Religionskritik

Antiklerikale Karikaturen und Satiren XXIV:

Christlicher (Aber)glaube

2. 1849 - 1899


kompiliert und herausgegeben von Alois Payer

(payer@payer.de)


Zitierweise / cite as:

Antiklerikale Karikaturen und Satiren XXIV: Christlicher (Aber)glaube  / kompiliert und hrsg. von Alois Payer. -- 2. 1849 - 1899. -- Fassung vom 2005-02-14. -- URL:  http://www.payer.de/religionskritik/karikaturen242.htm   

Erstmals publiziert: 2004-05-07

Überarbeitungen: 2005-02-14 [Ergänzungen]; 2005-01-20 [Ergänzungen]; 2004-12-22 [Ergänzungen]; 2004-11-30 [Aufteilung des Kapitels, Ergänzungen]; 2004-11-19 [Ergänzungen]; 2004-09-05 [Ergänzungen]; 2004-07-29 [Ergänzungen]; 2004-07-16 [Ergänzungen];  2004-07-08 [Ergänzungen]; 2004-06-25 [Ergänzungen]; 2004-06-17 [Ergänzungen]; 2004-06-11 [Ergänzungen]; 2004-05-28 [Ergänzungen]; 2004-05-22 [Ergänzungen]

©opyright: Abhängig vom Sterbedatum der Autoren

Dieser Text ist Teil der Abteilung Religionskritik  von Tüpfli's Global Village Library


Dieses Kapitel widme ich
meiner eigenen klerikalen Vergangenheit


Abb.: ich (Alois Payer) als katholischer Theologiestudent (1965)

Dies soll mich stets vor Selbstüberheblichkeit bewahren, da auch ich Aberglauben und Irrtum, Dunkelmännertum und Pfafferei verfallen war.


Abb.: "Wer mit einem Finger auf andere zeigt, zeigt mit drei Fingern auf sich selbst" (Gustav Heinemann)


Klicken Sie hier, um "My Mother's Bible" zu hören

Melodie: Charles Davis Tillman, 1893
Text: M.B. Williams

My Mother's Bible

There's a dear and precious book,
Though it's worn and faded now,
Which recalls those happy days of long ago,
When I stood at mother's knee,
With her hand upon my brow,
And I heard her voice in gentle tones and low.
Refrain:

Then she read the stories o'er
Of those mighty men of old,
Of Joseph and of Daniel and their trials,
Of little David bold,
Who became a king at last,
Of Satan and his many wicked wiles.
Refrain:
 
  Then she read of Jesus' love,
As He blessed the children dear,
How He suffered, bled and died upon the tree;
Of His heavy load of care,
Then she dried my flowing tears
With her kisses as she said it was for me.
Refrain:

Well, those days are past and gone,
But their memory lingers still
And the dear old Book each day has been my guide;
And I seek to do His will,
As my mother taught me then,
And ever in my heart His Words abide.
Refrain:
 
Refrain:
Blessed Book, precious book,
On thy dear old tear stained leaves I love to look;
Thou art sweeter day by day,
As I walk the narrow way
That leads at last to that bright home above.

[Quelle der midi-Datei: http://www.ingeb.org/spiritua/theresad.html. -- Zugriff am 2005-01-20]


1849


Joseph Victor von Scheffel (1826 - 1886): Stoßgebet. -- Um 1849


Abb.: Marx Anton Hannas (1610 - 1676): Hl. Antonius von Padua. -- 17. Jh.

Heiliger Antoni von Padua,
Schenk mir, was ich verloren ha'.

War ein schwarzbraun Mädichen,
Wunderlieblich anzusehn.
Wie ich die hab wahrgenommen,
Bin ich um den Verstand gekommen.

Heiliger Antoni von Padua,
Schenk mir, was ich verloren ha'!

Erläuterung: Antonius von Padua ist für das Wiederauffinden verlorener Gegenstände zuständig (Scherzname "Schlampertoni").

"Antonius von Padua, geb. 1195 aus vornehmem portugiesischem Rittergeschlecht zu Lissabon (eigentlicher Name wahrscheinlich Ferdinand Martini), gest. 13. Juni 1231, ward 1220 Minorit und durchzog als gewaltiger Bußprediger Südfrankreich und Oberitalien. Als strenger Asket und Haupt der Spiritualen (s. Franziskaner) bekämpfte er die Milderung der Ordensregel durch Elias von Cortona. Gregor IX. sprach ihn 1232 heilig; Gedächtnistag der 13. Juni. Ihm zu Ehren wird in Rom 17.-25. Jan. das Fest der Tierweihe gefeiert, nach der Legende, dass die Fische seiner Predigt lauschten, als die Menschen ihn nicht hören wollten. Besondere Verehrung genießt der Heilige im dritten Orden des heil. Franziskus und gilt heute mehr als je als der Helfer für die kleinen Nöte des Lebens und des Hauses. Eine moderne Form dieser Devotion sind die seit 1893 in Frankreich (neuerdings auch in Deutschland) aufgekommenen Gaben für das Brot des heiligen Antonius (Antoniusbrot), d.h. Gaben zur Speisung der Armen, durch die man den Heiligen zur Erfüllung aller geistlichen und zeitlichen Anliegen zu bestimmen sucht. Seine mystischen und asketischen Schriften erschienen Paris 1641 zusammen mit denen des heil. Franziskus. Sein Leben beschrieben de Azevedo (2. Aufl., Bologna 1790), Salvagnini (Turin 1887) und kritisch Lempp in der »Zeitschrift für Kirchengeschichte« (1890-92)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]


1851



Abb.: Cham [= Amédée de Noé] (1819 - 1879): Au salon de peinture. — Mort de Job . . .  Qu'est que ce sujet-là? — Dam'! faut croire qu'il a perdu la clef de sa porte, alors il expire sur le paillarson de son carré, entours de tous les locataires de la maison . . . — Auf dem Gemälde-Salon. Der Tod Hiobs . . . Was soll denn das darstellen? — Verdammt! Man sollte meinen, er hat seinen Haustürschlüssel verloren, und jetzt stirbt er auf der Strohmatte vor seiner Tür, umgeben von allen Mietern im Haus". -- In. Le Charivari. -- 1851-01-26

Erläuterung: Hier verwechselt Cham den Tod Hiobs (Hiob 42) mit den Anfechtungen Hiobs. Hiob starb "hochbetagt und satt an Lebenstagen". Das Bild karikiert dagegen eine Darstellung "Hiob und seine Freunde" (Hiob 2). Vgl. folgende etwas spätere Darstellung:


Abb.: Gustave Doré (1832 - 1882): Hiob und seine Freunde (Hiob 2, 3-13). -- Um 1866

[Bildquelle: Die Karikatur zwischen Republik und Zensur : Bildsatire in Frankreich 1830 bis 1880, eine Sprache des Widerstands? / Hrsg. und Red.: Raimund Rütten ... Unter Mitarb. von: Gerhard Landes ... -- Marburg : Jonas-Verl.,1991. -- 502 S. : zahlr. Ill. ; 29 cm. -- ISBN: 3-922561-97-7. -- S. 381]


1852



Abb.: Wir glauben alle an Einen Gott. -- Bilderbogen. -- Gustav Kühn. -- Neuruppin. -- 1852 [Keine Karikatur, sondern fromme Wunschprojektion]

Darunter steht das Gedicht "Wie die Sonne als ein Friedensbote"

[Bildquelle: Neuruppiner Bilderbogen  / Katalogbearbeitung von Theodor Kohlmann. -- Berlin : Museum für Deutsche Volkskunde [u.a.], 1981. -- 180 S. : überwiegend Ill. -- (Schriften des Museums für Deutsche Volkskunde Berlin ; Bd. 7). -- ISBN 3-88609-053-1. -- S. 83]


Franz Grillparzer (1791-1872): Proselytismus. -- 1852

Warum zu ihrem Glauben
Sie gern Genossen nehmen?
Vielleicht, um in der Menge
Sich weniger zu schämen.


1853



Abb.: Die christliche Hausfrau: "Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat." -- Bilderbogen. -- Oehmigke & Riemschneider. -- Neuruppin. -- 1853 [Keine absichtliche Karikatur, sondern ernst gemeint]

[Bildquelle: Neuruppiner Bilderbogen  / Katalogbearbeitung von Theodor Kohlmann. -- Berlin : Museum für Deutsche Volkskunde [u.a.], 1981. -- 180 S. : überwiegend Ill. -- (Schriften des Museums für Deutsche Volkskunde Berlin ; Bd. 7). -- ISBN 3-88609-053-1. -- S. 95]


Heinrich Heine (1797 - 1856): Zum Lazarus 1. -- 1853/54


Lass die heil'gen Parabolen,
Lass die frommen Hypothesen -
Suche die verdammten Fragen
Ohne Umschweif uns zu lösen.

Warum schleppt sich blutend, elend,
Unter Kreuzlast der Gerechte,
Während glücklich als ein Sieger
Trabt auf hohem Roß der Schlechte?

Woran liegt die Schuld? Ist etwa
Unser Herr nicht ganz allmächtig?
Oder treibt er selbst den Unfug?
Ach, das wäre niederträchtig.

Also fragen wir beständig,
Bis man uns mit einer Handvoll
Erde endlich stopft die Mäuler -
Aber ist das eine Antwort?


Heinrich Heine (1797 - 1856): Zum Lazarus 11. -- 1853/54

Mich locken nicht die Himmelsauen
Im Paradies, im sel'gen Land;
Dort find ich keine schönre Frauen,
Als ich bereits auf Erden fand.

Kein Engel mit den feinsten Schwingen
Könnt mir ersetzen dort mein Weib;
Auf Wolken sitzend Psalmen singen,
Wär auch nicht just mein Zeitvertreib.

O Herr! ich glaub, es wär das beste,
Du ließest mich in dieser Welt;
Heil nur zuvor mein Leibgebreste,
Und sorge auch für etwas Geld.

Ich weiß, es ist voll Sünd' und Laster
Die Welt; jedoch ich bin einmal
Gewöhnt, auf diesem Erdpechpflaster
Zu schlendern durch das Jammertal.

Genieren wird das Weltgetreibe
Mich nie, denn selten geh ich aus;
In Schlafrock und Pantoffeln bleibe
Ich gern bei meiner Frau zu Haus.

Lass mich bei ihr! Hör ich sie schwätzen,
Trinkt meine Seele die Musik
Der holden Stimme mit Ergötzen.
So treu und ehrlich ist ihr Blick!

Gesundheit nur und Geldzulage
Verlang ich, Herr! O lass mich froh
Hinleben noch viel schöne Tage
Bei meiner Frau im statu quo!


Ludwig Eichrodt <1827-1892>: Merkmal. -- 1853

Unsern Glauben, nein, nein!, den lassen wir uns nun nicht "nehmen"!
Schreien die Ängstlichen nur, welche der Zweifel gepackt.


Ludwig Eichrodt <1827-1892>: Jakob und Söhne. Neuer Triumph der Reimkunst. -- 1853

Zwischen Israel und Ismael
Herrschte ein betrübsam Schismael;
Jenes züchtet Schaf und Kind,
Dieses Säu, die auch so sind.

Jakob aber lebt in Kanaan
Schlecht und recht ultramontanaan,
Richtet nach der Vorschrift sich,
Sparsam, gottesfürchterlich.
 

Söhne hat er zwölf, es hieß die Schaar:
Ruben, Levi, Juda, Isaschar,
Simeon und Sebulon,
Jeder war de Lea Sohn.

Josef aber und auch Benjamin
Kriegt er noch in dem Dezennjamin
Von der Rachel; anderswie
Krag er Dan, Hirsch, Naphtali.

Ascher auch mit Lieb' umklammer' ich,
Abraham's gediegnen Samerich,
Und so ist das Dutzend voll,
Das ich heut besingen soll.

Lieber aber als die andern all
Hatte Jakob - o du Skanderal! - 
Seinen Josef, keusch von Ruf,
Weil er ihn so spät entschluf.

Und er schenkt ein rotes Röcklein ihm,
Zu der Brüder Neid und Schrecklajim,
Josef machte viel Geschrei,
Wohldienst und Angeberei.  

(Gen. Kap. 37 (3))

Jugendstreiche tat der Josef nicht,
War in keiner Art ein Bosewicht,
Und zufrieden mit ihm war
Der Herr Lehrer immerdar.

Levi war kein Simplicissimus,
Doch den ganzen Katechissimus
Außenwendig konnte bloß
Josef, dieser edle Spross.

Als sie weilten nun zu Dothanä,
Ärgerte das Rocklein sothanä
Seine Brüder dergestalt,
dass sie gern ihn machten kalt.

Und es spie der krumme Sebulon:
O du Tropf, Spion und Nebulon!
Haben wir dich jetzt einmal?
Mackes gibt's auf jeden Fall! J

uda sprach, ich hab' die Possen gnung,
Simeon war für Erdrosselung,
Aber für Zerstampung gar
War der grimmer Isaschar.

Andere wieder schrieen: Steinigung!
Einige begehrten Hochnotpeinigung.
Hirsch war eigentlich für Gift,
Aber das gab's damals nicht.

Retten wollt' der sanft're Ruben ihn,
Werft ihn, sprach er, in die Gruben hin!
Eine Karawane g'rad
Kam daher von Gilead.

Dummheit wär's, den Schlingel steinigen,
Schächten und verun- sich reinigen!
Ascher sprach's - seid ihr gescheut?
Wozu sein wir Handelsleut?

Also ward er kühn verschacheret
An die Männer Ismaels hernacheret
Die verkauften gleich ihn bar
An den Meister Potiphar.

Aber Joseph's rotes Röckelein
Ward getaucht in's Blut des Böckelein
Jakob fiel in groß Geheul,
Und er dachte sich sein Teil.

Potiphar, der Kämm'rer Pharao's,
Setzt den Joseph ob die Baaraos,
Weil er rechnen konnte gut
Und auch hübsch war als ein Jud.

Dieses merkt' auch gleich sein Eheweib,
Möchte, dass er ihr die Flöh' vertreib',
Sie erwischet ihn beim Rock,
Er tat wie ein Kleiderstock.

Kein Piano, kein Fortissimo
Half, er hielt am Katechissimo
Wer errät des Menschen Sinn?
Löblich war es immerhin.

Die Geschichte wurde weltbekannt,
Joseph wird als Musterheld genannt,
Ja, des Augenblickes Kuß
Wiegt nicht auf des Ruhms Genuß.

Doch die Falsche aus Egyptenland
Fluchtet, dass er nicht verliebterant,
Hat den Rock ihm wegstibitzt,
Schreiet, bis der Joseph - sitzt.

Aber sieh, auch in Carceribus
Hält der Amtmann ihn in Ehribus,
Da der Herr wohl mit ihm sei,
Tut er ihn zur Schreiberei.

Und am König sich versündiget
Hatten Zwei und eingespündlichet
Wurden sie, ob Einer zwar
Schenk, der Andre Bäcker war.

Joseph so als Actuarius
Machet ihre Träume klarius:
Du - Vortrinker wider wirst!
Bäcker, dich - dich henkt der Fürst!

So geschah es auch in Wirklichkeit,
Kunde drang in die Bezirklich weit,
dass das schwere Traumbüchlein
Joseph auch studieret sein.

Man beriet im Ministerio
Einen Traum längst hin und herio,
Aus geheimstem Kabinett:
Von den Kühen dürr und fett.

Joseph spricht ganz vorbereitungslos,
Denn so hat er die Traumdeutung los,
"Fette Jahr' und magre Jahr' - 
Pharao, mach's Inventar!

Pharao, mach's Inventarium,
Denn bald sind die fetten Jahr' herum,
Und die magern kommen schon,
Kosten dir vielleicht den Thron!

Und die letzten sind die pauvresten!
König, such' dir einen Obersten,
Einen sehr verständ'gen Mann,
Der Egypten helfen kann!"

Schreiber war er, schlechtbezahleter,
Joseph macht den Sprung mortaliter,
Wird vom simplen Aktuar
Großvizier, Minister gar.

Freilich solche Schwindelkraft liegt fern
Unsrer Zeit, der wissenschaftlichern;
Vorwärts kommt man nicht so schnell,
Wo es konstitutionell.

Und obwohl jetzt Reichskornwucherer
Widerstand doch dem Versucher er,
Für den edlen König fein
Macht er das Geschäft allein.

Schau' da strömten auch von Bethlehem
Jakobs Söhne, treu und redlehem,
Wollten für Jakob und Söhn'
Kaufen Mumienwaizoën.

Benjamin nur blieb im Vaterhaus,
Wo der Jakob saß im Katergraus,
Aber Joseph wollte den,
Der jetzt war erwachsen, sehn.

Und er trieb Schindluder mehrerlei
Mit den Brüdern, die nicht, wer er sei,
Wußten, und bald ohne Korn
Kamen vor der Vaters Zorn.

"Merkt's, man speiste euch mit Phrasen ab!
Was ihr lange, krumme Nasen habt!"
Sprach der Jakob. "O, der Min-
Ister will den Benjamin!"

Jakob musste sich verstehn dazu,
dass des Großvizieres Spleen hab' Ruh,
Doch von Juda, in der Pein,
Fordert er den Bürgschaftsschein.

Rührend schon war die Erkennungsscen',
Nimmer sollt' es geben Trennungswehn,
Und fürwahr die Trunkenheit
War so groß als wie die Freud'.

(Kap. 43 (34) )
Wunderbar, der Same Abrahams
Lallte da in lauter Stabrahams,
Wie die alten Deutschen knüll,
In gemütlichem Gebrüll. "

Holet jetzt nur auch den Erzpapa!
Soll heraufziehn gleich von Bersaba!
Mit den Wagen, Weib und Kind,
Schaf, Ochs, Esel, Kalb und Kind!

"Diese Lust soll euch nur sanft anwehn,
Wie die Vögel in dem Hanfsamehn
Sollt ihr leben hier, das Mark
Dieses Landes mach' euch stark!"

(Kap. 45 (18))
Dass er gar nicht war nachträgerisch,
Großmut übte unabwegerlich,
Rechn' ich hoch ihm an aus Pflicht,
Denn Berechnung war es nicht.

Pharao zog Sonntagshosen an,
Wies dem Volk die Landschaft Gosen an;
Eigentlich wie alt er wär'?
Fragt den Jakob gnädig er.

(Kap. 47 (8))
Es verdiente aber viel Geld da
Gottes Volk in diesem Nildelta,
Und vermehrte fürchterlich
Nach Pläsier und Vorschrift sich.

Also in der Ransau* wimmelte   
Israel, und es verkümmelte
Alsbald das Egyptervolk
An den König, was es molk.

*Land des Ramses
Als das Vieh jedoch veräußert war,
An die Äcker ging's und Häuser gar,
Joseph und der Pharao
Wurden drob ohnmaßen froh.
(Kap. 47 (18))
In die Hofschatulle fließt der Saft
Alles Lands und bloß die Priesterschaft
Darf behalten, was sie hat,
Denn sie ist oft delikat.
(Kap. 47 (22))
Joseph nahm sich nur den Feigensaft,
Er begründet die Leibeigenschaft
Der Ägypter, die sein Brot
Aßen in der Hungersnot.
(Kap. 47 (25)).
Und der König, vor Bewünderung
Über diese Volksausplünderung,
Macht den genialen Sohn
Jakobs eilends zum Baron.

Später hieß die Firma Ephrajim
Und Manasse, die Geschäftsräujim
Waren aber nach der Hand
Wieder im gelobten Land.

Also steht's im Buche Genesis,
Das wir lesen, weil so schön es is,
Wenn auch drin Kapitel stehn
Mehr für die Erwachsenen.


Rudolf Rodt [= Ludwig Eichrodt (1827 - 1892)]: Eine süddeutsche Missionshymne. -- 1853

Du, der du die das Menschenalter
Erfüllende Zeit erschufst,
Du edler Raum- und Zeitverwalter,
Du selber, Ewigkeitsausgestrahlter,
Dir singen wir den Davidspsalter,
Wenn du dein Volk berufst.

Hallelujah!

Kaffern, Mohren, Hottentotten,
Aller Heiden Sünderrotten,
In Zions Zelt führst du sie ja!
Mit Vaterhuld und Mutterarmen,
Umfassest du die große große Welt.
Hast mit dem Tiere selbst Erbarmen,
Es darf an deiner Brust erwarmen
Du wirst auch die Erkenntnisarmen
Führen in Zions Zelt.

Hallelujah!

Kaffern, Mohren, Hottentotten,
Aller Heiden Sünderrotten
In Zions Zelt führst du sie ja!


Georg Friedrich Daumer (1800-1875). -- Aus. Zerstreute Blätter. -- 1853

XVI.

Das Weib in unsrer sittlichen Welt
Ist nicht Person, es ist nur Ware.
Die wird gekauft; den Kauf sodann
Segnet der Priester am Altare.

XXV.

Sie hat ihm Alles hingeopfert,
Und wurde nicht zur Frau genommen.
Ein Gräuel diesen keuschen Frauen,
Ein Abscheu ist sie diesen frommen.

Denn diese ließen sich in Kirchen
Verkünden erst und dann auch trauen;
An solchen herrlichen Exempeln
Mag sich die ganze Welt erbauen.

Von Liebe war da nicht die Rede;
Sie wollten nichts, als einen Gatten,
Und wählten unter Denen, welche
Geld, Güter, Ämter, Titel hatten.


1854


Franz Grillparzer (1791-1872): Physiko-Theologisch. -- 1854

Unser Gott ist ein greifbares Faktum.
Wir nehmen vorerst den Darm als Abstraktum
Und stopfen demnächst von dem wirklichen Schwein
So Fleisch als Fett und Blut hinein.
So füllt sich die Leere, wird straff und stet,
Das schlotternde Absolute konkret.

Erläuterung:

"Physikotheologie (physis, theologikê. Ausdruck von DERHAM): Theologie auf Grund der Natur, aus deren Zweckmäßigkeit auf das Dasein Gottes geschlossen wird, durch den physikotheologischen oder teleologischen (s. d.) Beweis. Physikotheologie ist nach KANT »der Versuch der Vernunft, aus den Zwecken der Natur... auf die oberste Ursache der Natur und ihre Eigenschaften zu schließen« (Krit. d. Urt. II, § 85)."

[Quelle: Eisler, Rudolf <1873-1926>: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. -- 2. völlig neu bearb. Aufl. -- Berlin :  Mittler, 1904. -- 2 Bde. -- Bd. 2. -- S. 120]


Franz Grillparzer (1791-1872). -- 1854

Unsere neueste Religion
Ist das Scheitern der Spekulation,
Wenn die Denkwirtschaft nicht weiter geht,
Macht sie Konkurs als Religiosität.


1855


Franz Grillparzer (1791-1872): Das gebildete Christentum. -- 1855

Homöopathie und Magnetismus
Sind die Stufen zum Pietismus.
Aus lächerlich Kleinem und Klairvoyanz
Erwächst die riesige Obskuranz.


Franz Grillparzer (1791-1872): Hegel. -- 1855

Was mir an deinem System am besten gefällt?
Es ist so unverständlich wie die Welt.


1856


Franz Grillparzer (1791-1872). -- 1856

Die Weiber, die Kinder, die Tiroler und die Pfaffen
Wollen uns ein neues Gottesreich erschaffen,
Doch der Gott in ihrem Gottesreich
Sieht Weibern, Kindern, Pfaffen und Tirolern gleich.


Franz Grillparzer (1791-1872).  -- 1856

Man spricht jetzt viel von dem Glauben:
Der eine wünscht zu glauben,
Der andre glaubt zu glauben,
Der dritte hat den Glauben.
Allein der Glaube hat keinen.
Was mein ist, ist nur Meinen.


1857


Friedrich Hebbel (1813-1863): An die Feinde des Neuen. -- 1857

Hielt die Schwere nicht längst schon Himmel und Erde zusammen,
Ehe vom Apfel belehrt, Newton sie endlich entdeckt?
Und ihr wollt ein Gesetz bloß darum leugnen und schmähen,
Weil es nicht Moses schon gab, als er auf Sinai stand?


Friedrich Hebbel (1813-1863): Das Vaterunser

Wollt ihr beten, so betet, wie Jesus die Jünger es lehrte!
Manches Gebet zwar gibt's, welches zur Läuterung führt:
Dieses setzt sie voraus; will's Einer, ohne zu heucheln,
Beten, so muss er sich erst völlig vollenden als Mensch.


Friedrich Hebbel (1813-1863): Homo sapiens

Welch ein narr ist der Mensch! In allem muss er sich spiegeln,
Selbst in Sonne und Mond hat er sein Antlitz entdeckt.


Franz Grillparzer (1791-1872): Glaube.  -- 1856

Der Ungläubige glaubt mehr als er meint,
Der Gläub'ge weniger als ihm scheint.


1858


Heinrich Heine (1797 - 1856): Rationalistische Exegese. -- 1858

Nicht von Raben, nein mit Raben
Wurde Elias ernähret -
Also ohne Wunder haben
Wir die Stelle uns erkläret.

Ja, anstatt gebratner Tauben,
Gab man ihm gebratne Raben,
Wie wir deren selbst mit Glauben
Zu Berlin gespeiset haben.


1859


Ludwig Pfau (1821 - 1894): Weihnachtslied. -- 1859

Den deutschen Arbeitern in Paris zum Bescherungsfest 1859

Im Kreise froher Weihnachtsgäste
Sei uns gegrüßt, o Lichterbaum!
Verheißung strahlten deine Äste
Manch' kindlichem Erlösungstraum.
Doch was wir mild Beschertes fanden,
Wie stolz das Halleluja klingt
Der Heiland ist noch nicht erstanden,
Der in die Welt die Freiheit bringt.

Wohl folgten, Lieder auf den Lippen,
Die Weisen Bethleh'ms Leuchte gern;
Wohl lag das Kindlein in der Krippen,
Doch war sein Stern ein Wandelstern.
Die heitern Strahlen flohn und schwanden,
Wo schwarzer Wahn die Schleier schlingt
 
Der Heiland ist noch nicht erstanden,
Der in die Welt die Freiheit bringt.

Umsonst mit seines Purpurs Falten
Bedeckt der Gott das Büßerkleid:
Die Gnade mag im Himmel walten,
Die Erde braucht Gerechtigkeit.
Die Liebe zwingt mit neuen Banden,
Ob auch die alte Fessel springt
 
Der Heiland ist noch nicht erstanden,
Der in die Welt die Freiheit bringt.

Kein Jenseits kann den Helfer senden,
Den Christ säugt jede Mutter groß;
Die Menschheit muss mit eignen Händen
Erkämpfen sich ihr irdisch Los.
Er kommt in rußigen Gewanden,
Der Retter, der die Hölle zwingt
 
Der Heiland ist noch nicht erstanden,
Der in die Welt die Freiheit bringt.

Erkenntnis heißt die Bundeslade,
Die Wahrheit gibt und Tugend schafft;
Und Arbeit heißt die Wirkungsgnade,
Die uns erlöst — durch unsre Kraft.
Wann wir den Erbfluch überwanden,
Der Hand und Hirn der Not verdingt
 
Dann ist der Heiland auferstanden,
Der in die Welt die Freiheit bringt.

Schon pflanz der Geist, der Überwinder,
Der Arbeit großen Weihnachtsbaum,
Um den die Völker einst, wie Kinder,
Sich scharen unterm Himmelraum.
O Weihtag! wann der ob den Landen
Die ries'gen Lichteräste schwingt —
Dann ist in jeder Brust erstanden
Der Heiland, der die Freiheit  bringt.


1860


Franz Grillparzer (1791-1872): Historische Schule.  -- 1860

Wenn ihr aus der Geschichte Gott studiert,
Ist die Aussicht eine geringe,
Studiert aus ihr nur, wie sich's gebührt,
Die menschlichen Dinge.

Denn im Verstehn von Gottes Art
Sind wir und bleiben Kinder,
Er straft vor allem die Dummen hart,
Die Schlechten minder.


1861



Abb.: Cham [= Amédée de Noé] (1819 - 1879): M. Penguilly l'Haridon: Saint Gérôme calcule ce qu'il lui faudra de rouleaux de papier pour coller dans sa chambre à coucher. — Der Heilige Hieronymus misst aus, wieviel Tapetenrollen er für sein Schlafzimmer braucht. -- In. Le Charivari. -- 1861-05-30

Erläuterung: Parodie auf eine Darstellung des Hl. Hieronymus von Octave Penguilly l'Haridon (1811 - 1870)

"S. Hieronymus, Presb. Conf. et Eccl. Doct. (30. Sept. al. 9. Mai). Der hl. Hieronymus, oder, wie sein Name vollständig lautet, Eusebius Hieronymus Sophronius, der gelehrteste und geistvollste unter den Kirchenvätern des Abendlandes, Vater der Bibelkunde und der Exegese, wurde um das J. 331 von christlichen Eltern geboren und zwar zu Stridon38 (Strido, Stridonium), einer kleinen Stadt Pannoniens, nahe an der Grenze jenes Teiles von Dalmatien, der heutzutage zu Steiermark gehört. Als Geburtsjahr wird von den Neuern gewöhnlich 346 angegeben, jedoch schwanken die Angaben sehr bedeutend. Cave und Fleury glaubten das J. 329 annehmen zu müssen; die Bollandisten, die unsere Gewährsmänner sind, und denen unter den Neuern auch Gfrörer (K.-G. II. 2. S. 622) beipflichtet, haben das J. 331, Baronius, Tillemont und Stolberg 342. Sein Vater hieß Eusebius; der Name seiner Mutter ist unbekannt. Er hatte noch einen Bruder, Namens Paulinianus, und eine Schwester, deren Name nicht auf uns gekommen ist. Ohne Zweifel war die Familie sehr vermöglich; denn nur so war es möglich, dass Hieronymus sich eine umfassende wissenschaftliche Bildung aneignen, Bibliotheken erwerben und Reisen, von denen wir sogleich erzählen werden, machen konnte. Nachdem er nämlich zu Hause unter einem sehr strengen Hofmeister die Anfangsgründe der Grammatik erlernt hatte, ging er nach Rom, um daselbst seine Studien fortzusetzen. Er brachte einen guten Fond christlicher Grundsätze mit sich; denn »von der Wiege weg«, schreibt er selbst, »sind wir mit katholischer Milch genährt worden.« Nach dem Gebrauche oder Missbrauche jener Zeit war er allerdings noch nicht getauft; aber gleichwohl machte es ihm viele Freude, an den Gräbern der Apostel und Martyrer in den Katakomben verweilen und beten zu dürfen, was er alle Sonntage, wie er selbst sagt, zu tun pflegte. Allein unter dem Einflusse der heidnischen Lehrer und Lehrbücher wich seine Frömmigkeit allmählich der großtuerischen, sinnliche Genüsse bietenden Philosophie damaliger Zeit, und so geriet er auf den »schlüpfrigen Pfad«, auf welchem er fiel. Unter bittern Reuetränen schrieb er später: »Ich erhebe die Jungfräulichkeit bis in den Himmel, nicht weil ich sie besitze, sondern weil ich mich vielmehr wundere, sie nicht zu besitzen. In Andern loben, was man selbst entbehrt, ist ein freimütiges und schamhaftes Geständnis. Aber soll ich den Flug der Vögel nicht bewundern, weil ich selbst einen schweren Körper habe und auf der Erde hangen bleibe?« Und: »Ich bin jener verschwenderische Sohn, welcher sein ganzes Erbteil vergeudet hat. Und noch hab' ich mich nicht hingekniet zu den Füßen des Vaters, noch hab' ich nicht angefangen, die schmeichlerischen Lockungen früherer Lust von mir abzutreiben.« Nichtsdestoweniger legte er in Rom den Grund zu seiner Gelehrsamkeit. Sein Lehrer war der berühmte Grammatiker Donatus, vielleicht auch der Rhetor Victorinus. (Letzteres bezweifeln die Bollandisten.) Auch die griechische Sprache scheint mit Gegenstand des Unterrichts gewesen zu sein. Mit Vorliebe las er den Plautus und den Cicero. Nicht zufrieden, durch Kauf viele Bücher erworben zu haben, schrieb er selbst mehrere ab, oder ließ sie sich durch Andere abschreiben. In Rom blieb er bis zum J. 363. Um aber seine Bildung zu vervollkommnen, oder auch des Vergnügens halber, beschloss er nach dem J. 363, eine Reise nach Gallien und an die Ufer der Mosel zu machen und die vorzüglichsten Schulen Galliens zu besuchen. Dort verweilte er mit seinem Freunde Bonosus, der ihn begleitete, auch längere Zeit in Trier. Sein Aufenthalt in dieser Stadt ist vorzüglich wegen der Sinnesänderung merkwürdig, die hier in ihm vorging. Gott ganz anzugehören, um nicht bloß etwas zu scheinen, sondern auch etwas zu sein, war sein unabänderlicher Entschluss. Er kasteite seinen Leib, um die zu Rom begangenen Sünden abzubüßen, und wendete sich von jetzt an mit Vorliebe dem Studium der heil. Schriften zu. Die Werke des hl. Hilarius über die Synoden und seine Erklärung der Psalmen schrieb er während eines Aufenthaltes in Trier ab und ging hierauf nach Rom zurück. Bisher war er aber erst Katechumenus gewesen; jetzt ließ er sich taufen und zwar in Rom, nicht in Aquileja, wie Andere sagen. Es ist freilich nicht ganz entschieden, ob dies nach seiner Zurückkunft von Gallien, oder nicht etwa schon vor seiner Abreise dahin geschehen sei. Baronius ist für die letztere, Tillemont für die erstere Meinung, und die Bollandisten erklären diese gleichfalls für wahrscheinlich. Wurde jedoch der hl. Hieronymus, wie Einige schreiben, noch unter dem Papste Liberius getauft, so muss man die Ansicht des Baronius als die richtige annehmen. Ebenso unsicher ist, ob der Heilige von Rom zuerst Griechenland und namentlich Athen besucht habe (wie Bollandisten andeuten), oder ob er von Rom sogleich direkt nach Aquileja gegangen sei. Seine Ankunft in Aquileja datiert der Bollandist Stilting in das J. 370. Hier fand sich nun eine Anzahl Gleichgesinnter zusammen, die sich gegenseitig im Streben nach Wissenschaft und Frömmigkeit förderten. Hatte der Heilige schon in Rom manche edle Jugendfreunde, wie den Bonosus und, Pammachius, so kamen in Aquileja außer Rusinus noch dazu der hl. Chromatius3 mit seinem Bruder, dem hl. Eusebius,8, dann Jovinus, der Subdiakon Niceas, der Mönch Chrysogonus, ein gewisser Innocentius und Andere, welche uns der hl. Hieronymus als einen »Chor der Engel« darstellt. Der Kreis der Freundschaft befasste aber noch so Manche hier wie an andern Orten, worunter namentlich der hl. Heliodorus2, nachmals Bischof von Altinum, zu erwähnen ist. Der hl. Hieronymus musste aber bald von dieser trauten Schar sich trennen. Er tat es mit schwerem Herzen. Die eigentliche Ursache seines Weggehens ist unbekannt. Er selbst gibt einen plötzlichen, gegen ihn entstandenen Sturm als Veranlassung an. Man glaubt, eine etwas heftige in einer Schrift an Innocentius an den Tag gelegte Auslassung gegen einen Beamten von Vercelli, dessen Grausamkeit er wegen eines ungerechten Todesurteils mit lebhaften Farben geschildert, habe ihn der Gefahr großer Verfolgungen ausgesetzt, so dass er lieber das Weite suchte und höchst wahrscheinlich sogleich unmittelbar sich auf die See begab. (Stolberg gibt häusliche Verhältnisse, einen Fehltritt seiner Schwester, als Ursache an.) Anfänglich wusste er nicht, wohin er sich wenden solle; er besuchte Thracien, Pontus, Bithynien, Galatien, Kappadocien und selbst Cilicien, wo er den hl. Einsiedler Theodosius und dessen Gefährten in Scopulo, nicht weit von dem Städtchen Rosus (Rhosus), besuchte. Hier erwachte in ihm die Liebe zum Einsiedler- und Büßerleben aufs Neue. »Ich komme mir vor,« schrieb er bald darauf dem Abte, »wie ein krankes Schaf, das von der Herde sich verirrt hat. Wenn der gute Hirt mich nicht auf seine Schultern nimmt und zu seiner Hürde heimträgt, werden meine Füße wanken; so oft ich aufstehen will, werde ich immer sogleich wieder zusammensinken.« Er empfiehlt sich dann ins Gebet der Mönche, »damit der Hauch des heiligen Geistes ihn zum Hafen des ersehnten Gestades geleite.« Seine beständigen Begleiter waren Evagrius und Innocentius, welche er seine »zwei Augen« nennt. Um das J. 373 hielt sich der Heilige in Antiochia auf, wo er erkrankte. Sein Vorsatz war gewesen, Jerusalem zu besuchen; aber er konnte ihn jetzt noch nicht ausführen; »denn,« schreibt er selbst, »hier (in Antiochia) musste ich alle möglichen Krankheiten durchmachen und verlor eines meiner zwei Augen - den Innocentius, welchen ein hitziges Fieber schnell hinwegraffte.« Kaum war diese Wunde vernarbt, als der Tod seines Freundes Hylas ihm eine neue Wunde schlug. Da kam Heliodorus aus dem Orient zu ihm und brachte seinem Herzen Trost, indem er ihn benachrichtigte, dass Rufinus in Ägypten weile. In Antiochia, wo er an zwei Jahre, nämlich bis ins J. 374 verweilte, genoss der hl. Hieronymus längere Zeit den Unterricht des berühmten Exegeten Apollinaris von Laodicea, welcher später durch die Häresie, der Heiland habe seiner menschlichen Natur nach keinen menschlichen, sondern nur göttlichen Verstand gehabt, bekannt geworden ist. Von da besuchte er den nahe gelegenen Flecken Maronia, ein Eigentum seines Freundes Evagrius, um den daselbst lebenden Einsiedler Malchus kennen zu lernen. Hieronymus weilte noch in Antiochia (wie die Bollandisten vermuten), als er jenen merkwürdigen Traum hatte, welcher seiner zu großen Vorliebe für heidnische Schriftsteller auf lange Zeit einen Zaum anlegte. Er sah nämlich im Geiste sich vor den Richterstuhl Gottes versetzt. Auf die Frage, wer er sei, gab er an: »Ein Christ.« Die Antwort lautete: »Du lügst, ein Ciceronianer bist du; denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz.« Darauf bekam er heftige Schläge, unter welchen er bitterlich weinte und ohne Aufhören um Erbarmen rief. Als er erwachte, waren seine Augen tränenfeucht, und der ganze Leib voll Schwielen. Von da an las er nie mehr einen Klassiker nur zum Vergnügen. Er sagt selbst, er habe 15 Jahre hindurch kein heidnisches Buch mehr zur Hand genommen. Bald verließ ihn sein Freund Heliodorus, der ins Abendland zurückkehrte. Evagrius hatte zu Antiochia sich zum Priester weihen lassen. Hyeronnmus ging nun in die Einöde von Chalcis, wo er seit dem J. 374 sich aufhielt. Während seines vierjährigen Aufenthaltes daselbst blieb er mit seinen Freunden Florentius, Ch romatius, Heliodorus, Nepotianus und Rufinus in einem ununterbrochenen brieflichen und wissenschaftlichen Verkehre. Es war ihm eine große Freude, aus seiner Heimat durch den Diakon Julianus die Kunde zu erhalten, dass seine Schwester sich bekehrt habe; er empfahl sie ihm dringend zur Obsorge, damit sie ausharre. Er las und schrieb fast ohne Aufhören; seine Freunde mussten ihm fortwährend Bücher schicken. Sein Erstlingswerk, die Lebensgeschichte des hl. Paulus, des Einsiedlers, ist in Chalcis entstanden. Am Schlusse desselben findet sich eine Stelle, die einen tiefen Blick in die fromme Seele des Heiligen gestattet: »Gedenke, wer du immer bist, o Leser, des Sünders Hieronymus, welcher viel lieber, wenn ihm Gott die Wahl gestattete, die Tunica des Paulus und dessen Verdienste, als den Purpur der Könige und deren Strafen wählte.« Auch an den Heliodorus schrieb er in diesem Sinne eine lange Epistel und ermahnte ihn zum einsamen Leben: »Was tust du in der Welt, o Bruder? Du bist größer als sie; wie lange sollen die Häuser noch ihren Schatten auf dich werfen? wie lange noch sollst du eingeschlossen sein in die Kerkerluft rauchiger Städte? Glaube mir, ich genieße ein Licht, das ich nicht zu schildern vermag. Wirf die Wucht des Leibes von dir und flieg aus zum reinen Glanze des Äthers. Fürchtest du die Armut? Christus nennt die Armen selig. Scheuest du die Mühe? Kein Kämpfer erlangt die Krone ohne Schweiß. Kümmerst du dich um Nahrung? Der Glaube fürchtet keinen Hunger. Scheuest du dich, die durch Fasten ausgemergelten Glieder auf den bloßen Boden zu legen? Aber der Herr teilt diese Lage mit dir. Du bist allzu zart, mein Bruder, wenn du hier mit der Welt dich erfreuen und nachher mit Christus heerschen willst.« Hieraus ist auf die Wohnung und die Lebensweise des hl. Hieronymus in Chalcis zu schließen. Täglich vergoss er häufige Tränen wegen der begangenen Sünden; der bloße Boden war seine Ruhestätte, das Angesicht und der ganze Körper vom Fasten abgemagert. Etwas Gekochtes zu essen galt als Luxus; was er aß, suchte er vorher durch Arbeit sich zu verdienen. Dennoch hatte er schwere Versuchungen der Fleischeslust wie früher im Weltgetümmel und dem genusssüchtigen Rom zu bestehen. Er schildert selbst in unnachahmlicher Lebendigkeit die Leiden, welche ihm dieselben verursachten: »Da ich nirgendwo mehr Hilfe zu finden wusste, warf ich mich zu den Füßen Jesu hin, die ich mit Tränen befeuchtete, mit dem Haare abtrocknete, und unterjochte das widerstrebende Fleisch durch wochenlanges Fasten. Ich erinnere mich, dass ich oft Tag und Nacht unaufhörlich schrie und mit Schlägen auf die Brust nicht nachließ, bis die Ruhe, auf das Gebot des Herrn, wieder zurückkehrte. Sogar meine Zelle, die Zeugin meiner Gedanken, mied ich; erzürnt über mich selbst, drang ich allein tiefer in die Wüste hinein. Wenn ich irgendwo eine Talschlucht, einen hervorstehenden Felsen sah, da fing ich an zu beten und mein elendes Fleisch zu züchtigen. Der Herr selbst ist mein Zeuge, dass ich oft, nachdem ich viele Tränen vergossen und lange Zeit die Augen zum Himmel erhoben hatte, mich mitten unter die Chöre der Engel versetzt glaubte und voll von Lust zu fingen anfing.« Mit diesen Übungen der Gottseligkeit verband der hl. Hieronymus die eifrige Erlernung der hebräischen Sprache. Er schloss sich zu diesem Ende einem in der Wüste lebenden Einsiedler an, der früher Jude gewesen war. Er hatte nämlich die Absicht, eine neue Ausgabe der heil. Schriften zu veranstalten, »damit die Juden den christlichen Kirchen wegen der fehlerhaften Ausgaben, deren sie sich bedienten, nicht länger mehr Vorwürfe machen könnten.« Dieses Studium machte ihm viele Mühe; zum Lesen und Verstehen hatte er's bald gebracht, aber die Aussprache wollte lange nicht gehen. Erst durch den jüdischen Lehrmeister Baranina in Bethlehem bekam er auch hierin größere Sicherheit. Wie die Bollandisten vermuten, hätte er zu seiner Übung um diese Zeit das Evangelium nach Matthäus in hebräischem Texte abgeschrieben. Später übersetzte er dasselbe ins Griechische und ins Lateinische. Vielleicht ist auch der Anfang seiner Erklärung des Propheten Abdias in diese Zeit zu setzen. Baronius hält dafür, er habe diese Arbeit im J. 372 oder 373 begonnen; Tillemont meint, dieses sei noch in Antiochia geschehen; die Bollandisten aber machen es wahrscheinlich, dass es nicht vor dem J. 375 geschehen sei, also zur Zeit, welche der Heilige in der Wüste zu Chalcis gelebt habe. Dreißig Jahre später gab er einen andern verbesserten Commentar über denselben Propheten heraus. Nun brach aber in der Kirche zu Antiochia eine große Spaltung aus, da außer dem Arianer Euzojus drei Bischöfe: Meletius, Paulinus und Vitalis auf die Patriarchenwürde Ansprüche erhoben. Der hl. Hieronymus hatte damals schon so große Berühmtheit erlangt, dass man ihn zur Entscheidung in diesem Streite drängte. Er hatte sich bisher nicht eingemischt, sondern völlig neutral sich an unzweifelhaft katholische Bischöfe Syriens gehalten. Die Mönche, Anhänger des Meletius, wollten dies nicht zugeben und schrieen den Hieronymus außerdem für einen Häretiker aus, weil er über die drei göttlichen Personen nicht eben dieselben Ausdrücke gebrauchen wollte, die sie gebrauchten, weil dieselben der Einen göttlichen Wesenheit und Natur entgegen zu sein schienen. Er bat also den Papst Damasus um die entscheidende Antwort. Aus seinem bei diesem Anlasse verfassten Schreiben ersehen wir die unbedingte Ergebenheit des Heiligen an den Stuhl des hl. Petrus zu Rom: »Ich folge keinem Anführer außer Christus und stehe in Gemeinschaft mit deiner Heiligkeit, d. i. mit dem Stuhle Petri (Beatutidini tuae, id est Cathedrae Petri, communione consocior). Ich weiß, dass die Kirche auf diesen Felsen gebaut ist. Wer immer außerhalb dieses Hauses das Lamm isst, ist ein Unheiliger (profanus). Wer nicht in der Arche Noa's ist, wird in der Sündflut umkommen ... Ich kenne den Vitalis nicht, den Meletius verwerfe ich, von Paulinus weiß ich nichts. Wer nicht mit dir sammelt, zerstreut, d. i. wer es nicht mit Christus hält, ist ein Anhänger des Antichrists.« Noch einen andern ähnlichen Brief schrieb Hieronymus an Damasus, dessen Antwort leider nicht auf uns gekommen ist. Sie war unzweifelhaft dem Paulinus günstig, da Hieronymus sich von diesem in Antiochia (um das J. 379) zum Priester weihen ließ. Noch in demselben Jahre (379 oder 380) verfügte sich der hl. Hyeronymus nach Konstantinopel, um die Vorträge des hl. Gregorius von Nazianz zu hören und sich in der griechischen Sprache und Literatur noch weiter auszubilden. Hier übersetzte er wahrscheinlich das Chronikon des Eusebius und schrieb einige Zusätze zu demselben; außerdem übersetzte er 28 Homilien des Origenes über Ezechiel und Jeremias ins Lateinische. Dazu kam eine kurze Abhandlung »über die Seraphim«. Er hatte damals schon die Absicht, eine Übersetzung der »Septuaginta« zu veranstalten, und wollte hiedurch sich auf diese Arbeit vorbereiten. Da aber die Wirren in der orientalischen Kirche noch immer fortdauerten, so berief Papst Damasus zu ihrer Beendigung im Jahr 381 ein Concilium nach Rom, bei welchem auf Einladung des Papstes mit Paulinus und Epiphanius3 auch der hl. Hieronymus erschien. Die genannten zwei Bischöfe brachten den Winter in Rom zu und kehrten dann wieder auf ihre Sitze zurück. Der hl. Hieronymus blieb aber in Rom als der vertraute Freund und Rathgeber des Papstes, der sich seiner wie eines Geheimschreibers bediente (deswegen sieht man den Heiligen öfter als Kardinal abgebildet), und wohnte in einem Kloster von Roms Vorstädten. Wahrscheinlich hielt er auch öffentliche Vorträge, in welchen er vor ausgewählten Zuhörern die heil. Schriften erklärte und Anweisungen zum frommen Leben erteilte. Unter den Personen, die sich seiner Leitung unterzogen, sind auch mehrere Frauen, welche durch die Heiligkeit ihres Lebens zu großer Berühmtheit gelangten. Die erste, die sich an ihn anschloss, war Marcella, eine Witwe von vollblütigem römischem Adel, Enkelin von Consularen und Präfekten und sehr reich. (Sie findet sich am 31. Jan. im Mart. Rom., wie denn auch die meisten der Nachfolgenden als Heilige in der Kirche verehrt werden.) Ihr folgten Marcella's Schwester Paula, mit ihren Töchtern Bläsilla und Eustochium1, letztere unsers Heiligen Lieblingsschülerin; ferner Asella, Lea, Principia, Melania, Felicitas25, Marcellina, Feliciana und Fabiola (S. 156), lauter vornehme und reiche Witwen oder Jungfrauen. Da er beim Papste in großer Gunst stand, hatte er natürlich auch viele Neider und Verleumder, besonders da er sich über das ungeistliche Leben vieler Geistlichen in Rom freimütig äußerte. »Es fehlt nicht an Manchen,« schreibt er, »die mir eben die Hand küssten und noch warm vom Kusse über mich lästerten.« In Rom war es auch, wo er außer manchen Schriften von geringerer Be. deutung auf die Veranlassung des Papstes Damasus eine kritische Ausgabe der Evangelien und der Apostelgeschichte nach der Vulgata, die er sorgfältig mit dem Urtexte verglich, veranstaltete und die Psalmen mit der griechischen Übersetzung (der sog. Septuaginta) in Einklang brachte.39 Ums I. 384 (wie die Bollandisten vermuten) verfasste er seine Streitschrift gegen Helvidius. Er kannte seinen Gegner nicht, wusste nicht, »ob er schwarz oder weiß aussehe«, und glaubte ebendeshalb um so weniger schonungsvoll mit ihm verfahren zu dürfen, weil persönlicher Hass nicht die Ursache seiner Angriffe sein konnte. »Denen,« sagt er, »die mir vorwerfen, ich hätte von Neid entbrannt so geschrieben, will ich kurzweg antworten, dass ich Ketzer nie geschont, vielmehr alles darauf angelegt habe, dass die Feinde der Kirche auch meine Feinde würden.« Kurz darauf veröffentlichte er seinen unvergleichlich schönen Brief an die hl. Eustochium »über die Bewahrung der Jungfräulichkeit«. Im August des J. 385, bald nach dem Tode des Papstes Damasus, ging er wieder nach dem Orient. Viele hatten bei der Papstwahl bereits ihr Auge auf den hl. Hieronymus gerichtet. In seiner Begleitung befanden sich, nebst dem Priester Vincentius von Constantinopel, sein jüngerer Bruder Paulinianus und einige Mönche. Die Reise ging über Reggie (Rhegium), bei dem Vorgebirge Malea und den Cycladischen Inseln vorbei, nach Cypen, wo er vom hl. Epiphanius mit vieler Freude empfangen wurde. Von da weg kam er nach Antiochia, wo er den hl. Patriarchen Paulinus besuchte. In seiner Begleitung kam er mitten im Winter und in der heftigsten Kälte in Jerusalem an. Hier sah er die vielen Wunder, die er früher nur vom Hörensagen kannte, und prüfte sie durch den Augenschein. Wohl mit Recht schließen hieraus die Bollandisten, dass er früher nie dort gewesen war. Bald nach ihm (oder vielleicht schon mit ihm) kam auch die hl. Paula nach Jerusalem. Sie hatte denselben Weg, wie ihr Lehrmeister Hieronymus, eingeschlagen und gleichfalls einige Zeit bei Paulinus zugebracht; die Strecke von Antiochia aus mochte sie in Gesellschaft des hl. Hieronymus hieher gemacht haben. Alle heiligen Orte besuchte der Heilige, um sich durch eigene Anschauung zu einem möglichst gründlichen Schrifterklärer zu bilden, und ließ sich zu diesem Ende von gelehrten Juden begleiten, um die alten Denkmäler der heil. Geschichte an Ort und Stelle zu erforschen. Das nächste Frühjahr (386) brachte ihn nach Alexandria und in die Klöster Nitriens, wo er die Büßerscharen der Heiligen sah. Dann kehrte er nach Palästina zurück, um an der Krippe des Erlösers sich niederzulassen. In Alexandria hatte er auf Verlangen der hl. Paula den blinden Exegeten Didymus besucht und oft seinen Vorträgen beigewohnt und ihn veranlasst, einen Kommentar über die Propheten Osee und Zacharias herauszugeben. Anfänglich bewohnte er eine kleine einsame Zelle, später jedoch (388 oder 389) ein förmliches Kloster. Was er aber hier für die biblischen Wissenschaften, für die Angelegenheiten der Kirche, für die Seelsorge im Großen und im Einzelnen, für das Institut des einsiedlerischen Lebens, für die Errichtung und zweckmäßige Einrichtung von Frauenklöstern, für die Aufnahme und Verpflegung der christlichen Pilger und für andere Liebeswerke getan hat, kann hier nicht beschrieben werden. Hatte er schon früher hebräisch gelernt, so bestellte er sich jetzt, um es noch besser zu lernen, den gelehrten Juden Bar-Anina als Lehrer, der jedoch nur bei der Nacht zu ihm sich stehlen musste. Er las dann mit der hl. Paula und ihrer Tochter Eustochium die ganze heil. Schrift in hebräischer Sprache und erklärte sie. Im J. 389 schrieb er seine Kommentare über die Briefe Pauli an Philemon, an die Galater, an die Epheser und an Titus, welchen bald eine Erklärung des Predigers folgte. Die drei Schriften: über hebräische Fragen zu der Genesis, über die Lage und Benennung der hebräischen Ortschaften und über die hebräischen Eigennamen sind im folgenden Jahre entstanden. Dann übersetzte er eine Abhandlung des Didymus über den heiligen Geist und weitere 39 Homilien des Origenes zu Lucas. Des Didymus Übersetzung hatte er bereits in Rom angefangen, und sie ist für uns desto wertvoller, weil der Text des Didymus verloren gegangen ist. Hierauf folgte die Erklärung eines Teils der Psalmen und die Lebensgeschichte der hhl. Mönche Malchus und Hilarion (s. d.) Das größte und bleibendste Verdienst um die ganze Kirche Gottes erwarb er sich aber durch seine Übersetzung der Bücher des A. Testaments aus dem hebräischen Urtexte. Es geschah nämlich oft, dass seine Freunde bei ihren Streitigkeiten gegen Juden mit der lateinischen Übersetzung aus der Septuaginta nicht ausreichen konnten, weil die Juden sich immer auf das Original beriefen. Daher entschloss er sich, aufgefordert von seinen Freunden, endlich zu der allerdings sehr schwierigen Arbeit, die Bücher des A. T. aus dem hebräischen Original selbst zu übersetzen, zu welchem Zwecke er schon seit längerer Zeit Vorbereitungen getroffen und namentlich gute Hand dieser Übersetzung, die er nach und nach machte, auch die Septuaginta und andere griechische Übersetzungen zu Rate, und nach dieser Übersetzung des hl. Hieronymus, welche nach und nach immer mehr zur Geltung kam, wenn sie ihm auch Anfangs von vielen Seiten, ja selbst vom hl. Augustinus, der ihn doch sonst sehr schätzte, manchen Tadel zuzog, sind denn die meisten Bücher40 des A. T. in unserer, von der Kirche als authentisch erklärten Vulgata. Nebenher schrieb er Erklärungen über die Propheten Nahum, Michäas, Sophonias, Aggäus und Habakuk, und seine für die Kirchengeschichte wichtige Abhandlung von den kirchlichen Schriftstellern, aus welcher mehrere Lektionen im Breviere genommen sind. Dazu kam ein ausgedehnter, weitläufiger Briefwechsel und zahlreiche Streitschriften, vorzüglich gegen Rufinus. Im Jahr 393 entstand seine Schrift gegen Jovinianus zur Verteidigung der Vorzüge des jungfräulichen Lebens. Freilich warfen ihm jetzt seine Feinde vor, er erniedrige die Heiligkeit der Ehe, weshalb er um das J. 394 oder 395 eine Schutzschrift herausgab, in welcher er sagt: »der Streit ist, dass jener (Jovinianus) die Ehe dem jungfräulichen Leben gleichstellt, wir aber sie ihm unterordnen.« Er sei weit entfernt, den Irrlehren eines Marcion oder eines Manichäus, welche die Ehe verwarfen, zu folgen; es könne in einem großen Hause nicht lauter goldene und silberne Gefäße geben; er kenne wohl die göttliche Einsetzung der Ehe, »aber wir geben der Ehe eine solche Stellung, dass wir die Jungfrauschaft, die aus der Ehe entsteht, vorziehen. Ist etwa das Silber nicht Silber, weil das Gold kostbarer ist?« Diese Schutzschrift aber erfuhr keine Angriffe, selbst nicht von Seite des boshaften Rufinus. Wenn er auf diese Weise die Reinheit der Lehre und des Glaubens gegen die unberechtigten Einmischungen der Vernunft zu verteidigen hatte, wie dies besonders auch nachher in den Origenistischen Streitigkeiten der Fall war, so entbrannte sein Feuereifer selbst gegen langjährige Freunde wie Rusinus in einem Grade, den man für unglaublich halten möchte, wenn nicht seine Schriften als unwiderlegliche Zeugen es bestätigten. Der Irrlehrer Vigilantius forderte den vollen Zorn des Heiligen heraus, welcher ihn in einem eigenen Buche bekämpfte. Auch die Pelagianische Sekte erfuhr noch gegen Ende seines Lebens die unerschütterliche Kraft seines Wortes. Nebenher war es aber stets das Studium der heil. Schrift, das ihn unaufhörlich beschäftigte und seine ganze Tätigkeit allein in Anspruch zu nehmen schien. Die über dieselbe herausgegebenen kleinern Schriften und Abhandlungen sind so zahlreich, dass wir sie nicht alle namhaft machen können. Da er schon oft herben Tadel bezüglich seiner Art zu übersetzen hatte erfahren müssen, so schrieb er an Pammachius einen Brief, den er anderswo ein Buch nennt, über die beste Weise zu übersetzen, worin er durch einige aufgestellte Grundsätze seine Methode rechtfertigt. Zur Abfassung solcher Werke war er aber auch nicht nur durch seine ausgebreitete Gelehrsamkeit, sondern durch seine Frömmigkeit und heilige Gesinnung ganz vorzüglich befähigt. Auch haben wir unter seinem Namen ein altes Martyrologium, welches aber wohl nicht von ihm herstammt, wenn er auch durch die von ihm verfassten Lebensbeschreibungen von Heiligen zu demselben die Veranlassung gegeben haben mochte. - Bei allen diesen vielen Arbeiten vergaß er sich selbst nicht; denn er hatte, nach seinen eigenen Worten, diesen Zufluchtsort gewählt, um in stiller Zurückgezogenheit und strengen Bußwerken den Gerichtstag zu erwarten, den er täglich und stündlich vor Augen hatte. Durch seine erstaunliche Tätigkeit hat er sich den Dank und die Liebe aller Rechtgläubigen aller Zeiten erworben. Der hl. Augustinus, selbst ein großes Kirchenlicht, zählte ihn zu seinen Freunden. Allerdings hat er durch seine offene, derbe Sprache sich auch vielen, zum Teil nicht ganz ungerechten Angriffen ausgesetzt; aber der Freund der Wahrheit schätzt bei allem dem die Reinheit der Absicht und seine unbesiegbare Tüchtigkeit. Nur die wichtigsten seiner Arbeiten wollen wir noch wie im Fluge berühren. Die Erklärung der kleinen Propheten beendigte er in den Jahren 404-406. Im folgenden Jahre übersendete er der Marcella und dem Pammachius seine Auslegung der schwierigern Stellen Daniels. Weiterhin verfasste er in den Jahren 408 bis 410 die Erklärung des Jesaias. Schon rüstete er sich zur Auslegung des Ezechiel, als entsetzliche Nachrichten aus Italien einliefen. Die Gothen hatten unter Alarich im J. 410 Rom eingenommen und geplündert; viele seiner Freunde waren in Folge der erlittenen Misshandlungen gestorben. Seine Arbeit schritt daher nur langsam vorwärts, besonders seitdem auch die Ruhe Palästinas durch Einfälle der Barbaren gestört war. Auch die täglich größer werdende Augenschwäche hinderte den achtzigjährigen Greis in seinen gewohnten Anstrengungen. Er scheint gegen das J. 415 mit Ezechiel fertig geworden zu sein. Im folgenden Jahre wurde er in Felge seines Auftretens gegen die Pelagianer von einem diesen günstigen Pöbelhaufen in seinem Kloster überfallen und entging größern Leiden nur durch schleunige Flucht. Die Klostergebäude wurden in Asche gelegt. Nach diesem Sturm kam er wieder zurück, um seine Arbeiten fortzusetzen. Er begann die Erklärung des Jesajas, welche er bis zum 32. Kapitel brachte, als er am 30. Sept. 419 in Gott selig verschied, nach Einigen in einem Alter von 91, nach den Bollandisten aber in einem solchen von 88 Jahren. Anfänglich ruhte sein Leib in Bethlehem neben den Trümmern seines Klosters; in der Folge aber wurden seine Reliquien nach Rom gebracht (wie die Bollandisten zeigen, am Schlusse des 13. Jahrhunderts), wo sie in St. Maria der Größern in der Kapelle der Krippe des Heilandes ruhen, bei welcher er lebend so lange gebüßt, gebetet und gewirkt hatte. Im Mart. Rom. ist diese Übertragung auf den 9. Mai angesetzt, während als Tag seiner Verehrung der 30. Sept. angegeben ist. In Abbildungen wird dieser heil. Kirchenlehrer mit den verschiedenen Symbolen seines tatenreichen Lebens dargestellt. Am öftesten sieht man ihn als Büßer und Einsiedler, sich mit einem Steine auf die Brust schlagend, oder in tiefe Betrachtung versunken, oder in der heil. Schrift lesend, um sich und über sich die Zeichen der Buße, des Todes und des Gerichtes. Er hat eine brennende Kerze neben sich, um die mit Abfassung seiner zahlreichen Werke durchwachten Nächte anzudeuten. Oft schwebt über ihm die Posaune, von welcher er schreibt: »Ich mag wachen oder schlafen, immer tönt in meinen Ohren die schreckliche Stimme: Auf ihr Toten, kommt zum Gerichte!« Warum er da und dort mit dem Kardinalshute erscheint, ist oben schon angegeben. Auch einen Löwen hat er zuweilen an der Seite, entweder weil er in der syrischen Wüste wohnte, oder weil er mutig wie ein Löwe gegen sein eigenes Fleisch und gegen die Feinde der Wahrheit kämpfte, bis er in die Ruhe seines Herrn einging, oder endlich weil er nach Menzel (Symb. II. 38) einmal einem Löwen einen Dorn aus dem Fuße zog, so dass dann derselbe aus Dankbarkeit immer bei ihm blieb. Die Bollandisten erklären zwar dieses für eine Fabel; aber die Maler benützen auch solche Fabeln bei ihren Bildern. Auf einem Bilde von Sacchi im Louvre sind nach Menzel (Symb. I. 488) die vier Kirchenväter mit den Attributen der vier Evangelisten dargestellt; Hieronymus den geflügelten Menschen neben sich als der mildeste, Augustinus den Adler als der geistig feurigste, Ambrosius den Löwen als der kühnste, Gregorius den Ochsen als der fleißigste, unermüdlichste.

Reliquien des Heiligen finden sich in verschiedenen Städten Italiens, Deutschlands, Frankreichs, Belgiens und anderer Länder. Im Brevier findet sich sein Fest am 30. Sept. ritu dupl."

[Quelle: Vollständiges Heiligen-Lexikon oder Lebensgeschichten aller Heiligen, Seligen etc. aller Orte und aller Jahrhunderte, deren Andenken in der katholischen Kirche gefeiert oder sonst geehrt wird, unter Bezugnahme auf das damit in Verbindung stehende Kritische, Altertümliche, Liturgische und Symbolische, in alphabetischer Ordnung : mit zwei Beilagen, die Attribute und den Kalender der Heiligen enthaltend / hrsg. von Joh. Evang. Stadler und Franz Joseph Heim. -- Augsburg : Schmid, 1858 - 1882. -- 5 Bde. -- Elektronische Ressource: Berlin :  Directmedia, 2005. -- 1 CD-ROM. -- ISBN 3-89853-506-1. -- s.v.]

[Bildquelle: Die Karikatur zwischen Republik und Zensur : Bildsatire in Frankreich 1830 bis 1880, eine Sprache des Widerstands? / Hrsg. und Red.: Raimund Rütten ... Unter Mitarb. von: Gerhard Landes ... -- Marburg : Jonas-Verl.,1991. -- 502 S. : zahlr. Ill. ; 29 cm. -- ISBN: 3-922561-97-7. -- S. 380]


1864


Franz Grillparzer (1791-1872).  -- 1864

Die Poesie und die Theologie
Sind eben beide Phantasie,
Nur die eine erfindet ihre Gestalten,
Die andere spielt mit den vorhandenen alten.


Georg Herwegh (1817-1875): Fromme Wünsche. -- Juli 1864

Herr; dein Himmel hängt voll Geigen;
Überm Sirius, da hat's
Auch für mich im Sternenreigen
Beim Konzert noch einen Platz.

Statt der schlechten Musikanten
Und der guten Menschen hier,
Spielen droben die brillanten
Seraphim das Weltklavier.

Keine Kleider, keine Falten,
Feigenblätter nicht einmal
Tragen dort die Lichtgestalten,
Brauchen weder Hut noch Schal:

Doch was hilft's mir zu erklären
Kind! wir haben ein Billett
Für die Harmonie der Sphären
Wenn sie Lust zur Oper hätt?

Lust zum irdischen Soupieren,
Auch zum Trinken dann und wann,
Was ich schwerlich mit Papieren
Auf dein Jenseits zahlen kann?

Herr im Himmel, den ich preise,
Sieh, du hast bei mir Kredit,
Mehr als Salomo, der weise
Bankier in der rue Lafitte1.

Seit in deinem Urgehirne
Aufgewacht der Schöpfungstrieb,
Eh dein Finger auf die Stirne
Evas ipse feci2 schrieb

Unversiegbar strömt der Bronnen
Deines Reichtums immerzu,
Und die schönste deiner Sonnen
Gilt vor dir nicht einen Sou.

Deine Kraft wird nicht erschlaffen,
Deine Firma nicht bankrott,
Gabst du manchmal auch den Pfaffen
Die Prokura, lieber Gott.

Schuldig bleiben wirst du keinen
Wechsel, den sie ausgestellt;
Dennoch hätt' ich lieber - einen
Auf ein Haus in dieser Welt.

Sind die Juden dir zuwider,
Findet sich wohl auch ein Christ
Unter ihnen, der so bieder
Wie Pereire und Rothschild ist.

Bis ich droben, neu geboren,
Mich erquickt am ew'gen Lenz
Willst du mich auf Erden schmoren
Lassen wie den Sankt Lorenz3?


Abb.: Sankt Lorenz

Vorgezogen hab ich immer
Einem Heil'gen auf dem Rost
Ein profanes Frauenzimmer
Und trichinenfreie Kost.

Pflücken möcht ich mir die Rose
Meines Glücks auf Erden schon
Und nicht warten auf die große
Letzte Liquidation.

Erläuterungen:

1 rue Lafitte: in Nr. 17 wohnte der Bankier Salomon Rothschild (1774-1855)

.

2 ipse feci = "ich hab es selbst gemacht"

3  Der heilige Lorenz (Laurentius) soll 258 n. Chr. auf einem eisernen Rost über glühenden Kohlen zu Tode gegrillt worden sein.


Theodor Storm (1817-1888): Der Zweifel. -- 1864

Der Glaube ist zum Ruhen gut,
Doch bringt er nicht von der Stelle;
Der Zweifel in ehrlicher Männerfaust,
Der sprengt die Pforten der Hölle.


1865


Giosuè Carducci (1835 - 1907; Literaturnobelpreisträger 1906): Inno a Satana. -- 1865)

A te, de l'essere 
Principio immenso,
Materia e spirito,
Ragione e senso; 

Mentre ne' calici
Il vin scintilla
Sì come l'anima
Ne la pupilla;

Mentre sorridono 
La terra e il sole 
E si ricambiano 
D'amor parole,

E corre un fremito
D'imene arcano 
Da' monti e palpita
Fecondo il piano;

A te disfrenasi 
Il verso ardito,
Te invoco, o Satana, 
Re del convito.

Via l'aspersorio, 
Prete, e il tuo metro! 
No, prete! Satana
Non torna indietro!

Vedi: la ruggine
Rode a Michele
Il brando mistico, 
Ed il fedele 

Spennato arcangelo
Cade nel vano.
Ghiacciato è il fulmine
A Geova in mano.

Meteore pallide,
Pianeti spenti,
Piovono gli angeli
Da i firmamenti.

Ne la materia
Che mai non dorme,
Re de i fenomeni,
Re de le forme,

Sol vive Satana.
Ei tien l'impero
Nel lampo tremulo
D'un occhio nero, 

O ver che languido
Sfugga e resista,
Od acre ed umido 
Pròvochi, insista.

Brilla de' grappoli
Nel lieto sangue,
Per cui la rapida
Gioia non langue, 

Che la fuggevole
Vita ristora,
Che il dolor proroga, 
Che amor ne incora. 

Tu spiri, o Satana,
Nel verso mio,
Se dal sen rompemi 
Sfidando il dio

De' rei pontefici,
De' re cruenti; 
E come fulmine
Scuoti le menti.

A te, Agramainio,
Adone, Astarte,
E marmi vissero
E tele e carte,

Quando le ioniche
Aure serene
Beò la Venere
Anadiomene. 

A te del Libano 
Fremean le piante!
De l'alma Cipride 
Risorto amante 

A te ferveano
Le danze e i cori,
A te i virginei
Candidi amori,

Tra le odorifere
Palme d'Idume, 
Dove biancheggiano
Le ciprie spume.

Che val se barbaro 
Il nazareno
Furor de l'agapi 
Dal rito osceno 

Con sacra fiaccola
I templi t'arse
E i segni argolici 
A terra sparse?

Te accolse profugo
Tra gli dèi lari 
La plebe memore
Ne i casolari.

Quindi un femineo
Sen palpitante
Empiendo, fervido 
Nurne ed amante,

La strega pallida
D'eterna cura 
Volgi a soccorrere
L'egra natura.

Tu a l'occhio immobile 
De l'alchimista,
Tu de l'indocile
Mago a la vista,

Del chiostro torpido
Oltre i cancelli,
Riveli i fulgidi
Cieli novelli.

A la Tebaide 
Te ne le cose
Fuggendo, il monaco
Triste s'ascose.

dal tuo tramite
Alma divisa, 
Benigno è Satana;
Ecco Eloisa.

In van ti maceri
Ne l'aspro sacco: 
Il verso ei mormora
Di Maro e Flacco

Tra la davidica
Nenia ed il pianto;
E, forme delfiche, 
A te da canto,

Rosee ne l'orrida
Compagnia nera
Mena Licoride,
Mena Glicera. 

Ma d'altre imagini 
D'età più bella
Talor si popola
L'insonne cella.

Ei, da le pagine
Di Livio, ardenti 
Tribuni, consoli,
Turbe frementi

Sveglia; e fantastico
D'italo orgoglio 
Te spinge, o monaco, 
Su 'l Campidoglio.

E voi, che il rabido
Rogo non strusse,
Voci fatidiche,
Wicleff ed Husse, 

A l'aura il vigile
Grido mandate:
S'innova il secolo,
Piena è l'etate. 

E già già tremano
Mitre e corone:
Dal chiostro brontola
La ribellione,

E pugna e prèdica
Sotto la stola 
Di fra' Girolamo
Savonarola. 

Gittò la tonaca
Martin Lutero; 
Gitta i tuoi vincoli,
Uman pensiero,

E splendi e folgora
Di fiamme cinto;
Materia, inalzati;
Satana ha vinto.

Un bello e orribile
Mostro si sferra, 
Corre gli oceani,
Corre la terra:

Corusco e fumido 
Come i vulcani,
I monti supera,
Divora i piani;

Sorvola i baratri;
Poi si nasconde
Per antri incogniti,
Per vie profonde;

Ed esce; e indomito
Di lido in lido
Come di turbine
Manda il suo grido,

Come di turbine
L'alito spande:
Ei passa, o popoli,
Satana il grande.

Passa benefico
Di loco in loco
Su l'infrenabile
Carro del foco.

Salute, o Satana
O ribellione
O forza vindice 
De la ragione!

Sacri a te salgano
Gl'incensi e i voti!
Hai vinto il Geova
De i sacerdoti.

To thee of ALL BEING
The FIRST CAUSE immense
Of matter and spirit,
Of reason and sense

Whilst in the full goblet
Shall sparkle the wine,
So bright the pupil
The souls of men shine,

Whilst earth still is smiling,
And the sun smiles above,
And men are exchanging
Their sweet words of love,

Thrills mystic of Hymen1
Through high mountains course,
And broad plains are heaving
With life's fertile force,

On thee in verse daring,
From tight rein released,
On thee I call, Satan,
The King of the feast.

Away aspersorium,2
With priest who would bind!
Priest, NOT at thy bidding
Gets Satan behind.

Behold, rust is eating
The edge of the blade
In the hand of great Michael3
The faithful displayed.

The displumed Archangel
Descends to the void,
The thunderbolt's frozen
Jehovah employed.

Faint pallid meteors,
Wan stars void of light,
Like rain down from heaven
Fall angels in flight.

In matter aye sleepless
Of forces the spring,
KING OF PHENOMENA,
Of FORMS, Lord and King.

Here only LIVES Satan,
His power supreme
In a dark eye flashes
With tremendous gleam,

Whether it languidly
Retreats and rebels, 4
Or bright and audacious
Provokes and compels. 5

In gay blood it sparkles
That's pressed from the vine,
Whose gift of swift pleasure
Shall never decline,

Which can to our fleeting
Life new strength impart,
Which puts off our sorrows,
To love gives a Heart.

'Tis thou that inspirest
The song that doth rise
IN MY BOSOM, O Satan,
When that god it defies,

On whom guilty pontiffs
And cruel kings call;
Men's minds thou so shakest
As when lightenings fall.

Ahriman and Adonis,
Astarte, to thee,
Canvas, marble and paper
All lived and were free

When Venus new risen
From billowing seas
Serenely made happy
Ionia's breeze.

On Lebanon quivered
The trees at thy name,
When to gentle Cypria
Her risen love came.

Thee chorus and dances
In joy celebrate,
Love pure and virginal 6
To thee dedicate

Mid the palm-trees fragrant
Of Araby's land,
Where whitens the sea-foam
On Cyprian strand.

What matter if fury
Of fierce Nazarene
From ritual barbaric
Of love-feast obscene

Hath set with blest torches
The temples on fire,
And Argolis' idols 7
Hath hurled in the mire.

In cottages lowly
A REFUGE dost find,
Amid household Lare
Folk keep thee in mind.

The God and the Lover
A woman's warm breast
With his ardent spirit
Once having possessed,

Thou turnest the witch
Whom long searching makes pale
To lend succor TO NATURE
O'er disease to prevail.

Thou to the motionless
Eye of the alchemist,
In sight of the magus
Who dares to resist,

Beyond the dull cloister
Its gates set ajar,
Revealest in brightness
New heavens afar.

In lonely Thebaid
The wretched monks hide 8
From thee and THINGS WORLDLY
In safety to bide.

Ah, doubtful soul standing
Where life's roads divide,
See, Satan is kindly,
Heloise at thy side! 9

In vain with rough sackcloth
Thy flesh dost maltreat,
From Maro and Flaccus 10
The verse will repeat

Betwixt psalms of David;
'Twixt weeping and dirge
He causes beside thee
Delphic forms to emerge.

Amongst those companions
Though garbed in black weeds
With rosy Lycoris
Glycera he leads. 11

But other the phantoms
When finer the age,
At times he awakens
From Livy's full page, 12

When tribunes and consuls
And vast crowds that thrill
With ardor and passion
That sleepless cell fill,

He to the Capitol
Thy land to set free
Of Italic pride dreaming,
Oh monk, urges thee.

And you, Huss and Wycliffe 13
No fury of flames
Could stifle your voices'
Prophetic acclaims.

Send forth on the breezes
Your watch-cry sublime
"A new age is dawning,
Fulfilled is the time!"

Already are trembling
Both miter and crown,
And cloistered seclusion
Rebellion BREAKS DOWN.

Then fighting and preaching
Under the stola
Comes Fra Girolamo
Savonarola. 14

The cowl Luther cast off,
And freedom he brought: 15
So cast off thy fetters,
Be free, human thought!

And shine forth resplendent,
Encircled with FLAMES,
Arise MATTER, Satan
The victory claims.

A beautiful monster,
A terrible birth,
Runs over the ocean,
Runs over the earth.

Volcano like flashes
Through dim smoke it lowers,
It scales lofty mountains
Broad plains it devours.

It spans the abysses,
In caverns it hides
And through the deep cleft ways
Invisible glides;

Then comes forth undaunted,
From coast to coast hies,
As from some fierce whirlwind
It sends forth its cries.

As breath of the whirlwind
Spreads out on the vast
Expanse, O ye nations
Great Satan goes past.

From place to place passes
Beneficient He
On his chariot of fire
Untrammeled and free.

All hail to thee, Satan!
Rebellion, all hail!
Hail, power of reason,
Avenge and prevail!

To thee arise incense
And holy vows paid,
Thou, Satan, hast vanquished
The god by priests made. 16

Erläuterungen:

1 God of marriage whose symbols are bridal torch

2 Place where xian-priests sprinkle people

3 Michael is an Arch Angel seen to be a warrior.

4 Think physics.

5 Think chemistry.

6) Virginal, means Innocent and Pure of Heart

7 Argolian Plateau.

8 Region of monks in Egypt, Thebais region.

9 Peter Abelard was a teacher, Heloise was his lover, the story is a tragedy.

10 Maro is Virgil, Flaccus is Horace, 2 Roman poets

11 Lycoris, a woman celebrated in love elegy by Gallus. Glycera: a sacred notorious Greek courtesan, the mistress of Memander and Horace.

12 Livy, Roman historian

13 Hus, student of Wycliffe, forerunners of Protestant Reformation. Hus was burned at the stake.

14 Savonarola was hanged for heresy.

15 Martin Luther was seen as a rationalist at that time.

16 Carducci uses the small "g" when referring to the Catholic God.

[Quelle von Übersetzung und Erläuterungen: http://www.coa.altervista.org/text/satanism/hymn_to_satan.htm. -- Zugriff am 2004-0927] 


1866



Abb.: Cham [= Amédée de Noé] (1819 - 1879): M. Brémond: Des saintes dans und bureau d'omnibus attendent la voiture de la barrière des Martyrs. — Heilige Frauen, die in einer Halle auf den Omnibus der Barriére des Martyrs warten. -- In. Le Charivari. -- 1866-05-13

Erläuterung: Parodie auf eine Darstellung der vier Kardinaltugenden eines Malers namens Brémond.

[Bildquelle: Die Karikatur zwischen Republik und Zensur : Bildsatire in Frankreich 1830 bis 1880, eine Sprache des Widerstands? / Hrsg. und Red.: Raimund Rütten ... Unter Mitarb. von: Gerhard Landes ... -- Marburg : Jonas-Verl.,1991. -- 502 S. : zahlr. Ill. ; 29 cm. -- ISBN: 3-922561-97-7. -- S. 380]



Abb.: Keine Karikatur, sondern ernst gemeint: "Denn dies ist das Brot Gottes, das vom Himmel kommt und gibt der Welt das Leben." (Johannesevangelium 6,33). -- Von Ludwig Richter (1803 - 1884). -- In: Unser tägliches Brot in Bildern. -- 1866


Franz Grillparzer (1791-1872): Feindesgefahr.  -- 1866

Die Hilfe Gottes, muss ich vermuten,
Liegt für uns heute ein wenig im weiten,
Denn nach diesem Leben hilft er den Guten,
In diesem Leben den Gescheiten.



Abb.: Keine Karikatur, sondern ernst gemeint: "Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das aus dem Munde Gottes gehet." (Matthäusevangelium 4,4). -- Von Ludwig Richter (1803 - 1884). -- In: Unser tägliches Brot in Bildern. -- 1866


1867



Abb.: Cham [= Amédée de Noé] (1819 - 1879): M. Daumas. Tout en pleurant Jérusalem, Jérémie charche à s'assurer si l'eau contre la calvitie dont il se sert depuis quinze jours fait repousser ses cheveux. Rien! rien! rien! — In Tränen über Jerusalem versucht sich Jeremias zu vergewissern, ob das Wasser gegen den Haarausfall, das  er seit zwei Wochen verwendet, seine Haare wieder wachsen lässt. Nichts! nichts! nichts!. -- In. Le Charivari. -- 1867-05-16

Erläuterung: Parodie auf eine Darstellung Jeremias' eines Malers namens Daumas

[Bildquelle: Die Karikatur zwischen Republik und Zensur : Bildsatire in Frankreich 1830 bis 1880, eine Sprache des Widerstands? / Hrsg. und Red.: Raimund Rütten ... Unter Mitarb. von: Gerhard Landes ... -- Marburg : Jonas-Verl.,1991. -- 502 S. : zahlr. Ill. ; 29 cm. -- ISBN: 3-922561-97-7. -- S. 380]


1868/69


Friedrich Rückert (1788 - 1866). -- 1868/69

Unsinn ist der Erbauung am wenigsten hinderlich; wo sie
Nicht ergründet den Sinn, legt sie den tiefsten hinein.


1870


Georg Herwegh (1817-1875): Zuchthaus. -- März 1870

Du Fürst auf deinem Siegerthron,
So glaubensstark, so bibelfest,
Der, trotzend einer Nation,
Nach Gottes Wort uns köpfen lässt;

Ihr winzigen Vasallen auch,
In eurem Purpur, halbzerlumpt,
Die ihr zu souveränem Brauch
Vielleicht die Guillotine pumpt;

Gespenster der Vergangenheit,
Die man kaum noch mit Namen nennt,
Die ihr von Gottes Gnaden seid —
Ja wohl, und keine Gnade kennt —;

Wenn ohne Henker euer Witz
Verloren ist, so gebt im Staat
Dem Henker einen Ehrensitz
Und macht ihn zum Geheimerat!

Es hat schon mancher schlechtre Mann,
Auf dessen Brust kein Orden fehlt,

Den Genius, der Wolle spann,
Im Zuchthaus langsam totgequält.

Langsam, ganz langsam — Glied für Glied!
Ich preis des Henkers milde Hand;
Doch euer Zuchthaus — Schweig, mein Lied;
Mal nicht den Teufel an die Wand!

Erläuterung: Bezieht sich auf  Wilhelm I, König von Preußen seit 1861.


H. Lauten: Weihnachtslied. -- 1870


Abb.: Auf dem Weg zur Christmette. -- In: Gartenlaube. -- 1879

Dumpf brauset der metallne Chor
Aus jedes Kirchturms Bauch hervor,
Und Halleluja singen
Die Christen all im Jubelton,
Denn diese Nacht gebar den Sohn,
Der Heil uns sollte bringen.

Um Mitternacht stand am Altar
Der Priester, und die ganze Schar
Der Christen kniete nieder;
Verdrängt durch Lampen war die Nacht,
Es gab des Domes Säulenpracht
Der Musik Echo wieder.

Und bei des Christbaums hellem Schein
Sieht man das Jesuskindelein
Zum Schauwerk auserkoren;
Geschenke teilt man viele aus,
Und jubelnd tönt von Haus zu Haus:
Heut ist der Christ geboren!

Jawohl, geboren ist der Christ,
Doch alle, die ihr jubelt, wisst
Und kennt ihr seine Lehre?
Was er gewollt, ihr tut es nicht,
Ihr übet keine Menschenpflicht
Und doch gebt ihr ihm Ehre?

Doch nein, nicht Ehre, es ist Spott,
Und euer Jubel dringt zu Gott
Wie Kains Opfergabe,
Bringt auf der Menschheit Sühnaltar
Auch jubelnd euren Mammon dar.
Dass er Gefallen habe.

Macht endlich doch zur Wirklichkeit
Sein Reich, und heilt den Schmerz der Zeit
Durch Taten, die ihn loben,
Das Himmelreich auf Erden schon
Erringt durch Assoziation,
Dann ist der Schmerz gehoben.

Talent und Arbeit hebt empor,
Drum ehret nicht den reichen Tor
Um seines Geldes willen,
Denn was er hat, ist derer Schweiß,
Die trotz Talent und strengem Fleiß
Sich kaum den Hunger stillen.

Erkennt die Menschenwürde an
Und ehret auch den armen Mann
Denn Gott will keine Knechte,
Die bettelnd um Erbarmen flehn;
Nein! er will freie Menschen sehn,
Die fordern ihre Rechte.

Nach seinem Bilde schuf er ihn
Und gab ihm seine Erde hin,
Für alle reich an Güter;
Doch ihr habt Schande ihm gebracht,
Zu Knechten habt ihr uns gemacht
Und nennet euch Gebieter.

Ihr sagt: Vor Gott sind alle gleich;
Ihr betet: Zu uns komm dein Reich!
Und sitzt auf vollen Säcken
In eures Hauses weitem Raum,
Und eure Brüder haben kaum
Die Blöße sich zu decken.

Lasst ab von solcher Heuchelei
Gebt uns die Erde wieder frei,
Wo Christi Reich gegründet,
Und jubelt dann im Feierton:
Heil! diese Nacht gebar den Sohn,
Der Heil uns hat verkündet!

Erschienen in:

Der Volksstaat. -- Leipzig. -- 1.1869,1(2.Okt.) - 8.1876,29.Sept.; 1879,1-15; damit Ersch. eingest.  -- 1870, Nr. 103, S. 1

Abgedruckt in:

Das lyrische Feuilleton des "Volksstaat" : Gedichte d. Eisenacher Partei / hrsg. von Reinhard Weisbach. -- Berlin : Akademie-Verlag, 1979. -- XXX, 147 S.  -- (Textausgaben zur frühen sozialistischen Literatur in Deutschland ; 21). -- S.  110ff.


1870/1875


Georg Herwegh (1817-1875). -- 1870/1875

Sooft das Blut wie Wasser floss,
Sprachst du ein fromm Gebet
Und riefest: Gott ist groß,
Und Krupp ist sein Prophet.


Georg Herwegh (1817-1875): Zur neuen Glaubenslehre. -- November 1872

"'s ist mit dem alten Glauben aus!"
Ja wohl, mein lieber Doktor Strauß.
Ihr findet keinen Widersprecher
An mir, nur dünkt mich, besser ist
Der alte Glauben an den Christ,
Als euer neuer an die — Schächer.

Ihr folgt, les' ich, Darwin'scher Spur,
Verknüpft Geschichte mit Natur,
Macht mit der Urzell' euch zu schaffen,
Wie logisch sie von Vieh zu Vieh
Herauf entwickelt sich zum Affen.
Ja, bis zum Staatsmann von Genie.
Die Lehre kommt euch wie gerufen
Auch im Gebiete der Moral;
Nur leider fehlt's an Zwischenstufen
Sehr häufig hier, das ist fatal.

Zwar machtet ihr uns gerne stumm
Durchs große Wort "Myterium!"
— Ein Rückfall in den Theologen —
Doch niemand wird dadurch betrogen.
Denn von Gewalt zu Recht bleibt eine Lücke,
Und kein Sophist baut drüber eine Brücke
Und kein politischer Darwin,
Selbst in Byzanz, das heißt, selbst in Berlin.

Erläuterungen: bezieht sich auf

Strauß, David Friedrich <1808-1874>: Der alte und der neue Glaube. -- Leipzig : Hirzel, 1872

"Der Alte und der neue Glaube

Theologische Abhandlung von David Friedrich Strauß, erschienen 1872. – Dieses Alterswerk des durch sein Leben Jesu berühmten Religionskritikers ist nur zu verstehen vor dem kulturellen und weltanschaulichen Hintergrund seiner Zeit. Das 19. Jh. war das Zeitalter des Materialismus und der Religionskritik (L. Feuerbach, K. Marx, F. Nietzsche). Der kirchliche Glaube war in eine tiefe Krise geraten. Strauß selbst war in seiner Jugend Zeuge der weitumgreifenden Krise der lutherischen Landeskirche in Schwaben. Die Entkirchlichung führte in den Städten zunehmend zu einem Rückgang des Gottesdienstbesuches, während sie sich auf dem Lande als Pietismus artikulierte. Die protestantische Theologie des 19. Jh.s war zersplittert. Bei oberflächlicher Betrachtung lassen sich drei theologische Lager unterscheiden: die Orthodoxie, der Hegelianismus und die Theologie F. Schleiermachers. Die Orthodoxen spalteten sich wiederum in die »Unionisten« und »Konfessionalisten«, das heißt Gegner und Befürworter der von Friedrich Wilhelm III. herbeigeführten Union der Lutherischen und der Reformierten Kirche. Die spekulative Theologie war ebenfalls kein einheitliches Gebilde. Das Spektrum umfasste Richtungen wie die Tübinger Schule um Ferdinand Christian Baur, eine theologische Rechte um die ethische Theologie Albrecht Ritschls, eine theologische Linke um Adolf Hilgenfeld, Alois Emanuel Biedermann, Richard A. Lipsius u. a. Der Katholizismus, mit seiner geschlossenen, auf dem Boden der Neuscholastik und des Neuthomismus stehenden Gestalt, hätte in dieser glaubensgeschichtlichen Krise sicher eine hilfreiche Funktion gehabt, war allerdings seit 1871 mit der Lösung der deutschen Frage im preußischen Sinne und durch den Kulturkampf Bismarcks in ein politisches und kulturelles Abseits gedrängt und zur Wirkungslosigkeit verurteilt. Angesichts dieser desolaten Lage des Glaubens schrieb Strauß sein Werk, das in vier Hauptabschnitte (und zwei weniger interessante Zugaben) gegliedert ist. Die beiden ersten Hauptabschnitte tragen die bezeichnenden Titel Sind wir noch Christen? und Haben wir noch Religion? Mit einer – an Schleiermacher und dem großen Bibelkritiker der Tübinger Schule Ferdinand Christian Baur geschulten – quellen- und theologiekritischen Akribie versucht Strauß die historische Unglaubwürdigkeit der Bibel zu demonstrieren. Er wendet sich damit auch gegen die hegelschen Rechten: Carl Friedrich Göschel, Karl Rosenkranz, Bruno Bauer, und gegen ihren Anspruch, die Identität der religiösen Vorstellung und der philosophischen Vernunft zu demonstrieren. Der Glaube an die göttliche Dreifaltigkeit ist »eine Zumutung« und widervernünftig. Die Hypothese eines Sechstagewerkes hält einer wissenschaftlichen Betrachtung nicht stand. Der Glaube an Dämonen und den Sündenfall ist grotesk und gehört zu den »hässlichsten Seiten des alten Christenglaubens«. Der Glaube an die jungfräuliche Geburt Christi, seine Auferstehung und Himmelfahrt ist unhistorisch, naturwidrig und somit unmöglich. Der Glaube an Christi Auferstehung ist eine Erfindung der enttäuschten Jünger und folglich ein »welthistorischer Humbug«. Im zweiten Abschnitt versucht Strauß zu zeigen, wie der Gottesglaube entstanden ist: Die Naturkräfte wurden im Laufe der frühen Menschheitsgeschichte personifiziert, später wurden den Göttern Einwirkungen in die Sphäre der sozialen Beziehungen zugesprochen. Der Monotheismus entwickelte sich einerseits aus der Spekulation einiger Denker über die universalen Zusammenhänge und vor allem durch den kriegerisch herbeigeführten Sieg eines Stammesgottes (z. B. dem der in Kanaan eingefallenen Israeliten) über den Kult anderer Gottheiten. Dann stellt Strauß die Frage nach dem Sinn des Gebets. Unterschiedliche Interpretationen stehen sich gegenüber: eine ehrliche, die sich Erhörung erhofft (M. Luther); eine unwürdige, weil der kritischen Überzeugung widersprechende (F. Schleiermacher); eine psychohygienische (I. Kant). Da die Hoffnung auf Erhörung widervernünftig und die Psychohygiene auch anders möglich ist, erscheint das Gebet sinnlos. Der Glaube an die Unsterblichkeit ist zwar begreiflich, aber illusorisch; die Hoffnung auf Vergeltung und der Anspruch auf vollkommene Entwicklung ist anmaßend und unnatürlich zugleich. Außerdem hält es Strauß mit Rudolf Virchow, Carl Vogt u. a. für erwiesen, dass die Seele keine geistig-substantielle Entität, sondern nur das Epiphänomen neurophysiologischer Prozesse und damit sterblich ist. Das Wesen der Religion ist zu sehen zum einen – mit Schleiermacher – im menschlichen Bewusstsein der Abhängigkeit und zum anderen – mit Feuerbach – in den Wunschtendenzen des menschlichen Egoismus. Im dritten und vierten Abschnitt Wie begreifen wir die Welt? und Wie ordnen wir unser Leben? expliziert Strauß sein eigenes materialistisches Weltbild, wobei er sich vor allem auf Ch. Darwin beruft: Die Welt hat sich durch Selbstentfaltung der Materie nach deren immanenten Gesetzen entwickelt bis zur Entstehung von Bewusstsein. Aus all dem ergibt sich als Schlussfolgerung: Fortschritt der Kultur und der Wissenschaften ist nur durch die Loslösung von religiösen Vorstellungen möglich.

Der alte und der neue Glaube löste eine heftige Kontroverse und Polemik aus, heute ist das Werk jedoch nur noch von historischem Interesse. Seine Aussagen sind größtenteils überholt durch die moderne Bibelexegese und nicht zuletzt durch den modernen Stand der Naturwissenschaften selbst."

[Quelle: Alexander F. Lohner. --  In: Kindlers Neues Literaturlexikon. -- München : Kindler, ©1996. -- s.v.]


1874


Anonym: Sozialistengebet. -- 1874

Was Gott tut, das ist wohlgetan!
Nur scheint er nichts zu tuen,
Und seit dem ersten Schöpfungsplan
Gemütlich auszuruhen.
Drum beten wir auch für und für
Trotz Micheln und trotz Matzen:
„Den Himmel überlassen wir
Den Engeln und den Spatzen!"

Das große Heer der schwarzen Brut,
Die Gottesstellvertreter,
Erheben drum in grimmer Wut
Ein Höllenmordgezeter.
Schreit nur! von uns erhaltet ihr
Nicht einen roten Batzen:
„Den Himmel überlassen wir
Den Engeln und den Spatzen!"

Es hat die Wissenschaft mit Macht
Das Himmelreich entgöttert,
Und eures Glaubens blinden Schacht
Ein Donnerschlag zerschmettert.
Wahrheit heißt unser Kampfpanier
Und nicht ein töricht Schwatzen:
„Den Himmel überlassen wir
Den Engeln und den Spatzen."

Wir Armen, die mit Blut und Schweiß
Die Pfaffen einst gefüttert,
Ihr macht uns nicht die Hölle heiß,
Vor der kein Weiser zittert.
Kommt ihr, wir weisen euch die Tür,
Mögt ihr vor Ärger platzen:
„Den Himmel überlassen wir
Den Engeln und den Spatzen."

Erschienen in:

Volksstaat-Erzähler. -- Leipzig : Genossenschaftsbuchdr. -- 1.1873/74,1(7.Dez.) - 2.1875,49(19.Dez.); damit Ersch. eingest. -- 1874, Nr. 6, S. 4

Abgedruckt in:

Das lyrische Feuilleton des "Volksstaat" : Gedichte d. Eisenacher Partei / hrsg. von Reinhard Weisbach. -- Berlin : Akademie-Verlag, 1979. -- XXX, 147 S.  -- (Textausgaben zur frühen sozialistischen Literatur in Deutschland ; 21). -- S.  34f.


Adolf Lepp (1847 - 1906): Und sie bewegt sich doch. -- 1874

Galileo Galilei
Sprach einst das große Wort,
Das drohend an Palais,
Durch Hütten toset fort.
Die Sonn lief um die Erde,
So lehrte das Papsttum noch;
Die Erde stehe stille.
„Und sie bewegt sich doch."

Das sah der Galilei:
Und lehrte es öffentlich.
Da ward er eingekerkert,
Weil er vom Dogma wich.
Wohl musste er widerrufen,
Doch er ermannte sich noch,
Sprach hoch von des Altars Stufen!
„Und sie bewegt sich doch!"

Jetzt lernen es die Kinder,
Was damals man verwarf!
Einst lernen sie's nicht minder,
Was heut man kaum denken darf.
Trotz allen Volksbeglückern
Wächst doch die Sturmflut hoch,
Trotz allen Unterdrückern!
„Und sie bewegt sich doch!"

Als Gracchus Babeuf1 die Sache
Des vierten Standes vertrat,
Da schrien die Mächtigen: Rache!
Da griff das Volk zur Tat.
Es sank. Auf seinen Grüften
Erstand ein Banner hoch.
Es flattert in den Lüften:
„Und sie bewegt sich doch!"

Da, 18302,
Erfocht das Volk den Sieg;
Es ließ ihn sich entreißen,
Und wieder gab es Krieg.
Und auf der Arbeiter Leichen
Stand wild der Geldmoloch;
Was sahn wir ihn erbleichen?
„Und sie bewegt sich doch!"

Wenn acht- und neunundvierzig3
Die Arbeit unterlag,
So siegten die Ideen
Und dämmerten zum Tag;
Was dort man glaubte begraben,
Wir halten's mutig hoch,
Weil wir es begriffen haben:
„Und sie bewegt sich doch!"

Noch eine Frist des Elends,
Dann nehmen wir uns Brot.
Arbeitend leben
Oder kämpfend tot!
Will man die Luft erpressen,
So sucht sie sich ein Loch.
Man hat die Kraft vergessen,
„Und sie bewegt sich doch!"

Wie Georg III.4
In England unterlag
Und feige sich zurückzog,
Dem Fortschritt gebend nach;
Trotz Kaiser, Reich und Reisig5
Geht die Bewegung hoch,
Trotz Paragraph 1306:
„Und sie bewegt sich doch!"

Wie Russlands grimme Knute
Den Freisinn nicht anficht,
So schadet die deutsche Rute
Auch unserm Fortschritt nicht!
Trotz Bismarck und Kaliber
Schwillt unsre Strömung noch;
Trotz Tessendorf7, trotz Stieber8,
„Und sie bewegt sich doch!"

Erläuterungen:

1 Babeuf

"Babeuf (Baboeuf, spr. -böff), François Noël, Jakobiner, geb. 1764 in St.-Quentin, war als Feldmesser und Grundbuchskommissar beschäftigt, als die Revolution ausbrach, für die er in der Presse mit Begeisterung eintrat. Unter dem Namen Gracchus Babeuf griff er in dem Journal »Tribun du peuple« jede bürgerliche Ordnung an. Nach Robespierres Sturz saß er 10 Monate im Gefängnis. Im November 1795 durch eine Amnestie befreit, stiftete Babeuf den Klub des Pantheons oder der Gleichen (Égaux, Babouvistes) und zettelte eine nach ihm genannte Verschwörung an, deren Ziel der Sturz der Direktorialregierung, Einziehung alles Besitzes zugunsten der Nation und Herstellung eines kommunistischen, in Gütergemeinschaft and nationaler Arbeitsverteilung organisierten Staates war. Indessen wurde die Verschwörung im Mai 1796 von dem Genossen Grisel verraten, Babeuf mit andern Häuptern von dem Staatsgerichtshof zu Vendôme nach einem langen Prozess zum Tode verurteilt und 27. Mai 1797 mit seinem Genossen Darthé guillotiniert. Die übrigen Mitschuldigen wurden zum Teil deportiert, zum Teil freigesprochen."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

2 1830: Julirevolution in Frankreich: hatte den endgültigen Sturz der Bourbonen in Frankreich und die erneute Machtergreifung des Bürgertums in einem liberaleren Königreich zur Folge.

3 1848/49: Februarrevolution 1848 in Frankreich und die sog. Märzrevolutionen in vielen Staaten 1848/1849

4 Georg III. (1738 - 1820),  von 1760 bis 1820 König von Großbritannien. Er verlor den Unabhängigkeitskrieg gegen die nordamerikanischen Kolonien, der mit der Selbständigkeit der USA endete.

5 Reisig: kann ich nicht erklären

6 § 130: Hochverrat

7 Tessendorf

"Tessendorff, Hermann Ernst Christian, Jurist, geb. 6. Aug. 1831 auf Gut Friedrichshagen in Pommern, gest. 1. Dez. 1895 in Leipzig, war 1864-1873 Staatsanwalt in Burg, dann in Magdeburg, wurde 1873 an das Berliner Stadtgericht versetzt, war 1879-85 Senatspräsident an den Oberlandesgerichten Königsberg und Naumburg, wurde 1885 Präsident des Strafsenats am Kammergericht in Berlin und 1886 Oberreichsanwalt in Leipzig."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

8 Stieber

"Stieber, Wilhelm, preuß. Polizeibeamter, geb. 3. Mai 1818 in Merseburg, gest. 29. Jan. 1882, studierte die Rechte, trat 1843 beim Polizeipräsidium in Berlin in Dienst, bildete sich zu einem der gewandtesten Kriminalpolizeibeamten aus und wurde, da er besonders bei politischen Untersuchungen Verwendung fand, allgemein gefürchtet. Unter der neuen Ära 1860 wegen Überschreitung der Amtsbefugnisse angeklagt, aber freigesprochen, wurde er zur Disposition gestellt, erwarb sich aber 1866 und 1870/71 als Chef der Feldpolizei große Verdienste und wurde Geheimer Regierungsrat. Nach Stiebers Tod erschienen nach seinen Papieren frei bearbeitete »Denkwürdigkeiten des Geheimrats S.« (Berl. 1883)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

[Quelle: Lepp, Adolf <1847 - 1906>: Ein deutscher Chansonnier : aus d. Schaffen Adolf Lepps / hrsg. von Ursula Münchow u. Kurt Laube. -- Berlin : Akademie-Verlag,1976. -- XXXV, 224 S. ; 20 cm. -- (Textausgaben zur frühen sozialistischen Literatur in Deutschland ; Bd. 16). -- S. 11 - 13.]


1875


Friedrich von Bodenstedt (1819-1892): Der Kampf ums Dasein. -- 1875

Es wandelt der Neuzeit gewaltiger Fortschritt
In oft viel Staub aufwirbelndem Wortschritt,
Wobei Mancher die kühnsten Sprünge wagt,
Ohne selbst recht zu wissen, was er sagt.

„Der Kampf um's Dasein" heißt die Phrase
Als Schlagwort der neuen Erkenntnisphase,
Und wirklich ist, wie man's erkor,
Dies Wort ein Schlag auf's deutsche Ohr,
Der das Gehör gleich wirksam dämpft
Beim Eingang zur Erkenntnispforte.

Wer hat um's Dasein je gekämpft?
In welcher Zeit? an welchem Orte?

Bewusstlos ward es uns gegeben
Mit unserm ersten Atemzug.
Wir kämpften nur, um fortzuleben.
Und Mancher hat gar bald genug
An diesem Kampf und sucht der Zuchtwahl,
Samt den Gesetzen der Vererbung
Und alles Erdenglücks Erwerbung,
Sich zu entziehn durch freie Fluchtwahl
Aus dieser Kampfeswelt, die schmerzlos
Niemand betritt und Niemand flieht,
Und wo nur glücklich ist, wer herzlos
Auf all' das Elend um sich sieht.


Pottier, Eugène (1816 - 1887): Die Entkreuzigung. -- 1875. -- Nachdichtung von Erich Weinert (1890-1953)

Als Licht ward auf der Erdenbühne,
Sprach Jesus: „Macht vom Kreuz mich los!
Ich hing für Papst und Könige bloß.
Für wen noch häng ich hier zur Sühne?

Dem Dogma gebt den letzten Stoß!
Ich bin ein Mensch, kein Wunderhüne.
Ich glaube nur an die Commune;
Denn nur der Mensch ist wahrlich groß!

Was? Ihr? Nicht brauchbar mehr als Dünger,
Ihr gebt euch aus als meine Jünger,
Ihr Blender mit dem Heiligenschein?
Geht, lasst mich aus, Lakaienbande!

Denn euer lieber Gott zu sein,
War mir die allertiefste Schande."

[Quelle: Eugène Pottier und seine Lieder / Erich Weinert. -- Berlin : Volk u. Welt, 1951. -- 164 S.  -- S. 78.]


1877


Oscar Blumenthal (1852 - 1917): Der neue Glaube. -- 1877

Es bildet sich der Glaubenssatz allmählich:
Der liebe Gott ist tot — Gott hab ihn selig.


1878


Friedrich Wilhelm Weber (1813 - 1894): Dreizehnlinden, XVII. Des Priors Lehrsprüche. -- 1878
»Wissen heißt die Welt verstehen;
Wissen lehrt verrauschter Zeiten
Und der Stunde, die da flattert,
Wunderliche Zeichen deuten.

Und da sich die neuen Tage
Aus dem Schutt der alten bauen,
Kann ein ungetrübtes Auge
Rückwärts blickend vorwärts schauen.

Denn solange Hass und Liebe,
Furcht und Gier auf Erden schalten,
Werden sich der Menschheit Lose
Ähnlich oder gleich gestalten.

Menschen sind die Menschenkinder
Aller Zeiten, aller Zonen,
Ob sie unter Birkenbüschen,
Ob sie unter Palmen wohnen;

Ob sie vor dem Christengotte,
Ob vor Wodan sie sich bücken,
Ob sie sich in Lumpen bergen
Oder sich mit Purpur schmücken.

Vielfach sind die Wolkenbilder,
Die den Himmelsraum durchwallen,
Doch nur Dunst die leichten Flocken,
Doch nur Dampf die schweren Ballen.

Alle auf des Sturmes Straße
Fahren sie, die Luftgespinste:
Wolkenbilder, leere Dämpfe,
Menschenbilder, eitle Dünste!«


Leopold Jacoby (1840-1895): Lasciate ogni speranza. -- 1878

Als die jenseitlose Welt,
Die Welt des heiteren Genießens
In Trümmer sank, schuldbeladen,
Wurmzerfressen von Sklaverei,
Da brach für die Menschen an
Ein träumendes, erdenberaubtes Dasein.

Hoffnungssklaven des Himmels, quälten sie sich
Freudenenterbt und heimatlos
In irdischem Fluch, in irdischem Elend.
Wie ein Lottospieler
Harret auf des Glückes Los,
Entzogen wird ihm durch Hoffen,
Ausgesogen durch Hoffnung
Macht und Stärke von Hand und Hirn —
So klammerten sich an Hoffnung an
Die Menschenkinder
Und lebten den Tod und starben ihr Leben.

Da ein Dichter der Zeit
Auf die Hallen des Schreckens schrieb :
Die ihr eintretet, gebet die Hoffnung auf!
Graunvoll klang das Wort
In die angsterbebenden, hoffenden Herzen.
Kommen seh ich ein neu Geschlecht
Lebensfreudiger Menschen,
Wissend, dass sie müssen erzeugen,
Wissend, was sie müssen vollenden.

Ausgeträumt ist der öde Traum,
Umgestürzt der Molch des Hoffens;
Da quillt aus eigner Kraft dem Menschen
Ungeahnte Segensfülle
Und ein Leben in Schönheit auf Erden.

Kommen seh ich ein neu Geschlecht,
Und, wie die Griechen einst,
Auf Weisheithallen schreibt es die Worte auf:
Kenne dich selbst! Das ist:
Mach dich von Hoffnung frei!
Freudig ertönt das Wort
In den erwachten Herzen wieder.

Hoffnungslos, vollbewusst
Wirket der einst am Weltenlauf
Der Mensch, der Verächter blinden Glücks,
Ein Gebieter des Schicksals.

Erläuterung: Lasciate ogni speranza, [voi ch' entrate] (ital.) = "Lasst jede Hoffnung, ihr, die ihr eintretet". Dante Alighieri, Die göttliche Komödie (1321), Hölle, III, 9. (letzter Vers der Inschrift über der Höllenpforte).


1884


Otto Erich Hartleben (1864-1905). -- 1884

Erschlafft im Schlafe kindischen Glaubens, hast
du lang genug jetzt, duldendes Volk, geruht.
Ermannet euch - und eurer Ketten
rostige Reife, sie werden brechen!

Nicht länger betend winselt in leere Luft,
auf dieser Erde wirkt und erschafft das Heil.
Verlacht der Pfaffen schnöde Lüge,
die da vertröstet aufs bessre Jenseits!

Fort mit dem Trugbild ewiger Seligkeit,
das aus dem Leben, drin es zu leben galt,
euch tatenlose, freudelose,
lockt in die schweigende Nacht des Todes!


1885


Paul Heyse (1830-1914): Gott und Welt <Auszüge>. -- 1885


Die goldne Mittelmäßigkeit
Muss wohl Unmittelbares hassen.
Drum hat sie sich zu aller Zeit
Natur, Geist, Gottes Herrlichkeit
Anthropomorphisch lang und breit
Zum Schulgebrauch übersetzen lassen.


War's auch human, im Wurmgeschlecht
Den Gottesfunken anzufachen?
Musst' er den gottbewussten Knecht
Nicht vollends erst zum armen Teufel machen?


Rätsel, die zu lösen endlich,
Werden sie »natürlich« schelten.
Nur was ewig unverständlich,
Wird als Offenbarung gelten.


Im Buch der Bücher offenbar
Steht Gottes Wort. Doch sagt, ihr Frommen,
Ist Gott durch so viel tausend Jahr
Sonst nie zu Wort gekommen?


Wie gegen die Kirche wir auch uns wehren,
Der Andacht können wir nicht entbehren.


Gern auf den Knieen verehrt' ich ihn,
Ließ' er im feurigen Busch sich spüren.
Doch mag ich nicht so obenhin
Seinen Namen unnützlich führen.


Gönnt doch den Wahn dem armen Schlucker,
Der nur des Lebens Bitterkeit genießt!
Unsterblichkeit ist ja der Zucker,
Der ihm den herben Trank der Zeit versüßt.


Vergüten reichen Alters Garben
Misswachs der Jugendzeit und langes Darben,
Und sollt's Ersatz im Himmel geben
Für ein verpfuschtes Erdenleben?


Bist du schon gut, weil du gläubig bist?
Der Teufel ist sicher kein Atheist.

Anthropomorphismus

Du glaubst, mit Gott vertraulich
Unter vier Augen zu sein,
Und blickst doch nur erbaulich
Ins Spiegelglas hinein.


Schächerphantasie

Die schöne Erde geben sie aus
Für ein großes Zucht- und Arbeitshaus
Und glauben, der Herr und Schöpfer sei
Der oberste Chef der Weltpolizei.


Die Gemütlichen

Ihr stellt in euren Systemen nur
Ein artig Familienbild zur Schau,
Als wäre Mütterchen Natur
Des lieben Herrgotts liebe Frau.
Die Kinder, die nicht wohlgeboren,
Zupft der Papa derb an den Ohren,
Und bessern sich die armen Lümmel,
Belohnt er sie in seinem Himmel.


Sehr weislich pflegt die Menge beim Gebet
Gott in Hausvatertracht zu stecken.
Erschien' er ihr in voller Majestät,
Wie Semele erläge sie dem Schrecken.


Sie treiben es nach Höflingsart:
Ein Zweifel schon ist Majestätsverbrechen,
Und der ist reif zur Höllenfahrt,
Der offen wagt zu widersprechen.


Harun Al Raschid horchte gern
Vermummt auf das Gespräch der Schenken.
Sollt's nicht ergötzen Gott den Herrn,
Zu lauschen, was wir von ihm denken?


Wohl, sein eigner Herr zu sein,
Ist des Menschen höchste Würde,
Doch die Furcht treibt insgemein
Herdenmenschen in die Hürde.

Lieber brennt ihr feig und schwach
Selber euch ins Fell ein Zeichen,
Dürft ihr nur dem Leitbock nach
Grasen unter euresgleichen.


1886


Arno Holz (1863-1929): Widmungsepistel zu "Buch der Zeit" <Auszug>. -- 1886

Drum lächle ich, wenn meine Herrn Kollegen
Sich tragisch vor den großen Spiegel stellen,
Dort ihren Missmut wie ein Äffchen hegen
Und sich ihr bisschen Leben selbst vergällen.
Zuwider sind mir jene faden Possen
Von einem ewigen Pessimistenleid,
Denn ich bin jung und noch zu tief verschossen
In Gottfried Kellers »grüne Erdenzeit!«1
Ich trinke ihre Luft in vollen Zügen
Mit Wipfelwehen, Licht und Adlerschrei,
Und kein Talarmensch soll mich fromm belügen,
Dass diese junge Liebe »sündhaft« sei!
Lasst nur die ewig biblischen Asketen
Sich selbst in die Kamelshaartoga zwängen
Und nicht uns junge, lachende Poeten,
Die sich den Himmel noch voll Geigen hängen!
Zwar hab ich dann und wann »verrückte Touren«,
Doch zieh ich niemals vor mir selbst den Hut
Und braue meine lyrischen Mixturen
Aus Zuckerwasser und Tyrannenblut!
Auch bin ich Heide und als solcher zynisch
Und hasse nichts so wie die Prüderei,
Steh nicht zum Besten mit der Polizei
Und bin vor allem Eins nicht: misogynisch2!

Ja, ich geb's zu: Ein Weltkind bin auch ich
Und mag es leiden, »wenn der Becher schäumt«,
Und weiß trotz Don Juan wie süß es sich
An einem schönen Weiberherzen träumt!
Drum würgen möcht ich jene schwarzen Heuchler,
Die auf den Kanzeln jesuitisch flennen
Und hinterrücks als feige Unschuldsmeuchler
Die denkbar schlüpfrigsten Finessen kennen!
Ein Narr, wer heut sich nicht zu helfen weiß:
Erst schielt dies christlich frömmelnde Geschmeiß
Nach vollen Brüstchen und nach drallen Wädchen
Und dann - schreibt's Andachtsbücher und Traktätchen!

Doch dies und Andres auszusprechen,
Ist heut ein Majestätsverbrechen;
Denn »echt« kann man als Dichter sein
Nur harmlos wie Hans Huckebein3!

Zwar glaub auch ich, dass unsre Ahnen Affen,
Doch will ich heut mal mythologisch sein
Und sage, Gott hat Eva nackt geschaffen,
Das Feigenblättchen kam erst hinterdrein!
Doch, Ihr verzeiht! Ich wollte ja dies Thema
Als all zu spitz nicht länger mehr traktieren,
Auch nötigt mich zudem mein dummes Schema
Mich schleunigst in ein Andres zu verlieren!
Da sind vor allem jene Glaubenseifrer,
Die Finsterlinge und die Weltbegeifrer,
Die überall, wo sie noch Herzblut wittern,
Uns unser Leben demutsvoll verbittern!
Zwar immer opfert noch der Riese Wahn
Dem alten Vizegott im Vatikan
Und immer schneidern sich noch die Germanen
Aus Christi Windeln bunte Kirchenfahnen:
Doch ob er manchmal auch ihr Glück zerfrisst,
Der beste Freund der kranken Menschheit ist
Vom Ölberg bis zur - Reim her! - hohen Eifel
Der alte Weltprofessor Doktor Zweifel!
Vermorscht ist endlich in sich selbst die Zeit
Der hohlen Köpfe und der leeren Worte
Und ihrem sichern Untergang geweiht
Sankt Peters kahlgeschorne Schmutzkohorte!

Doch glaub nicht, dass man als »Tendenz«-Poet
Die »Segnungen der Kirche« nicht versteht!
In manchem Münster nistete die Taube,
Vor der Legende bog die Welt ihr Knie;
Des Mittelalters frommer Köhlerglaube,
Ich weiß es wohl, auch er war Poesie!
Im Klostergarten wehten grün die Eiben
Und man vergaß so gern den grellen Tag,
Wenn zitternd durch die buntbemalten Scheiben
Das Mondlicht silbern auf den Fliesen lag!
Doch jene Welt gebiert sich nimmer wieder,
Denn unsre Zeit nennt sich die Zeit des Lichts
Und andre Menschen wollen andre Lieder
Und für's Gewesne - gibt der Jude nichts!
Man glaubt nicht mehr an »himmlische Gesichte«
Und flüchtet skeptisch sich ins Voltairetum:
»Der größte Schwindel dieser Weltgeschichte,
Der größte Humbug ist das Christentum!«
Noch war, seit es die »Heiden« sich geduckt,
Kein Tag, an dem es nicht sein Blut geschluckt!
Und wagt sich frömmelnd pfäffische Sophistik
An die Behauptung, dass mein Vorwurf hinkt,
Dann schlagt nur nach die grause Blutstatistik,
Die wie ein Schandpfuhl wüst zum Himmel stinkt!

Millionen hörte die Geschichte jammern
Auf Scheiterhaufen und in Folterkammern,
Denn jenes Kreuzbild schreckte Mann und Weib,
Ja, selbst den Embryo im Mutterleib!
Von ihrer »Bruder«-Liebe sprach sie viel,
Der ewige Friede war ihr köstlich Ziel,
Doch wenn sie fromm in Köln die Juden hetzte
Und ihren Fuß in die Sevennen4 setzte,
Dann war die Kirche, dieses Schlangennest,
Erbarmungsloser als die schwarze Pest!
Doch enden wird auch dieser grause Fluch,
Denn jung ist unsre Zeit und wenig zahm
Und unterschrieb in ihrem Wörterbuch
Das alte Wutwort: Écrasez l'Infâme5!
Ja: erst wenn abgetan samt Stab und Stola
Die alte Lügenmutter des Loyola6,
Erst dann wird uns geheiligt Brod und Wein
Und jedes Mahl ein Mahl der Liebe sein!

Es ist die Welt mit ihren grünen Landen
Ein braves Wohnhaus und kein Lazarett,
Und Niemand hat sie ärger missverstanden,
Als jener Zimmrerssohn aus Nazareth.
Das heißt, nur jener, den die Pfaffen lehren,
Nicht jener, den wir heut noch selber ehren!
Für mich ist jener Rabbi Jesus Christ
Nichts weiter, als - der erste Sozialist!
Auch sag ich, nützlicher als alle Bibeln
Sind momentan uns unsre Volksschulfibeln!
Denn nur ein Narr beugt heut noch seinen Nacken
Vor Göttern, die - aus Weizenmehl gebacken!

Mein Lieblingsbuch betitl' ich Don Quixote
Und bin in Glaubenssachen Sansculotte7.
Doch pfeif ich auch auf alles Jenseitsheil,
So bin ich darum noch kein Gottverächter,
Nur glaub ich stramm, der Menschheit bestes Teil
Ist jenes althomerische Gelächter!
Vorzüglich, wenn, umspickt von Bajonetten,
Ihr noch energisch die Geduld nicht riss
In einer Ära der Papiermanschetten,
Des Lustmords und der Syphilis!

Doch dies und andres auszusprechen
Ist heut ein Majestätsverbrechen;
Denn »echt« kann man als Dichter sein
Nur harmlos wie Hans Huckebein!

Erläuterungen:

1 Gottfried Kellers »grüne Erdenzeit!«: Gottfried Keller (1819-1890): Sonett 23. -- 1846:

Sie ist so kurz, die grüne Erdenzeit,
Unendlich aber, was den Geist bewegt!

2 misogynisch: frauenfeindlich

3 Hans Huckebein: Wilhelm Busch (1832-1908): Hans Huckebein der Unglücksrabe. -- 1867

4 Sevennen = Cevennen (Cévennes, Gebirgskette im südlichen und mittlern Frankreich). Bezieht sich auf die Unterdrückung der Kamisarden

"Kamisarden (franz. Camisards), Name der Hugenotten in den Cevennen; der Name Camisards bedeutet eigentlich Blusenmänner, von camise, soviel wie chemise, Hemd, Bluse. Infolge der unmenschlichen Bedrückungen, die sie als Protestanten zu erdulden hatten, erhoben sich die K. 1689 in den Cevennen und dem Vivarais zur Verteidigung ihres Glaubens. Nach Stillung der ersten Empörung entstand ein neuer allgemeiner Aufstand durch die Grausamkeit des Abbé du Chaila, der die Zufluchtsörter der K. ausspürte, sie daselbst beim Gottesdienst überfallen und z. T. hängen, z. T. einkerkern ließ. Wegen dieser Gewalttaten wurde 1702 der Abbé mit den Seinigen erschlagen. Bald schwoll die begeisterte Schar der Aufständischen zu Tausenden an, und die gebirgige Beschaffenheit des Landes mit seinen Höhen und Schlupfwinkeln erleichterte ihnen den Kampf. Bereits hatten die K. mehrere königliche Heere geschlagen und z. T. vernichtet, als der König endlich 1703 den Marschall Montrevel mit 60,000 Mann gegen sie sandte. Dieser, ein ehemaliger Hugenotte, verfuhr auf das empörendste gegen seine frühern Glaubensgenossen. Massenweise wurden sie niedergemetzelt oder hin gerichtet und das Land in eine Wüste verwandelt; 466 Dörfer waren zerstört worden. Die K. vergalten Gleiches mit Gleichem: in der Diözese Nîmes allein erwürgten sie 84 Priester und brannten gegen 200 Kirchen nieder. An ihrer Spitze stand ein 20jähriger Bäckerbursche aus Ribaute bei Anduze, Jean Cavalier. Die Kühnheit und Geistesgegenwart dieses Führers, die Schwierigkeit des Kampfes, die immer weitere Verbreitung des Aufstandes und Cavaliers Plan, sich im Dauphiné mit dem Herzog von Savoyen zu vereinigen, drohten die höchste Gefahr. Da ersetzte Ludwig XIV. im April 1704 den unfähigen Montrevel durch den Marschall Villars. Dieser verkündigte für alle, welche die Waffen niederlegen würden, Amnestie; dagegen ließ er jeden, der mit den Waffen in der Hand gefangen ward, sofort töten und organisierte bewegliche Kolonnen, die nach allen Seiten hin operierten. Infolge davon ging eine Gemeinde nach der andern auf seine Anträge ein, und Cavalier selbst schloss endlich 10. Mai 1704 zu Nîmes einen Vergleich mit Villars; er trat als Oberst in die Dienste des Königs. Die Fanatischen unter den K. setzten den Kampf allerdings fort, wurden aber wiederholt besiegt und bis Ende 1704 unterworfen. Die Gewalttaten Berwicks, der 1705 als Nachfolger Villars' den Oberbefehl erhielt, riefen einen neuen Aufstand hervor, zumal die K. von den Engländern und Holländern mit Geld und Waffen unterstützt wurden. Aber im April 1705 war auch dieser bewältigt, und die letzten Aufständischen endeten zu Nimes auf dem Scheiterhaufen. Das ganze Gebiet der Cevennen war jedoch entvölkert und verödet. Ein Teil der K. trat unter Cavalier, der Reue über seinen Abfall fühlte und den Dienst Ludwigs XIV. wieder verließ, in englische Dienste und focht auf Seiten der Verbündeten in Katalonien, wo die meisten in der Schlacht bei Almansa 25. April 1707 den Untergang fanden. Cavalier ging nach England und starb als Gouverneur von Jersey 1740. Vgl. Court de Gébelins, Histoire des troubles des Cévennes ou de la guerre des Camisards (Villefr. 1760, 3 Bde.); Hofmann, Geschichte des Aufstandes in den Cevennen (Nördl. 1831); Bonnemère, Histoire des Camisards (Par. 1869); Mrs. Bray, Revolt of the Protestants of Cevennes (Lond. 1870), Issarte, Des causes de la révolte des Camisards (Montbéliard 1901). Novellistisch behandelten den Stoff L. Tieck in seinem »Aufruhr in den Cevennen« und E. Sue in dem Roman »Jean Cavalier, ou les fanatiques des Cévennes«."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

5 Écrasez l'Infâme:  (franz., spr. ekrase längfam', »rottet die infame aus«), ein in den Briefen Voltaires (1694 - 1778) (an Friedrich d. Gr., Helvetius, Diderot, d'Alembert, Marmontel etc.) oft wiederkehrendes Wort von historischer Wichtigkeit, das bald auf den Aberglauben (superstition), bald auf die katholische Kirche (église) zu beziehen ist. Viele seiner Briefe (namentlich an d'Alembert) unterzeichnete er, statt mit seinem Namen, mit »Écr. l'inf ...« oder »Écrlinf« zur Täuschung der mit der Eröffnung staatsgefährlicher Briefe betrauten Beamten.

6 Loyola: Ignatius von Loyola (1491 - 1556), der Gründer des Jesuitenordens

7 Sansculotte:  (franz. Sans-culottes, spr. ßangkülott', »Ohne Culotten«), zu Anfang der ersten französischen Revolution Benennung der Proletarier und der radikalen Revolutionsmänner überhaupt, weil sie, aus den niederen Ständen hervorgegangen, keine Culotten (Kniehosen) wie die höhern Stände, sondern Pantalons (lange Hosen) trugen.

 


Arno Holz (1863-1929): Schauderhaft. -- 1886

Uns lehrt das Christentum en gros:
Hier Erdenkloß, dort Himmelspächter!
Doch unsrer Weisheit A und O
Ist ein unsterbliches Gelächter!


Arno Holz (1863-1929): Einem Pietisten. -- 1886

Dein Heil, versuch es anderwärts,
Wenn frömmelnd dich der Teufel laust;
Mein Katechismus ist mein Herz
Und meine Bibel ist der Faust!


Arno Holz (1863-1929): Einem Orthodoxen. -- 1886

Famos steht dir dein bunter Kittel,
Doch was beschmierst du ihn mit Dreck?
Die Religion ist nur ein Mittel
Und du - erniedrigst sie zum Zweck!


Arno Holz (1863-1929): Schließlich. -- 1886

Jawohl, das Ding ist ärgerlich!
Das Volk hat lange, graue Ohren,
Und seine Treiber nennen sich
Rabbiner, Pfarrer und Pastoren.

Verhasst ist mir der Schwindelbau
Der jesuitelnden Sophisten,
Und überleg ich's mir genau,
Hab ich Talent zum Atheisten.

Tagtäglich schürt in mir den Spott
Das fade Weihrauchduftgeträufel,
Denn schließlich ist der liebe Gott
Doch nur ein dummer Antiteufel!


Arno Holz (1863-1929): Schwarz in Schwarz. -- 1886

Beim Dulderherzen des Don Quixote,
Jetzt streich ich's dick mit Rothstift an:
Der bibelgeborne Christengott
Ist nie und nimmermehr mein Mann!

Die Schöpfung war einst sein erster Witz
Und dieser Witz war herzlich schlecht,
Denn oft schon traf es mich wie ein Blitz:
Die Despotie hat leider Recht!

Ein Volk, das heut nicht auf Prügel hört,
Und eine Unschuld beim Ballett,
Ein solches Erz-Phänomen gehört
Ins Naturalienkabinett!


Arno Holz (1863-1929): Wie's gemacht wird! -- 1886

Und als sich der Pfaff einen Juden briet,
Da schrieen die Junker Hurrah
Und sangen das alte hochherrliche Lied:
Hepphepp Juvivallerala!

Doch das Volk stand auf und schrie Zeter und Mord,
Hie Hecker und Robert Blum!
Da erfand man schleunigst das Kautschukwort:
Praktisches Christentum!


Arno Holz (1863-1929): Nicht wahr? -- 1886

Die Völker sind wie große Kinder
Und ihre Könige sind's nicht minder,
Lachen und weinen im selben Nu,
Spielen mitunter auch Blindekuh
Und ihre Fibel
Benennt sich Bibel!


Arno Holz (1863-1929): Ganz recht! -- 1886

Ganz recht! Zum Beispiel die Kultur!
Das heißt, nun ja, ich meine nur!
Denn schließlich, wie sie sich auch stellt,
Bleibt doch das Endziel ihrer Reife
Die Überschwemmung dieser Welt
Mit Branntwein, Christentum und Seife!


Arno Holz (1863 - 1929): Meine Nachbarschaft. -- 1886

Mein Fenster schaut auf einen düstern Hof,
Auf schmutzge Dächer und auf rußge Mauern,
Doch wer wie ich ein Stückchen Philosoph,
Lässt darum sich noch lange nicht bedauern.
Ein wenig Luft, ein wenig Sonnenlicht
Dringt schließlich auch durch seine trüben Scheiben,
Zu hungern und zu frieren brauch ich nicht
Und all mein Thun ist nur ein wenig Schreiben.

Ein wenig Schreiben, wenn ich stundenlang
Mich einlas in die Wunderwelt der Alten,
Bis endlich, endlich es auch mir gelang,
Was ich gefühlt, zum Wohllaut zu gestalten.
Dann fließt es um mich wie ein Heilgenschein,
Und mir im Herzen bauen sich Altäre;
So könnt ich glücklich und zufrieden sein,
Wenn ach, nur meine Nachbarschaft nicht wäre!

Kein Schwärmer ist es, der die Flöte liebt
Und auf ihr nur "des Sommers letzte Rose",
Kein Tanzgenie, das ewig Stunden gibt,
Auch kein klavierverrückter Virtuose:
Ein armer Schuster nur, der nächtens flickt,
Wenn längst aufs Dach herab die Sterne scheinen,
Indes sein Weib daneben sitzt und strickt
Und seine Kinderchen vor Hunger weinen!

O Gott, wie oft nicht schon hat dieser Laut
Mich mitten aus dem tiefsten Schlaf gerüttelt!
Und wenn ich halbwach dann mich umgeschaut,
Hat wild es wie ein Fieber mich geschüttelt.
Des Mädchens Schluchzen und des Knaben Schrei
Und ganz zuletzt des Säuglings leises Wimmern -
Mir war's, als hörte ich dann nebenbei
Drei kleine, kleine schwarze Bettlein zimmern.

Mir war's, als rollte dumpf dann vor das Haus
Der nur zu wohlbekannte Armenwagen
Und jene Bettlein trugen sie hinaus
Und luden sie in seinen düstern Schragen.
Der Kutscher aber nahm noch einen Schluck
Und peitschte fluchend seine magren Schinder
Und übers Pflaster dann ging's Ruck auf Ruck,
Doch ach, noch immer wimmerten die Kinder!

Und immer, immer noch klang's mir im Ohr,
Wenn schon der Morgen durch das Fenster blickte,
Und mir ums Auge hing einen Tränenflor,
Wenn ich dann stumm mein Tagewerk beschickte.
Was half mir nun mein "Stückchen Philosoph"?
In Trümmer fiel, was ich so luftig baute!
Doch tat's das Haus nicht, nicht der düstre Hof,
Nein, nur die abgebrochnen Kindeslaute! -

Die Armut bettelt um ein Stückchen Brot,
Doch herzlos lässt der Reichtum sie verhungern
Millionen tritt die Goldgier in den Kot,
Und Einen einzigen nur lässt sie lungern.
In seidne Betten wühlt sie ihn hinein,
Wenn er beim Sekt sich endlich ausgeplappert,
Indes beim flackernden Laternenschein
Das bleiche Elend mit den Zähnen klappert.

O Gott, warum dies alles, o warum?
Wie Zentnerlast drückt mich die Frage nieder!
In meinen Reimen geht sie heimlich um
Und ächzt und stöhnt durch meine armen Lieder.
Was bleibt mir noch auf diesem Erdenball?
Denn auch die Kunst, längst stieg sie vom Kothurne!
Einst schlug mein Herz wie eine Nachtigall,
Doch ach, nun gleicht es einer Tränenurne!


1887


Albert Dulk (1819 - 1884): Weihnachtsabend. -- 1887

Die uns die Weihnachtsglocke läutet,
Die frohe Botschaft, dass der Christ,
Das Himmelskind geboren ist -
Noch ahnst Du kaum, was sie bedeutet.

Einst füllte dieser Erde Haus
Der Mensch mit Fabelgöttern aus.
In Sternenglanz, in toten Stein,
In Luft und Meer, der Erde Schacht,
Schuf er sich seinen Gott hinein.
Auf reicher Phantasien Schwung
Bevölkerte er jeden Ort,
Und Unzahl ward der Götter Zahl,
Die auf sein schöpferisches Wort
Sich ausgoss über Berg und Tal.

So hat zuerst als Weltengeist
Den eig'nen Geist der Mensch empfunden,
Was durch das eig'ne Haupt gekreist
Im Traume schöpferischer Stunden
Als Offenbarung hingestellt
Von unsichtbarer Gotteswelt.

Und hast Du nach der Väter Brauch
Ihn Gott genannt, so warst Du auch
Ein Opfer jener Täuschung nur,
Die Dich, den freien Menschensohn,
Anbeten ließ, was die Natur
Die Dich erschuf aus Staub und Ton.

Was in Dir wie in Allen ist:
Der Geist der Menschheit ist der Christ.
Das Gute ist dem Himmel gleich;
Denn innen ist das Himmelreich!
Hört Ihr das Jauchzen: Christ ist da!?
Er, der doch lang vor dieser Frist
Der Seele Licht gewesen ist!

So wisse denn, dass Dir es gilt,
Was heut1 von allen Türmen quillt,
Dass, was der heut'ge Abend läutet,
Dein unsichtbares Ich bedeutet -
Die Menschheit, welche in Dir ist,
So weit Du "eins" mit Menschen bist,
Und dass durch sie Du selber Christ,
Erretter und Erlöser bist.

Es ist der Geist, der in Dir wacht,
Dich gut und stark und selig macht!

[Quelle: Dulk, Albert Friedrich Benno <1819 - 1884>: "Nieder mit den Atheisten!" : Ausgewählte religionskritische Schriften aus der frühen Freidenkerbewegung / Albert Dulk. Hrsg. von Heiner Jestrabek. -- Aschaffenburg ; Berlin : IBDK-Verl., 1995. -- 156 S. ; 21 cm. -- Klassiker der Religionskritik ; 3. -- ISBN 3-922601-27-8. -- S. 26f.]


1888


Friedrich Theodor Vischer <1807 - 1887>: Frage. -- In: Lyrische Gesänge. -- 1888

Einst wird die Weltposaune dröhnen
Und mächtig aus des Engels Mund,
Ein lauter Donner, wird es tönen:
Du Erde, öffne deinen Schlund!

Sie schüttelt träumend ihre Glieder,
Und alle Gräber tun sich auf
Und geben ihre Toten wieder,
Die kommen staunend Hauf zu Hauf.

Dann, wenn, den großen Spruch zu sprechen,
Der Ew'ge sich vom Stuhl erhebt
Und stockend alle Herzen brechen
Und Todesangst die Welt durchbebt

Und laut erkracht des Himmels Krone –
Dann ringsum Schweigen fürchterlich –,
Dann will ich steh'n vor seinem Throne
Und fragen: Warum schufst du mich?

[Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/vischer/lyrgaeng/lyrg004.htm. -- Zugriff am 2004-06-07]


John Henry Mackay (1864 - 1933): Atheismus. -- 1888

Vielleicht, wenn einst die müden Augen brechen,
Wenn niedersinkt des Todes finstere Nacht,
Dass ein Gebet dann meine Lippen sprechen,
Das nie im Leben der Verstand gedacht.

Vielleicht, dass ich mit einer Lüge scheide
Von einem Sein, das Wahrheit nur gekannt,
Wenn ich des Lebens letzte Schmerzen leide
In Angst und Nacht und Irrsinn festgebannt.

Dann unterlag mein Geist; dann brach mein Wille!
Dann floh Vernunft! Doch wenn ich es vermag,
Dann künde noch der letzte Schrei, der schrille,
Dann künde noch des Herzens letzter Schlag:

"Ich glaubte nie an einen Gott da droben,
Den Lügner oder Toren nur uns geben.
Ich sterbe - und ich wüsste nichts zu loben
Vielleicht nur Eins dass wir nur einmal leben!"


John Henry Mackay (1864 - 1933): Das Leben : ein Fragment. -- 1888

Ich hasse das Leben,
Das furchtbare Leben,
Mit glühendem Hass!
— — — — — — —
Ich kann nicht anders!
Wohin ich auch sehe,
Nur trostloses Elend,
Und siegloses Kämpfen,
Und wilde Verzweiflung,
— Und alles zersplitternd
Im besten Vollbringen,
Und alles erliegend
Auf halbem Weg! . . . .
— Wie jammervoll Alles!
Und doch — wie titanisch-
Gesteigert die Kraft!
Sind das dieselben
Menschen, die sich in
Jahrtausendlangem
Entsetzlichen Kampfe
Von Stufe zu Stufe
Emporgerungen?
Empor vom Tiere
Zum denkenden Menschen,
Und immer empor,
Und weiter empor?!
Dieselben Menschen,
Die zitternd und furchtsam
Vor einem Phantome
Im Staube sich krümmen?!
Und aus derselben Hand
Ihr Heil erhoffen,
Derselben Hand,
Die einst, wie sie glauben,
Erschaffen sie hat?
Sind es dieselben?!
— — — — — —
Sie nennen ihn Gott!
Und beten ihn an,
Ihn — der so sie erschaffen!
Ich glaube nicht!
Denn der Gedanke,
Uns so zu schaffen,
Er wäre nicht göttlich,
Nein, teuflisch gewesen!

Und wenn man es hört:
Erst schuf er die Erde,
Und dann sandte er nieder
Den einzigen Sohn
Sie zu erlösen — —
Ist das nicht Hohn?
Der blutigste Hohn?!
Und an ihn glauben,
Und ihm noch dienen
In "kindlicher Demut"
Das sollen wir?
— — — — —
Was wollte er denn?
War es ein Spiel?
Ein furchtbar-grausames?
Ein Experiment,
Einmal zu versuchen,
Wie stark denn ein solches
Elendes Menschengeschöpf
Im Ertragen von Weh sei?
Was war es denn sonst?
Eine Laune? — —
Nein! nein! es kann nicht,
Es kann nicht so sein!
— — — — —
Wenige nur fühlen
Den Schmerz um die Menschheit,
Den markdurchbebenden,
Der weher schmerzt
Als weheste Qual!
Und wenige haben
Den Mut zur Wahrheit
Den leuchtenden Mut
Der kraftvoll verkündet,
Das, was er muss!

Doch ist es nicht nutzlos?
Lass sie gehen!
Die Menge muss blindlings
Dem Wahne folgen,
Und schlagen wie heute
Den Götzen zu Trümmern,
Sicher ersteht schon morgen ein neuer,
An den sie sich klammert!

Nein, ich sage anders:
Unselige Wahrheit
Ist tausendmal besser
Als glückliche Lüge!
Und so sage ich denn:

"Und eh' du, Menschheit,
Die alten Fesseln,
Die alten Lügen,
Nicht von dir geworfen,
Denkst nimmer du frei!
— — — — —
Was ist das Leben? —
Schmerzen bereitend,
So trittst du hinein —
Schmerzen bereitend
Verlässt du es wieder.
Und was liegt dazwischen? . . . .
Umlauert vom Tode,
Und zahlloser Krankheit,
Und nie endender Wirrnis,
Und der ekelsten Schmach —
Das ist die Spanne,
Die du Leben nennst.
Ich nenne es Sterben!
Denn das Sonnenleuchten,
Das dich umgaukelt
In heiteren Stunden,
Es zeigt dir nur herber
Die Schatten hernach!
— — — — —
Ich hasse das Leben!
Denn ich muss sehen,
Wie Tausend — und Aber-
Tausende mühen
Tagtäglich mit allen
Fasern der Kräfte
Qualvoll sich ab. . . .
Warum? — ja warum?
Um das elende Brot!
Das Stückchen Brot,
Dass der Körper noch länger
Dem Tode trotze!

Wir alle lügen,
Doch keiner lügt mehr,
Als der das sich selbst
Zu verhehlen noch sucht
In frecher Zufriedenheit!
— — — — —
Doch wer es erkannte —
In einer Stunde
Reißt oft der Vorhang
Dem Blicke entzwei —
Und dann sich sagte:
Es ist umsonst!
Wer dann so groß war,
Dass eigenes Elend
Er mannhaft vergaß,
Und ein letztes Erbarmen
Hinüber gerettet,
Und furchtlos hinging,
Die eigenen Kräfte
Der Menschheit zu weihen
In selbst auferlegter
Erhabener Pflicht,
Und der doch wusste,
Dass die Andern Alle
Ihn steinigen würden,
Bis er erlahmte —
An den — glaube ich!
— — — — —
Ihm ist ja ein Trost,
Ein letzter geblieben:
Einst kommt ein Tag,
Der das Ende bringt . . . .
Das Ende — den Tod!
Den Tod — der das Glück!

Denn was ist süßer,
Als wenn der Gedenken
Wildwogendes Meer
Zur Ruhe sich sänftigt,
Und der matte Leib
Zum ewigen Schlafe
Befreit sich legt?
Nichts, nichts ist süßer!
Zum ewigen Schlafe!
Zum traumlosen Schlafe . . . .

Wer ist wohl auf Erden,
Der müde gehetzt,
Nach ihm sich nicht sehnte
In glühendstem Wunsch?
— — — — —
Das selige Ende! . . . .
Denn wäre der Tod
Nicht das Ende — —
Was dann? — was dann?
— — — — —


1890


Oskar Blumenthal (1852 - 1917)

Der Glaube kann zur Wunderkraft werden,
Die Brücken schlägt zwischen Himmel und Erden.
Doch ist er öfter die Zuflucht der Massen,
Die außer dem Hause denken lassen.


Adolf Lepp (1847 - 1906): Der Pastor. -- 1890

„O bete! o bete mit mir, mein Sohn!
In Demut und Wehmut vor Gottes Thron.
Gott gebe dir Glauben und Frömmigkeit
Und himmlisches Glück für irdisches Leid."

„Ich will aber nichts vom himmlischen Glück.
Erobern will ich die Erde zurück.
Herr Pastor! Herr Pastor! es tut mir leid:
Ich habe zum Beten keine Zeit."

„O danke! o danke dem Geber dort
Für sein zu Fleisch gewordenes Wort.
Er hat dich von allem Übel erlöst,
Den heiligen Geist dir eingeflößt."

„Von allem Übel? Das seh ich nicht ein.
Es herrscht der Hunger mit zwiefacher Pein.
Herr Pastor! Herr Pastor! fürs karge Brot
Zu danken, das hat keine Not."

„Knie nieder, knie nieder, ich zwinge dich!
Der Herr ist zugegen und schlägt dich durch mich.
Du bist verblendet, du wardst verführt,
Erleide die Strafe, die dir gebührt."

„Ich denke: wir seien erlöst von der Sund?
Ich lass mich nicht schrecken und bin kein Kind.
Herr Pastor! Herr Pastor! das fehlte mir just.
Ich habe zum Knien keine Lust."

„Verloren! verloren die Seele dein!
Du wirst, wenn du stirbst, in der Hölle sein.
Es schleicht ein brüllender Löwe herum
Und raubt die Lämmer dem Christentum."

„Der brüllende Löwe, der bist du!
Lass mich mit deinem Geschwätz in Ruh.
Herr Pastor! Herr Pastor! ich sage dir:
Die Hölle ist schon auf Erden hier."

[Quelle: Lepp, Adolf <1847 - 1906>: Ein deutscher Chansonnier : aus d. Schaffen Adolf Lepps / hrsg. von Ursula Münchow u. Kurt Laube. -- Berlin : Akademie-Verlag,1976. -- XXXV, 224 S. ; 20 cm. -- (Textausgaben zur frühen sozialistischen Literatur in Deutschland ; Bd. 16). -- S. 45f..]


Adolf Lepp (1847 - 1906): Der jüngste Tag. -- 1890

Ich lieg im Grabe, schnarche da
Im tiefsten Seelenfrieden;
Auf einmal hör ich: „Tsching tatra!
Heut wird eu'r Los entschieden!
Ihr Seelen träumet, säumet nicht:
Der Herrgott hält sein Weltgericht!"

Und rings die Leichen, schreckensblass,
Ausrecken ihre Nasen:
„Ist denn im Himmel Feuer, dass
Sie so barbarisch blasen?
Posaunenengel, hör einmal,
Was machst du einen solchen Mordskandal?"

„Ist Butterrevolution bei mir
Zu Haus ums karge Futter?
Es klingt, als ob die Kürassier'
Das Volk zerhaun wie Butter.
Mit kaltem Eisen, kaltem Blei
Beschönigt man die Sklaverei."

„Posaunenengel, trolle dich!
Was störst du unsern Frieden?
Das Erdenlos war fürchterlich,
Das uns dein Herr beschieden.
Wir mögen hören nichts, noch sehn,
Und auch nicht vor Gerichte stehn."

„Trara, trara! Tschingtra! Bum, bum!
Der Herr befiehlt: erwachen!
Ihr dreht euch auf der Seite um?
Das sind mir schöne Sachen.
Steht auf! Für alles Erdenleid
Entschädigt euch die Seligkeit."

Das hilft! Die Seelen suchen sich
Zusammen ihre Glieder,
Ich aber lege heimlich mich
Zum Weiterschlafen nieder,
Was kümmert mich der jüngste Tag.
Ich hab genug am Ungemach.

Da stößt der Engel mit dem Fuß
Mir zornig in die Seele:
„Ist das die Antwort auf den Gruß?
Gehorche dem Befehle!
Such deine Knochen schnell zusamm'.
Na, wird es bald? Dass Gott verdamm!"

Da fahr ich aber in die Höh :
„Ich hau dich gleich, du Lümmel!
Was tust du mir im Grabe weh?
Scher dich in deinen Himmel.
Lass mich in Frieden, Bösewicht.
In deinen Himmel will ich nicht!"

„Halleluja!" der Engel sang;
„Hosianna und Eleison!
Ob du nicht dulden brauchst den Zwang.
Das werd ich dir beweisen."
Der Engel fluchte auf Latein
Und deklamierte Litanein.

„Ach, wenn ich doch Latein verstund'!
Wie wollt ich damit prunken.
Die Schule war mir nicht vergönnt
Und blieb mir ganz verstunken.
Nun soll ich in den Himmel 'nein,
Und ich versteh kein Wort Latein."

Der Blaseengel aber sprach:
„Das ist halt nicht vonnöten.
Man spricht dort Volapük1 bei Tag,
Und nachts bläst man Trompeten.
Und seit dem neuen Kaiserreich
Spricht man auch deutsch im Himmelreich.

„Ja, ja, das glaube ich dir gern:
Mit Trommeln und Kanonen.
Bestell ein Kompliment dem Herrn:
Ich möcht nicht bei ihm wohnen.
Ich bin mit Deutschland fertig nun
Und habe nichts mit ihm zu tun."

„Ich bin des Herrgotts Polizei
Und muss dich arretieren.
Und werde, sprichst du gar zu frei,
Dich höflichst denunzieren;
Dann kriegst du einen Landsverweis
Und macht man dir die Hölle heiß."

„Ach ja, führ mich zur Hölle hin.
Der Teufel ist gemütlich,
Ich glaub, ich treff Bekannte drin,
Die dort sich tuen gütlich.
Die Hölle war auf Erden mein,
Nun soll auch meine Seel hinein."

„Du bist gewiss ein Anarchist,
Wie Most2 und die Chicager?"
„O nein! ich bin nur Sozialist
Aus Marxens großem Lager."
„Dann vorwärts! marsch! zur Hölle gleich!
Dann darfst du nicht ins Himmelreich."

Schau dort die armen Seelen an,
Wie sie sich echauffieren.
Die dort ihr Herz nicht finden kann,
Und die sucht ihre Nieren.
Und jener fehlt das Schlüsselbein,
Und die muss ohne Rüssel sein.

Und wie sie alle grässlich sind,
Verwittert und vermodert.
Ist denn der Herrgott farbenblind,
Dass er Gespenster fordert?
Für die Gesellschaft dank ich schön.
Ich kann sie nur mit Grausen sehn.

Doch meine Stoffe waren auch
Zersetzet und entbunden
Und hatten sich als Asch und Rauch
Zu neuer Form gefunden:
Die Würmer fraßen mir den Steiß
Und meine Leber fraß — wer weiß ?

In aller Eile suchte ich
Nach meinen sieben Sachen.
Und God dam! englisch fluchte ich:
Nichts könnt ich passend machen;
Ein großer und ein kleiner Fuß,
So dass ich ewig hinken muss.

Auch eine Rippe war mir schon
Aus dem Gerüst gestohlen;
Mein armes Rückgrat stak im Ton,
Drauf lagen Kalk und Kohlen;
Bakterien fraßen mir die Lung
Und Wasserratten Ohr und Zung.

In diesem Zustand konnte ich
Nicht vor Gericht erscheinen.
Das war ja ein Affront für mich:
Mit mangelnden Gebeinen.
Ich sann auf eine Türkenlist,
In der sich fing der Polizist.

Da gab es eine Rauferei:
Zwei Lumpenseelen schlugen
Sich um ein Fell, das alle zwei
An beiden Enden trugen.
Der Polizist ging mutig vor
Ich legt mich wieder auf das Ohr.

Erläuterungen:

1 Volapük (»Weltsprache«; a. d. engl. world, »Welt«, und speak, »sprechen«): von dem Pfarrer Joh. Mart. Schleyer (1831 - 1912) erdachter Name der von ihm 1879 konstruierten künstlichen, zur Verständigung zwischen Angehörigen verschiedener Nationen bestimmten Sprache.

2 Most

"Most, Johann Joseph, Sozialdemokrat, geb. 5. Febr. 1846 in Augsburg, gest. 17. März 1906 in Cincinnati, erlernte die Buchbinderei, widmete sich sodann der sozialistischen Schriftstellerei und redigierte längere Zeit die »Freie Presse« in Berlin. Most benutzte seine nicht unbedeutende Volksberedsamkeit zu zynischer Verhöhnung der Religion, Moral und Vaterlandsliebe und erntete dafür zahlreiche Gefängnisstrafen (4½ Jahre), die aber seinen agitatorischen Eifer nur anfeuerten. 1874-78 war er Mitglied des deutschen Reichstags, wurde aber 1878 nicht wieder gewählt. Auf Grund des Sozialistengesetzes ausgewiesen, ging er nach London und gründete daselbst eine neue sozialistische Zeitung, »Die Freiheit«, in der er so maßlose Ansichten in so zynisch-frecher Form verfocht, dass selbst die deutschen Sozialdemokraten ihn verleugneten. Wegen eines solchen Artikels über die Ermordung Alexanders II. von Russland im Juni 1881 von den englischen Gerichten zu 1½jähriger Zwangsarbeit verurteilt, ging er, entlassen, nach New York, wo er »Die Freiheit« weiter herausgab, 1886 und wiederum 1887 aber wegen Aufreizung zu gewaltsamer Empörung zu Kerkerstrafen verurteilt wurde. Unter seinen Schriften befinden sich das »Proletarierliederbuch« und eine gegen Mommsen gerichtete Schrift über die römische Geschichte."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

[Quelle: Lepp, Adolf <1847 - 1906>: Ein deutscher Chansonnier : aus d. Schaffen Adolf Lepps / hrsg. von Ursula Münchow u. Kurt Laube. -- Berlin : Akademie-Verlag,1976. -- XXXV, 224 S. ; 20 cm. -- (Textausgaben zur frühen sozialistischen Literatur in Deutschland ; Bd. 16). -- S. 46 - 49.]


1891


Felix Dörmann (1819-1895): Gebet. -- 1891

Wenn Du kein Popanz
Heuchelnder Pfaffen bist,
Herr des Himmels,
So hör' meinen Schrei
Lass Deiner Blitze
Zischende Schlangen
Niedersausen aufs schuldige Haupt mir,
Tilge die Sünden durch sühnenden Tod;
Oder reiße mir aus der Seele
Mit nerviger Faust
Den Stachel der Lust;
Pflanze die Kraft zur Buße
Tief in den zuckenden Leib,
Aber hilf mir, hilf mir, hilf mir!
Oder es soll
Wie rachebrüllendes Volksgewimmel
Empor zu Deinem Thron
Die Schar meiner Flüche steigen,
Die Flut meiner Lästerungen
Soll Deinen Thron verschwemmen
Und Dich selber, Herr des Himmels,
Niederzerren in Nacht und Kot.



Abb.: Ye-Su [Jesus]. -- Chinesische Karikatur. -- 1891

[Bildquelle: Chronik 1900 / [Autor: Bernhard Pollmann] . -- Gütersloh : Chronik-Verl., 1987. -- 240 S. : zahlr. Ill. . -- (Die Chronik-Bibliothek des 20. Jahrhunderts). -- ISBN 3-88379-090-7. -- S. 22]


1892


Arno Holz (1863-1929): Buch der Zeit, 2. Ausg. -- 1892 (Auszug)

Und kein Talarmensch soll mich fromm belügen,
Dass diese junge Liebe »sündhaft« sei!
Lasst nur die ewig biblischen Asketen
Sich selbst in die Kameelshaartoga zwängen
Und nicht uns junge, lachende Poeten,
Die sich den Himmel noch voll Geigen hängen!
Zwar hab ich dann und wann »verrückte Touren«,
Doch zieh ich niemals vor mir selbst den Hut
Und braue meine lyrischen Mixturen
Aus Zuckerwasser und Tyrannenblut!
Auch bin ich Heide und als solcher zynisch
Und hasse nichts so wie die Prüderei,
Steh nicht zum Besten mit der Polizei
Und bin vor allem Eins nicht: misogynisch!

Ja, ich geb's zu: Ein Weltkind bin auch ich
Und mag es leiden, »wenn der Becher schäumt«,
Und weiß trotz Don Juan wie süß es sich
An einem schönen Weiberherzen träumt!
Drum würgen möcht ich jene schwarzen Heuchler,
Die auf den Kanzeln jesuitisch flennen
Und hinterrücks als feige Unschuldsmeuchler
Die denkbar schlüpfrigsten Finessen kennen!
Ein Narr, wer heut sich nicht zu helfen weiß:
Erst schielt dies christlich frömmelnde Geschmeiß
Nach vollen Brüstchen und nach drallen Wädchen
Und dann - schreibt's Andachtsbücher und Traktätchen!

Doch dies und Andres auszusprechen,
Ist heut ein Majestätsverbrechen;
Denn »echt« kann man als Dichter sein
Nur harmlos wie Hans Huckebein!

Zwar glaub auch ich, dass unsre Ahnen Affen,
Doch will ich heut mal mythologisch sein
Und sage, Gott hat Eva nackt geschaffen,
Das Feigenblättchen kam erst hinterdrein!
Doch, Ihr verzeiht! Ich wollte ja dies Thema
Als all zu spitz nicht länger mehr tractiren,
Auch nötigt mich zudem mein dummes Schema
Mich schleunigst in ein Andres zu verlieren!
Da sind vor allem jene Glaubenseifrer,
Die Finsterlinge und die Weltbegeifrer,
Die überall, wo sie noch Herzblut wittern,
Uns unser Leben demutsvoll verbittern!
Zwar immer opfert noch der Riese Wahn
Dem alten Vizegott im Vatikan
Und immer schneidern sich noch die Germanen
Aus Christi Windeln bunte Kirchenfahnen:
Doch ob er manchmal auch ihr Glück zerfrisst,
Der beste Freund der kranken Menschheit ist
Vom Ölberg bis zur - Reim her! - hohen Eifel
Der alte Weltprofessor Doktor Zweifel!

.....

Schließlich!

Jawohl, das Ding ist ärgerlich!
Das Volk hat lange, graue Ohren,
Und seine Treiber nennen sich
Rabbiner, Pfarrer und Pastoren.

Verhasst ist mir der Schwindelbau
Der jesuitelnden Sophisten,
Und überleg ich's mir genau,
Hab ich Talent zum Atheisten.

Tagtäglich schürt in mir den Spott
Das fade Weihrauchduftgeträufel,
Denn schließlich ist der liebe Gott
Doch nur ein dummer Antiteufel!


Arno Holz (1863-1929): Ganz recht! --  1892

Ganz recht! Zum Beispiel die Kultur!
Das heißt, nun ja, ich meine nur!
Denn schließlich, wie sie sich auch stellt,
Bleibt doch das Endziel ihrer Reife
Die Überschwemmung dieser Welt
Mit Branntwein, Christentum und Seife!


Arno Holz (1863-1929): Religionsphilosophie. -- 1892

Und Ich will einen Bund mit dir machen!
Jehova

O Herr, aus tiefer Not
Schrei ich zu Dir hinauf:
Gib mir mein täglich Brot
Und etwas Butter drauf!
Ein Stückchen Leberwurst
Wär schließlich auch nicht ohne;
Du weißt, mein Teufelsdurst
Ist Deiner Schöpfung Krone!

Wär nur mein alter Hut
Nicht so entsetzlich schief;
Du weißt nicht, wie das tut,
Doch hier, hier brennt es tief!
Mein Flaus hält nur soso,
Ich wollt, er wäre wärmer;
Ein Winterpaletot
Macht Dich doch auch nicht ärmer!

Du siehst, mir fehlt noch viel,
Und meine Seele schreit,
Ich finde keinen Stil
Vor lauter Frömmigkeit!
Doch sei's. Ich bin ein Mann
Und will mich nicht erdreisten,
Nur musst Du dann und wann
Mir auch was Extra's leisten!

Für Klärchen einen Zopf,
Ein Cul für meine Frau
Und Sonntags in den Topf
Womöglich eine Sau!
Und lässt Du einmal, geht's,
Mich Calculator werden,
Dann will ich Dir auch stets
Erkenntlich sein auf Erden!

Dann halt ich hübsch den Mund
Bei andrer Spott und Hohn
Und gründe einen Bund
Für innere Mission.
Mein Fritz muss fürchterlich
Theologie studieren
Und schließlich lass ich mich
Zum Kirchenrats kreieren!

Doch, wenn Du filzig bist,
Dann dank ich für die Kur;
Dann werd ich Atheist
Und wähle bebel'sch nur!
Dann mag Altar und Thron
Nur dreist zusammenbrechen,
Dann werd ich Deinen Lohn
In Gold und Blut Dir blechen!

Doch, wie man's treibt, so geht's.
Mein Loos wägt Deine Hand,
Und eine wäscht ja stets
Die andre hier zu Land.
So nimm mein Herz denn hin,
Ich will's Dir ja nicht schenken;
Dass ich Geschäftsmann bin,
Wirst Du mir nicht verdenken!

Drum, Herr, aus tiefer Not
Schrei ich zu Dir hinauf:
Gib mir mein täglich Brod
Und etwas Butter drauf!
Ein Stückchen Leberwurst
Wär schließlich auch nicht ohne,
Du weißt, mein Teufelsdurst
Ist Deiner Schöpfung Krone!


Gustav Falke (1853-1916): Mynheer der Tod <Auszug>. -- 1892

8.

Eine Hamburger Brigg war's. Vom Sturm verschlagen,
Sahn sie den einsamen Felsen ragen,
Den unbekannten, hervor aus den Wogen,
Und steuerten näher, von Neugier gezogen.
Da sah durch das Glas der Kapitän
Auf dem nackten Stein unsre Flagge wehn,
Und wir waren gerettet.
Sie fanden mich
Fast sprachlos vor Freude, und wunderten sich,
Mich kräftig zu sehn und wohl genährt.
In fliegender Hast stand Rede ich,
Und hatte in kurzem sie aufgeklärt.
Gleich waren bereit sie zu folgen, und brachten
Den Schiffsarzt mit, an alles dachten
Die Wackeren. Drängend trieb ich zur Eile
Und duldete nicht die kleinste Weile.
Mir bangte, je näher dem Ziel wir kamen,
Und immer war ich eine Strecke voran,
Und wartete wieder und trieb sie an.
Sie folgten mir mühsam: »In Gottes Namen!«
Und da lag sie vor uns im Sonnenschein,
Die Hütte, mein Haus, mein Alles. Allein
Erst schlich ich hinein und atmete hoch
Und dankte Gott. Sie lebte noch.
Doch ich sah, ein Blick, was sie litt, und wie nah
Ihre Stunde muss't sein. Und leise rief
Ich den Doktor herein. Und da sie schlief,
Beruhigte er mich mit Trostgebärden
Und machte mir Mut, es würd gut schon werden.

Und sie blieben bei mir, hülfsbereit,
Und schickten mich schlafen. Sie waren ja da
Und wachten, und meine Kraft war hin,
Und vor mir noch eine bange Zeit.
Da legte ich mich und streckte die Glieder,
Und ließ auch der Schlaf sich gleich hernieder
Und schloss mir die Augen und hielt mich umfangen,
Bis alles vorbei. Kaum wagt' ich vor Bangen
Die Augen zu öffnen. Doch da ja! gewiss!
Eine Kinderstimme, ein kräftiges Schrein!

O wie ich schnell mich vom Lager riss
Und ließ mich nicht halten und eilte hinein.
Mein Weib, mein Kind, ich wollte sie sehen.
Der Arzt ging leise auf den Zehen
Und wies nach dem Bett. Da lag sie bleich,
Und um den Mund einen Schmerzenszug.
Und der Atem ging pfeifend und ging nicht gleich
Und des Doktors Blick, da wusst ich genug,
Und stöhnte laut auf und fiel aufs Knie.
Was war mir das Kind, wenn verloren sie,
In der Stunde starb, wo die Rettung da.

Da fluchte ich Gott, dem Wahnsinn nah,
Und ballte die Fäuste und schlug die Erde.
Wer hätt' es ertragen mit Demutgebärde?
Warum? Warum? Was hatt' ich verschuldet,
Und sie? Drei Jahre in Demut geduldet
Und Gott ergeben und fromm. Und jetzt,
Da auf den Knieen ich vor ihm gelegen
Und gedankt ihm, dass er erhört mich zuletzt,
Jetzt tritt er mir grausam, höhnend entgegen,
Jetzt tritt er mich ganz in den Staub, zertritt
Mich lieblos. Und ich lag, und stritt
Und zürnte mit Gott, und riss aus dem Herzen
Den Glauben an ihn unter tausend Schmerzen.
Wenn ich nicht geflucht, wenn ich fromm geblieben,
Seinen Namen gepriesen, ob er Mitleid gezeigt?
Ob ein Körnchen von seinem unendlichen Lieben
Er übrig gehabt, wenn voll Demut geneigt
Das Haupt ich hätte und hätte geweint,
Trotzdem es Lüge, nicht ehrlich gemeint,
Was du tust, Herr, das ist wohlgetan?

Die Zeit ist vorüber. Längst bin ich gefasst?
Und trag' ohne Murren des Lebens Last,
Und frage nicht mehr, warum das alles.
Was weiß ich von Gott. Die Herren Pastoren
Füll'n uns mit großen Worten die Ohren,
Lullen uns ein nur besten Falles.
Ich aber bin taub dem Priesterwahn.
In jener Stunde, als starb mein Weib,
Denn das war sie, auch ohne Pastor und Papier,
Da starb meine Frömmigkeit auch mit ihr,
Da begrub ich den Glauben mit ihrem Leib.

Bei der Hütte, nah der verlassenen Schwelle,
Die zum letzten Mal ich nun überschritten,
Wo wir so glücklich, so glücklich waren
Zusammen, und wo wir zusammen gelitten
Weltfern, allein, in den langen Jahren,
Bei der Hütte gruben an schattiger Stelle
Ein Grab wir für sie. Das dritte nun,
Das ich grub: für den Jungen, für jenen, den wir
In dem Palmenwäldchen fanden hier
Den ewigen Schlaf unter Würmern ruhn,
Und für sie nun auch. Jens Jensen lag
Auf dem Meeresgrund seit jenem Tag.
Nur ich allein von allen gerettet
Und das Kind. Wie gern hätt' das Kind ich gebettet
Statt ihrer dort in die Einsamkeit.

Jetzt freilich möcht' ich es missen nicht,
Da hinter mir liegt jene schreckliche Zeit.


O Gott, mein Gott!

O Gott, mein Gott!
Wie viele gellten
Den Schrei empor,
Der sich verlor,
Der Woge gleich, der felszerschellten.

O Gott, mein Gott!
Wie viele rangen
Die Hände wund
In Qualen, und
Sind weinend wieder fortgegangen.
[Falke: Mynheer der Tod. Deutsche Lyrik von Luther bis Rilke, S. 25582 (vgl. Falke-Mynheer, S. 134)]
 


1898


Christian Morgenstern: (1871 - 1914): Caritas, caritatum caritas. -- In: Ich und die Welt. -- 1898

An seinem Grabe rief des Priesters Mund:
»Ob unbewusst, er war doch Kirchenchrist!
O glaubt es, des Allmächtigen Bildnis ist
verschwunden nie aus seiner Seele Grund!«

Wohl mancher biss sich da die Lippe wund,
ersah er, wie voll heuchlerischer List
der Moloch Kirche noch die Toten frisst
in seinen gierigen, eifersüchtigen Schlund.

Und ob ein Held auch alle Kerker brach,
die je ihn diesem Ungetüm versklavt,
im Tode schleicht ihm seine »Liebe« nach

und spricht: »Die ändern ruhn in meinem Bauch,
wie sollt ich Dich als frei und ungestraft
verschonen?! Sei getrost, ich fress' dich auch.«


Adolf Lepp (1847 - 1906): Eine Gottes-Legende. -- 1898-12-11

Zum Himmelsfenster spähte Gott heraus:
"Was bauen da die Menschen auf der Erde?"
Sankt Michel sprach: "Für Dich ein neues Haus."
"Und wissen sie, ob ich's bewohnen werde?"


Abb.: Bau der Martin-Luther-Kirche, Staufen, 1898/99 [Bildquelle: http://ekistaufen.de/historisches001.htm. -- Zugriff am 2004-09-23]

Sankt Michel sprach: "O Herr, die Wohnungsnot
Wird drunten nachgerade unerträglich!
Kein Obdach für die Armen und kein Brot
Der Winter naht, drum leiden sie unsäglich." —

"Und haben sie nicht Felder für die Saat?
Und Steine, um sich Häuser zu errichten! —
Das dumme Menschenvolk, zu faul zur Tat!
Wenn sie nichts schaffen, mögen sie verzichten."

Sankt Michel sprach: "Aus Steinen sie erbau'n
Paläste für die Erdengötzen, Speicher,
Darinnen das Getreide aufzustau'n —
Das Volk verarmt, die Reichen werden reicher."

"Und schweigt das Volk und nimmt die Kränkung hin,
Anstatt die Ärgernisse zu entfernen?"
"O Herr, man unterjocht den freien Sinn
In Kirchen, Kerkern und Kasernen!"

"Sie bauen Kirchen immer mehr und mehr,
Darinnen Dich um's täglich Brot zu bitten,
Als ob die Erde minder fruchtbar wär',
Weil Millionen an Enterbung litten!

"Kasernen bauen sie für die Armee,
Dem Volke anzulegen Zaum und Zügel,
Bäumt es empor in zorngemutem Weh,
Beschwichtigt man's mit schonungslosem Prügel.

"Und Kerker baut man für den Widerstand,
Der hin und wieder schreitet in die Schranken,
Und wer die Füssilade überstand,
Den knebelt man und stutzet ihm die Pranken."

"Weshalb zerstört das Volk die Schanzen nicht,
Die seine Millionen unterjochen?
Weshalb vertreibt es seine Schranzen nicht,
Warum hat es die Ketten nicht zerbrochen?" —

Sankt Michel lächelt. "Herr, sie rennen blind
In ihr Verderben, schmieden selbst die Ketten,
Mit denen sie nachher gefesselt sind!
Herr, gib sie auf! Wir können sie nicht retten.

"Die Kerker, die Kasernen bauen sie
Sich selbst zum Trotz, auf Ordre ihrer Dränger,
Und jedem Schmeichelwort vertrauen sie,
Wird auch das Regiment tagtäglich strenger.

"Das Heer, das jenes Volk im Zaume hält,
Es rekrutiert sich aus des Volkes Söhnen,
Und wenn durch Sohnes Hand der Vater fällt,
So hört er sterbend noch die Dränger höhnen!"

Als Michel schwieg, trat eine Pause ein.
Dann sprach der Herr nachdenklich: "Diese Toren!
Sie sollten auf der Welt zu Hause sein,
Und haben nun das Fundament verloren!

"Ich pflanzte Liebe in ihr Herz, doch Hass
Schoss d'rin empor in unfruchtbaren Garben,
Ich seg'ne ihre Flur ohn Unterlass,
Sie plündern sich und pfänden sich und — darben.

Wenn ihre Herzen keusch geblieben, ja,
In reinen Menschenherzen möcht ich wohnen!
Mit ihren finstern Kirchen hie und da,
Sie sollen endlich mich damit verschonen!"


Anonym: Der Komet. -- 1899

Kommt ein Stern mit einem Schwanz,
Will die Welt zertrümmern.
Leiert euren Rosenkranz,
Uns soll's wenig kümmern.

Erläuterung: Rudolf Falb (1838 - 1903) hatte in der Zeitschrift "Sirius" für 1899-11-13 den Zusammenstoß der Erde mit einem Kometen vorausgesagt.

"Falb, Rudolf, österreichischer Astronom, Meteorologe, geb. 13.4.1838 Obdach (Steiermark), gest. 29.9.1903 Berlin-Schöneberg
Nach Abschluss des Theologiestudiums in Graz als Priester und Lehrer (u. a. Peter Roseggers) an der Grazer Handelsschule tätig, war F. 1866-69 Hauslehrer. Anschließend studierte er Mathematik und Astronomie an der Univ. Prag, seit 1872 Geologie am Wiener Polytechnikum; im gleichen Jahr trat er aus der kath. Kirche aus. 1877-80 stellte er in Südamerika (vor allem Chile und Peru) Studien zum Vulkanismus an und ließ sich nach seiner Rückkehr in Wien nieder. Er war bis 1876 Herausgeber, 1877-82 Mitherausgeber der 1868 von ihm begründeten Zeitschrift "Sirius" und gab 1894 eine Zeitschrift der Geheimwissenschaft und der Deutkunst, "Teut", heraus. Die seinerzeit vielbeachteten Theorien über die Entstehung der Erdbeben und den Einfluss des Mondes auf die Witterung (u. a. Theorie der Erdbeben, 1870) blieben ebenso wie seine Sprachforschungen (u. a. Die Andessprachen [...], 1888) für die Wissenschaft bedeutungslos. Sein Verdienst liegt in einer Popularisierung von Astronomie und Meteorologie. "

[Quelle: Deutsche biographische Enzyklopädie & Deutscher biographischer Index. -- CD-ROM-Ed. -- München : Saur, 2001. -- 1 CD-ROM. -- ISBN 3-598-40360-7. -- s.v.]


Nicht genau datiert (Todesdatum der Autoren 1849 - 1899)


Arthur Schopenhauer (1788-1860): Gebet eines Skeptikers

Gott, — wenn Du bist, — errette aus dem Grabe
Meine Seele, — wenn ich eine habe.


August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798-1874): Und sie bewegt sich doch!

Dass die Sonne stehet
Und die Erde gehet,
Weiß jetzt jedermann.
Auch vor wenig jahren
Hat's der Papst erfahren
Dass die Erde geht, geht, geht
Und die Sonne steht

Galilei musste,
Weil er's so nur wusste,
Widerrufen dies.
Vor dem heilgen Vater
Bat er's ab, dann trat er
Auf und rief: "Sie geht, geht, geht
Und die Sonne steht!"

Und mit unserm Streiten
Geht es wie vor Zeiten
Ebenso noch jetzt.
Gilt auch für Verbrechen
Was wir heute sprechen,
Dennoch ist es wahr, wahr, wahr
Heut' und immerdar.


Justus Frey [= Andreas Ludwig Jeitteles] (1799 - 1878)

Weil Adam den Biss in den Apfel getan,
muss das Weib gebären mit Schmerz und mit Mühe;
doch mit Schmerzen gebären ja auch die Kühe:
was geht denn diese der Adam an?


Nikolaus Lenau (1802-1850): Ein Schlachtfeld

Ein weites Feld mit Leichen übersät,
Still — alles tot — verstummt das letzte Ächzen:
Verklungen auch der Priester Dankgebet,
Te Deum laudamus1 nur die Geier krächzen.

Was eins Hesekiel2 verhieß den Geiern:
"Der Herr wird lassen euch die Mahlzeit feiern
Auf seinem Tisch und Ross und Reiter fressen!"
Die Geier haben's heu' noch nicht vergessen.

Ein Geier nur den andern Geier hört,
Neidlos, denn reiches Mahl ist hier geboten,
Die Fliegenschwärme summen um die Toten,
Und sonst kein fremder Laut die Gäste stört.

Der Klageruf verlassner Mütter, Bräute,
Ertöt zu ferne vom Gefild' der Schlacht;
Das Raubtier kann bei ungestörter Nacht
Einschlafen, wenn es mag, auf seiner Beute.

Im Osten kommt der Mond heraufgezogen,
Und Schatten gaukeln um die Angesichter,
Und um die Toten schleichen irre Lichter.
O Mensch, wie bist du um dein Glück betrogen! —

"Hat Gott der Herr den Körperstoff erschaffen?
Hat ihn hervorgebracht ein böser Geist?"
Darüber stritten sie mit allen Waffen,
Und werden von den Vögeln nun gespeist,
Die, ohne ihrem Ursprung nachzufragen,
Die Körper da sich lassen wohl behagen.

"War Christi Leib echt, menschlich und gediegen?
Für Schmerz und Tod wie unserer empfänglich?
Half ihm ein Scheinleib Schmerz und Tod besiegen
Und steigen aus dem Grabe unvergänglich?"

Die Frage war so heiß und ernst gemeint,
Dass jetzt der Mond auf ihre Leichen scheint;
Die sind gediegen, echt, das ist gewiss,
Wie durch die Welt der tiefe Wundenriss.
O Gott, wie du auch heißen magst, es bleibt
Ein Schmerz, dass Glauben solche Früchte treibt.

Da liegen sie zu Tausenden, kalt, bleich;
Das Blut kann nicht mehr in den Boden sinken,
Die Erde ekelt schon, es aufzutrinken,
Dort in der Niedrung steht's, ein roter Teich.

Weil Tausende getan den letzten Hauch,
Meint Innozenz3, der Zweifel tat ihn auch?
Nein! durch Wahgefild' Alfar4 dort schreitet,
Und kummervoll sein Blick darüber gleitet,
Und er gelangt dem Blutteich in die Näh';
Da springen die Gedanken ihm hinein,
Wie aufgeschreckte Unken in den See
Und singen ihm betrübte Melodein.
Sie rufen über's weite Schlachtgefild'
Das Unkenlied des Zweifels dumpf und wild:

Was soll das ewig antwortlose Fragen,
In dessen Ungeduld sie sich erschlagen?
Warum das Schicksal so viel Schmerz verschwendet?
Zu neuem Schreck an Leichen sich erfrischt
Und, ist ein Bild der Menschheit halb vollendet,
Den blut'gen Schwamm ergreift und es verwischt?

Ob das ein Gott, ein kranker, ist zu nennen,
Der eine Welt in Fieberglut errichtet,
Und bald im Frost des Fiebers sie vernichtet?
Ist Weltgeschick sein Frieren nur und Brennen?

Ist's ein Götterkind, dem diese Welt
Als buntes Spielgeräte zugefallen,
Das bald sich dran ergötzt, bald es zerschellt,
Und seine Wünsche nur vermag zu lallen?

Was ist's — und Christus? — wunderliche Märe!
Dass er für uns sich kümmert, zeigt uns nicht
Dies tote Durcheinander zweier Heere,
Wo jedes fiel im Wahn der Christenpflicht.
Wird er bei uns bis an das Ende bleiben5,
Solang' die Zeit was findet aufzutreiben?
Vielleicht dass Wahnsinn auf der Menschheit lastet,
Dass Christus als ein fixer Irrgedanke
Sie nicht verlässt, die unheilbare Kranke,
Bevor das letzte Herz im Tode rastet?

Da liegen sie; — wann klingen die Posaunen,
Die weckenden6? und gibt's ein solches Klingen?
Die Fliegen wissen nichts davon zu raunen,
Und auch die Geier keine Kunde bringen,
Wenn sie dort ungeduldig mit dem Schnabel
Auf Panzer und auf Eisenhelme pochen,
Ob nicht Unsterblichkeit die schlimmste Fabel,
Die je ein Mensch dem andern vorgesprochen?
Ein Wahn, der Herzen plündert, und ein Trug,
Der frech dem Elend sagt: hast Freude g'nug!
Hier ist dein Los, zu dulden und zu darben,
In andern Welten reifen deine Garben;
Der Sensenmann wird kommen, sie zu schneiden,
Die tausendfach vergeltend alle Leiden,
Und Ernte wirst du feiern mit den Engeln;
Sei froh, wenn du ihn hörst sein Eisen dengeln!? — —

Hörst, Innozenz? — in also wüsten Weisen
Beginnt das Herz des Zweifels Lied zu singen,
Weil du es willst zu deinem Gotte zwingen,
Ihm seinen Himmel mit dem Schwert beweisen!

Der Morgen graut, die Sonne kommt, doch nicht
Begrüßt die Lerche hier das Morgenlicht.
Zertreten sind die Saaten auf den Fluren,
Die Lerchen flohen mit den Troubadouren.

Die heitern Vögel werden wiederkommen:
Ist aber einem Volk die Freude fort,
Und aus dem Herzen ihm das Lied genommen,
So kehrt ihm nie zurück das schöne Wort.

Erläuterungen: bezieht sich auf den Ketzerkreuzzeug Papst Innozenz III. in Südfrankreich 1212

1 Te Deum laudamus = Großer Gott wir loben dich

2 Die gemeinte Bibelstelle kann ich nicht verifizieren

3 Innozenz III.(1160/1161 - 1216), Papst ab 1198, führte 1212 den Kreuzzug gegen die Denomination der Albingenser

4 Alfar = ein Elf

5 Matthäusevangelium 28,20: "Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende."

6 Matthäusevangelium 24, 31: "Und er wird seine Engel senden mit hellen aPosaunen, und sie werden seine Auserwählten sammeln von den vier Winden, von einem Ende des Himmels bis zum andern."


Eduard Mörike (1804-1875): Pfarrer und Bauer

Pfarrer:

Wie mögt Ihr nur so bang um Eure Nahrung sorgen!
Da seht die Vögel unterm Himmel an!
Fragt einer auch: "Was ess' ich heut' und Morgen?"
Keiner verhungert, seht! dafür ist Gott der Mann.
Wenn nun der Herr des Sperlings Schrei erhört,
Seid ihr nicht mehr denn alle wert?

Bauer:

Ganz gut, Herr Pfarr! Doch, wenn's Euch nicht erbost:
Beim Licht besehn, ist das ein — Vogeltrost.

Erläuterung: Anspielung auf Matthäusevangelium 6,26: "Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie?"


Friedrich Theodor Vischer (1807 - 1887): Glaubensbekenntnis

Wir haben keinen
lieben Vater im Himmel.
Sei mit dir im Reinen!
Man muss aushalten im Weltgetümmel
auch ohne das.
Was ich alles las
bei gläubigen Philosophen,
lockt keinen Hund vom Ofen.
Wär einer droben in Wolkenhöhn
und würde das Schauspiel mitansehn,
wie mitleidslos, wie teuflisch wild
Tier gegen Tier und Menschenbild,
Mensch gegen Tier und Menschenbild
wütet mit Zahn, mit Gift und Stahl,
mit ausgesonnener Folterqual,
sein Vaterherz würd es nicht ertragen,
mit Donnerkeilen würd er dreinschlagen,
mit tausend heiligen Donnerwettern
würd er die Henkersknechte zerschmettern.

Meint ihr, er werde in anderen Welten
hinternach Bös und Gut vergelten,
ein grausam hingemordetes Leben
zur Vergütung in seinen Himmel heben?
O, wenn sie erwachten in anderen Fluren,
die zu Tod gemarterten Kreaturen:
"Ich danke!" würden sie sagen,
"Möcht es nicht noch einmal wagen.
Es ist überstanden. Es ist geschehen.
Schließ mir die Augen, mag nichts mehr sehen.
Leben ist Leben. Wo irgend Leben,
wird es auch eine Natur wieder geben,
und in der Natur ist kein Erbarmen,
da werden auch wieder Menschen sein,
die könnten, wie dazumal, dich umarmen
o, leg ins Grab mich wieder hinein!"

Wer aber lebt, muss es klar sich sagen:
durch dies Leben sich durchzuschlagen,
das will ein Stück Rohheit.
Wohl dir, wenn du das hast erfahren
und kannst dir dennoch retten und wahren
der Seele Hoheit.
In Seelen, die das Leben aushalten
und Mitleid üben und menschlich walten,
mit vereinten Waffen
wirken und schaffen
trotz Hohn und Spott
da ist Gott.


Adolf Glaßbrenner (1810 - 1876): Das Inselreich Haitahai <Auszug>

Der ließ nur einen einzigen Pfaffen
Zu Schiff nach jener Insel schaffen,

...

Anfänglich lachten sie der Dinge,
Die der von Gott und Glauben sprach,
Gerieten aber nach und nach
Doch in des Priesters fromme Schlinge;
Denn er verstand es meisterhaft,
Geduldig, ohne Leidenschaft,
Ihr Herz und Sinnen wohl erprobend
Und ihre Götzen immer lobend,
Dem seinigen sie zuzuwenden;
Erzählte ihnen ohne Enden
Von Wundern, so geschehen wären
Durch seinen Gott und ihm zu Ehren;
So dass zuletzt die so Betäubten
Durch Wunder nun auch alles glaubten.
Denn man bekehrte stets durch Wunder
Und tut's durch sie auch noch jetzunder.
Was jedem deutlich, glaubt man schwer;
Was gar nicht glaublich, glaubt man eh'r.
Nun war das Größte schon geschehen;
Bald ließen mehr der Priester sehen

...

Und dass man schnell das Ziel erreichte,
Kam nun hinzu die Ohrenbeichte,
Und mit dem Ablass aller Sünden
Tat auch das letzte Wider schwinden,
Die letzte Opposition
Der haitahaiischen Nation!
Der König landete darauf
Und baute Kirch' um Kirche auf
Und ganz besonders viele Klöster,
Durch deren heil'ge Seelentröster
Die ganze Insel ringsherum
In kurzer Zeit ward ziemlich dumm;
So daßss der König konnte nun
All Gutes, was er wollte, tun,
Und keine frechen Demagogen
Ihn um sein gutes Recht betrogen,
Und alle schändlichen Rebellen
Könnt' stecken in die Zitadellen,
Kurz, auf der Insel Blütefluren
Sein waren alle Kreaturen,
Und alles Volk auf Haitahai
Bald nun gebildet ward und frei.


Adolf Glaßbrenner (1810 - 1876): Gegen die Sirupigen

Wenn du, Bruder, Weisheit lehrst,
Musst du Torheit bannen;
Wenn du hoch die Freiheit ehrst,
Hass auch die Tyrannen;
Wer nicht pfäffschen Trug verdammt,
Kann als Christ nicht gelten;
Wer für Recht und Wahrheit flammt,
Muss die Heuchler schelten:

Keine Rose ohne Dorn,
Keine Liebe ohne Zorn!
Zeige, dass du Herz hast!

Demut da und Wehmut hier,
Ohne Herz und Handeln,
Heißt: Dich in ein wedelnd Tier,
Starker Mensch, verwandeln.
Lieblos ist, wer alles küsst,
Alle kann umarmen;
Jämmerlich, erbärmlich ist
Solch ein Lugerbarmen!

Keine Rose ohne Dorn,
Keine Liebe ohne Zorn!
Lass dich nicht entmannen!

Willst du Frucht- und Schattenlust
Liebst du duft'ge Blüten,
Musst du gegen Unkraut, musst
Gegen Raupen wüten.
Ihn, der aller Weisheit Ruhm.
Nimm dir zum Exempel,
Der da warf das Wuchertum
Aus des Vaters Tempel.1

Keine Rose ohne Dorn.
Keine Liebe ohne Zorn'
Fort das Ungeziefer!

Erläuterung:

1 Anspielung auf Die Tempelreinigung durch Jesus: Matthäus 21, 12 und Parallelen: "Und Jesus ging in den Tempel hinein und trieb heraus alle Verkäufer und Käufer im Tempel und stieß die Tische der Geldwechsler um und die Stände der Taubenhändler und sprach zu ihnen: Es steht geschrieben (Jesaja 56,7): »Mein Haus soll ein Bethaus heißen«; ihr aber macht eine Räuberhöhle daraus."


Adolf Glaßbrenner (1810 - 1876): Gute Nacht <Auszug>

Gute Nacht!
Nur zu glauben sei bedacht!
Nie musst deinen Sinn du lenken
Auf das Wissen, niemals denken,
Denn das Denken, das verflacht:
Gute Nacht!


Adolf Glaßbrenner (1810 - 1876): Illustrierte deutsche Volkslieder <Auszug>


Schlaf, Herzenssöhnchen, mein Liebling bist du;
Schließe die blauen Guckäugelein zu!
Alles ist ruhig und still wie ein Grab
Schlaf nur, ich wehre die Fliegen dir ab!


Adolf Glaßbrenner (1810 - 1876): Inschriften in Abdera <Auszug>

Das Ministerium des Kultus:

"Wissenschaft muss umkehren,
Aber Glaube sich vermehren."


Adolf Glaßbrenner (1810 - 1876): Konfetti <Auszug>

Der Mensch schuf Gott zu seinem Ebenbilde, und die Pfaffen machten aus dem wahren Gott einen ... Pfaffen.


Adolf Glaßbrenner (1810 - 1876): An das Volk

Bete: Dich, Volk, trifft Fluch. Arbeite: Dir wird der Ertrag nicht
Wisse: Dir hilft kein Gott, wenn du dir selber nicht hilfst.


Adolf Glaßbrenner (1810 - 1876)


Abb.: Moses war der einzige Mensch, der die zehn Gebote gehalten hat.


Adolf Glaßbrenner (1810 - 1876): Der Messias

Hofft den Messias ihr noch! Nicht kommt er
Vom Himmel! Ihr Völker,
Reicht euch zum Kampfe die Hand und — der Messias
Ist da.


Adolf Glaßbrenner (1810 - 1876): Michel

Kann ich nur Engel einst im Himmel werden,
So bleib' ich Hund und Esel hier auf Erden.


Hermann von Gilm (1812 - 1864):  Die Mission1


Abb.: Abschluss der Volksmission durch den 76-jährige Vinzentiner-Pater Joseph Bill aus Indien in der katholischen Pfarrkirche St. Cyriakus, Kleinenberg (Westfalen). -- 2003-10-10 [Bildquelle: http://www.kleinenberg.de/Cyriakus/031021_Mission.htm. -- Zugriff am 2004-12-20]

Es ziehen schwarze Mönche
Herab ins grüne Tal,
Da sitzen sie zu Beichte
Und pred'gen überall.

Drei lange schöne Tage
Dau'rt ihre Mission,
Dan geben sie den Segen
Und ziehen still davon.

Was haben nun die Männer,
Die heiligen, getan?
Die Blumen sehen eitel
Wie vor einander an.

Die Vögel singen immer
Das gleiche frohe Lied,
In des Waldbachs Charakter
Ist auch kein Unterschied.

Ich küss' ihm Aug' und Stirne,
Wie ehdem ich geküsst,
Obgleich mit einem Psalter1
Ich meine Lieb gebüßt.

Erläuterung:

1 d.h. Volksmission: Einrichtung der katholischen Kirche zur Erweckung des religiös-sittlichen Lebens in den Gemeinden außerhalb des regelmäßigen Gottesdienstes, in Gestalt täglich mehrmaliger Predigten, Andachtsübungen und öftern Sakramentsgenusses. Die Volksmissionen werden hauptsächlich von Jesuiten, Redemptoristen, Lazaristen und Franziskanern gepflegt.

2 d.h. ihr wurde bei der Beichte zur Buße aufgegeben, einen Rosenkranz (Psalter) zu beten


Hermann von Gilm (1812 - 1864): Das Kreuz am Feldweg

Es steht ein Kreuz am Feldweg,
Daneben ein schattiger Baum,
Da hatt' ich jüngst im Schlafe
Den wunderbaren Traum:

Es dunkelte im Tale,
Da nahm der Herr den Dorn
Vom Haupte, stieg vom Kreuze
Und legte sich ins Korn.

Doch mit dem ersten Strahle,
Der fiel vom Kirchturmknauf,
Nahm Nägel er und Krone
Und hing sich wieder auf.


Hermann von Gilm (1812 - 1864): Kloster Fiecht1


Abb.: Johann Pirkl: Die Abtei Fiecht nach Westen. -- 1834 [Bildquelle: http://www.st-georgenberg.at/bilderzurgeschichte.html. -- Zugriff am 2004-12-21] 

Wie sie rufen all' die Glocken
Von dem nahen Kloster Fiecht!
Wollt ihr mich hinunterlocken
In die Kirch'? Ich geh' euch nicht!

Mir sind lieber dunkle Föhren,
Als des Tempels Säulengang,
Ich will Lerchen lieber hören,
Als der Mönche Chorgesang.

Lieber seh' ich weiß und schwarze
Wolken in des Himmels Blau,
Als dedn Rauch von eurem Harze
Ziehen durch des Domes Bau.

Lieber seh' ich in die Sterne,
Als in Kerzen geisterbleich,
Und ich glaube, dass ich lerne
Mehr von Grillen, als von euch.

Und die Jungfrau, die ich trage
Still in meines Herzens Schrein,
Wird wohl ohne alle Frage
Schöner als die eure sein!


Abb.: "Wird wohl ohne alle Frage schöner als die eure sein": Gandenbild auf Hochalter der Klosterkirche Fiecht [Bildquelle: http://www.st-georgenberg.at/kirchenbeschreibung.html. -- Zugriff am 2004-12-21]

Erläuterung:

1 Benediktinerabtei St. Georgenberg-Fiecht (Tirol, Bezirk Schwaz, Gemeinde Vomp). Hermann von Gilm war von 1840 bis 1843 Staatsbeamter in Schwaz (Tirol)

"Vor mehr als tausend Jahren errichtete Rathold von Aibling nahe des heutigen Georgenberges die erste Klosterzelle. 1138 wird die Gemeinschaft zur Benediktinerabtei erhoben. Bis heute ist der Georgenberg einer der bedeutendsten Wallfahrtsorte Österreichs. Berühmt sind die Nachtwallfahrten an jedem 13. der Monate Mai bis Oktober. Kursangebote (Meditation, Exerzitien) gibt es in Georgenberg und in der Abtei Fiecht. Einzelexerzitien sind in der Abtei und in Georgenberg möglich. Die Mönche bieten Gästen die Teilnahme an ihrem Gemeinschaftsleben an. Auch für Jugendgruppen ist Platz."

[Quelle: http://www.st-georgenberg.at/index.html. -- Zugriff am 2004-12-21]


Hermann von Gilm (1812 - 1864): Der Gott

Ich beneide dich wahrhaftig
Um das gute Einverständnis,
In dem du mit deinem Gott stehst;
Welch ein artiges Verhältnis!

Ohne lange anzufragen,
Ob der Herr auch sei bei Laune,
Gehst du gänzlich nach Belieben
Ein und aus in seinem Hause.

Du doch, Gottheit meiner Seele,
Hast für mich ein willig Ohr nicht,
Und ich darf dich nicht besuchen,
Auch nicht mit der größten Vorsicht.

Ist das nun nicht eine Torheit,
Wenn sich einer einen Gott hält,
Der voll Laune ist und Bosheit
Und nicht einmal einen vorlässt?


Hermann von Gilm (1812 - 1864): Frommes Mädchen

Frommes Mädchen, bete wacker,
Aber hab' mit mir Erbarmen,
Liegen sich auch bei Jean d'Acre1
Kreuz und Halbmond in den Armen.

Mag auch drüben eine Seele
Sterben in der Maienblüte,
Mögen auch die Kardinäle
Schütteln ihre roten Hüte.

1 Saint-Jean d'Acre = Akka, wurde 1104 von den Kreuzfahrern erobert, wurde 1187 von Saladin genommen, 1191 aber im dritten Kreuzzug von den Christen abermals erstürmt. Seitdem war Akka Hauptsitz der Johanniter, bis 1291 der ägyptische Kalaunide Chalîl die Stadt eroberte. 1517 fiel es in die Hände der Türken. Dann war es arabisch. 1840 wurde es von einer englisch-österreichisch-türkischen Flotte zwei Tage lang bombardiert und zur Übergabe gezwungen (darauf spielt Gilm an).


Julius Sturm (1816 - 1896): Radbot und Wolfram.

Herr Radbot vor der Taufe
sprach: „Heil'ger Gottesmann,
wo weilt der größte Haufe,
der dieser Welt entrann?"

Und Wolfram drauf: „Im Himmel
ist noch für viele Raum,
doch drunten das Gewimmel
umfasst der Hölle Raum."

Da rief der arge Heide:
„Dein Taufen acht' ich klein,
denn ich will, wenn ich scheide,
beim größten Haufen sein."

Erläuterung: Gründet auf Sage Nr. 451 in Jakob und Wilhelm Grimm' Deutsche Sagen (1816/1818):

"Radbot lässt sich nicht taufen

Als der heilige Wolfram den Friesen das Christentum predigte, brachte er endlich Radbot, ihren Herzog, dazu, dass er sich taufen lassen wollte. Radbot hatte schon einen Fuß in das Taufbecken gestellt, da fiel ihm ein, vorher zu fragen, wohin denn seine Vorfahren gekommen wären. Ob sie bei den Scharen der Seligen oder in der Hölle seien? St. Wolfram antwortete: »Sie waren Heiden, und ihre Seelen sind verloren.« Da zog Radbot schnell den Fuß zurück und sprach: »Ihrer Gesellschaft mag ich mich nicht begeben; lieber will ich elend bei ihnen in der Hölle wohnen als herrlich ohne sie im Himmelreich.« So verhinderte der Teufel, dass Radbot nicht getauft wurde; denn er starb den dritten Tag darauf und fuhr dahin, wo seine Magen waren.

Andere erzählen so: Radbot habe auf Wolframs Antwort, dass seine Vorfahren zur Hölle wären, weitergefragt, ob da der meiste Haufe sei. Wolfram sprach: »Ja, es steht zu befürchten, dass in der Hölle der meiste Haufen ist.« Da zog der Heide den Fuß aus der Taufe und sagte: »Wo der meiste Haufen ist, da will ich auch bleiben.«"


Friedrich Stoltze (1816 - 1891): Bis zum letzten Tropfen Blut

Bis zum letzten Tropfen Blut
und in Todesnächte
fröhlich auf mit neuem Mut
für der Menschheit Rechte!
Freiheit, du mein Götterbild,
schöner ist kein Werben
als auf deinem Sonnenschild
in der Schlacht zu sterben.

Betet ihr, ich kann es nicht!
Beten kann nicht retten;
mit gefaltnen Händen bricht
nie ein Volk die Ketten.
Sieht der Himmel nicht die Not
unsres Erdenballes?
Zweimal täglich wird er rot,
weint auch. Das ist alles!

Hilf dir selbst, hilft Zebaoth,
selber sei dein Retter! —
Schweigt im Busen dir der Gott,
schweigen alle Götter.
Sklaven ist der Himmel taub,
Knechte knien vor Protzen,
Würmer krümmen sich im Staub, —
stolze Seelen trotzen!


Abb.: Knechte knien vor Protzen, um selbst zu protzen: Walter Kaspar erhält die Kardinalswürde, nach der er so gegiert hat [Bildquelle: http://www2.allgaeu.org/seniornet/rombesuch.htm. -- ZUgriff am 2004-11-17]

Trutz Gewalt und Trutz Gewalt,
Blitz und Donnerschlägen!
Selbst im Tode noch geballt
sei die Faust dagegen!
Hängt das Recht am Sternenzelt?
Reißt den Himmel nieder!
Wieder muss es auf die Welt,
Unter Menschen wieder!


Theodor Storm (1817 - 1888): Der Zweifel

Der Glaube ist zum Ruhen gut,
Doch bringt er nicht von der Stelle;
Der Zweifel in ehrlicher Männerfaust,
Der sprengt die Pforten der Hölle.


Abb.: Weinendes Christusbild, Goa, Indien, ca. 2003

"Weinendes Jesusbild in Indien: Ein Jesusbild in einer indischen Kirche, das "blutige Tränen weint", zieht Scharen von Besuchern an.  Das Bild gehört einem vierzehnjährigen Mädchen aus dem Dorf Ambora-Camurlim im Süden von Goa, das die Tränen entdeckte, als das Bild noch auf ihrem Schlafzimmerschrank stand. Die Familie alarmierte daraufhin den Gemeindepfarrer, der das Bild in die Dorfkirche brachte. (Quelle: www.ananova.com)" [Quelle: http://www.diewunderseite.de/newsletter_1003.htm. -- Zugriff am 2004-09-16]

Theodor Fontane (1819-1898): Kein Wunder!

Wozu dies Ausposaunen,
Dies Christusbildbestaunen,
Weil es die Augen jüngst verdreht?
Es wird das Bild des Herren
Bald Mund und Nas' aufsperren,
Wenn ihr so fort den Krebsgang geht.

Es herrscht in eurem Lande
So viel zu Christi Schande,
Dass mir es ganz natürlich scheint,
Wenn ich mit Nächstem lese:
In jeder Diözese
Hat jüngst ein Christusbild geweint.


Friedrich Bodenstedt (1819 - 1892): Pfaffenweisheit

Es hat einmal ein Tor gesagt,
Dass der Mensch zum Leiden geboren worden;
Seitdem ist dies — Gott sei's geklagt! —
Der Spruch aller gläubigen Toren worden.

Und weil die Menge aus Toren besteht,
Ist die Lust im Lande verschworen worden,
Es ist der Blick des Volkes kurz,
Und lang sind seine Ohren worden.


Ludwig Pfau (1821 - 1894): Glaube

Du Glaube wohnest nicht in Kirchenhallen,
Und an Altären bist du nie gediehen;
Du schüchtern Kind willst dem Gedräng entfliehen
Und unbelauscht dein einsam Sprüchlein lallen.

Du suchst die Wälder, wo die Wasser fallen,
Du liebst den Himmel, wo die Sterne ziehen;
Die Brust nur, der des Zweifels Kraft verliehen,
Magst du, ein stiller Friedenshauch, durchwallen.

Wo Priester drohn und Gift und Galle sprühen,
Da stehst du traurig an des Tempels Pforte;
Da nahst du nicht, wo feige Knechte beben.

Wo freie Seelen für die Wahrheit glühen,
Schwebst du daher und sagst mit festem Worte:
Wer Ew'gem lebt, der wird auch ewig leben.


Ludwig Pfau (1821 - 1894): Erbsünde

Freigeist nennst du mich, Freund? du weißt nicht, wie vieles ich glaube,
Die Erbsünde sogar ist mir historisch gewiss;
Weitergezeugt von Geschlecht zu Geschlecht, das schlimmste der Übel,
Drückt sie darnieder den Sohn wie sie den Vater erdrückt;
Hilft kein Gebet und hilft kein Gebuß, denn die Ursünde Dummheit
Ist fatal wie der Tod: wächst doch für beide kein Kraut.


Ludwig Pfau (1821 - 1894): Die Leineweber

Der bleiche Weber sitzt am Stuhl,
er wirft mit matter Hand die Spul —
knick, knack! —
Er hebt den müden Fuß zum Treten: —
»Herrgott! Jetzt kann ich nimmer beten
knick, knack! —Du Linnentuch, du Linnentuch!
ein jeder Faden sei ein Fluch!«

Es webt und webt sein morscher Leib,
am Boden liegt sein sterbend Weib —
knick, knack! —
Die Not sitzt bei ihr, sie zu pflegen,
der Hunger gibt ihr noch den Segen —
knick, knack! —
Du Linnentuch, du Linnentuch!
ein jeder Faden sei ein Fluch!

Der erste Fluch für unsern Herrn!
Hussa! Da springt mein Schiff lein gern —
knick, knack 1 —
Er darf am vollen Tische lungern,
wenn wir am Webestuhl verhungern —
knick, knack! —
Du Linnentuch, du Linnentuch!
ein jeder Faden sei ein Fluch!

Und einer für den Pfaffen gleich,
der uns verspricht das Himmelreich
knick, knack! —
Wir sollen sterben und verderben,
das heißt die Seligkeit erwerben —
knick, knack! —
Du Linnentuch, du Linnentuch!
ein jeder Faden sei ein Fluch!

Der Faden hier sei dem verehrt,
der Kugeln uns statt Brot beschert —
knick, knack! —
Dem hohen Herrn von Gottes Gnaden:
o werd ein Strick, du schwacher Faden!
knick, knack! —
Du Linnentuch, du Linnentuch!
ein jeder Faden sei ein Fluch!

Die Lampe, wie sie plötzlich loht!
Gottlob, mein Weib, nun bist du tot —
knick, knack! —
Das ist der Tod in unsrem Leben,
dass wir das Bahrtuch selber weben —
knick, knack! —
O könnt ich weben Fluch um Fluch,
der ganzen Welt ein Leichentuch!


Alfred Meißner (1822 - 1885): So viel seh' ich

So viel seh ich, in des Geistes Licht,
Aus des Glaubens Sternennacht erwacht:
Der auf Golgatha, der hat noch nicht
Die Erlösung dieser Welt gebracht;
Denn so lang der Menschheit Kern umnachtet,
Und so lang noch tausend Herzen brechen,
Und Ein Freier noch in Ketten schmachtet,
Kann der Tor nur von Erlösung sprechen.

— Als ich die Stadt durchrannt,
Fühlt ich mich plötzlich am Arm gefangen;
Hoch und mächtig, mit entfärbten Wangen,
Fasste mich ein Mädchen bei der Hand.
Ach, ich hatte sie als Kind gesehn,
Von der Unschuld Röte überflogen,
Rein und schön, als hätten gute Feen
Sie in ihrer Wiege groß gezogen.

Fortgewichen war der Geister Huld
Und sie war nur die zertretne Rose. —
Weib, an deinem Elend ist nur schuld
Die Gesellschaft, die erbarmungslose!
Bleiches Opfer, traurig anzuschaun,
Auf der Sünde heidnischem Altare
Liegst du, dass die Unschuld andrer Fraun
Sich im Hause unbefleckt bewahre — —

— — Ein Wandrer durch die Stadt
Blickt ich durch der Hütten Fensterscheiben,
Und ich sah beim Scheine, bleich und matt,
Not und Sünde ihr Gewerbe treiben.
Was ich so gesehn, vergaß ich nie!
Kinder hört ich wimmern, sterbensmatte,
Weil der Mutter welke Brust für sie
Keinen Tropfen süßer Labung hatte,
Schuldlos sterben in der Mutter Hut! —
Und doch ist's ein Wunder, hold und milde,
Wie in Mutterbrust, aus rotem Blut
 Weiße Milch sich scheide und sich bilde.

Andre Kinder, eine blasse Brut,
Sah ich dort, wo hohe Essen dampften,
Und die ehrnen Räder in der Glut
Einen Tanz im schweren Takte stampften.
Also grässlich ruft ein Wandrer nicht
Unterm Mordstahl durch die nächtge Öde,
Wie der Seele stumme Klage spricht
Aus des Kindes Auge, stumpf und blöde.
Wo der Seel ihr grüner Lenz geraubt,
Gibts ein Weh, das nimmermehr zu lindern!
Und ich zürnte, dass ich dem geglaubt,
Der gesagt: Das Himmelreich den Kindern!1

Erläuterung:

1 Matthäusevangelium 18, 1- 6: "Zu derselben Stunde traten die Jünger zu Jesu und sprachen: Wer ist doch der Größte im Himmelreich? Jesus rief ein Kind zu sich und stellte das mitten unter sie und sprach: Wahrlich ich sage euch: Es sei denn, dass ihr umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. Wer nun sich selbst erniedrigt wie dies Kind, der ist der Größte im Himmelreich. Und wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf. Wer aber ärgert dieser Geringsten einen, die an mich glauben, dem wäre es besser, dass ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft werde im Meer, da es am tiefsten ist."


Georg Weerth (1822 - 1856): Erinnerungen

Muss ich einst sterben — sei's als Mann, als Greis,
Nach einem Leben voller Not und Plage —
Auf dann, mein Geist, erinnre du dich leis
An deiner schönen Jugend schönste Tage!

Dass ich den Flor der Gärten wiederschau,
Wo ich als Kind mit goldnen Blumen spielte,
Wo meine Diamanten all der Tau,
Wenn frisch der Wind in all den Kelchen wühlte.

Dass ich dran denke, wie zur Winterzeit
Bei eines Feuers knisterndem Verglimmen
Ich einst mit Bertha und mit Adelheid
Gelauscht der Amme schauerlicher Stimmen.

Wie uns Sigunens1 Leid so still gemacht,
Wie uns der Heinzelmänner Spaß erheitert,
Wie bei den Märchen Tausendeiner Nacht
Phantastisch die Gemüter sich erweitert.

Wie ich im Traum manch Königskind befreit
Und manchen fürchterlichen Drach erschlagen,
Wie ich als Knabe drauf zur Weihnachtszeit
Zuerst mein Nüremberger Ei2 getragen.

Wie ich als ehrlicher Quartaner dann,
Ach, auf der Schule glatt gerittnen Bänken
Gewünscht: der Herr Magister lobesam,
Er möcht am nächsten Balken sich erhenken.

Wie ich zuerst den Ranzen mir geschnallt,
Der Ferienreise Wunder zu erfahren,
Und an die Weser und den Rhein gewallt
Mit offner Brust, mit langen Burschenhaaren.

Und wie in der Genossen froher Mitt
Das Feuer dann geflammt auf offner Halde,
Wie ich den Namen in die Eichen schnitt
Vom Spessart bis zum Teutoburger Walde.

Wie ich des Faublas3 Aventüren las,
Der Brust geheimstes Wünschen zu erwidern,
Wie ich mein Griechisch und Latein vergaß
Bei Heinrich Heines und bei Uhlands Liedern.

Wie drauf ein Sehnen meine Brust erfasst,
Als ob es nimmermehr zu lindern wäre:
Hätt ich der Sterne letzten auch durchrast,
Als Taucher auch durchfurcht die tiefsten Meere.

Wie mir die Kraft durchtobt der Seele Bronn,
Als könnt, Titanen gleich, das All ich stürmen,
Den alten Ossa auf den Pelion4,
Den Chimborasso5 auf die Alpen türmen -

Bis mich dein Wort, du großer Feuerbach6,
Gerungen dann aus meinen letzten Zweifeln,
Bis ich des Wissens schönste Blüte brach,
Befreit, erlöst von Göttern und von Teufeln.

Bis endlich mir erstrahlt ein höher Glück
Als Ruhmes Brausen, als des Goldes Scheinen:
Da mich, o Lieb, dein seelenvoller Blick
Gemacht auf ewig zu dem einen, deinen!

Drum, wenn ich sterbe - sei's als Mann, als Greis,
Nach einem Leben voller Not und Plage -
Auf dann, mein Geist, erinnre du dich leis
An deiner schönen Jugend schönste Tage!

Noch einmal wirst du deine Erde sehn,
Der jedes Leid und jede Lust ersprossen,
Und fröhlich wirst du dann zugrunde gehn
In der Erinnrung, was du einst genossen.

Erläuterung:

1 Sigune: Hauptgestalt in Wolfram von Eschenbach's (gest. um 1220) Titurel,  welcher die Geschichte von Schionatulander und Sigune behandelt.

2 Nürnberger Ei: früheste Benennung der angeblich um 1500 in Nürnberg von Peter Henlein erfundenen ovalen Taschenuhren.

3 Faublas Aventüren: »Les amours du Chevalier de Faublas« (unzählige Male aufgelegt und unt. versch. Titeln, wie »Une année de la vie du chev. de F.« und »Six semaines de la vie du chev. de F.«) von Jean B. Louvet de Couvray (1760- 1797), einem französischer Schriftsteller und Politiker, zuerst Privatsekretär, dann Buchhändlergehilfe, Politiker der Revolutionszeit. Der Roman ist "ein künstlerisch reizvolles Sitten- oder vielmehr Unsittenbild des sterbenden Rokoko". [Quelle: Bilderlexikon der Erotik  / Mathias Bertram (Projektleitung, Red.) ... Berlin : Directmedia Publ., 1999. -- 1 CD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; Bd. 19). -- ISBN 3-932544-24-2. -- s.v. Louvet]

 
4 Ossa, Pelion: Ossa, zusammenhängende Gebirge in Thessalien (Griechenland)

5 Chimborasso (Chimborazo):  Gipfel der Westkordillere in der Republik Ecuador,  über 6000 m hoch

6 Feuerbach


Abb.: Ludwig Feuerbach. -- 1874

"Feuerbach, Ludwig, geb. 28. Juli 1804 in Landshut als Sohn des Kriminalisten Anselm von Feuerbach. 1823 studierte er in Heidelberg Theologie bei dem Hegelianer Daub, 1834 ging er nach Berlin, wo er besonders Hegel hörte, 1828 wurde er Privatdozent für Philosophie in Erlangen. Nachdem er sich öfter vergeblich (wegen seiner Schrift »Gedanken über Tod u. Unsterblichkeit«, 1830) um eine Professur beworben, verheiratete er sich mit Bertha Löwe und nahm (1836) seinen Wohnsitz im Dorfe Bruckberg (zwischen Ansbach und Nürnberg). Dezember 1848 bis März 1849 hielt er im Heidelberger Rathaussaal Vorlesungen. In sehr ungünstigen Verhältnissen lebend, übersiedelte er 1860 nach dem Rechenberg bei Nürnberg und starb dort 13. September 1872.

Feuerbach ist der Begründer des neueren Naturalismus und Anthropologismus, indem er an die Stelle der Verehrung übernatürlicher Wesenheiten die Natur in ihrer Unendlichkeit setzt. Ausgegangen von Hegel, tritt er in Gegensatz zum absoluten Idealismus, indem er als das Wirkliche nicht die Idee, nichts Abstraktes, Übersinnliches, sondern das konkrete Sein setzt, welches wir äußerlich und innerlich wahrnehmen. So vertritt Feuerbach einen Positivismus, Empirismus und Realismus. Insofern Feuerbach den Gegensatz von Spiritualismus und Materialismus durch Betonung des Einheitlichen im Menschen zu überwinden sucht, ist seine Lehre »Anthropologismus«. »Gott war mein erster Gedanke, die Vernunft mein zweiter, der Mensch mein dritter und letzter Gedanke.«

In der Schrift über »Tod und Unsterblichkeit« ist Feuerbach noch idealistischer Pantheist. Die Realität des Geistes ist das Ewige. Der Mensch als Individuum ist nicht unsterblich, sein Tod ist ein wahrhafter Tod, bedeutet die Auflösung im unendlichen Sein. Die Unsterblichkeit kommt nur dem allgemeinen Geist zu und dem Ganzen der Menschheit, in welchem wir als Erinnerung weiterleben.

Die Hauptbedeutung Feuerbachs liegt in seiner Religionsphilosophie, deren Methode die psychologisch-kritische ist. Scharf betont Feuerbach den Gegensatz zwischen Theologie und Wissenschaft; erstere hat den Willen, letztere die Idee zur Grundlage. In der Religion spielt die Phantasie, das Irrationale eine große Rolle; das Dogma als solches ist vernunftwidrig, der Glaube hat sein eigenes Prinzip. Es gilt, den Inhalt des religiösen Glaubens auf seine psychologische Wurzel zurückzuführen, zu zeigen, dass alle Theologie »Anthropologie« ist. Die Religion ist aber deshalb nicht eine wertlose Illusion. »Die Religion ist der Traum des menschlichen Geistes. Aber auch im Traume befinden wir uns nicht im Nichte oder im Himmel, sondern auf der Erde - im Reiche der Wirklichkeit, nur dass wir die wirklichen Dinge nicht im Lichte der Wirklichkeit und Notwendigkeit, sondern im entzückenden Scheine der Imagination und Willkür erblicken.« Die Religion ist »das Bewusstsein des Menschen von seinem, und zwar nicht endlichen, beschränkten, sondern unendlichen Wesen«. Der Mensch kann nicht über sein wahres Wiesen hinaus. Wie er denkt und gesinnt ist, so ist sein Gott. »Das Bewusstsein Gottes ist das Selbstbewusstsein des Menschen.« Das göttliche Wesen ist »das Wesen des Menschen, abgesondert von den Schranken des individuellen, d.h. wirklichen, leiblichen Menschen, vergegenständlicht, d.h. angeschaut und verehrt als ein anderes, von ihm unterschiedenes, eigenes Wesen«.

Gott ist »das vergötterte Wesen des Menschen«, das »offenbare Innere, das ausgesprochene Selbst des Maischen«. Die Götter sind Wunschwesen, »die als wirklich gedachten, die in wirkliche Wesen verwandelten Wünsche des Menschen«. In den Dogmen liegen lauter realisierte Wünsche vor. Die Abhängigkeit vom All, aus der die Religion entspringt, zeitigt diese als ein Mittel, unseren Glückseligkeitstrieb zu befriedigen. Gott ist die Liebe, die unsere Wünsche erfüllt; diese Liebe ist die hypostasierte Liebe des Menschen zu sich selbst. »Die Liebe ist die wahre Einheit von Gott und Mensch, von Geist und Natur.« Der Glaube ist das Bewusstsein dessen, was dem Menschen heilig ist und so ist Gott für den Menschen »das Kollektaneenbuch seiner höchsten Empfindungen und Gedanken«. »Gott ist das von aller Widerlichkeit befreite Selbstgefühl des Menschen.« »Die Grunddogmen des Christentums sind erfüllte Herzenswünsche - das Wesen des Christentums ist das Wesen des Gemüts.« »Christus ist die Allmacht der Subjektivität, das von allen Banden und Gesetzen der Natur erlöste Herz.« »Die Religion ist das Verhalten des Menschen zu seinem eigenen Wesen - darin liegt ihre Wahrheit und sittliche Heilkraft - , aber zu seinem Wesen nicht als dem seinigen, sondern als einem ändern, von ihm unterschiedenen, ja entgegengesetzten Wesen - darin liegt ihre Unwahrheit, ihre Schranke, ihr Widerspruch mit Vernunft und Sittlichkeit«. Der wertvolle Kern der Religion ist die Liebe zur Menschheit als Gattung, zum reinmenschlichen Wesen, In der Liebe ist Erlösung des Menschen gegeben. Jeder hat Religion, der »einen Zweck hat, einen Zweck, der an sich wahr und wesenhaft ist«. Endzweck ist »die Einheit von Natur und Geist im Menschen«. »Vernunft, Liebe, Willenskraft sind Vollkommenheiten, sind die höchsten Kräfte, sind das absolute Wesen des Menschen als Menschen und der Zweck seines Daseins.« Die Vollkommenheit und Unendlichkeit der Gattung ist das Göttliche im Menschen.

Feuerbach ist ein Gegner der »absoluten«, »immateriellen« Spekulation. »Ich brauche zum Denken die Sinne, vor allem die Augen, gründe meine Gedanken auf Materialien, die wir uns stets nur vermittelst der Sinnentätigkeit aneignen können, erzeuge nicht den Gegenstand aus dem Gedanken, sondern umgekehrt den Gedanken aus dem Gegenstande, aber Gegenstand ist nur, was außer dem Kopfe existiert.« »Ich bin Idealist nur auf dem Gebiete der praktischen Philosophie.« »Kurz, die Idee ist mir nur der Glaube an die geschichtliche Zukunft, an den Sieg der Wahrheit und Tugend.« Theoretisch aber gilt nur der Realismus und der (kritische, die Leistung des Denkens betonende) »Sensualismus«. Feuerbachs Philosophie macht zu ihrem Prinzip »das wahre ,Ens realissimum', den Menschen, also das positivste Realprinzip«. Mit dem Wirklichen, Bestimmten, Endlichen hat es die Philosophie zu tun, mit dem Sinnen-fälligen, dem Konkreten. »Die Philosophie ist die Erkenntnis dessen, was ist.« Das Wirkliche ist das »Sinnliche« (im weitesten Sinne: das in letzter Linie Anschauliche). Das Sinnliche ist die »wahre, nicht gedachte und gemachte, sondern existierende Einheit des Materiellen und Geistigen«. »Nur ein sinnliches Wesen ist ein wahres, ein wirkliches Wesen.« Auch das Ich ist ein sinnliches Wesen; der Leib in seiner Totalität ist mein Ich, mein Wesen selber. Geistiges und Körperliches sind nur zwei Seiten desselben Dinges, des Organismus. Sinnlich - d.h. für die Sinne des Naturforschers, für den Blick des Philosophen gegeben - ist auch die Natur als das Unendliche, von dem wir abhängig sind. Die menschlichen Empfindungen haben metaphysische Bedeutung, wir erfassen durch sie das physische Sein wie die psychischen Zustände unserer Mitmenschen. Unsere Empfindungen sind objektiv bedingt. Der Begriff des Objektes ist ursprünglich der Begriff eines anderen Ichs. Die Liebe ist der wahre Beweis vom Dasein äußerer Dinge. Raum und Zeit sind objektive Formen der Existenz der Dinge.

Die Wissenschaft ist »das Bewusstsein der Gattungen«. »Wahr ist, was mit dem Wesen der Gattung übereinstimmt, falsch, was ihr widerspricht. Ein anderes Gesetz der Wahrheit gibt es nicht.« Übereinstimmung mit den Nebenmenschen ist das erste Kennzeichen der Wahrheit, weil die Gattung das letzte Maß der Wahrheit ist. Die Wissenschaft ist »ein gemeinschaftlicher Akt der Menschheit«. Die Vernunft, ist ein Kulturprodukt, ein Produkt der menschlichen Gesellschaft. »Nur in der Rede, einem gemeinsamen Akte, entsteht die Vernunft. Fragen und Antworten sind die ersten Denkakte. Zum Denken gehören ursprünglich zwei.« - »Gemeinschaftliches Leben nur ist wahres, in sich befriedigtes, göttliches Leben.«

Die (altruistische) Moral kann nur aus der Verbindung von Ich und Du abgeleitet werden, aus der beide umfassenden Glückseligkeit. »Mein Recht ist mein gesetzlich anerkannter Glückseligkeitstrieb, meine Pflicht ist der mich zu seiner Anerkennung bestimmende Glückseligkeitstrieb des ändern« (Werke X, 66).

Von Feuerbach beeinflusst sind sein Bruder Friedrich Feuerbach (Grundzüge d. Religion d. Zukunft. 1843-45), K. Beyer. K. Grün, K. N. Starcke, L. Knapp, Moleschott, D. Fr. Strauß, K. Marx u. a., ferner W. Bolin, Fr. Jodl u. a."

[Quelle: Eisler, Rudolf <1873-1926>: Philosophen-Lexikon : Leben, Werke und Lehren der Denker. -- Berlin : Mittler, 1912. -- 889 S. -- S. 170ff.]


Georg Weerth (1822 - 1856): Die rheinischen Weinbauern

An Ahr und Mosel glänzten
Die Trauben gelb und rot;
Die dummen Bauern meinten,
Sie wären aus jeder Not.

Da kamen die Handelsleute
Herüber aus aller Welt:
"Wir nehmen ein Drittel der Ernte
Für unser geliehenes Geld!"

Da kamen die Herren Beamten
Aus Koblenz und aus Köln:
"Das zweite Drittel gehöret
Dem Staate an Steuern und Zölln!"

Und als die Bauern flehten
Zu Gott in höchster Pein,
Da schickt er ein Hageln und Wettern
Und brüllte: "Der Rest ist mein!"

Viel Leid geschieht jetzunder,
Viel Leid und Hohn und Spott,
Und wen der Teufel nicht peinigt,
Den peinigt der liebe Gott!


Georg Weerth (1822 - 1856): Es wurde dunkel auf den Gassen

Es wurde dunkel auf den Gassen,
Da schlichen sie ins letzte Haus,
Sie täten stumm die Gläser fassen
Und tranken trübes Bier daraus.
Erst als die Mitternacht gekommen,
Da hat ein Alter das Wort genommen:

"Wohl hab ich lang auf Gott vertrauet,
Denn dieser, sagt man, lenkt die Welt,
Und mit dem Pflug hab ich bebauet
Mein schönes grünumgebnes Feld.
Doch ach, was half der Felder Prangen?
Bin hungrig oft zu Bett gegangen."

"Und wir, wir führten manche Jahre
Die Spindel schon mit rascher Hand,
Wir spannen Fäden, fein und klare,
Zu warmem wollenem Gewand.
Doch ach, was auch die Hände taten -
Sind selber nie in die Wolle geraten."

Und andre sehr gemeine Leute -
Man sah's am schlechten schäb'gen Rock -
Sie sprachen: "Fast es uns gereute,
Dass wir gepflanzt den Rebenstock.
Ob lustig sprühn des Weines Funken,
Wir haben selbst nur Wasser getrunken!"


Georg Weerth (1822 - 1856): Jungfrau Maria blickte

 


Abb.: Mediceische Venus [Bildquelle: http://www.mcah.columbia.edu/dbcourses/rosand/large/venus_medici1_080802.jpg. -- Zugriff am 2004-11-05]

Jungfrau Maria blickte
Zornig auf ihn herab,
Als der Mediceischen Venus
Einen heißen Kuss er gab.

Aber als er die Venus umschlungen
Mit beiden Armen zugleich,
Da wurde die Jungfrau Maria
Ganz totenblass und bleich.

Und als er die Venus drückte
Wohl immer fester ans Herz,
Da war gar bald die Jungfrau
Verschieden vor großem Schmerz.

Der Jüngling aber küsste
Den heidnisch schönen Mund,
Er küsste die marmorne Venus,
Bis dass sie frisch und gesund.

Das warme Menschenleben
Floß in die Götterbrut —
Nun schwelgen Götter und Menschen
Und haben Fleisch und Blut.


Georg Weerth (1822 - 1856): Gebet eines Irländers


Abb.: St. Patrick [Bildquelle: http://www.currierandives.info/Irish/. -- Zugriff am 2004-07-26]

Sankt Patrick, großer Schutzpatron,
Du sitzt auf dem warmen Himmelsthron;
O sieh mich an mit freundlichem Sinn,
Dieweil ich ein armer Paddy bin!

Sankt Patrick, sieh, die Nacht kommt bald,
Von England weht es herüber so kalt;
O blicke auf meinen schäbigen Frack
Und auf meinen löchrigen Bettelsack!

Sankt Patrick, tu, was dir gefällt!
So groß und so schön ist ja alle Welt.
O lass mich werden, was du willt,
Nur bleiben nicht solch ein Menschenbild!

O lass mich werden ein Blümlein blau,
Dann mag ich trinken den kühlen Tau!
O lass mich werden ein braunes Reh,
Dann kann ich fressen den grünen Klee!

O lass mich werden ein stolzer Bär,
Dann geh ich im warmen Rock daher!
O lass mich werden ein schöner Schwan,
Dann wohn ich auf Strom und Ozean!

O mach aus mir einen Panther wild,
Einen Leu, dass hoch meine Mähne schwillt,
Einen Tiger, auf dass ich manch reichen Tyrann
Mit rasselnden Tatzen zerreißen kann! -

Doch, Patrick, ach, taub bleibt dein Ohr;
Der Paddy bleib ich wohl nach wie vor.
's bleibt alles wie sonst, und die Nacht ist kalt,
Und der Dan O'Connell wird dick und alt.


Georg Weerth (1822 - 1856): Als Vater Gott die Welt gemacht


Abb.: Julius Schnorr von Carolsfeld (1794 - 1872): Der Sabbath (Genesis 2,1-3). -- 1860

Als Vater Gott die Welt gemacht,
Die Welt mit Mond und Sonnen,
Da schlief er schier die ganze Nacht,
Und das war ihm zu gönnen.
Die Engel scheuchten Flieg und Mück
Von seiner Sofalehne.
Gott Vater schlief in einem Stück
Bis andern Tags um zehne.

Da stand er auf, und Gabriel
Musst ihm den Bart rasieren;
Auch wusch er sich im nächsten Quell
Und ließ den Tee servieren;
Als drauf die Meerschaumpfeife brannt,
Strich er im roten Schläfer
So lustig durch das grüne Land
Als wie ein Maienkäfer.

Ihm war so wonniglich zumut.
Er sprach: „Was ich erschaffen,
Das blaue Meer, der Sonne Glut,
Kamel und Mensch und Affen,
Es ward so wundersam erzeugt,
Wie's einem Herrgott möglich,
Drum freu sich, was auf Erden kreucht
Und amüsier sich höchlich.

Und immer soll es also sein,
Es ende Angst und Plage,
Es ende aller Arbeit Pein
Stets mit dem sechsten Tage.
Da hör der Judenjunge auf
Den Christen zu betrügen,
Mitsammen sollen sie beim Sauf
In allen Dörfern liegen.

Da drehe sich zu lust'gen Reihn,
Vom Tajo bis zum Ganges,
Manch kerngesundes Jungfernbein,
Manch rundes und manch langes.
Da greif von Berseba und dann
Bis zu Apulschen Küsten
Ein jeder brave Alderman
Der Dirne nach den Brüsten.

Da töne Waldhorn und Fagott,
Da summe die Schalmeie,
Da preise alles mich, den Gott,
Im kindlichen Geschreie,
Da bete man: Jehova groß,
Dir sind wir sehr verbunden,
Dieweil du Schenkel blank und bloß
Zu süßem Spiel erfunden!"

Und so geschah's, es ist zur Stund
Die Lust hereingebrochen;
Und was dem Sonntag nur vergunnt,
Begann auch in der Wochen.
Jahrtausendlang die Welt genas
Ein lüsternes Gebalge,
Und Gott, der große Sultan, saß
Im himmlischen Seralje.

Doch einst der Sultan auf dem Thron
Ward alt und steif und dachte:
Wie, wenn ich Christus, meinen Sohn,
Zum Vizekönig machte?
Ich selber bin der Mühe satt,
Die Welt zu visitieren,
Mein Junge bessre Kräfte hat,
Der soll mir referieren.

Und Gott war leider dumm genung
Und ließ aus seiner Stuben
Das Jungfernkind mit frommem Schwung,
Den eingebornen Buben.
Der zog daher im Dornenkranz,
In Kleidern schwarz und straffen,
Mit einem riesenhaften Schwanz
Von Nonnen und von Pfaffen.

Da war's, dass nichts als Unheil kam
Und alle Welt verdorben
Und dass Gott Vater selbst aus Gram
Bald über Nacht gestorben.
Und wilder hätt die Welt entzwei
Der Gottmensch noch zerrissen,
Hätt jüngst ihn die Philosophei
Nicht vor die Tür geschmissen.

Juchhei, juchhei, Philosophei!
Tot ist der Salamander.
Der Vater samt dem Sohn vorbei,
Vertilget miteinander!
Und nun von Berseba und dann
Bis zu Apulschen Küsten
Greift wieder jeder Alderman
Der Dirne nach den Brüsten.


Georg Weerth (1822 - 1856): Herr Joseph und Frau Potiphar : Eine biblische Romanze. Lieblich zu lesen


Abb.: Julius Schnorr von Carolsfeld (1794 - 1872): Josephs Keuschheit und der Potiphar Untreue (Genesis 39,7-17). -- 1860

Als dazumal Herr Potiphar
Im schönen Land Ägypten
Noch königlicher Kämmrer war:
Da bot man den betrübten,
Den Joseph, ihm als Sklave an
Und kam nach vielem Schwatzen
Drin überein, der fremde Mann
Sei wert ein Zwanzig Batzen.

Und Potiphar war schlau genung,
Ihn balde zu erstehen,
Denn schön war Joseph, rasch und jung
Und freundlich anzusehen.
"Du sollst", so sprach der Kämmerling,
"In meinem Haus regieren
Ob Brot und Fleisch und ander Ding
Und mir die Wirtschaft führen."

Und übel war's nicht, was er tat.
Es folgte aller Wegen
Dem jungen Joseph früh und spat
Nur Gottes eitler Segen.
Er war beliebt bei seinem Herrn
Wie bei der gnäd'gen Frauen,
Und wie man sagt, sie mochte gern
Den Judenjungen schauen.

Er war so frisch, er war so rot,
Er hatte schlanke Glieder.
Sie schlug, wenn guten Tag er bot,
Auch stets die Augen nieder;
Und träumrisch sah man oft sie gehn
Am schönen Nilesstrande,
Allwo die Pyramiden stehn -
Kirchtürme jener Lande.

Wenn drauf der kühle Nachttau fiel
Auf Palmen und auf Tannen
Und Vogel Strauß und Krokodil
Ihr Abendlied begannen:
Da setzte sich die Königin,
Geschmückt mit goldnen Franzen,
An ein idyllisch Plätzchen hin
Und dichtete Romanzen.

Von Liebe sang sie, das ist wahr,
Von Rosen und von Küssen,
Von schwarzen Augen, lock'gem Haar,
In glühenden Ergüssen.
Den Redakteur des Wochenblatts
Ließ morgens sie zitieren,
Der musste den poet'schen Schatz
In Eile publizieren.

Doch wie's der Liebe wundersam
Im Leben pflegt zu gehen,
Der Joseph wollte ihren Gram
Noch immer nicht verstehen.
Von Liebe lag sein Herz so fern
Wie Rom von Flachsenfingen,
Auch wollte er den gnäd'gen Herrn
Nicht gern in Schande bringen.

Da tobte die Ägypterin,
Sie rang die weißen Hände.
Schwarz flutete ihr Haupthaar hin,
Und los um Brust und Lende
Flog wild ihr purpurnes Gewand -
So trat sie liebedürstend
Herein, wo unser Joseph stand,
Den Sonntagsrock sich bürstend.

Das Auge Glut, die Lippe Brand,
Die Wangen wie im Fieber,
Wie eine Bombe hergesandt
Aus größestem Kaliber.
Im Wonnerausch zu Füßen sank
Sie Jakobs edlem Sohne,
Und ächzend ihre Stimme klang:
"Bei Gott, du bist nicht ohne!

Sei mir gegrüßt! Ich liebe dich,
Du bräunlicher Hebräer.
O sieh mich an, sieh her und sprich:
Kann Dichter oder Seher
Ein schöner Weib im Traume sehn,
Als du zu deinen Füßen
Sich winden siehst mit brünst'gem Flehn
Um deinen Kuss, den süßen?

Sieh meine Schultern weiß und rund
Von dunklem Haar umflossen;
Sieh wie die Ros auf meinen Mund
All ihren Glanz ergossen,
Wie diese Brust sich wallend hebt,
Von Tränen sanft befeuchtet,
Wie dir mein Herz entgegenbebt,
Wie dir mein Auge leuchtet!

Mein Lied erklingt so sehnsuchtschwer
Wie Murmeln einer Quelle;
Ich eile flüchtiger daher
Als Panther und Gazelle.
Und wilder meine Küsse glühn
Als Sonn- und Wettergluten,
Wenn zischend sie herniedersprühn
Und durch die Wolken fluten.

Ich wiege dich an meiner Brust
Zu wundersamen Träumen;
Ich lasse dir zu höchster Lust
Den vollen Becher schäumen;
Und rollt dein Blut und pocht dein Herz
In immer wildern Schlägen:
Sanft will ich dann den süßen Schmerz
Mit neuen Küssen pflegen!"

So sprach Madame Potiphar
Und konnt ihn nicht erweichen.
Der Stockphilister Joseph war
Ein Esel sondergleichen.
Er schritt wohl auf die Hausvogtei
Und hat sich sehr verwundert:
Wie alsosehr verderbet sei
Sein lasterhaft Jahrhundert.

Erläuterung: Bezieht sich auf Genesis 39 (Josef in Potifars Haus):

"Genesis 39

1Joseph ward hinab nach Ägypten geführt; und Potiphar, ein ägyptischer Mann, des Pharao Kämmerer und Hauptmann, kaufte ihn von den Ismaeliten, die ihn hinabbrachten.
2Und der HERR war mit Joseph, dass er ein glücklicher Mann ward; und er war in seines Herrn, des Ägypters, Hause.
3Und sein Herr sah, dass der HERR mit ihm war; denn alles, was er tat, dazu gab der HERR Glück durch ihn,
4Also dass er Gnade fand vor seinem Herrn und sein Diener ward. Der setzte ihn über sein Haus, und alles, was er hatte, tat er unter seine Hände.
5Und von der Zeit an, da er ihn über sein Haus und alle seine Güter gesetzt hatte, segnete der HERR des Ägypters Haus um Josephs willen; und war eitel Segen des HERRN in allem, was er hatte, zu Hause und auf dem Felde.
6Darum ließ er alles unter Josephs Händen, was er hatte, und nahm sich keines Dinges an, solange er ihn hatte, nur dass er aß und trank. Und Joseph war schön und hübsch von Angesicht.
7Und es begab sich nach dieser Geschichte, dass seines Herrn Weib ihre Augen auf Joseph warf und sprach: Schlafe bei mir!
8Er weigerte sich aber und sprach zu ihr: Siehe, mein Herr nimmt sich keines Dinges an vor mir, was im Hause ist, und alles, was er hat, das hat er unter meine Hände getan,
9und hat nichts so Großes in dem Hause, das er mir verhohlen habe, außer dir, indem du sein Weib bist. Wie sollte ich denn nun ein solch groß Übel tun und wider Gott sündigen?
10Und sie trieb solche Worte gegen Joseph täglich. Aber er gehorchte ihr nicht, dass er nahe bei ihr schliefe noch um sie wäre.
11Es begab sich eines Tages, dass Joseph in das Haus ging, sein Geschäft zu tun, und war kein Mensch vom Gesinde des Hauses dabei.
12Und sie erwischte ihn bei seinem Kleid und sprach: Schlafe bei mir! Aber er ließ das Kleid in ihrer Hand und floh und lief zum Hause hinaus.
13Da sie nun sah, dass er sein Kleid in ihrer Hand ließ und hinaus entfloh,
14rief sie das Gesinde im Hause und sprach zu ihnen: Sehet, er hat uns den hebräischen Mann hereingebracht, dass er seinen Mutwillen mit uns treibe. Er kam zu mir herein und wollte bei mir schlafen; ich rief aber mit lauter Stimme.
15Und da er hörte, dass ich ein Geschrei machte und rief, da ließ er sein Kleid bei mir und lief hinaus.
16Und sie legte sein Kleid neben sich, bis der Herr heimkam,
17und sagte zu ihm ebendieselben Worte und sprach: Der hebräische Knecht, den du uns hereingebracht hast, kam zu mir herein und wollte seinen Mutwillen mit mir treiben.
18Da ich aber ein Geschrei machte und rief, da ließ er sein Kleid bei mir und floh hinaus.
19Als sein Herr hörte die Rede seines Weibes, die sie ihm sagte und sprach: Also hat mir dein Knecht getan, ward er sehr zornig.
20Da nahm ihn sein Herr und legte ihn ins Gefängnis, darin des Königs Gefangene lagen; und er lag allda im Gefängnis.
21Aber der HERR war mit ihm und neigte seine Huld zu ihm und ließ ihn Gnade finden vor dem Amtmann über das Gefängnis,
22daß er ihm unter seine Hand befahl alle Gefangenen im Gefängnis, auf dass alles, was da geschah, durch ihn geschehen musste.
23Denn der Amtmann des Gefängnisses nahm sich keines Dinges an; denn der HERR war mit Joseph, und was er tat, dazu gab der HERR Glück."



Georg Weerth (1822 - 1856): Josua


Julius Schnorr von Carolsfeld (1794 - 1872):
Jericho wird erobert und zerstört (Josua 6). -- 1860

„Der Wächter von den Türmen
Den Morgen verkündet hat,
Und heute wollen wir stürmen
Jericho, die große Stadt.

Die Priester ein Ständchen geben
Auf Hörnern und Schalmei,
Wir andern Völker erheben
Ein mörderliches Geschrei.

Und bei dem siebten Male,
Da fallen die Mauern ein,
Da schlagt mit scharfem Stahle
Nur alles kurz und klein."

Herr Josua hat's befohlen,
Der Generallieutenant,
Er reitet ein englisches Fohlen,
Die Reitpeitsche in der Hand.

Sein Ross macht schöne Kurbetten,
Wie nie ein Ross getan,
Die sämtlichen Juden hätten
Eine große Freude daran.

Es tönten mit Sturmesklängen
Posaun und Trompete zumal,
Sie täten die Kehlen anstrengen
Und machten den größten Skandal.

O Jericho, liebliche Blume,
Um dich ist's leider geschehn,
Aus ist es mit deinem Ruhme,
Hast den letzten der Tage gesehn.

Einstürzen die schönen Paläste,
Und deine Jugend erliegt,
Es hat deine alte Veste
Der große Jude besiegt.

Und was drin lebet und wohnet
Erwürgt und vertilget er schnell
Und schützet nur und verschonet
Rahab mit ihrem Bordell.

Manch Jahr ist seitdem verflossen,
Herr Josua war noch jung,
Viel Ehre hat er genossen
Von dieser Eroberung.

Feldmarschall ist er geworden
Im Lande Kanaan
Und bekam einen großen Orden,
Und das war wohlgetan!

Erläuterung: Bezieht sich auf Josua 6:

"Josua 6

1Jericho aber war verschlossen und verwahrt vor den Kindern Israel, dass niemand aus oder ein kommen konnte,
2Aber der HERR sprach zu Josua: Siehe da, ich habe Jericho samt seinem König und seinen Kriegsleuten in deine Hände gegeben.
3Laß alle Kriegsmänner rings um die Stadt her gehen einmal, und tue sechs Tage also.
4Und lass sieben Priester sieben Posaunen des Halljahrs tragen vor der Lade her, und am siebenten Tage geht siebenmal um die Stadt, und las die Priester die Posaunen blasen.
5Und wenn man das Halljahrshorn bläst und es lange tönt, dass ihr die Posaune hört, so soll das ganze Volk ein großes Feldgeschrei machen, so werden der Stadt Mauern umfallen, und das Volk soll hineinsteigen, ein jeglicher stracks vor sich.
6Da rief Josua, der Sohn Nuns, die Priester und sprach zu ihnen: Tragt die Lade des Bundes, und sieben Priester lasst sieben Halljahrsposaunen tragen vor der Lade des HERRN.
7Zieht hin und geht um die Stadt; wer gerüstet ist, gehe vor der Lade des HERRN her.
8Da Josua solches dem Volk gesagt hatte, trugen die sieben Priester sieben Halljahrsposaunen vor der Lade des HERRN her und gingen und bliesen die Posaunen; und die Lade des Bundes des HERRN folgt ihnen nach.
9Und wer gerüstet war, ging vor den Priestern her, die die Posaunen bliesen; und der Haufe folgte der Lade nach, und man blies Posaunen.
10Josua aber gebot dem Volk und sprach: Ihr sollt kein Feldgeschrei machen noch eure Stimme hören lassen, noch soll ein Wort aus eurem Munde gehen bis auf den Tag, da ich zu euch sagen werde: Macht ein Feldgeschrei! so macht dann ein Feldgeschrei.
11Also ging die Lade des HERRN rings um die Stadt einmal, und sie kamen in das Lager und blieben darin über Nacht.
12Und Josua machte sich des Morgens früh auf, und die Priester trugen die Lade des HERRN.
13So trugen die sieben Priester die sieben Halljahrsposaunen vor der Lade des HERRN her und gingen und bliesen Posaunen; und wer gerüstet war, ging vor ihnen her, und der Haufe folgte der Lade des HERRN, und man blies Posaunen.
14Des andern Tages gingen sie auch einmal um die Stadt und kamen wieder ins Lager. Also taten sie sechs Tage.
15Am siebenten Tage aber, da die Morgenröte aufging, machten sie sich früh auf und gingen nach derselben Weise siebenmal um die Stadt, dass sie desselben einen Tages siebenmal um die Stadt kamen.
16Und beim siebentenmal, da die Priester die Posaunen bliesen, sprach Josua zum Volk: Macht ein Feldgeschrei; denn der HERR hat euch die Stadt gegeben.
17Aber diese Stadt und alles, was darin ist, soll dem HERRN verbannt sein. Allein die Hure Rahab soll leben bleiben und alle, die mit ihr im Hause sind; denn sie hat die Boten verborgen, die wir aussandten.
18Allein hütet euch von dem Verbannten, dass ihr euch nicht verbannt, so ihr des Verbannten etwas nehmt, und macht das Lager Israel verbannt und bringt's in Unglück.
19Aber alles Silber und Gold samt dem ehernen Geräte soll dem HERRN geheiligt sein, dass es zu des HERRN Schatz komme.
20Da machte das Volk ein Feldgeschrei, und man blies die Posaunen. Denn als das Volk den Hall der Posaunen hörte, machte es ein großes Feldgeschrei. Und die Mauer fielen um, und das Volk erstieg die Stadt, ein jeglicher stracks vor sich. Also gewannen sie die Stadt
21und verbannten alles, was in der Stadt war, mit der Schärfe des Schwerts: Mann und Weib, jung und alt, Ochsen, Schafe und Esel.
22Aber Josua sprach zu den zwei Männern, die das Land ausgekundschaftet hatten: Geht in das Haus der Hure und führt das Weib von dort heraus mit allem, was sie hat, wie ihr versprochen habt.
23Da gingen die Jünglinge, die Kundschafter, hinein und führten Raab heraus samt Vater und Mutter und Brüdern und alles, was sie hatte, und alle ihre Geschlechter und ließ sie draußen, außerhalb des Lagers Israels.
24Aber die Stadt verbrannten sie mit Feuer und alles, was darin war. Allein das Silber und Gold und eherne und eiserne Geräte taten sie zum Schatz in das Haus des HERRN.
25Rahab aber, die Hure, samt dem Hause ihres Vaters und alles, was sie hatte, ließ Josua leben. Und sie wohnt in Israel bis auf diesen Tag, darum dass sie die Boten verborgen hatte, die Josua auszukundschaften gesandt hatte gen Jericho.
26Zu der Zeit schwur Josua und sprach: Verflucht sei der Mann vor dem HERRN, der sich aufmacht und diese Stadt Jericho wieder baut! Wenn er einen Grund legt, das koste ihn den ersten Sohn; wenn er ihre Tore setzt, das koste ihn seinen jüngsten Sohn!
27Also war der HERR mit Josua, dass man von ihm sagte in allen Landen."

Georg Weerth (1822 - 1856): Salomo : Eine biblische Romanze


Abb.: Sebastiano Ricci (1659 - 1734): Salomos Götzendienst (1Samuel 11, 4-10). -- 1724

Motto:
Und als er nicht mehr vorwärts kunnt
Von wegen hohem Alter:
Da schrieb der Salomo die Spruch,
Der David den Posalter.

Der alte König Salomo
Mit seinem Knebelbarte,
Der wurde manche Stunde froh
Bei Fraun und Fräulein zarte.
Mit siebenhundert Weibern tat
Er in der Ehe leben
Und hatte, wie die Sage geht,
Dreihundert noch daneben.

Sein Schiff stach in die See hinein,
Sein Meerschiff, schön zu schauen,
Und holte Gold und Elfenbein
Und Affen auch und Pfauen.
Gold war der Stuhl, darauf er saß,
Von Gold war seine Hose,
Gold war die Schüssel, draus er aß,
Von Gold die Tabaksdose.

Im sandigen Araberreich
Die schöne Königinne,
Die hörte dies und brannte gleich
Von nie gekannter Minne.
Nicht lange währt's, sie kam heran
Mit Rossen und mit Schätzen —
Der König war ein weiser Mann,
Dies tat ihn bass ergötzen.

Er ließ in Eile groß und klein,
Die Edelfraun und Schranzen,
Ein Menuett und Ringelreihn
Auf seiner Hofburg tanzen.
Auch trank man, wie es oft geschah,
Viel Portwein und Burgunder —
Die Königin aus Arabia
Hatt dran ihr blaues Wunder.

Sie regte träumrisch ihre Hand
Und sprach zum König plötzlich:
„Wie ist doch im Judäerland
Das Leben so ergötzlich!
Ich merke, wahr ist's, was ich las
In alten Bilderfibeln:
Hier duftet Hof und Haus und Strass
Nach Knoblauch und nach Zwiebeln.

Von Zedernholze sind erbaut
Die Tempel und Paläste,
Am Kleide jedes Bürgers schaut
Man Gold- und Silberquäste —
Die Tage, die ich hier verbracht,
Sie sind mir unvergeßlich!"
Drauf nahm sie der Geschenke Pracht
Und schenkte unermeßlich.

Und Salomo, ob dieser Gunst,
War also sehr erfreuet:
Zu zeigen seine schwarze Kunst
Hat er sich nicht gescheuet.
Man sah ihn wie ein Murmeltier
So tolle Sprünge machen,
Sein ganzer Hofstaat wollte schier
Sich halb zu Tode lachen!

So flohen viele Monde hin,
Bis dass auf den Kamelen
Zur Heimat zog die Königin
Mit kümmerlicher Seelen. —
Es hat der alte Salomo
Den Magen sich verdorben,
Des Lebens war er nimmer froh
Und ist gar bald gestorben.


Georg Weerth (1822 - 1856): Heute morgen fuhr ich nach Düsseldorf

Heute morgen fuhr ich nach Düsseldorf
In sehr honetter Begleitung:
Ein Regierungsrat - er schimpfte sehr
Auf die Neue Rheinische Zeitung1.

"Die Redakteure dieses Blatts",
So sprach er, "sind sämtlich Teufel;
Sie fürchten weder den lieben Gott
Noch den Ober-Prokurator Zweiffel.

Für alles irdische Missgeschick
Sehn sie die einzige Heilung
In der rosenrötlichen Republik
Und vollkommener Güterteilung.

Die ganze Welt wird eingeteilt
In tausend Millionen Parzellen;
In so viel Land, in so viel Sand
Und in so viel Meereswellen.

Und alle Menschen bekommen ein Stück
Zu ihrer speziellen Erheitrung -
Die besten Brocken: die Redakteur'
Der Neuen Rheinischen Zeitung.

Auch nach Weibergemeinschaft steht ihr Sinn.
Abschaffen wolln sie die Ehe:
Dass alles in Zukunft ad libitum
Miteinander nach Bette gehe:

Tartar und Mongole mit Griechenfraun,
Cherusker mit gelben Chinesen,
Eisbären mit schwedischen Nachtigalln,
Türkinnen mit Irokesen.

Tranduftende Samojedinnen solln
Zu Briten und Römern sich betten,
Plattnasige düstre Kaffern zu
Alabasterweißen Grisetten.

Ja, ändern wird sich die ganze Welt
Durch, diese moderne Leitung -
Doch die schönsten Weiber bekommen die
Redakteure der Rheinischen Zeitung!

Auflösen wollen sie alles schier;
Oh, Lästrer sind sie und Spötter;
Kein Mensch soll in Zukunft besitzen mehr
Privateigentümliche Götter.

Die Religion wird abgeschafft,
Nicht glauben mehr soll man an Rhenus,
An den nusslaub- und rebenbekränzten, und nicht
An die Mediceische Venus.

Nicht glauben an Kastor und Pollux - nicht
An Juno und Zeus Kronion,
An Isis nicht und Osiris nicht
Und an deine Mauern, o Zion!

Ja, weder an Odin glauben noch Thor,
An Allah nicht und an Brahma -
Die Neue Rheinische Zeitung bleibt
Der einzige Dalai-Lama."

Da schwieg der Herr Regierungsrat,
Und nicht wenig war ich verwundert:
Sie scheinen ein sehr gescheiter Mann
Für unser verrückt Jahrhundert!

Ich bin entzückt, mein werter Herr,
Von Ihrer honetten Begleitung -
Ich selber bin ein Redakteur
Von der Neuen Rheinischen Zeitung.

Oh, fahren Sie fort, so unsern Ruhm
Zu tragen durch alle Lande -
Sie sind als Mensch und Regierungsrat
Von unbeschränktem Verstande.

Oh, fahr er fort, mein guter Mann -
Ich will ihm ein Denkmal setzen
In unserm heitern Feuilleton -
Sie wissen die Ehre zu schätzen.

Ja, wahrlich, nicht jeder Gimpel bekommt
Einen Tritt von unsern Füßen -
Ich habe, mein lieber Regierungsrat,
Die Ehre, Sie höflich zu grüßen.

Erläuterung:

1 Neue Rheinische Zeitung

"Die Neue Rheinische Zeitung (NRZ) war eine von Karl Marx in den Jahren 1848 und 1849 in Köln herausgegebene Zeitung, die sich auch unter kommunistisch-sozialistischen Aspekten mit den gesellschaftspolitischen Ereignissen der Zeit beschäftigte. Auch Marx´ Weggefährte und spätere Mentor Friedrich Engels arbeitete als Redakteur mit wesentlichen Artikeln an der Zeitung mit. Marx und Engels, die schon im Februar 1848 im Auftrag vom Bund der Kommunisten "das Kommunistische Manifest" verfasst hatten, waren im April 1848 nach dem Aufflammen der Revolutionen in Frankreich und den Staaten des Deutschen Bundes aus Belgien nach Deutschland zurück gekehrt. Am 1. Juni 1848 erschien die erste Ausgabe der NRZ.

Vorgängerin der NRZ war die Rheinische Zeitung, die Anfang der 1840er Jahre zunächst ein eher liberales Presseorgan war. Nachdem Marx 1841 erst Redakteur und schließlich Chefredakteur der Rheinischen Zeitung geworden war, veränderte sich deren Kurs in eine radikaldemokratische und sozialistische Richtung. Marx´ kritische Artikel zur sozialen Frage in den deutschen Staaten, die letztlich auch das reaktionäre Metternichsche System der Restauration angriffen, hatten 1843 zum Verbot der Rheinischen Zeitung geführt.

Möglich wurde 1848 das Erscheinen der Neuen Rheinischen Zeitung durch die Aufhebung der Pressezensur im Zuge der Märzrevolution von 1848 / 49 in den deutschen Staaten. Die revolutionären Ereignisse bildeten denn auch wichtige Themen, mit denen sich das Blatt auseinander setzte. Inhaltlich setzte sich die NRZ unter anderem für die Aufhebung der Feudallasten ein, unter denen vor allem die Bauern bis dahin schon seit Jahrhunderten noch immer litten. Des Weiteren versuchte die NRZ, Frankreich zum demokratischen Vorbild für die deutsche Revolution zu machen, weil es dort in der Februarrevolution 1848 gelungen war, die Republik zu installieren und den König abzusetzen. In Deutschland hingegen setzten sich die mehrheitlich nationalliberalen Kräfte in der Frankfurter Nationalversammlung für die Einführung einer konstitutionellen Monarchie mit einem Erbkaisertum unter liberalem Vorzeichen ein. Entsprechend wurden diese Tendenzen wie auch allgemein jegliche Verbindung zwischen Bürgertum und Adel von der antimonarchistisch eingestellten NRZ kritisiert.

Marx´ und Engels´ Hoffnung, die bürgerlich-liberale Revolution von 48/49 würde eine sozialistische Wendung nehmen, erfüllte sich nicht. Im Mai 1849 wurden einige der letzten Aufstände der "deutschen Revolution" in den preußischen Rheinprovinzen Siegburg, Solingen, Iserlohn und Elberfeld niedergeschlagen. Die Revolution war gescheitert. Am 19. Mai stellte die Neue Rheinische Zeitung ihr Erscheinen ein. Marx ging erneut ins Exil, diesmal nach London, wo er im wesentlichen bis zu seinem Lebensende 1883 blieb und sein 3-bändiges Hauptwerk "Das Kapital", vollendete."

[Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Neue_Rheinische_Zeitung. -- Zugriff am 2004-07-269


Heinrich Leuthold (1827-1879): Unsterblichkeit

Die größte Unbescheidenheit
ist der Anspruch auf Unsterblichkeit,
die Zumutung an die Natur,
diese dürftige Menschenkreatur
selbst in den misslungensten Exemplaren
für ewige Zeiten aufzubewahren.


Heinrich Leuthold (1827-1879)

Obwohl mit Wutgeschrei die Pfaffen
Den Satz der Wissenschaft verdammen,
Dass einem Ahnherrn Mensch und Affen
Und selbst der Pontifex entstammen,
Verlangen doch die Unfehlbaren,
Die sich so tief empört gebärden,
Dass plötzlich die von Menschenpaaren
Erzeugten wieder Affen werden.


Heinrich Leuthold (1827-1879)

"Sittliche Weltordnung" . . . wie heißt?
wo der eine hungert, der andere speist


Jakob Audorf (1835 - 1898): St. Peter und der Streikbrecher

Ein Streikebrecher, hu, hu, hu!
fand hier auf Erden keine Ruh;
und wie er nun zu Petrus kam,
der strenge ins Verhör ihn nahm.
Herr Petrus sprach: "Was willst du hier?
Du warst auf Erden keine Zier,
du hast verletzt das Christentum
und nun im Himmel keinen Ruhm;
wer will das Paradies gewinnen,
der muss vor allem stets sein Sinnen
nur auf die Bruderliebe richten
und niemals halten mit den Wichten,
die ängstlich kriechen auf dem Bauch;
ein solcher Kriecher bist du auch!
Der Herr, als er auf Erden ging,
war auch geachtet nur gering,
er trat mit seinem Worte rein
stets nur für die Enterbten ein,
drum solln die Armen alleweil
zu ihrem eignen Seelenheil
als Brüder halten treu zusammen;
wers nicht tut, den muss ich verdammen.
Und weil du bist zu Kreuz gekrochen
und hast zuerst den Streik gebrochen,
verfüg ich laut Artikel vier,
kraft meines heilgen Amtes hier,
dass du fährst wieder auf der Stelle
zum "reichen Manne" in die Hölle."

Der heilge Petrus drauf im Nu
blies auf dem Schlüssel: "Bu, Bu, Bu!"
Drei Teufel kamen: "Wu, wu, wu!"
Und sprachen: "Herr, was wünschest du?"

Herr Petrus: "Hier den schleppt fort
hinab an einen sichern Ort,
es ist ein ganzer arger Schächer,
ein ganz gemeiner Streikebrecher!
Führt ihn hinweg zum finstern Hades,
ins Fegefeuer dritten Grades,
und siedet ihn in Pech und Öl,
zu strafen seine schwarze Seel!"

Und die Moral von dem Gedicht
ist: "Breche niemals Streike nicht!
In Liebe, Treu und Einigkeit
halt zu den Brüdern jeder Zeit,
dann wird dich Petrus nie verdammen,
du wirst ihm sein willkommen. Amen!"


Ludwig Anzengruber (1839 - 1889): Gott

Und Ließ'st du mich noch glücklich sein,
Ich müsst dich dennoch fragen:
Was lässt du andre so schwere Pein
Das lange Leben tragen?


Ludwig Anzengruber (1839 - 1889): Gott und der Atheist

"Da ist mir einer in den Himmel kommen,
Er weiset auf viel gute Taten,
Die Seele ist ganz wohl geraten,
Bis auf ein bisschen Erdenschmutz
Ist er ganz heil und nutz.
Doch Helfe unser Herr Jesu Christ,
Der Kerl, glaub ich, ist Atheist,
Er hält sich fern den Engelchören,
Er schlagt nicht Zither und nicht Harfen ..."

Da spricht der Herr, indem er lächelt
So mild wie Lenzeshauch um Blumen fächelt:
"Belasst in seinem Wesen ihn, dem eignen,
Ihn nur, sonst wär die Seligkeit ihm Pein,
Und will er mich in meinem Himmel leugnen,
Es soll ihm unbenommen sein!"


Ludwig Anzengruber (1839 - 1889): Die ewigen Götter : Ode

Aber die Götter vergehen mit uns
Und die entvölkerte Erde
Kündet nicht mehr das Walten derselben,
Denn die Götter vergehen mit uns
Und es bleibt nur das ewig Waltende,
Das unser armes Geschlecht
Nicht weiß und nicht ahnt.

Doch auch die Sterne, die sterben,
Sie leuchtenden, und mit ihnen
Erlischt das tausendfältige Leben,
Das sie wetteifernd erzeugt,
Der Sterne Gedanken und Träume,
Leer wird es im Raume.

In diese vorgeahnte Leere tatstet
Der Mensch, mit zitternder und bebender Stimme
Frägt er: Was bleibt?!


Ludwig Anzengruber (1839 - 1889): Die Spinnen und die Fliegen : eine Fabel

In einem Schlösschen, das verlassen
und darum halb verfallen stand,
herbergten in den öden Räumen
viel Dutzend Spinnen an der Wand.

Gesundheit halber aber mochte
der letzte der Insassen hier
zerbrochne Scheiben nicht vertragen
und flickte alles mit Papier.

Er schnitt dadurch den vielen Spinnen
der Nahrung Zufuhr gründlich ab.
Von außen kam nicht eine Fliege,
wie es bald innen keine gab.

Die netzverwebende Gemeinde,
die wusste nicht, wie ihr geschah,
und war nach langem, grimmem Fasten
der bittern Hungertode nah.

Da ward für den, der Kraft noch fühlte,
die Selbsterhaltung zum Gesetz,
er lud beim Schwächern sich zu Gaste
und fraß ihn auf im eignen Netz.

Doch als zu höchst die Not gestiegen,
da fügte sich, dass vor dem Schloss
ein muntrer Knab' vorbeigezogen,
den lange Weile just verdross.

Er raffte Kiesel auf vom Wege
und nahm die Fenster sich zum Ziel,
nur wenig heile Scheiben blieben
nach diesem ritterlichen Spiel.

Und durch die Lücken schwärmten Fliegen
in Hülle und in Fülle ein,
die Spinnen sagten: Gottes Güte
regierte sichtbarlich den Stein!

Sie falteten die Vorderbeine
und dankten ihm, der alle nährt,
und haben dann mit frommen Sinnen
die Fliegen reichlich aufgezehrt.

Doch meinte deren Schwarm hinwieder
der rings bestrickt vom Tod sich fand
die Scheiben habe ausgebrochen
der Satan mit selbsteigner Hand.

Entging den grimmen Stricken eine,
durch Gottes Huld hielt sie sich frei,
und ward sie dennoch aufgefressen,
so meint' sie, dass es Prüfung sei.

Das gilt von Fliegen und von Spinnen,
die an Vernunft nicht überreich;
doch sind wir klugen Menschen ihnen,
gottlob, in keinem Punkte gleich.


Ludwig Anzengruber (1839 - 1889): St. Peters Klage

St. Peter sprach im trüben Ton:
"Hör mich, Gott Vater und Gott Sohn,
Und auch du, lieber Heilger Geist!
Die Menschen werden jetzt so dreist,
Sie fürchten Teufel nicht noch Tod,
Und gar ein Leben ohne Gott,
Das planen sie mit frevlem Sinn!"


Abb.: Julius Schnorr von Carolsfeld (1794 - 1872): Lot flieht aus Sodom (Genesis 19). -- 1860

Gott Vater spricht: "Wie froh ich bin,
Betrübt dich das, du treuer Knecht?
Ich sag, mir kommt es eben recht,
Du weißt, ich war der ganzen Brut
All meine Tage nicht gar gut,
Ich habe Wasser1 und auch Brand2
Vergebens doch an sie gewandt
Und Sündflut nicht noch Sodoms Not,
Nicht Noahs Mahnung noch des Lot
Errettung war zu etwas nütz;
Die Sonne war's in trüber Pfütz,
Die Perle war es für die Säu,
Sie sündigten nur stets aufs neu,
Bis mein Herr Sohn in Jugendstärk
Besorgte das Erlösungswerk.
Doch wie's gedieh und wie's geriet?
Ich denk mein Teil und sag es nit.
Und wenn es kommen tut also,
Wie du gesagt, des bin ich froh.
Wenn sie nunmehr in Theorie
Ohn mich zu leben sind bestrebt,
's ist recht, in Praxis haben sie
Ja allzeit ohne mich gelebt.
Wen  statt von ewiger Vernunft
Sie sich von einer tollen Zunft
Stockblinder Kräfte der Natur
Betreuet glauben, ist die Spur
Von Besserwerden schon in Sicht,
Und alles kommt in gute Richt!
Dann hat es fürder wohl ein End,
Dass man mein Namen eitel nennt,
Und kommt zu Hauf und kommt zu Rand
'ne große Dummheit wo zu stand,
Dann kniet kein Schuft mehr wie zum Spott
Und singt: Nun lobet alle Gott!
Und finden sie mit einemmal
Ihr Leben 'ring und eng und schal,
Dass sie in Scham davor erglühn,
Erst unsereinen zu bemühn,
Ei dann ist mir — bei meinem Bart! —
Das halbe Regiment erspart,
Denn wenn ich ihnen nimmermehr
Das Gute spend, das Üble wehr,
So ist's vorbei mit trägem Ruhn,
Das Gute müssen selbst sie tun,
Des Bösen selber sich erwehrn,
Das wird sie Lieb und Klugheit lehrn —
Nicht kränk ich gern der Frommen Schar —
Doch dann behagen mir fürwahr
Die gottlos Racker allermeist!
Wie klug das Ganz gezielt, geplant —
Das Stückchen ist vom Heilgen Geist!
St. Peter, hast du's auch geahnt?"

Erläuterungen:

1 Wasser: Sündflut (Genesis 6 - 10)

2 Brand: Untergang von Sodom und Gomorra und Lots Errettung (Genesis 19)


Ludwig Anzengruber (1839 - 1889): Juanita


Abb.: Charles Darwin. -- In: Punch. -- 1881-12-06

Juanita sitzt, die Kleine,
In der Nonennschul mit Gähnen
Und sie hört die fromme Schwester
Neue Greuel zag erwähnen,
Neue abscheuvolle Greuel,
Neue unerhörte Frevel,
Die dereinstens nur zu büßen
In dem Pfuhl von Glut und Schwefel.

Ferne in dem Britenreiche,
Drüben über dem Kanale
Schlanke, blonde Menschen wohnen
Dort und Ketzer sind sie alle —
Hat ein Mann1 sich unterwunden,
Das Urelternpaar zu lästern
Und sie Menschen mit den Affen
Zu verbrüdern und verschwestern.

Und mit dieser sündgen Lüge
Hab er viele schon betöret,
Wie der fromme Pater klaget,
Der im Kloster Beichte höret.
Während sich die Nonn um ihre
Reine Menschenherkunft wehret,
Sitzt die kleine Juanita
Lächelnd und in sich gekehret.

Sie gedenkt des Paters José,
Der sie auf die Zell gebeten —
Barfuss lief sie, hatte keine
Kinderschuhe zu vertreten —
Und sie lachte still des Schreckens,
Den ihr machte das verzerrte
Bartumrahmte Antlitz, als es
Augverdrehend sich verklärte.

Und sie fände es zu hart, den
Klugen Briten zu verdammen,
Denn die Männer könnten füglich
Alle doch von Affen stammen;
Doch dem Weibe wird versichert,
Dass es Engels Abkunft habe;
Ob von Himmels lichter Heerschar?
Von gefallnen? Quien sabe?2


Abb.: Frauen stammen von Engeln ab [Bildquelle: http://www.animationlibrary.com/a-l/?n=image.php3&image_id=12406. -- Zugriff am 2004-11-07]

Erläuterungen:

1 gemeint ist Charles Darwin (1809 - 1882)

2 Quien sabe? (spanisch): Wer weiß?


Ludwig Anzengruber (1839 - 1889): Der Frömmste in seiner Art

Das war der Frömmste in seiner Art
Ich weiß nicht, wie er hieß, —
Den hat der Teufel zur Höll genarrt:
Das wär das Paradies.

Er schund und zwackte die Seele ihm
Und quälte ihn windelweich
Und frug mit höllischem Spott und Grimm:
"Ist's hübsch im Himmelreich?"

Bescheiden flüstert der Frommen Zier:
Je nun, da Ding hat Welt,
Doch frei gestanden, ich habe mir
Das netter vorgestellt.

Ich klopf bei jeglichem Zwick und Zwack
Demütig an die Brust
Und denk, es fehlt mir noch der Geschmack
An solcher Himmelslust.

Mir macht auch, trotz all des argen Scheins,
Nicht Grübelei Verdruss,
Da alles, besser wie unsereins,
Der Herrgott wissen muss!" —

Nun hat die Heiligen allesamt
Die Kunde tief erschreckt,
Dass eine Seel, die gar nicht verdammt,
Im Höllenpfuhle steckt.

Sie drängen vor und sie bitten für:
"Erlös ihn aus der Pein
Und lass zur goldenen Himmelstür
Die arme Seele ein!"

"Ja," spricht der Herre, "wie ist mir nur?
Wie komm ich da zum Schluss?
Hat meiner prangenden Erde Flur
Betreten nie sein Fuß?

Ist er wie blind denn vorbeigerannt —
Gelockt nicht, noch erfreut —
An all der Pracht, die mit reicher Hand
Ich dort umhergestreut?

Und wenn ihm da noch der Unterscheid
Von Lust und Qual gebricht,
Je nun, da tut er mir selber leid,
Doch helfen kann ich nicht.

So mag er denn leiden ohne Grund,
Bis es ihn selber verdrießt.
Einstweilen lasst mir den Esel unt,
Bis dass er klüger ist!"


Ludwig Anzengruber (1839 - 1889): Mahnruf an die Reaktionären

Der Zeiten Zeiger stehet niemals still,
Der trügt sich selbst, der ihn zurücke wendet,
Und jene, die ein Gott verderben will,
Die hat er alle Zeit vorerst verblendet!


Ludwig Anzengruber (1839 - 1889): Nur Allerfrömmsten wird's so gut

Nur Allerfrömmsten wird's so gut,
Zu lauschen Engelchören
Es braucht ein mikroskopisch Ohr,
Wer Gras will wachsen hören —
Doch braucht man hierzulande nicht
Mit scharfer Brill zu sehen,
Auch blöden Auges kann man dicht
Den Unsinn blühen sehen!


Abb.: Auch blöden Auges kann man dicht den Unsinn blühen sehen: Bibliothek der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen [Bildquelle: http://www.hs-itb.it/. -- Zugriff am 2004-11-07]


Leopold Jacoby (1840 - 1895): Lasciate ogni speranza1 (Lasst alle Hoffnung fahren)

Als die jenseitslose Welt,
Die Welt des heitern Genießens
In Trümmer sank, schuldbeladen,
Wurmzerfressen von Sklaverei,
Da brach für die Menschen an
Ein träumendes, erdenberaubtes Dasein.

Hoffnungssklaven des Himmels quälten sie sich
Freudenenterbt und heimatlos
In irdischem Fluch, in irdischem Elend.
Wie ein Lottospieler
Harret auf des Glückes Los,
Entzogen wird ihm durch Hoffnung
Macht und Stärke von Hand und Hirn, —
So klammerten sich an Hoffnung an
Die Menschenkinder
Und lebten den Tod und starben ihr Leben.

Da ein Dichter der Zeit
Auf die Hallen des Schreckens schrieb:
Die ihr eintretet, gebet die Hoffnung auf!1
Grauenvoll klang das Wort
In die angsterbebenden, hoffenden Herzen.

Kommen seh ich ein neu Geschlecht
Lebensfreudiger Menschen,
Wissend, dass sie müssen erzeugen,
Wissend, was sie müssen vollenden.
Ausgeträumt ist der öde Traum,
Umgestürzt der Moloch des Hoffens;
Da quillt aus eigner Kraft dem Menschen
Ungeahnte Segensfülle
Und ein Leben in Schönheit auf Erden.

Kommen seh ich ein neu Geschlecht,
Und, wie die Griechen einst,
Auf Weisheitshallen schreibt es die Worte auf:
Kenne dich selbst!2 Das ist:
Mach dich von Hoffnung frei!
Freudig tönt das Wort
In den erwachten Herzen wieder.

Hoffnungslos, vollbewusst
Wirket dereinst am Weltenlauf
Der Mensch, der Verächter blinden Glücks,
Ein Gebieter des Schicksals.

Erläuterungen:

1 Lasciate ogni speranza, voi ch' entrate (italienisch): Lasst, die ihr eingeht, alle Hoffnung fahren. (Dante Alighieri: Divina Commedia (Die Göttliche Komödie), Hölle 3, 9)

2 Kenne dich selbst: gnothi seauton: Inschrift auf dem Apollo-Tempel in Delphi, Lieblingsmaxime des Sokrates


Leopold Jacoby (1840 - 1895): Wissen und Nichtwissen

Unheilvoller
Als das Darben der Erdenkinder
Und alles Leid der Menschen ist
Das Nichtwissen
Vom eignen Elend.

Seh ich
Millionen Menschenwesen
In ein Marterjoch gepresst,
Stumpfen Blicks durchs Tagwerk wandeln,
Dann in bittrem Groll und Gram
Muss mein Herz und Hirn erbeben.

Toren haben es Glück genannt,
Haben die Menschen selig gepriesen1,
Die unbewusst der Seelenqualen
Sich des niederen Daseins freun,
Mit dem Vieh zugleich zufrieden leben.
Lieber wissend bluten in Qual,
Lieber bewusst in Qual vergehn!

Fürchterlicher
Als das Elend der Menschen ist
Das Nichtwissen,
Sei's auch vom Elend.

Erläuterung:

1 Lukasevangelium 6, 20-21: "Und er [Jesus] hob seine Augen auf über seine Jünger und sprach: Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer. Selig seid ihr, die ihr hier hungert; denn ihr sollt satt werden. Selig seid ihr, die ihr hier weint; denn ihr werdet lachen."


Zu: Antiklerikale Karikaturen und Satiren XXV.3: Christlicher (Aber)glaube ab 1900

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