. Muslimfundamentalisten. --  Fassung vom 2002-03-15. -- URL: http://www.payer.de/kommkulturen/kultur13422.htm. -- [Stichwort].

Erstmals publiziert:  2002-03-15

Überarbeitungen:

Anlass: Lehrveranstaltung, HBI Stuttgart, 2000/2001

Unterrichtsmaterialien (gemäß § 46 (1) UrhG)

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1. Zum Beispiel: Rede von Ubedullah Khan Azmi, 1985


Als Beispiel für die Agitation von Muslimfundamentalisten diene eine Rede von Ubedullah Khan Azmi [geb. 1949], einem einflussreichen nordindischen Muslimführer [siehe seine Biodata: http://164.100.24.187:8080/members/biodata.asp?no=127&mpname=Azmi+Maulana+Obaidullah+Khan. -- Zugriff am 2001-07-20].


Abb.: Maulana Obaidullah Khan Azmi, Member of Rajya Sabha [Bildquelle: Pressestelle]

"Meine Wahl fiel auf diese 1985 gehaltene Rede, nicht weil sie in irgendeiner Weise bemerkenswert wäre, sondern gerade, weil sie es nicht ist. Es ist eine der üblichen Reden, die ein unbedeutendes Ereignis zum Anlass nimmt: In einem Distriktgericht in Rajasthan hat ein obskurer Hinduanwalt einen Antrag eingereicht mit dem Ziel, ein Verbot des Korans zu erreichen. Anders als Rithambras Rede [siehe oben] , die sich im Stil an der bardischen Erzähltradition im Hinduismus orientiert, ist Azmis Rede im traditionellen muslimischen Stil gehalten, mit Urduverspaaren als Einsprengsel für ein Publikum, das poetische Ausschmückungen bei seinen Rednern gern hat. Die im folgenden wiedergegebene Rede ist notwendigerweise gekürzt, jedoch nicht so überarbeitet, dass ihr wesentlicher Gehalt, die Bilder und die Gedankenabfolge geändert wären.

[Ich wünschte], ich hätte diesen Tag nicht erleben müssen. Dies sind die Nachkommen von Nathuram Godse (Gandhis Mörder), die da von einem Verbot des Korans reden. Die Kinder von Nathuram Godse träumen davon, die Babri-Moschee [in Ayodhya, siehe oben] zu besetzen. Ubedullah Khan Azmi erklärt offen: Schaut euch doch die Abstammung all der Verräter an von der Zeit des Mahatma Gandhi bis hin zu der von Indira Gandhi, und schaut euch dann die Abstammung derer an, die von 1945 bis 1985 loyal zu Indien standen. Für welches Verbrechen werden wir Muslime eigentlich bestraft? Unser Buch soll verboten werden, ebenso unser Familienrecht, sogar in unserer Lebensweise werden uns Beschränkungen auferlegt. Gebt nur acht, die Geschichte mag sich wiederholen. Vielleicht muss ja Balasaheb Desora noch das kalma lesen (d. h. Muslim werden), vielleicht muss auch Atal Bihari Vajpayee das kalma lesen, vielleicht muss dies sogar Rajiv Gandhi. [Desora leitete die RSS <Rashtriya Swayamsewak Sangh>, während Vajpayee ein prominenter Führer der BJP <Bharatiya Janata Party> ist.]

Zuweilen tauchen Sterne in den Wellen auf. Zuweilen führt Khalid Armeen an
Jedes Zeitalter erlebt den Aufstieg eines Yazid
Jedes Zeitalter ist Zeuge der Geburt eines Shabbir. 

[Khalid war der legendäre General der arabischen Armeen, die im siebten Jahrhundert alles eroberten. Yazid, der erste Muslimkönig, ist die Verkörperung des Bösen in der heiligen Geschichte des Islam, während Shabbir ein anderer Name für Hussain (dritter Imam der Shiiten), den Enkel des Propheten und den Antagonisten Yazids in der Schlacht von Karbala (680 n. Chr.), ist.]

Wie sehr haben wir diesem Lande gedient! Was haben wir nicht alles unternommen, um Freiheit für dieses Land zu erreichen! Dass uns Muslimen unter dem indischen Gesetz gleiche Rechte eingeräumt wurden, das war kein Almosen, sondern wir haben es uns verdient. Und jetzt wollen sie den Koran verbieten?! Wer führte denn das Land in die Unabhängigkeit? Jeder nennt Mahatma Gandhi den Vater der Nation. Gut, wir nennen ihn das auch. Und wer hat diesen 'Vater der Nation' gemordet? Nathuram Godse [ein Hindu]. Wer hat Indira Gandhi ermordet? Beant Singh und Satwant Singh [Sikhs]. Waren sie etwa Muslime? Ihr habt sie beide beseitigt.

Und da beklagt ihr euch noch über meine Treulosigkeit!

Ich soll nicht treu sein! Dann habt ihr aber auch nicht Sorge für mein Herz getragen. Wen haben wir denn beseitigt? Ich will euch einmal etwas sagen, da ihr uns «Pakistanis» nennt: Als Pakistans Panzer ins Land rollten, da zerstörten wir acht davon in Gestalt von Abdul Hamid [Held im indisch-pakistanischen Krieg von 1965]. Immer wenn das Land Opfer forderte, haben Muslime ihr Blut gegeben. In jeder kritischen Lage sind wir für den Schutz des Landes dagewesen, und jetzt -- bezweifelt ihr unsere Loyalität? Ihr sprecht von einem Verbot des Korans, der uns gelehrt hat, für die Ehre des Landes das Leben hinzugeben. Der Koran hat der Welt Disziplin gegeben. Der Koran gab selbst den Niedrigsten der Niedrigen das Recht, in Würde zu leben. Der Koran hat zuerst seine Stimme erhoben gegen die Kastenunterschiede. Der Koran hat zuerst die Unterschiede zwischen hoch und niedrig abgeschafft. Der Koran lehrte die Welt, dass der Mensch nicht groß wird aufgrund seiner Geburt, sondern aufgrund religiöser Tugend, Enthaltsamkeit und Wahrheit. Den Koran zu verbieten bedeutet die Realität zu verbieten, die Wahrheit zu verbieten. Diese Bestechlichen wollen, dass die Korruption weitergeht. Diese Wüstlinge wollen, dass der Ehre der Frauen Schande angetan wird. Diese Trunkenbolde wollen, dass die Plünderung Indiens weitergeht. Aber wenn die Leute den Koran kennenlernen, wenn sie die Gesetze des Korans verstehen, dann wird der Koran sowohl die Welt als auch die millat (die Religionsgemeinschaft der Muslime) erlösen.

Schon dass man darüber redet, den heiligen Koran zu verbieten, zeigt, was für gefährliche Verschwörungen ausgeheckt werden, um unserem Glauben Schaden zuzufügen.

Erwacht, ihr indischen Muslime, bevor ihr vollkommen verschwindet
Und selbst eure Geschichte keine Erwähnung mehr findet in anderen Geschichten.

Welche Schritte sollten wir unternehmen unter diesen Bedingungen? Der Muslim wird nicht vor Gericht erscheinen, um die Wahrheit des Korans unter Beweis zu stellen. Der Muslim wird mit dem um den Kopf gebundenen Leichentuch erscheinen, um den Koran zu verteidigen. Wir werden denen die Zunge abschneiden, die gegen den Koran das Wort erheben. Wir werden denen die Haut abziehen, die den Koran schmähen.

Nach fünfunddreißig Jahren der Unterdrückung ist der indische Muslim seinem Land gegenüber loyal geblieben. Wenn jemand loyal ist zwischen Hindustan und kabristan (Friedhof), so ist es der Muslim. Ihr (die Hindus) sterbt, wir sterben. Was geschieht nach dem Tode? Ihr werdet verbrannt. Als nächstes wird eure Asche in den Ganges geworfen. Wohin fließt der Fluss [der Ganges mündet in Bangladesh]? Ihr fließt von hier aus letztendlich nach Pakistan. Asche, die in den Wind gestreut wird, kann überall landen. Wenn ihr sterbt, dann kümmert das Mutter Indien nicht. Wenn wir sterben, dann sagt das Mutterland: «Mein teurer Sohn, du wirst mich doch nicht verlassen, um anderswohin zu gehen. Wenn du auf mir gelebt hast, so sollst du nach dem Tode in meinem Schoße ruhen.» Es gibt dreierlei Arten von Söhnen. Ein Sohn, der gemäß dem Gesetz des Landes und im Lichte seines Glaubens seine Pflichten gegenüber den Eltern erfüllt, wird put (Sohn) genannt. Ein anderer, der nicht nur seine Pflichten erfüllt, sondern alles für das Glück seiner Eltern opfert, wird suput (guter Sohn) genannt. Der Sohn, der seine Mutter erschießt, ihr den Hals abschneidet, seinen Vater ebenso wie seine Mutter umbringt, dieser wird kuput (schlechter Sohn) genannt. Nun schaut euch die Söhne dieses Mutterlandes an und entscheidet, welches der gute und welches der schlechte Sohn ist. Der Muslim, der an den Koran glaubt und Indien sein eigenes Land nennt, ist der suput. Als es nach Bildung von Pakistan zu Unruhen in Kaschmir kam, da war es der Brigadier Usman Ali aus meiner Stadt Azamgarh, der als einer der ersten ein Opfer der pakistanischen Kugeln wurde. Als sein zuckender Körper zu Boden fiel, sagte das Mutterland: «Dies ist mein Sohn, der sich aufgeopfert hat, um meine Ehre zu verteidigen.»
Als Abdul Hamid die pakistanischen Panzer aufhielt, die sonst auf Delhi zugefahren wären, und sein Fleisch in Fetzen gerissen wurde, da sagte die indische Erde: «Dies ist mein suput.» Und diejenigen, die Mahatma Gandhi, den Befreier des Landes gemordet haben, mordeten auch Indira Gandhi, die so viel für die Ehre der Nation geopfert hatte wie wollt ihr diese nennen, put, suput oder kuput? Das sollt ihr entscheiden.

Und ihr, die ihr Parolen über die Loyalität der Muslime prägt, die ihr von einem Verbot des Korans sprecht, habt ihr denn je mal euer eigenes Gesicht im Spiegel betrachtet? 

Die, die an den Koran glauben, waren es doch, die euch die schönen Seiten des Lebens zeigten, euch beibrachten, wie man isst und trinkt. Alles, was ihr hattet, bevor wir erschienen, waren Tomaten und Kartoffeln. Was habt ihr denn schon gehabt? Wir haben Jasmin hierhergebracht und Jasminparfüm. Wir haben euch das Taj Mahal beschert und das Rote Fort. Erst durch uns wurde Indien zu dem, was es heute ist. Wir leben seit achthundert Jahren hier, und mit uns begann Indien zu erglänzen. Innerhalb von fünfunddreißig Jahren habt ihr sein Licht geschwächt und das Land ruiniert. Ein Bettler wird nicht dankbar sein, wenn man ihn zum Kaiser macht. Man kann ihm ein Fest ausrichten, und es wird ihm nicht schmecken. Werft ihm ein Stück Brot in den Staub, und er wird seinen Appetit wiederfinden. Zwingt uns nicht, deutlich zu werden. Zwingt uns nicht, euch als Feinde gegenüberzutreten.

Gott, schau dir ihre Ignoranz an, und dann weißt du, warum wir keine Worte dafür finden.
Wo wir ihnen doch aus Mitleid die Kraft der Rede gegeben haben.

Unsere Geduld und Toleranz hat Grenzen. Diese gottlosen Menschen sollten begreifen, dass wir alles opfern können, was wir haben, einschließlich unseres Lebens, aber nicht unsere Ehre. Wir können Glanz und Ehre des Korans nicht aufs Spiel setzen. Heute ist die ganze Welt im Aufruhr. Ein paar Verrückte stören den Frieden der Welt. Das ist nicht nur eine Herausforderung für die zweihundertzwanzig Millionen Muslime in Indien, sondern für die über eine Milliarde zählenden Muslime auf der ganzen Welt. Deswegen bitte ich euch, auf der Hut zu sein. Die im Moment so gespannte Atmosphäre sollte aus jedem Muslim, der noch unbewusst vor sich hinlebt, einen wahren Muslim machen. Sie wollen den Koran verbieten. Ist es da nicht an der Zeit, regelmäßig euer namaz zu sprechen, wie er es vorschreibt? Sie haben im Sinn, den Koran zu verbieten. Ist es da nicht an der Zeit, euer rozas einzuhalten, auch in der Hitze des Sommers? Je öfter sie davon sprechen, den Koran zu verbieten, desto mehr solltet ihr nach ihm leben. Gebt eurem Leben eine religiöse Ausrichtung!

Warum sprechen sie von einem Verbot des Korans? Warum haben sie solche Angst vor dem Koran? Sie haben Angst, weil es in ihrer Religion Berührbare und Unberührbare gibt. Der Koran beschert eine Religion universeller Gleichheit. Sie haben in ihrem Herzen keinen Platz für ihre eigenen Leute. Sollen sie doch einem Harijan [Angehörige der niedrigsten Kasten]  erlauben, Wasser aus ihren Brunnen zu trinken! Diese Leute hoher Kaste, die von Rama und Sita sprechen, sollen sie doch erst einmal den Harijans erlauben, ihre Tempel zu betreten!


Abb.: Lage von Tirunelveli, in dessen Bezirk Meenakshipuram liegt, der Ort der Massenkonversion von Harijans zum Islam (©MS Encarta)

Schaut euch im Gegensatz dazu den Koran an: Er gibt jedem menschlichen Wesen Gleichberechtigung aufgrund seines Menschseins. Darum sind in Meenakshipuram in Madras [1981] dreizehntausend Harijans, dreizehntausend Angehörige der Stammesvölker zum Islam konvertiert. Sie wussten nicht, was im Koran geschrieben steht. Sie wussten nur, dass der Koran Menschen einer niederen Kaste das Recht gibt, mit Menschen höherer Kaste auf gleicher Stufe zu verkehren. Also sind diese Harijans, denen vom Staat so viele Vergünstigungen eingeräumt wurden, bereit, darauf zu pfeifen: Wir wollen keine Vergünstigungen, die uns Kleidung und Nahrung verschaffen, uns jedoch im Herzen unfrei lassen. Wir wollen Freiheit des Geistes, Freiheit für unsere Seele. Wir sind bereit, Unterjochung jeder Art zu dulden, aber nicht die der Seele. Ihr, die ihr die Seele unterjocht, der Koran befreit die Seele! Deshalb glauben wir an den Koran, der der Seele Leben schenkt, der einen Schwarzen wie Billal zum Oberhaupt eines hellhäutigen Stammes macht. [Billal war ein schwarzer Sklave und ein Liebling des Propheten, da er eine so schöne Stimme hatte.] Heute, wo Muslime überall niedergemetzelt werden, wo davon die Rede ist, das islamische Familienrecht abzuschaffen, wo der Ehre unserer Mütter und Schwestern Schande angetan wird, wo man unsere Kinder quält, wo es für andere unerträglich ist, dass wir überhaupt existieren, haben sich dreizehntausend Harijans dazu entschlossen, zu unserer Religion überzutreten. Und zwar deshalb, weil der Mensch Freiheit für seine Seele will. Ein Vogel ist unglücklich, wenn er in einem goldenen Palast festgehalten wird. Seine Seele sehnt sich nach der Freiheit des Gartens. Der Islam schenkt diese Freiheit. Die Folge ist, dass nicht nur in islamischen, sondern auch in nichtislamischen Ländern die Menschen scharenweise zum Islam übertreten. Niemand fordert sie dazu auf oder sagt zu ihnen, sie sollten Muslime werden. Es liegt an der Lehre, dass die Menschen ihr Heil im Koran suchen.

Glaubt ihr denn, bloß wenn ihr den Koran verbietet, bedeute das schon sein Ende? Wir haben vierzehnhundert Jahre lang mit dem Koran gelebt. Wir sind unter Bögen von Schwertklingen hindurchgegangen. Wir haben die Schlacht von Karbala überstanden. Wir sind durch die Täler Spaniens, über die Hügel Gibraltars, durch die Ebenen Indiens hindurchgezogen. Wir können mit Stolz sagen, dass die muslimische Nation trotz Tausender von Feuerproben, die sie durchgemacht hat, eine Nation ohnegleichen bleibt. Die Liebe, die sie für den Koran empfindet, ist unvergleichlich größer als die irgendeiner anderen Gemeinschaft zu deren heiligen Büchern. Niemand liebt seine Religion mehr als der Muslim den Islam. Wir müssen die Beziehungen zu den Muslimen auf der ganzen Welt aufrechterhalten. Wir haben versucht, diese Beziehungen auszubauen, und es ist uns gelungen. Wir können es mit jeder Herausforderung aufnehmen, die von innerhalb oder außerhalb des Landes auf uns zukommt. Unser Glaube wächst mit jeder Herausforderung, der er sich stellen muss, und macht uns noch stärker. Der Fuchs, der einen schlafenden Löwen weckt, sollte zuerst für seine eigene Sicherheit Sorge tragen. Jeder, der es wagt, den Koran herauszufordern, sollte sich dessen bewusst sein, dass entweder er oder sein Vater oder seine Nachkommen Muslime werden müssen.

Niemals kann es sein, dass sich die Stimme Mohammeds, das Gebot Gottes ändert.
Tausende Male mag sich die Welt wandeln, doch der Koran niemals."

[Kakar, Sudhir: Die Gewalt der Frommen : zur Psychologie religiöser und ethnischer Konflikte. -- München : Beck, 1997. --  312 S. -- ISBN 3406417833. -- S. 273 - 284. -- Originaltitel: The colors of violence (1996). -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]


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