Religionskritik

Antiklerikale Karikaturen und Satiren XXIV:

Christlicher (Aber)glaube

3. Ab 1900


kompiliert und herausgegeben von Alois Payer

(payer@payer.de)


Zitierweise / cite as:

Antiklerikale Karikaturen und Satiren XXIV: Christlicher (Aber)glaube  / kompiliert und hrsg. von Alois Payer. -- 3. Ab 1900. -- Fassung vom 2006-12-18. -- URL:  http://www.payer.de/religionskritik/karikaturen243.htm   

Erstmals publiziert: 2004-05-07

Überarbeitungen: 2006-12-18 [Entfernung einer Abb.]; 2005-04-25 [Ergänzungen]; 2005-02-11 [Ergänzungen]; 2005-01-20 [Ergänzungen];  2004-12-24 [Ergänzungen]; 2004-11-30 [Aufteilung des Kapitels, Ergänzungen]; 2004-11-19 [Ergänzungen]; 2004-09-05 [Ergänzungen]; 2004-07-29 [Ergänzungen]; 2004-07-16 [Ergänzungen];  2004-07-08 [Ergänzungen]; 2004-06-25 [Ergänzungen]; 2004-06-17 [Ergänzungen]; 2004-06-11 [Ergänzungen]; 2004-05-28 [Ergänzungen]; 2004-05-22 [Ergänzungen]

©opyright: Abhängig vom Sterbedatum der Autoren

Dieser Text ist Teil der Abteilung Religionskritik  von Tüpfli's Global Village Library


Dieses Kapitel widme ich
meiner eigenen klerikalen Vergangenheit


Abb.: ich (Alois Payer) als katholischer Theologiestudent (1965)

Dies soll mich stets vor Selbstüberheblichkeit bewahren, da auch ich Aberglauben und Irrtum, Dunkelmännertum und Pfafferei verfallen war.


Abb.: "Wer mit einem Finger auf andere zeigt, zeigt mit drei Fingern auf sich selbst" (Gustav Heinemann)


Klicken Sie hier, um "That old time religion" zu hören

Melodie und Text: anonym

Chorus:
|: 'Tis the old-time religion, :|
'Tis the old-time religion,
And it's good enough for me.

|: Makes me love everybody, :|
Makes me love everybody,
And it's good enough for me.

  2. It was good for our mothers
3. Makes me love everybody
4. It has saved all our fathers
5. It will save all our children
6. It was good for Paul and Silas
7. It was good for the Prophet Daniel.
8. It was good for the Hebrew children
9. It was tried in the fiery furnace.
10. It will do when I am dying
11. It will take us all to heaven

[Quelle der midi-Datei: http://www.ingeb.org/spiritua/theoldti.html. -- Zugriff am 2005-01-20]


1900



Abb.: Adolphe Willette (1857 - 1926): Noël = Weihnachten: "Dansons la carmagnole!... / ...Et le marquis qui m'attend à 4 heures!" -- In: Courrier Français. -- 1900-12-23


Unbekannter Verfasser: Zum neuen Jahrhundert. -- 1900

So lang' das alte Jahrhundert war,
Nun ist es endlich zu Ende,
Und auf der Zukunft Brandaltar
Erglühen die Sehnsuchtsbrände.

Hochauf zum Himmel das Feuer loht,
Das Feuer der jungen Herzen.
Die alte Geisternacht ist tot,
Und tot sind die alten Schmerzen.

Ihr konntet uns früher mit schlechtem Rat
Die Freude am Leben zügeln.
Das ist vorbei. Der Morgen naht
Auf rosenroten Flügeln.

Wie lange waren wir blind und taub,
Dass wir ihn nicht erkannten!
Wir wühlten vergrübelt im Moderstaub
Gelehrter Folianten.

Wir schlössen vor jedem Sonnenstrahl
Erschrocken Türen und Fenster
Und knieten in abergläubischer Qual
Und glaubten an alte Gespenster.

Es war eine lange, dunkle Zeit,
Jetzt endlich soll sie sterben
Und uns eine lachende Ewigkeit
Im Sonnenschein vererben.

Greift mutig zu, der Morgen winkt
Und spricht sein unsterbliches Werde!
Wer frisch vom Born des Lebens trinkt,
Nur der erobert die Erde.

Die Tage tanzen in Freud' und Schmerz
Um ihn den harmonischen Reigen,
Ein König ist sein pochendes Herz,
Und alles, und alles sein eigen.

So wandert er als ein froher Held
Die Jahre, die ihm gegeben,
Und grüßt noch im Sterben lächelnd die Welt
Und ihr ewig blühendes Leben.


1902



Abb.: Nachtgebet im "Asyl für Findlinge" in New York

[Bildvorlage: Chronik 1902 / Antonia Meiners. -- Gütersloh : Chronik-Verl., 1991. -- 240 S. : zahlr. Ill. . -- (Die Chronik-Bibliothek des 20. Jahrhunderts). -- ISBN 3-611-00154-6. -- S. 58]


1906


Christian Morgenstern: (1871 - 1914): Papstjubiläum 1903. -- In: Melencolia. -- 1906

Historische Momente nennt's die Menge,
wenn über schwärzlichem Gedränge
ein toter Papst die Hände hält ...
Als ob man sie nicht besser kennte,
die wirklichen »historischen Momente«!

Doch haben sie noch ganz die Liebe
der Weiblein und der Taschendiebe.

Welch glänzender Theatercoup!
Man hat doch ein Billett dazu?


Angelsachsen

Mit herrlichen Gefühlen
kommen sie angerennt
(und mit Klappstühlen)
zum historischen Moment.


Mönche

Ein dickes Kreuz auf dickerm Bauch.
Wer spürte nicht der Gottheit Hauch!


Man kennt sich

»Pret'chen, Pret'chen«
fleht die kleine Gierige,
»Sie haben gewiss ein Billettchen -
ich bin ganz die Ihrige!«


In den Kirchen

Und immer wieder winkt ein Sakristan:
»Was fliehst du, lieber Bruder, unsre Näh'?
Gestattet ist, erwünscht sogar, zu nahn, -
die Kirche liebt dich - und dein Portemonnaie.«


Leo XIII.

Du bist an diesem großen Tag
ein Bild mir, alter Mann,
der Kirche, die nicht sterben mag
und nicht mehr leben kann.


Christian Morgenstern: (1871 - 1914): Zu Russischem und Weiterem. -- In: Melencolia. -- 1906

Erfahr' ich, wie Mitchristen sich gebärden,
möcht' ich aus Scham und Ingrimm Jude werden.
Noch mehr! Wie's Jude, Christ und Heide treiben,
verwehrt mir fast, noch länger Mensch zu bleiben.


1907



Abb.: Abel Faivre (1867 - 1945): Die Erschaffung des Menschen: L'Eternel. - Je crois que cette fois, le voilà bien! = Gott: "Ich glaube, diesmal ist es gut!" -- 1907


Frank Wedekind (1864 - 1918): Die sechzig Zeilen oder Die sieben Worte. -- 1907 (in: Die Fackel / hrsg.: Karl Kraus. -- Wien. -- 1907-06-10)
  1. Ich, der ich Ich bin,
    Der Allgewaltige,
    Ich bin der Verborgene,
    Der dich zu seiner
    Lust geschaffen hat.
    Denn meine Freuden
    Sind deine Schmerzen,
    Denn mein Leben
    Ist dein Tod.
     
  2. Dein Eigen sollst du nicht nennen,
    Nicht Erde, nicht Feuer, nicht Wasser,
    Nicht Pferd, nicht Hund,
    Nicht Vater, nicht Mutter,
    Nicht Mann, nicht Weib, nicht Kind.
     
  3. Deine Jagd nach Beute
    Sollst du nicht Arbeit schmähn,
    Denn besser, dem Jäger
    Fehle die Beute,
    Als daß sich der Jäger
    Erjagen läßt
    Und er genährt werde
    Um seiner Arbeit willen.
     
  4. Züchtige den Körper nicht
    Um der Seele willen,
    Um des Körpers willen jedoch
    Züchtige die Seele.
    Denn deine Seele fürchte
    Den seelischen Schmerz.
    Deines Körpers Schmerzen aber
    Sind deine herrlichsten Opfer.
     
  5. Ich, der ich Ich bin,
    Ich schuf den Menschen,
    Damit er stirbt.
    Ich, der ich Ich bin,
    Schenkte dir Wollust,
    Auf daß du den Tod
    Nicht fürchtest,
    Der du an deinem Tod
    Deine Wollust sättigest.
    Wehe dem, der seine Wollust
    Sättigt an schlechterer Kost.
    Er wird in der Dunkelheit
    In Fäulnis zergehn.
     
  6. Halte die Spiele
    Der Kinder heilig
    Und störe sie nicht.
    Denn in ihnen ist weder
    Torheit noch Müßiggang.
     
  7. Du sollst nicht in Wollust lieben,
    Sondern in Kraft
    Und Selbstgefühl.
    Du sollst nicht im Dunkeln lieben,
    Sondern im Licht.
    Wehe der Liebe,
    Die an den Blicken
    Der Menschen stirbt.
    Denn wie deine Liebe,
    So deine Kinder.
    Wer aber im Dunkeln liebt,
    Der lebt auch im Dunkeln.

Justizrat Dr. Thaler auf dem Katholikentag in Würzburg. -- 1907 (Ehrlich gemeint)

"Wir haben stets gegen die Tyrannei protestiert, die dem Armen das Einzige nehmen will, was ihn mit seinem Geschick versöhnt, seinen Glauben und die Hoffnung auf ein besseres Jenseits."

[Quelle: Beißwanger, Konrad: Illustrierter Pfaffenspiegel : kritisch-historisches Handbuch der Verirrungen des menschlichen Geistes und des Lasterlebens in der christlichen Kirche. -- 2. Aufl. --  Nürnberg: Beißwanger, 1922. -- 420 S. : Ill. -- S. 388]


1908


Ludwig Fulda (1862 - 1939): Der Nachtwächter. -- 1908

Hört, ihr Herrn, und lasst euch sagen,
Ein neu Jahrhundert beginnt zu tagen;
Versteckt das Feuer und auch das Licht;
Stört Dunkelmännern die Ruhe nicht;
Lobet Gott den Herrn;
Aber haltet ihn fern!



Abb.: "Triumph über den Hochmut" des Modernismus (= Denkens) (Osservatore Romano): 50-Jahr-Feier der Marienerscheinungen von Lourdes

[Bildquelle: Chronik 1908 / Richard Miklin. -- Gütersloh : Chronik-Verl., 1992. -- 240 S. : zahlr. Ill. . -- (Die Chronik-Bibliothek des 20. Jahrhunderts). -- ISBN 3-577-14008-9. -- S. 42]


1910



Abb.: Das verlorene und wiedergefundene Paradies. -- Werbung für Paradies-Verwandlungsbetten. -- 1910

[Bildquelle: Chronik 1910 / Bernhard Pollmann. [Red.: Ekkehard Kroll ... Fachautoren: Frank Busch ...]. -- Gütersloh : Chronik-Verl., 1990. -- 240 S. : zahlr. Ill. . -- (Die Chronik-Bibliothek des 20. Jahrhunderts). -- ISBN 3-611-00114-7. -- S. 167]


1911


John Henry Mackay (1864 - 1933): Hirten. -- 1911

I.

Ich hasse diese wohlgenährten,
Zufrieden lächelnden Gesichter,
Das jeden seiner matten Schritte
Ängstlich abwägende Gelichter!

Und jene zimperlichen Herzen,
Die immer nur nach Anderen fragen
Und kein Gefühl des eigenen Wertes
In ihrem leeren Innern tragen!

Und jene gleißend-falschen Mienen,
immerdar im Staube kriechen,
Die niemals Zornesglut verschönert,
Die fromm dem Tod entgegensiechen!

Und - dann im Alter, höchst beschaulich,
Behaglich-schmunzelnd, ruhig-fröhlich,
Auf ein zufriedenes Leben schauen
Und sprechen: „Wirwir werden selig!"

Armselig seid Ihr! Ob auch nimmer
Ich einen Euresgleichen fasse,
Ob weit sich unsere Wege scheiden,
So fuhr ich doch, dass ich Euch hasse!

II.

Und wenn wir nun einmal gestellt sind
Auf ewig in dies dunkle Tal
Und nun einmal auf dieser Welt sind,
Rings eingeengt in Angst und Qual,

Und glauben sollen, dass ein Haupt sei,
Dem dieser Jammer Untertan,
Dann fordere eins ich: Dass erlaubt sei,
Zu rütteln an dem frechen Wahn!

III.

Es ist ein allzu langes Sinken,
Ein allzu qualvoll-heroer Tod!
Wer gab es einst denn, das Gebot,
Den Kelch so Zug um Zug zu trinken?

Und wenn nun mit der letzten Stärke
Der Mensch zum Widerstand sich hebt,
Wer muss, der mit auf Erden lebt,
Nicht Beifall spenden solchem Werke?

Nicht Jeder ist zum Joch geschaffen,
Ein Lasttier, das geduldig trägt,
Nicht Jeder schweigt dem, der ihn schlägt
Und glaubt dem Lügenwort der Pfaffen!

Es gibt auch solche, die, zu Erben
Gesetzt, verschmähen ihren Teil,
Verachten alles Seelenheil
Und ihrem Schicksal fluchend sterben!



Abb.: Zum Antimodernisteneid. -- 1911-01

Wenn aus dem Schwur,
die Welt verqualmend,
der Aberglaube kroch,
ein Rad fährt an,
das wirkt zermalmend
und es bewegt sich doch.

Erläuterung: Zum Antimodernisteneid siehe:

Pius <Papa, X.> <1835 - 1914>: Iusiurandum contra errores modernismi = Antimodernisteneid (1910-09-01). -- URL:  http://www.payer.de/religionskritik/antimodernisteneid.htm. -- Zugriff am 2004-12-24


John Henry Mackay (1864 - 1933): Am Ausgang des Jahrhunderts <Auszug>. -- 1911

Fünfter Gesang

Du warst, Erkenntnis der Natur, es, die den Schleier hob!
Vor der ,der Traum des Ideals', der lügende, zerstob!
Du hast, was ,Glaube' hieß, vernichtet!
Du hast den Wahn, die Phantasie, die Hoffnung vor die Stufen
Der freien, echten Wissenschaft mit Zauberkraft gerufen
Und hast die Törichten gerichtet!

Du zeigtest uns, dass Nichts wir sind als Glieder in den Ketten,
Dass keine Hand sich zu uns neigt, uns hebend zu erretten,
Das ,Mitleid' nur ein Wort, ein lebenbares.
Dass ewig wir gezwungen sind, auf eigener Kraft zu stehen,
Statt mit umflortem Auge in die ewige Nacht zusehen
Ein Bild des Lebens gabst du uns, ein klares!

Du zeigtest uns, dass Alle wir am Anfang noch der Bahn
Zu neuem Leben stehen; dass wir wenig noch getan;
Dass wir es sind, die erst beginnen sollen!
Doch zeigtest du uns auch, dass wir nicht aus den Himmelshöhen
Geschleudert auf die Erde sind; dass wir noch Ziele sehen,
Die wir uns unterwerfen dürfen wollen!

Und so hast du geboten uns (und auch die Kraft verliehen ):
Aus jeder Lebensfrage stark den letzten Schluss zu ziehen
Und keinem ,Gott' mehr zu vertrauen.
Und während noch um uns die Wut der Todgetroffenen gellt,
Sehn wir die Wahrheit, groß und ernst, hinschreiten durch die Welt,
Die Zukunft langsam aufzubauen...


1914


Otto Ernst [= Otto Ernst Schmidt] (1862 - 1926): Disputation. -- 1914

"Ich opfre dem Glauben gern den Verstand!
Das muss man!" schrie er fromm entbrannt.
Vergiss nur nicht, mein lieber Mann,
Es kommt auf die Größe des Opfers an!


1919


Christian Morgenstern: (1871 - 1914): Der Glaube. -- In: Der Gingganz. -- 1919

Eines Tags bei Kohlhasficht
sah man etwas Wunderbares.
Doch dass zweifellos und wahr es,
dafür bürgt das Augenlicht.

Nämlich standen dort zwei Hügel,
höchst solid und wohl bestellt;
einen schmückten Windmühlflügel
und den andern ein Kornfeld.

Plötzlich eines Tags um viere
wechselten die Plätze sie;
furchtbar brüllten die Dorfstiere,
und der Mensch fiel auf das Knie.

Doch der Bauer Anton Metzer,
weit berühmt als frommer Mann,
sprach: »Ich war der Landumsetzer,
zeigt mich nur dem Landrat an.

Niemand anders als mein Glaube
hat die Berge hier versetzt.
Dass sich keiner was erlaube:
Denn ich fühle stark mich jetzt.«

Aller Auge stand gigantisch
offen, als er dies erzählt.
Doch das Land war protestantisch,
und in Dalldorf starb ein Held.


1921


Erich Weinert (1890-1953): Der Bergeversetzer. -- 1921:

Dass der Glaube Berge versetze,
An diesem Faktum ist nicht zu rütteln.
Man korrigierte Naturgesetze
Schon immer mit transzendentalen Mitteln.

Wir möchten ja den Gotteskindern
Nicht gerne ihre Gefühle verletzen.
Aber schließlich muss man sich doch verbitten,
Dass sie ihre Berge immer dahin versetzen,
Wo sie entweder den Verkehr behindern
Oder die schönsten Plantagen verschütten.


1922



Abb.: Ohne Worte

[Bildquelle: Beißwanger, Konrad: Illustrierter Pfaffenspiegel : kritisch-historisches Handbuch der Verirrungen des menschlichen Geistes und des Lasterlebens in der christlichen Kirche. -- 2. Aufl. --  Nürnberg: Beißwanger, 1922. -- 420 S. : Ill. -- S. 416]



Abb.: Gott Vater

[Bildquelle: Beißwanger, Konrad: Illustrierter Pfaffenspiegel : kritisch-historisches Handbuch der Verirrungen des menschlichen Geistes und des Lasterlebens in der christlichen Kirche. -- 2. Aufl. --  Nürnberg: Beißwanger, 1922. -- 420 S. : Ill. -- S. 53]



Abb.: Teufel

[Bildquelle: Beißwanger, Konrad: Illustrierter Pfaffenspiegel : kritisch-historisches Handbuch der Verirrungen des menschlichen Geistes und des Lasterlebens in der christlichen Kirche. -- 2. Aufl. --  Nürnberg: Beißwanger, 1922. -- 420 S. : Ill. -- S. 77]



Abb.: Ohne Worte

Heil dir, o Satanas,
Der uns zum Aufstand führt,
Heil Dir, du siegende
Kraft der Vernunft.
Gelübde und Opferduft
Steigen zu Dir empor,
Durch den der Priestergott
Leben und Reich verlor.

Giosuè Carducci (1835 - 1907; Literaturnobelpreisträger 1906): "Inno a Satana" (1865) [vollständiger Originaltext siehe oben unter 1865)

[Quelle: Beißwanger, Konrad: Illustrierter Pfaffenspiegel : kritisch-historisches Handbuch der Verirrungen des menschlichen Geistes und des Lasterlebens in der christlichen Kirche. -- 2. Aufl. --  Nürnberg: Beißwanger, 1922. -- 420 S. : Ill. -- S. 77]



Abb.: Der Religiöse

[Bildquelle: Beißwanger, Konrad: Illustrierter Pfaffenspiegel : kritisch-historisches Handbuch der Verirrungen des menschlichen Geistes und des Lasterlebens in der christlichen Kirche. -- 2. Aufl. --  Nürnberg: Beißwanger, 1922. -- 420 S. : Ill. -- S. 160]


Karl Kraus (1874 - 1936): Bunte Begebenheiten. -- 1922

Vom Autor selbst vorgetragen


Abb.: Salzburger Großes Welttheater. -- 1922-08

Seit jener göttliche Regisseur1
dort erschaffen sein Welttheater,
geht in die eigene Kirche nicht mehr
der gute Himmelsvater.

Wo er hinblickt, steht ein Dramaturg
und gibt den sakralen Stempel.
Doch was tut Gott? Nicht um die Burg
betritt er mehr diesen Tempel.

Die Plätze gleich vorn beim Hochaltar
sind reserviert für die Fremden,
dort kann man am besten auch sehn, wie der Bahr2
wechselt die Büßerhemden.

Und täglich betet ihm nach jeder Schmock3,
wenn von Kultur sie schmocken:
Herr, gib uns unser täglich Barock!
Und da läuten die Kirchenglocken.

Mit dem Zirkus ist das Geschäft vorbei,
jedoch mit der Kirche gelungen,
drum gloria in excelsis4 sei
von der Presse dem Reinhardt5 gesungen.

Zu dieser Hofmannsthal6-Premier'
wallen Büßer von allen Enden,
die Kirche leiht die Kulissen her,
die Presse tut Weihrauch spenden.

Es empfangen die heilige Sensation
aus Wien die Premierenbekannten,
die Pfarrer tun es um Gottes Lohn
und lehren die Komödianten.

Nein, was sich im Sommer in Salzburg tut,
da erblick' ich eine Soutane7,
die Sonne brennt und bei dieser Glut
steckt drin, par Dieu8, der Kahane9.

Mit Zungen reden die Frommen heut
über Gottes und Reinhardts Walten.
Am stärksten wird dieser gebenedeit
von dem ganz inspirierten Salten10.-

Die Wohlgemuth11 ward auferweckt,
ein Wunder ohnegleichen;
andere beten wieder direkt
zur Moissi12 der Schmerzensreichen.

Die Seele lechzt nach dem Gnadentrunk,
Miserere13 ward das Geseres14,
die Valuta aus tiefster Erniedrigung
ringt nach Hebung des Fremdenverkehres.

Von Calderon15 ein mystischer Hauch:
man verspricht sich von diesem Genre,
speziell jedoch von Hofmannsthal auch
eine Zugkraft für Amerikaner.

Sich läutern lassen ist ihnen noch neu,
aber gut für die spätere Reise.
Man steht ihnen bei, damit Ehre sei
Gott in der Höhe der Preise.

Und unter heiligem Schutze gedeiht
der Hotel- und Theaterhandel,
man bemerkte u. a. die Persönlichkeit
der Berta Zuckerkandl.16

Sie fühlt sich entrückt und von Olbrich17 erbaut,
und da kann man wieder nur sagen,
die Kirche, die selbst das verdaut,
hat einen guten Magen.

Ganz eingeweiht die Monstranz übernahm
Hochwürden die Presskanaille.
Die Muttergottes dafür bekam
die Tapferkeitsmedaille.

Doch da noch verzückt an der Kirchentür
sie zu Prominenten beten,
entschloss sich der liebe Gott, eben hier
auf der Stelle auszutreten.

Erläuterung: Spott auf das Salzburger Große Welttheater von Calderon in der Bearbeitung von Hugo von Hoffmannsthal, das im August 1922 unter der Regie von Max Reinhardt in der Salzburger Kollegienkirche erstmals aufgeführt wurde.

1 jener göttliche Regisseur: Max Reinhardt (1873 - 1943)

2 Bahr. der Schriftsteller Hermann Bahr (1863 - 1934)

3 Schmock: Figur im Lustspiel "Die Journalisten" von Gustav Freytag (1854). Seither "Schmock" zum Synonym für gesinnungslose, korrupte Journalisten.  

4 gloria in excelsis (lat.) = Ehre in der Höhe

5 Reinhardt = der Regisseur Max Reinhardt (1873 - 1943)

6 Hofmannsthal = Hugo von Hofmannsthal (1874 - 1929)

7 Soutane = Priesterrock

8 par Dieu (franz.) = bei Gott

9 Kahane: Arthur Kahane (1872 - 1932), Chefdrameturg bei Max Reinhardt

10 Salten: Felix Salten (1869 - 1945), Schriftsteller und Journalist

11 Wohlgemuth: Else Wohlgemuth (1881 - 1972), österreichische Hofschauspielerin

12 Moissi: Johanna Moissi (1884 - 1962), Schauspielerin

13 Miserere (lat.): Erbarme dich

14 Geseres (= Geseier): Geschrei, Durcheinander von Stimmen

15 Calderon: der spanische Dichter  Pedro Calderon dela Barca Henao y Riaño (1600 - 1681), dessen Großes Welttheater Vorlage für Hofmannsthal war.

16 Berta Zuckerkandl (1864 - 1945), Journalistin, Schriftstellerin,  führte in Wien einen Salon, der sich zu einem gesellschaftlichen und kulturellen Zentrum Wiens entwickelte und in dem u.a. Sigmund Freud, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Max Reinhardt und Gustav Mahler verkehrten.

17 Olbrich: Joseph Maria Olbrich (1867 - 1908), Architekt,  Gründungsmitglied der Wiener Secession


1922/1923


Otto Ernst (1862 - 1926): Unsere Protestanten. -- 1922/23

"Kampf gegen Fäulnis und Zermorschung!
Gewissensfreiheit! Freie Bibelforschung!"
Wie hab' ich euren Mut so oft bewundert;
Das alles fordert ihr — fürs sechzehnte Jahrhundert!

Erläuterung: fürs 16. Jahrhundert, d.h. fürs Reformationszeitalter, aber nicht für die Gegenwart.


1923


Erich Weinert (1890-1953): Das Atom. -- 1923

Ein armes Atom,
Von einem Astronom
Durch die Welt gehetzt,
Floh zuletzt
Nach Rom
In den Petersdom,
Und da verschwand's
In der Monstranz.

Wie antinom!
Sagte der Astronom.
Das Urgegebene
Verlässt die logische Ebene.
Das Rationelle
Auf der Schwelle
Der Transzendenz!
Hier fehlt mir die Kompetenz.

Und in solcher Betrachtung
Verließ, in Verachtung
Für das katholisierte Atom,
Der Astronom
Den Petersdom
In Rom.


1924



Abb.: Einheit von Religion und Bier: Gruß aus München. -- Postkarte. -- 1924


Kurt Tucholsky (1890 - 1935): Gebet für die Gefangenen. -- In: Die Weltbühne1924-12-23.

Herrgott!
Wenn du zufällig Zeit hast, dich zwischen zwei Börsenbaissen
und einer dämlichen Feldschlacht in Marokko auch einmal um
die Armen zu kümmern:
Hörst du siebentausend Kommunisten in deutschen Gefängnissen wimmern?
Kyrie eleison1 —!

Da sind arme Jungen darunter, die sind so mitgelaufen,
und nun sind sie den Richtern in die Finger gefallen;
auf sie ist der Polizeiknüppel niedergesaust,
der da ewiglich hängt über uns allen . . .
Kyrie eleison —!

Da sind aber auch alte Kerls dabei, die hatten Überzeugung, Herz und Mut
das ist aber vor diesen Richtern nicht beliebt,
und das bekam ihnen nicht gut . . .
Kyrie eleison —!

Da haben auch manche geglaubt, eine Republik zu schützen
aber die hat das gar nicht gewollt.
Fritz Ebert hatte vor seinen Freunden viel mehr Angst
als vor seinen Feinden in diesem Sinne: Schwarz-Rot-Gold!
Kyrie eleison —!

Herrgott! Sie sitzen seit Jahren in kleinen Stuben
und sind krank, blass und ohne Fraun;
sie werden von Herrn Aufseher Maschke schikaniert und angebrüllt,
in den Keller geschickt und mitunter verhaun . . .
Kyrie eleison —!

Manche haben eine Spinne, die ist ihr Freund;
viele sind verzankt, alle verzweifelt und sehnsuchtskrank
Ein Tag, du Gütiger, ist mitunter tausend Jahr lang!
Kyrie . . .

Vielleicht hast du die Freundlichkeit und guckst einmal ins Neue Testament?
Bei uns lesen das die Pastoren, aber nur sonntags ,
in der Woche regiert das Strafgesetzbuch und der Landgerichtspräsident.
. . . . eleison —!

Weißt du vielleicht, lieber Gott, warum diese Siebentausend
in deutsche Gefängnisse kamen?
Ich weiß es. Aber ich sags nicht. Du kannst dirs ja denken.
Amen.

Theobald Tiger

Erläuterung:

1 Kyrie eleison: "Herr erbarme dich!"


1926


Erich Weinert (1890-1953): Das Evangelium im Urwald. -- 1926

Als der weiße Mann zu den Kunama kam
Mit der Zivilisation,
Da kannten die Wilden noch keine Scham
Und keine Religion.
Sie kannten die Sonne, den Wald und die Wolken,
Sie hatten in Liebe Kinder gemacht,
Bananen gefressen, Kühe gemolken,
Doch niemals an ihren Schöpfer gedacht.
Sie kannten in ihrer Primitivität
Keine Zerknirschung und kein Gebet.
Was für elende Sünder sie waren,
Das erfuhren sie erst von den Missionaren.
Denn sie brachten ihnen in eigener Person
Die Religion.

Als der weiße Mann zu den Kunama kam,
Da brachte er Ordnung in ihren Kram.
Er sagte zu ihnen:
„Ihr müsst euch jetzt euer Brot verdienen.
Gott schuf nicht für Faulenzer dieses Land.
Ich werde euch Brot für Arbeit verkaufen."
Und Dass kein Widerstand entstand.
Schoß er die Häuptlinge über den Haufen.
Nun mussten sie auf den Plantagen keuchen.
Doch der weiße Mann brachte ihnen zu Lohn
Alle Segnungen der Zivilisation,
Die Prügeljustiz, den Schnaps und die Seuchen,
Aber auch die Religion.

Als der weiße Mann zu den Kunama kam,
Da hatten sie Essen und keine Not,
Da waren sie wild und ohne Gebot.
Heut aber sind die Kunama zahm
Und beten um das tägliche Brot.
Denn der weiße Mann nahm sich alles zu eigen,
Die Hütten, die Felder, die Weiber,
Die Fische, die Palmen, das Vieh und die Feigen,
Sogar ihre Seelen und Leiber.

Tausende sind in den Minen gestorben,
Tausende sind auf den Feldern verdorben.
Doch was bedeuten die irdischen Leiden!
Sie haben dafür den himmlischen Lohn,
Denn nun genießen sie alle Freuden
Der Religion.


1927


Klabund <1890-1928>: Oberammergau in Amerika. -- 1927


Abb.: Anton Lang als Christus. -- 1922

[Bildquelle: Das Oberammergauer Passionsspiel : eine Chronik in Bildern / Norbert Jaron und Bärbel Rudin. Dortmund : Harenberg, 1984. -- 216 S. : Überwiegend Ill. -- (Die bibliophilen Taschenbücher ; Nr. 433). -- ISBN 3-88379-433-3. -- S. 115]

Was unsern Christus Lang1 betrifft,
So hatte er sich eingeschifft,
Um in atlantischen Bezirken
Für's heilige Christentum zu wirken.

In Boston war er hinterm Zaun
Wie'n Gnu für'n Dollar anzuschau'n,
Mit ihm im feschen Dirndlkleid
Maria Magdala. All right.

Es wussten Mister, Miss und Missis
Bisher von Christus nichts gewisses,
Bis salbungsvoll und blondbehaart
Er sich leibhaftig offenbart.

Er kommt aus Bayerns Urwaldwildnis,
Verkauft für zwanzig Cents sein Bildnis
Mit Palme, Kreuz und Ölbaumreis.
(In Holz geschnitzt ein höherer Preis.)

Ach, manche Miss entbrannte schon
Für ihn in großer - yes - Passion.
Barnum2 erblasst vor Neid und kläfft:
Weiß Gott, sein Sohn versteht's Geschäft...

Erläuterung: Schon 1922 bekam Oberammergau das Angebot aus den USA, die Passion für eine Million Dollar verfilmen zu lassen. Die Oberammergauer schlugen das Angebot aus, was sehr zum Vorteil des Image wurde und sehr zum Erfolg der Oberammergauer Schnitzwaren-Wanderausstellung beigetragen hat, zu der Christus-Lang und einige Freunde 1923 aufbrachen.

1 Christus Lang = Anton Lang (*1875 - 1938), Hafnermeister und Christusdarsteller bei den Oberammergauer Passionsspielen 1900, 1910, 1922

2 Barnum = Phineas Taylor Barnum (1810 - 1891), US-amerikanischer Zirkuspionier.  


Abb.: Christusdarsteller Anton Lang mit Nuntius Pacelli, dem späteren Papst Pius XII. [Bildquelle: http://web.tiscali.it/serenella/gallerianunzio.htm. -- Zugriff am 2004-07-16]


Joachim Ringelnatz (= Hans Bötticher) (1883  - 1934): Worte in den Wind. -- 1927

Sei mir gegrüßt, du, den ich meine,
Und sende mir dreihundert Dollar zu
Und lass mich sonst im übrigen in Ruh,
Auf dass ich einmal über Großmut weine.

Besuche mich, wenn ich einmal allein bin,
Du fremde schöne und gewisse Frau!
Sei mir die ideal ersehnte Sau,
Doch sage nicht von mir, dass ich ein Schwein bin.

Wagt euch empor, die ich so gerne riefe,
Ihr einflussreiche, starke Knechtebrut!
Verbreitet mich und zieht vor mir den Hut
Und sagt mir schmeichelnd superste Lative.

Vergesst mich nicht, ihr Freunde, die's nicht gibt,
Helft, Edelste, mir, wenn ich in Gefahr bin,
Bestätigt laut, dass ich so rein und wahr bin
Und dass ihr mich ob meiner Schlichtheit liebt.

Du erhabnes, über Welt und Sternen
Ragendes und höchstes Etwas, komm!
Denk von mir, der kennen dich zu lernen
Nie die Ehre hatte: Der ist fromm!

Selbstverständlich sollst du ewig thronen! -
Bitte, bitte, mach mich niemals krank.
Könntest du - im voraus tiefen Dank -
Mich vielleicht auch mit dem Tod verschonen?


Bubikopf und Bibel. -- 1927


Abb.: Die Loreley mit Bubikopf
Die schönste Jungfrau sitzet
Dort oben wunderbar
Ihr goldnes Geschmeide blitzet
Und goldig leuchtet ihr Haar
Sie kämmt es nicht mehr mit dem Kamme
Die Zeiten sind vorbei
Es grüßt jetzt die bubiköpf'ge
Moderne Loreley 
[Bild- und Textquelle: http://www.jhelbach.de/lorelei/bubikopf.htm. -- Zugriff am 2004--10-06]

Unter der Überschrift „Zur Bubikopffrage" beschäftigt sich die letzte Nummer der evangelischen „Jugendhilfe"1 in folgender „tiefsinnigen" Weise mit diesem „schwierigen" Problem.

„Wenn die Frauen und Mädchen in der Welt sich Bubiköpfe schneiden lassen, so kann man dagegen wenig sagen und tun. Wir müssen uns da auch allen Richtens enthalten. Es gibt ja noch viel größere Unsitten als diese, nur dass diese eben viel mehr in Erscheinung tritt. Auch die Frauen und Mädchen mit Bubiköpfen haben ja eine unsterbliche Seele (ernst bleiben! d. Red.) und sind von Gott geliebt (!), deshalb müssen wir sie auch lieben (!!) und für den Herrn und sein Heil gewinnen. Der Richtgeist würde uns aber diese Liebesaufgabe sehr erschweren (?).

Anders liegt natürlich die Sache, wenn es sich um gläubige Mädchen und Frauen handelt. Für diese ist die Heilige Schrift alleiniger Maßstab und Richtschnur. Nun sagt aber Paulus ganz deutlich im ersten Korinther-Brief im 11. Kapitel, und ich glaube wirklich, dass er hier nicht nur zeitgeschichtlich zu verstehen ist, dass ein Weib, dessen Haare geschoren sind, ihr Haar schändet (V. 5); und er sagt weiter, dass es einem Weibe übel anstehe, dass sie verschnittenes Haar habe (V. 6), und dass es dem Weibe eine Ehre sei, so sie langes Haar hat. Das Haar ist ihr zur Decke gegeben (V. 15)."

Am Schluss warnt der Schreiber dieser Sudelei, Herr Pfarrer Stolzmann, seine weiblichen Mitglieder vor dem Verlust ihres ewigen Seelenheils (pardon, ihrer Haare) mit folgenden gewaltigen Donnerworten:

„Ich würde ein Mitglied, das trotz mehrmaliger Mahnung und Verwarnung sich in dieser Hinsicht nichts sagen lässt, so lange ausschließen, bis es in aufrichtiger Buße zur Einsicht gekommen ist (und die Haare wieder gewachsen sind! d. Red.). So sollte man es auch mit weiblichen Mitgliedern halten, die etwa auf die Idee kämen, sich ihre Haare kurz scheren zu lassen."

Bei diesen fürchterlichen Aussichten kann man jedem Arbeitermädel nur dringend raten, sich schleunigst einen „falschen Willem" zu kaufen, um so noch in letzter Minute der Hölle zu entgehen.

Erläuterung:

1 Vermutlich: Die Jugend-Hilfe : im Interesse d. Seelenpflege unserer Jugend hrsg. von d. Vorstand d. Jugend-Bundes für Entschiedenes Christentum. - Kassel   1.1897 - 25.1921; [26.]1922 - [34.]1930; 35.1931 - 42.1938; 46.1948 - 64.1966

Erschienen in:

Die Junge Garde : Zentralorgan des Kommunistischen Jugendverbandes Deutschlands ; Jugendzeitschrift für die Freiheit der jungen Generation. - Berlin : Verl. Junge Garde. -- 1.1918/19ff. -- Jg. 9, Nr. 4

Wieder abgedruckt in:

Feuilleton der roten Presse 1918 - 1933 / ausgewählt und hrsg. von Konrad Schmidt. -- Berlin : Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung, 1960. -- 179 S. -- (Kämpfende Kunst). -- S. 49f.


Fritz Hampel (Slang) (1895 - 1932): Noch am Grabe. -- 1927

„Guten Tag, Herr Steinreich! — Danke, und Ihnen? Ja, es ist traurig. Müller ist auch da. Was das mit dem seligen Gustav zu tun gehabt hat, möcht' ich auch wissen. Die Witwe sieht gut aus. Die soll auch seinerzeit mit — na, Sie wissen schon. Kränze hat der Mann, unglaublich! Dabei ist er doch wirklich keiner von denen gewesen... Wie? Mir ist er auch noch etwas schuldig. Reden wir nicht davon. Ob es bald losgeht? Ich wäre ja auch nicht gekommen, aber was soll man machen! Wissen Sie schon, dass Simon pleite ist? — Nee? Lange wird der's nicht mehr machen. Der ist reif fürs Krematorium, sage ich Ihnen. Dass so was überhaupt noch auf der Welt herumläuft. Ach so, heute ist Totensonntag1! Und ausgerechnet heute wollte ich ins Kino! Aber trotzdem! Da wandeln nun die Millionen zwischen den Gräbern, bringen Kränze, das Sinnbild der Siege, der Lebenserfüllung, und sie werden besinnlich und ehrfürchtig dabei. — Nee, unter fünftausend mache ich es nicht. Wo denken Sie hin? Ich habe Familie, Herr! Guten Tag, Herr Pastor! — Danke schön, es geht so. Wird's lange dauern? Ich habe nämlich hinterher eine Verabredung. — Ach Gott ja, des Herrn Wege sind unerforschlich2. Wenn man bedenkt, dass wir noch vorige Woche zusammen ein Rumpsteak gegessen haben! Paul, hat er zu mir gesagt, die Sache mit Sochazewer bleibt so. Eine Hand wäscht die andere. Und heute ist er 'ne Leiche.

Tja: Leben wir, so leben wir mit dem Herrn, sterben wir, so sterben wir mit dem Herrn3! — Feuer? Bitte sehr! Ich glaube, bei einem Begräbnis soll nicht geraucht werden. Na, is egal. Der gute Gustav hat auch gerne geraucht. Das war ja sein Fehler, dass er immer gedacht hat, mit einer Zigarre alles machen zu können. Fauler Kunde. Haben Sie schon die Mittagspresse gelesen? — Wie? Vom Baugerüst ist einer heruntergestürzt? Na, vielleicht war er besoffen. Wenn man nicht schwindelfrei ist, soll man eben einen anderen Beruf ergreifen. Unsere christliche Losung heißt: Erfüllung des Lebens, Erfüllung durch Arbeit. Waren Sie gestern im Adlon4? — Fabelhaft, sage ich Ihnen! Die kleine Meyer ist doch — Pst! Wir müssen mitsingen, sonst fallen wir auf. Was wird gesungen? Tut mir leid, Herr, aber mein Hühnerauge ist kein Standpunkt für Ihre zwei Zentner. — ,Jesus, meine Zuversicht'5 kennen Sie nicht auswendig? Ja, wo sind Sie denn zur Schule gegangen? Da sieht man mal wieder, wie verlottert das ganze Schulsystem ist! Die Witwe weint ja überhaupt gar nicht. So was von Gefühllosigkeit ist mir noch nicht vorgekommen! Wenn ich denke, dass meine Frau nicht mal eine Träne für mich übrig hätte! Das soll ja übrigens im Film mit Glyzerin gemacht werden. Und ich habe immer gedacht, die Pola Negri6 weint echt! — Ganz meine Meinung. Der Tod soll ruhig das ewige Geheimnis bleiben, als das es uns nun einmal gegeben ist. Haben Sie auch so kalte Füße? -— Ja, den Schnupfen habe ich auch. Mich trifft eben jeder Schlag. Wenn ich nicht meine Sekretärin hätte! — Ach was, die Hauptsache ist, dass sie jung ist. Meine Frau ist in der Beziehung doof, Gott sei Dank! Die merkt nicht einmal, wenn ich — bitte nach Ihnen, Herr! Wieviel Schaufeln Dreck muss man denn hineinschmeißen? — Tut mir leid: ich habe nicht jede Woche ein Begräbnis wie Sie. — Gott sei Dank. Ich dränge mich niemandem auf. Ich bin froh, wenn ich keine Einladung bekomme. — Nee, zu erben gibt es hier nischt, das wissen Sie doch, der Mann hat ja bloß unjedeckte Wechsel hinterlassen. Aber jetzt muss ich zu den Angehörigen. Ekelhaft, so was! — Gestatten Sie mir, gnädige Frau, dass ich Ihnen mein herzlichstes Beileid ausspreche. Unser teurer Verstorbener war mir ein lieber Freund, dem ich manches zu verdanken habe. Aber trösten Sie sich, gnädige Frau; der Tod kommt aus derselben Gotteshand wie zuvor das Leben. Mag der allmächtige Gott selbst uns mit ihm auseinandersetzen. "Wir haben genug getan, wenn wir das Leben meistern. — Kopf hoch, gnädige Frau, Sie sind noch jung! Gustav wäre böse auf Sie, wenn er Sie so aufgelöst sehen würde. Auf Wiedersehen, ich komme nächste Woche mal mit vorbei. Ich habe da noch so einen kleinen Wechsel von unserem seligen Gustav. —Was, Sie kommen dafür nicht auf? Und das sagen Sie an seinem Grabe? Schämen sollten Sie sich! Na, es gibt ja noch Richter in Deutschland! Mir tun bloß Ihre armen Kinder leid: keinen Vater mehr und eine solche Mutter! — Sie können mich überhaupt nicht beleidigen, wissen Sie. Woran der arme Gustav eigentlich gestorben ist, werden Sie wohl am besten wissen. — Bitte sehr, ich weiß, was ich sage. Wenn jemand besoffen ist, dann sind Sie es. — Ganz meine Meinung, Herr Pfarrer. Ich habe eben der gnädigen Frau gesagt, dass sie auf mich rechnen kann. Das sind wir unserem guten Gustav schuldig. Schlimm genug, dass er ihr nicht einen Pfennig hinterlassen hat. Aber das liegt in der Familie."

Erläuterungen:

1 Totensonntag: Letzter Sonntag des Kirchenjahrs (vor dem 1. Advent). 1816 ordnete König Friedrich Wilhelm III von Preußen an, den letzten Sonntag im Kirchenjahr als allgemeinen Feiertag zur Erinnerung an die Verstorbenen zu begehen. Damit wurde aus den vielen regionalen Feiertagen in seinem Land ein einheitlicher Feiertag. Die evangelischen Landeskirchen übernahm endiesen Feiertag und er wurde zum Gegenstück des katholischen Feiertags Allerseelen.

2 Römerbrief 11, 33

3 Römerbrief 14, 8

4 Hotel Adlon: eines der teuersten und bekanntesten Hotels Deutschlands, in Berlin direkt am Brandenburger Tor.

5 Kirchenlied, unbekannter Verfasser, 1653

Jesus, meine Zuversicht
Und mein Heiland, ist im Leben;
Dieses weiß ich, sollt' ich nicht
Darum mich zufrieden geben,
Was die lange Todesnacht
Mir auch für Gedanken macht?

2. Jesus, er mein Heiland, lebt;
Ich werd' auch das Leben schauen,
Sein, wo mein Erlöser schwebt;
Warum sollte mir denn grauen?
Lässet auch ein Haupt sein Glied,
Welches es nicht nach sich zieht?

3. Ich bin durch der Hoffnung Band
Zu genau mit ihm verbunden;
Meine starke Glaubenshand
Wird in ihn gelegt befunden,
Dass mich auch kein Todesbann
Ewig von ihm trennen kann.

4. Ich bin Fleisch und muss daher
Auch einmal zu Asche werden;
Das gesteh' ich, doch wird er
Mich erwecken aus der Erden,
Dass ich in der Herrlichkeit
Um ihn sein mög' allezeit.

5. Dann wird eben diese Haut
Mich umgeben, wie ich gläube,
Gott wird werden angeschaut
Dann von mir in diesem Leibe,
Und in diesem Fleisch werd' ich
Jesum sehen ewiglich.

6. Dieser meiner Augen Licht
Wird ihn, meinen Heiland, kennen;
Ich, ich selbst, kein Fremder nicht,
Werd' in seiner Liebe brennen;
Nur die Schwachheit um und an
Wird von mir sein abgetan.

7. Was hier kranket, seufzt und fleht,
Wird dort frisch und herrlich gehen;
Irdisch werd' ich ausgesät,
Himmlisch werd' ich auferstehen;
Hier geh' ich natürlich ein,
Nachmals werd' ich geistlich sein.

8. Seid getrost und hocherfreut,
Jesus trägt euch, meine Glieder!
Gebt nicht Raum der Traurigkeit!
Sterbt ihr, Christus ruft euch wider,
Wenn die letzt' Drommet' erklingt,
Die auch durch die Gräber dringt.

9. Lacht der finstern Erdenkluft,
Lacht des Todes und der Höllen;
Denn ihr sollt euch durch die Luft
Eurem Heiland zugesellen!
Dann wird Schwachheit und Verdruss
Liegen unter eurem Fuß.

10. Nur dass ihr den Geist erhebt
Von den Lüsten dieser Erden
Und euch dem schon jetzt ergebt,
Dem ihr beigefügt wollt werden
Schick das Herze da hinein,
Wo ihr ewig wünscht zu sein!

6 Pola Negri (1894 -1987; eigentlich Barbara Apolonia Chalupiec): polnische Schauspielerin und Star des Stummfilms.

[Quelle: Fritz Hampel (Slang) <1895 - 1932>: Eine Auswahl. Lyrik u. Prosa / Hrsg. v. Rudolf Hoffmann ; Elisabeth Simons. -- Berlin : Verl. des Ministeriums für nationale Verteidigung, [1958]. -- 268 S. ; kl. 8°. -- (Kämpfende Kunst). -- S. 120-122.]


1928


Kurt Tucholsky (1890 - 1935): Apage1, Josephine, apage -! -- In: Die Weltbühne. -- 1928-03-27


Abb.: Josephine Baker, 1927

In Wien zuckte neulich die Baker2 mit ihrem Popo,
denn es zieren die Kugeln ihrer Brüste manch schönes Revue-Tableau.
Auch tanzt sie bald auf dem rechten, bald auf dem linken Bein -
und schielen kann sie, dass das Weiße nur so erglänzt in ihren Äugelein.

Dies haben die Zentrums-Schwarzen, die jungen und die alten,
leider für eine Anspielung auf ihre Kirche gehalten.
Auch fühlten sie sich bedroht in ihrer Sittlichkeit,
und sie ließen die Glocken läuten, ganz wie in schwerer Zeit.
Drei Sühnegottesdienste stiegen auf zum österreichischen Himmel,
und die Bußglocke gefiel sich in einem moralischen Gebimmel.

Denn:
Wenn eine Tänzerin gut gewachsen ist
und einen Venus-Körper hat, der nicht aus Sachsen ist;
und wenn sie tanzt, dass nur der Rhythmus so knackt, und wenn sie ein ganzes Theater bei allen Sinnen packt;
und wenn das Leben bunt ist hierzulande -:
das ist eine Schande.

Wenn aber Christus, der gesagt hat: »Du sollst nicht töten!«,
an seinem Kreuz sehen muss, wie sich die Felder blutig röten;
wenn die Pfaffen Kanonen und Flugzeuge segnen
und in den Feldgottesdiensten beten, dass es Blut möge regnen;
und wenn die Vertreter Gottes auf Erden
Soldaten-Hämmel treiben, auf dass sie geschlachtet werden;
und wenn die Glocken läuten: »Mord!« und die Choräle hallen:
»Mord! Ihr sollt eure Feinde niederknallen!«
Und wenn jemand so verrät den Gottessohn -:
Das ist keine Schande.
Das ist Religion.

Erläuterungen:

1 Apage: Wiche!, aus der Exorzismus Formel: Apage Satanas! "Weiche Satan!"

2 Josephine Baker (1906 - 1975)

"Baker Joséphine, Tänzerin, geb. 1905 (?) in St. Louis, Vater Spanier, Mutter Vollblutnegerin. Schon als Kind tanzte B. gelegentlich in Schenken, 1923 trat sie in einer kleinen Revue in Philadelphia auf, kam 1924 nach New-York, im September 1925 nach Paris, wo im Theater der Champs-Elysées ihr Aufstieg zu internationaler Berühmtheit begann. Sie gilt als amüsante Grotesktänzerin, deren typische Merkmale ihr Auftreten in originellen und andeutungsweise vorhandenen Kostümen (ein Bananenkranz, eine Pleureuse oder ähnliches), sowie die Beweglichkeit ihres Gesäßes sind. Diese beiden Charakteristika gaben den Anlass zu einer gegen ihr Auftreten gerichteten erbitterten Kampagne nationalistisch gesinnter Kreise in Wien und Budapest anlässlich ihrer mitteleuropäischen Tournee 1928. Obzwar ihre Tänze sich ganz im Rahmen der üblichen Revue- und Variété- Darbietungen halten, wurde ihr Auftreten von diesen Kreisen doch als »entsittlichend«, »schwarze Schmach« und »aufreizend« bezeichnet und sowohl im ungarischen Parlament wie im österreichischen Nationalrat - allerdings vergeblich - ein Auftrittsverbot gegen sie verlangt, wobei ein österreichischer Abgeordneter in öffentlicher Sitzung gegen die Negertänzerin »mit dem nackten Hintern« loszog. Bemerkenswert ist, dass ein Bild der Baker, das sie stark entblößt darstellte, in einer österreichischen Provinzstadt das »sittliche Empfinden« des Schriftleiters einer Tageszeitung so sehr erregte, dass sich jener nicht zurückhalten konnte, die schützende Glasscheibe zu zerbrechen und das Bild zu zerreißen. Der wegen Sachbeschädigung angeklagte Schriftleiter wurde mit der Begründung freigesprochen, dass er nicht aus unedlen Motiven, sondern nur aus »Entrüstung über das unsittlich wirkende Bild« gehandelt hätte."

[Quelle: Bilderlexikon der Erotik / Mathias Bertram (Projektleitung, Red.) ... -- Berlin : Directmedia Publ., 1999. -- 1 CD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; Bd. 19). -- ISBN 3-932544-24-2. -- s.v.]


Kurt Tucholsky (1890 - 1935): Mädchen aus Samoa. -- In: Arbeiter Illustrierte Zeitung. -- 1928, Nr. 34


Abb.: Die Anthropologin Margaret Mead (1901 - 1978) zwischen zwei Samoerinnen. -- ca. 1926. -- [Bildquelle: http://www.loc.gov/exhibits/mead/field-samoa.html. -- Zugriff am 2004-12-14]

Ich bin ein Mädchen aus Samoa. Wir gingen
mit Schmuckketten und einem Schurz bekleidet,
die Tiere des Waldes haben uns um unsere Schönheit beneidet
wir waren frei wie sie.
Dann aber sind die weißen Fremden in unser Land gekommen
und haben uns unsere Götter und unsere Felder fortgenommen
was haben sie uns dafür gegeben?

Ihre Missionare gaben uns einen Aberglauben und Plappergebete;
ihre Kaufleute gaben uns Whisky, bedruckten Kattun und Eisengeräte
seit wir es kennen, brauchen wir das.
Ihre Soldaten gaben uns eine neue Art, zu morden und zu henken;
ihre Männer gaben uns die Syphilis benebst einigen andern Geschenken
das haben sie uns dafür gegeben!

In meinen tiefen Augen liegt noch die Schönheit unserer Allmutter Natur;
um meine Beine schlottert schon der Rock der Zivilisation wartet nur:
noch bin ich halb.
Eines Tages aber werden wir alle die europäischen Gaben gegen die Ausbeuter wenden,
Telegrafen und Automobile bedienen wir mit unsern braunen Händen;
eines Tages kämpfen wir, braune und gelbe Arbeiter für unser eigenes Leben:
eines Tages werden die Kontinente sich ihre Freiheit geben !
Denn ein Schrei geht durch die Welt, eine Sehnsucht
aus schwer arbeitender Brust ein Gekeuch:
Proletarier aller Länder, vereinigt euch!

Theobald Tiger


1929


Erich Weinert (1890-1953): Resls Glück und Ende. -- 1929

Ach, wie bald verlor das schöne deutsche
Wallfahrtswunder seinen Heiligenschein!
Keiner darf nun mehr zur Resl rein.
Und verlassen tagt der Konnersreuthsche
Heiligenbilder- und Verkehrsverein.

In den neugestrichnen Bierbudiken,
Wo der Pilgerchor sich ausgeruht,
Als das Wundenwunder noch akut,
Hört man wieder muntre Säue quieken,
Weil der Gastwirt nicht mehr schlachten tut.

Aber Resl darf nun wieder futtern,
Da sie ja vom Himmel Urlaub hat.
Denn sie aß sich lange nicht mehr satt.
Und nun strickt sie Strümpfe still bei Muttern.
Wunder finden vorderhand nicht statt.

Vater Neumann, der Etagen zimmert,
Schon in Anbetracht des heiligen Zwecks,
Sucht sich einen neuen Baukomplex,
Wo die Resl komfortabler schimmert.
Vater Neumann zahlt in Wunderschecks.

Vom Herrn Pfarrer bis zum Feldgendarmen,
Alle blicken auf die Dulderin
Und begreifen jetzt den tiefren Sinn.
Nämlich: Selig sind die geistig Armen;
Denn vom Himmel tropft der Reingewinn.

Erläuterung: Resl = Therese Neumann von Konnersreuth

"NEUMANN VON KONNERSREUTH, Therese, Stigmatisierte, * 9.4. 1898 zu Konnersreuth/Oberpfalz, † 18.9. 1962 ebd; - Als ältestes von elf Kindern (eins verstorben) wurde Therese Neumann in der Nacht vom Karfreitag auf den Karsamstag des 9.4. 1898 in die Familie des Schneidermeisters Ferdinand Neumann, der nebenbei noch eine kleine Landwirtschaft betrieb, und seiner Ehefrau Anna geboren. In der Volksschule zeigte Therese Neumann sich, nach ihrem Entlassungszeugnis zu urteilen, überdurchschnittlich begabt; ihr Fleiß und ihr Betragen werden als »mustergültig« bezeichnet; - Nach Absolvierung der Volksschule nahm sie eine Dienststelle in Konnersreuth an, wozu sie sich folgendermaßen äußert:

»Mit 14 Jahren (1912) taten mich meine Eltern zu Herrn Martin Neumann in Konnersreuth in Dienst. Die landwirtschaftliche Arbeit ist zwar oft strenger als die Arbeit in der Fabrik. Aber der Standpunkt meiner Eltern war der, dass sie sich sagten: `Die viele Freiheit tut nicht immer gut für die jungen Leute. Auch ist die Bauernarbeit gesünder und schließlich ist der Mensch ja doch zur Arbeit geboren.' Auch nach auswärts wollten mich meine besorgten Eltern nicht gern tun. Wenn sie zwar gerade nicht fürchteten, ich könnte etwa nicht brav bleiben, so war es ihnen doch lieber, mich, wenn irgend möglich, auch im heranwachsenden Alter noch unter ihren Augen behalten zu können.«

Zum »Schicksalsjahr« sollte für Therese Neumann das Jahr 1918 werden: Am 10. März 1918 brach in der Nähe des Anwesens ihres Arbeitgebers ein Brand aus. Das Ereignis hat Therese Neumann so geschildert:

 »Beim ersten Feueralarm überfiel mich ein heftiger Schrecken. Aber es war keine Zeit, zu zagen und zu jammern. Auch das Anwesen meines Dienstherrn fing schon Feuer und wir mussten alle zusammenhelfen, einer weiteren Ausbreitung des Feuers mit vereinten Kräften Einhalt zu tun ... In der Aufregung mutete ich mir doch zuviel zu. Wieder wollte ich eben einen vollen Kübel hinaufreichen, da fiel mir auf einmal der Kübel aus der Hand. Ich konnte nicht mehr.«

Therese Neumann musste sich in ärztliche Behandlung begeben, die jedoch erfolglos blieb. Von Oktober 1918 an begann für sie ein mehr als sechsjähriges Siechtum. Im März 1919 erblindete sie, außerdem traten Lähmungserscheinungen ein. Am 29. April 1923, dem Tag der Seligsprechung der kleinen Theresia vom Kinde Jesu, konnte sie plötzlich wieder sehen. Am 17. Mai 1925, dem Tag der Heiligsprechung der kleinen Theresia, erfolgte die plötzliche Heilung von ihren Lähmungen. Seit dem 30. September 1925, dem Todestag der kleinen Theresia, konnte sie sich wieder ohne jede Beeinträchtigung bewegen. Von Oktober 1925 bis Weihnachten 1926 nahm sie nur noch flüssige Nahrung auf. Während der Fastenzeit 1926 stellte sich die erste Stigmawunde in der Herzgegend ein, an Karfreitag 1926 erschienen die Fuß- und Handwundmale an der Außenseite. Außerdem erfolgte von nun an die regelmäßige Wiederkehr der Passionsekstasen. Seit Weihnachten 1926 lebte Therese Neumann völlig nahrungslos, vom täglichen Empfang der konsekrierten Hostie abgesehen. Vom 25. Mai 1927 an, einem Freitag, trug sie auch die Dornenkrone-Stigmata, die an jenen Freitagen bluteten, an denen sie das Leiden Christi schaute. Die Hand- und Fußwundmale zeigten sich nun auch an der Innenfläche. Therese Neumann verstarb unerwartet am 18. September 1962 gegen 13,30 Uhr.-

Wie schon zeitlebens, so war sie auch nach ihrem Tod nicht unumstritten. Während die einen

»in den Berichten über die ekstatischen Zustände der Stigmatisierten von Konnersreuth ... so viele Ungereimtheiten und Unstimmigkeiten (finden), Dass eine göttliche Einwirkung nicht anerkannt werden kann« (Josef Hanauer),

 ist sie für die anderen der »Beweis« dafür,

»Dass es mitten in unserer Welt ... flüchtiger Dinge eine andere Welt gibt, in der dies alles gar nichts gilt, gemessen an den Reichtümern, die `ein Leben im Geist' bietet« (Luise Rinser).

[Quelle: Konrad Fuchs. -- http://www.bautz.de/bbkl/n/Neumann_v_k.shtml. -- Zugriff am 2004-05-28]


Joachim Ringelnatz (= Hans Bötticher) (1883  - 1934): Kindergebetchen. -- 1929


Abb.: Heiligenbildchen. -- Anfang 20. Jhdt.

Erstes

Lieber Gott, ich liege
Im Bett. Ich weiß, ich wiege
Seit gestern fünfunddreißig Pfund.
Halte Pa und Ma gesund.
Ich bin ein armes Zwiebelchen,
Nimm mir das nicht übelchen.

Zweites

Lieber Gott, recht gute Nacht.
Ich hab noch schnell Pipi gemacht,
Damit ich von dir träume.
Ich stelle mir den Himmel vor
Wie hinterm Brandenburger Tor
Die Lindenbäume.
Nimm meine Worte freundlich hin,
Weil ich schon sehr erwachsen bin.

Drittes

Lieber Gott mit Christussohn,
Ach schenk mir doch ein Grammophon.
Ich bin ein ungezognes Kind,
Weil meine Litern Säufer sind.
Verzeih mir, dass ich gähne.
Beschütze mich in aller Not,
Mach meine Eltern noch nicht tot
Und schenk der Oma Zähne.


Joachim Ringelnatz (= Hans Bötticher) (1883  - 1934): Der große Christoph. -- 1929

Wer Rigas Hafen kennt,
Kennt auch das Holzmonument,
Das man den großen Christoph nennt.

Der Heilige mit seinem Wanderstabe.
Auf seiner Schulter sitzt der Jesusknabe.
Den hat er, wie die Leute dort sagen,
Durch die Dünn getragen.

Die Flößer und die Schiffersleute schenken
Ihm Blumen, Bänder hin und andrerlei
Und bitten frömmig ihn dabei,
Er möge dies und das zum Guten lenken.
Es kommen viele Leute so und gehn.

Der Christoph trägt um seine Lenden
Ein Hemd, vier Hemden, manchmal zehn,
So je nachdem, was sie ihm spenden
Und andermal auch wieder stehlen.

Er trägt und gibt das Gerngewollte.
Und Christus schweigt; er ist ja noch so klein,
Und beide lächeln ob der simplen Seelen.
Und wenn sie wirklich etwas wurmen sollte,
Dann kann das nur ein Holzwurm sein.


Kurt Tucholsky (1890 - 1935): Lehrgedicht. -- In: Die Weltbühne. -- 1929-07-16


Abb.: Mythos und Logos [Bildquelle: http://www.heitz.info/hopepage/hdr.html. -- Zugriff am 2004-12-14]

Wenn du mal gar nicht weiter weißt,
dann sag: Mythos.
Wenn dir der Faden der Logik reißt,
dann sag: Logos.
Und hast du nichts in deiner Tasse,
dann erzähl was vom tiefen Geheimnis der Rasse.
So erreichst du, dass keiner, wie er auch giert,
dich je kontrolliert.

Willst du diskret die Leute angeilen,
dann sag: Eros.
Sehr viel Bildung verleiht deinen Zeilen:
Dionysos.
Aber am meisten tun dir bieten
die katholischen Requisiten.
Tu fromm du brauchst es gar nicht zu sein.
Sie fallen drauf rein.


Abb.: Tu fromm du brauchst es gar nicht zu sein. Sie fallen drauf rein: SPD-Chef Franz Müntefering als Laienprediger in der Evangelischen Luisen-Kirche in Charlottenburg. -- Sonntag, den 18. April 2004 [Bildquelle: http://216.239.59.104/search?q=cache:R99S-A6PBIYJ:www.gedaechtniskirche.com/news/newsk.php%3Fnews_ID%3D58+m%C3%BCntefering+predigt&hl=de. ZUgriff am 2004-12-14]

Machs wie die Literatur-Attachés:
nimm ein Diarium.
Die Hauptsache eines guten Essays
ist das Vokabularium.
Eros und Mythos hats immer gegeben,
doch noch nie so viele, die von ihnen leben . . .
So kommst du spielend immer schmuse du nur!
in die feinere deutsche Literatur.

Theobald Tiger


1930


Kurt Tucholsky (1890 - 1935): Kirche und Wolkenkratzer. -- In: Arbeiter Illustrierte Zeitung. -- 1930, Nr. 6, S. 108.


Abb.: Kirche und Wolkenkratzer (New York) / Fotografie von Stefan Meivers [Bildquelle: http://home.s-planet.de/stefan.meivers/Thumbnails_HTML/USA_NewYork.html. -- Zugriff am 2004-12-01]

Es läuten die Glocken: Bim-bam-bim-bam;
es sausen die Autos über den Damm;
die Kirche reckt ihren Turm zum Himmel
und macht Reklame mit ihrem Gebimmel.
Sie wirbt für den christlichen Gedanken -
aber drum herum die Häuser der Banken
sind eine Etage höher.

Wenn zu New York die Börse kocht,
dann beten die frommen Pfaffen:
dass keiner werde eingelocht,
dass sie alle Geld erraffen.
Aber wie sie auch beten in brausendem Chor:
die Banken ragen zum Himmel empor
eine Etage höher.

Und es beten die Pfaffen nach alter Art
gegen sündige Teufelsgedanken.
Das Kirchenvermögen liegt wohlverwahrt
nebenan, nebenan in den Banken.
Wer regiert die Welt -? Hier kann man das
sehn.
Um alle Kirchen die Banken stehn
eine Etage höher.


1931


Erich Weinert (1890-1953): Die heilige Therese auf dem Eisbrecher. -- 1931

In einem katholischen Sonntagsblatt,
Das Gott mit Einfalt gesegnet hat,
War ein Wundermärchen zu lesen:
Die Rettung der Nobile-Mannschaft im Eis
Sei nur das Werk und der Gnadenbeweis
Der heiligen Therese gewesen.

Nämlich, als sie den Tod vor Augen sahn,
Da wandte der Expeditions-Kaplan
Sich an die heilige Therese
Um Fürbitte bei der höchsten Instanz.
Drei Tage kreiste der Rosenkranz.
Und der Himmel war nicht mehr böse.

Denn siehe, da kam durchs gefrorene Meer
Ein bolschewistischer Dampfer daher,
Direkt vom Himmel gesendet.
Und wenn der nur will, geht alles flott.
Thereses Audienz beim lieben Gott
Hat doch erfolgreich geendet.

Ich glaube, Dass sich Therese vergriff.
Sie schickte ein ungeweihtes Schiff,
Besetzt mit gottlosen Ketzern.
War das nicht gar eine Höllenlist
Vom bolschewistischen Antichrist
Und seinen Glaubenszersetzern?

Ihr Gläubigen, schiebt's in Seelenruh
Dem unerforschlichen Ratschluss zu!
Auch hatte wohl hier der Himmel
Nur an die Rettung der Leiber gedacht.
Denn die Seelenrettung wird hinten gemacht,
Bei feierlichem Gebimmel.

Erläuterungen:

"Umberto Nobile (* 21. Januar 1885 in Lauro bei Neapel, † 30. Juli 1978 in Rom) war ein italienischer Luftschiffpionier. Er überflog 1926 im Luftschiff "Norge" gemeinsam mit Roald Amundsen und dem amerikanischen Millionär Lincoln Ellsworth den Nordpol. Damit wurden sie im Rennen um die erste Nordpolüberquerung aber nur zweite, da der Amerikaner Richard Byrd drei Tage vorher mit einem Flugzeug über den Pol geflogen war. Zu einem zweiten Flug zum Nordpol, diesmal ohne Amundsen, startete er am 23. Mai 1928 mit dem Luftschiff "Italia" von Spitzbergen aus, den er auch am 24. Mai überflog. Am 25. Mai stürzte Nobile mit dem Luftschiff auf dem Rückflug vom Nordpol in der Nähe von Spitzbergen ab, wobei neun Expeditionsmitglieder sowie Nobile auf eine Eisscholle geschleudert wurden. Das geleichterte Luftschiff stieg mit sechs an Bord verbliebenen Mann wieder auf und wurde nicht wiedergefunden. Roald Amundsen startete im Rahmen einer internationalen Rettungsaktion und ist seither verschollen. Der durch Knochenbrüche bewegungsunfähige Nobile wurde von einem schwedischen Piloten in Sicherheit gebracht, die anderen Überlebenden am 12. Juli von dem sowjetischen Eisbrecher "Krassin" geborgen. "

[Quelle: http://www.net-lexikon.de/Umberto-Nobile.html. -- Zugriff am 2004-05-28]

Theresia von Lisieux (* 2. Januar 1873 in Alencon (Frankreich); † 30. September 1897 in Lisieux (Frankreich)) war eine französische Karmelitin, die 1925 heilig gesprochen wurde.


Abb.: Theresia von Lisieux. -- Heiligenbildchen. -- Frankreich. -- 20. Jhdt.

Theresia wurde als jüngstes von neun Kindern des Louis und der Zélie Martin als Marie-Françoise-Therese Martin geboren. Schon als Kind wollte sie - von ihrer Familie unterstützt - in den Orden der Karmelitinnen eintreten, ihre Aufnahmegesuche wurden jedoch mehrfach aufgrund ihres jugendlichen Alters abgelehnt. 15-jährig folgte sie ihren Schwesten Céline und Pauline in den Karmelitinnen-Orden zu Lisieux. Ihr Klostername war "Thérèse de l'enfant Jesus" (franz.: Therese vom Kinde Jesus).

Ihrem "Kleinen Weg" der Liebe folgte sie auch, als sie ihren Glauben an Gott verlor. Anstatt das Kloster zu verlassen, konnte sie diesen Glaubensverlust als Prüfung durch Gott transzendieren. Insofern kann sie tatsächlich als eine der ersten Heiligen der Moderne angesehen werden.

Im Gegensatz zum strengen Gottesbild jener Zeit sah sie ihren Weg als einen der Hingabe an Gott und die Mitmenschen, die sich gerade in den kleinen Gesten des Alltags äußere. Sie war der Meinung, dass wenn man Gott in Liebe begegne, jener diesem Beziehungsangebot nicht widerstehen könne. Ihre Lebensgeschichte, die sie auf Anordnung ihrer Priorin geschrieben hatte, wurde unter dem Titel "Geschichte einer Seele" zwei Jahre nach ihrem Tod veröffentlicht.

1897 starb sie, gerade 24-jährig, an einer Tuberkulose.

Am 10. Juni 1914 wurde sie selig - und am 17. Mai 1925 von Papst Pius XI. heilig gesprochen. Dieser erklärte sie am 14. Dezember 1927 dann auch zur Patronin der Mission. Die katholische Kirche feiert ihren Festag am 1. Oktober. Am 19. Oktober 1997 wurde sie von Papst Johannes Paul II. neben Katharina von Siena und Theresa von Avila als dritte Frau zur Kirchenlehrerin ernannt. Um die beiden Therese des Kamelitinnenordens zu unterscheiden wird Teresa von Avila oft die "große Therese" und Therese von Lisieux die "kleine Therese" genannt. "

[Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Therese_von_Lisieux. -- Zugriff am 2004-05-28]


Erich Weinert (1890-1953): Der Zauberer aus Matjibimba. -- 1931

Das ist der Zauberer Jumbala
Aus Matjibimba in Afrika.
Der füllt bei seinem Stamme zu Haus
Den Posten des Medizinmanns aus.

Wenn es zu trocken wird, macht er Regen.
Wenn's regnet, ruft alles: Heil! Hingegen:
Wenn dann kein Regen vom Himmel fällt,
Dann hat er eben noch keinen bestellt.

Oder wenn mal sein Stamm am Verhungern ist,
Dann kraust er die Stirne und brüllt: ihr wisst,
Bald lass' ich bei vollen Töpfen euch prassen!
Aber den Zeitpunkt müsst ihr schon mir überlassen!

Und ist dann das Paradies nicht gekommen,
Dann sagt er: Ihr habt euch nicht richtig benommen.
Ihr habt keinen Glauben an Jumbala!
Sonst wäre das Paradies schon da.

Ein Afrikaforscher, der Jumbala fand,
Hielt diesen Fall für interessant,
Weshalb er den Mann ins zivilisierte
Europa als Studienobjekt exportierte.

Nun muss er hier seine Mätzchen machen.
Die weißen Herren Studenten lachen:
Wie primitiv sind die schwarzen Rassen,
Von solchem Tamtam sich verblöden zu lassen!

Ihr zivilisierten Germanen, ihr lacht!
Ich halte das gar nicht für angebracht.
Denn solchen faulen Zauber wie den
Kann man bei uns alle Tage sehn.

Ihr lacht! Und merkt nicht bei all dem Jokus,
Dass sich der hiesige Hokuspokus
Nur in etwas anderen Formen vollzieht;
Im Niveau ist da gar kein Unterschied!


Joachim Ringelnatz (1883 - 1934): Gebetchen. -- 1931

Man betet so sein Tischgebet.
Man betet, wenn man schlafen geht,
Vor Gräbern und vor dem Altar.

Gut! Betet, wenn ihr's selber wollt.
Dann aber mutig und ganz wahr.
Und lasst euch keines Falles
Dann sagen, was ihr beten sollt.


Abb.: Und lasst euch keines Falles dann sagen, was ihr beten sollt: Kautz, Heinrich: Himmelspförtlein : Ein Beicht- und Kommunionbüchlein für die Kleinen / Mit Bildern von Max Teschemacher. -- Einsiedeln : Benziger, 1949. -- 104 S. : Ill. ; kl.-8°.

Gott kennt euch und weiß alles.
Vertraut ihm euer Herzeleid,
Und dankt ihm, wenn ihr glücklich seid.

Und schämt euch nicht. Nein, lacht sogar.
Weil beten nützt, wenn's ehrlich war.


Kurt Tucholsky (1890 - 1935): Die Gefangenen. -- In: Die Weltbühne. -- 1931-04-14

Hörst du sie schlucken, Herrgott?
Sie sitzen muffig riechend und essen ein muffiges Essen,
holen es mit dem Blechlöffel aus den amtlichen Gefäßen
und führen es in ihren privaten Mund.
Der Körper verdaut es,
und es ist ganz sinnlos, was sie da tun.
Hörst du sie schlucken, Herrgott?

Siehst du sie im Hof trotten, Herrgott?
Man bewegt sie wie die Pferde, damit sie nicht frühzeitig sterben
sie sollen leidensfähig erhalten werden,
und im Schubkasten des Gefängnispastors liegt eine Bibel.
Daraus liest er ihnen von Zeit zu Zeit etwas vor und glaubt wirklich,
er sei besser als sie.
Siehst du sie in ihrer Kirche sitzen, Herrgott?


Abb.: "Hoher Besuch in Rohrbach: Kardinal Lehmann und Kirchenpräsident Steinacker haben am 07. Juli 2003 den neuen Kirchenraum in der Justizvollzugsanstalt Rohrbach eingeweiht" [Bildquelle: http://www.lbbnet.de/dhtml3/d30134.htm. -- Zugriff am 2004-12-14]

Fühlst du sie leiden? Nachts bedrängen sie wüste Träume;
ihre innere Sekretion ist nicht in Ordnung,
sie sehen riesige Geschlechtsteile auf Beinen
und zupfen an sich herum . . .
Fühlst du sie leiden?

Ja, sie haben gefehlt das ist wahr.
Doch kann kein Mensch den andern bestrafen, er kann ihn nur quälen.
Denn Schuld und Strafe kommen niemals zusammen.
Ja, sie haben gefehlt, das ist wahr.
Da sitzen sie und leiden:
Weil sie gestohlen haben;
weil ihre Eltern nur einen verwüsteten Körper  zeugen konnten;
weil sie in Spanien eine Republik haben wollten;
weil sie Stalins Politik nicht billigen;
weil sie den Duce nicht lieben;
weil sie in Amerika Gewerkschaften gründen wollten . . .
Sie sind Späne des irdischen Sägewerks.
Die Gerechten können nicht sein, wenn die Ungerechten nicht wären.
Ja, sie haben gefehlt das ist wahr.

Und so ist es eingeteilt:
Sie haben gesündigt.
Andre haben sie verurteilt.
Wieder andre vollstrecken das Urteil.
Was haben diese drei Dinge miteinander zu tun?

Gott, du siehst es !
Erbarme, erbarme dich der Gefangenen!
Der Mensch, der da richtet, erbarmt sich nicht.
Man müsste ihn quälen, wiederum,
und wiederum wäre nichts damit getan.
Hörst du sie, siehst du sie, fühlst du sie,
die Gefangenen -?

Theobald Tiger


1932


Erich Weinert (1890-1953): Bist Du noch in der Kirche? -- 1932

Ich habe einen Indifferenten gefragt:
„Bist du noch in der Kirche?" — Da hat er gesagt:
„Ja, ich bin noch drin.
Aber ich gehe schon seit zehn Jahren nicht mehr hin.
Als aufgeklärter Mensch habe ich mit den Pfaffen
Und dem ganzen Brimborium nichts mehr zu schaffen."—
„Und warum trittst du nicht aus?" —
„Ja, es wurde immer nichts draus!" —
„Du zahlst doch auch Kirchensteuer, nicht wahr?" —
„Ja, so eine dreißig Mark im Jahr." —
„Eigentlich verdienst du eins hinter die Ohren.
Einmal betrachtest du die Pastoren
Als Diener der finsteren Reaktion,
Und dann ernährst du sie noch mit deinem Lohn!"—
„Schon recht! Man entschließt sich bloß immer nicht!"—
„Also morgen gehst du aufs Amtsgericht!"

Ich habe einen Sozialdemokraten gefragt:
„Bist du noch in der Kirche?" — Da hat er gesagt:
„Die Kirche kommt gar nicht in Frage für mich.
Ich bin zwar noch drin, doch nur äußerlich.
Es ist wegen meiner Frau und meinem Sohn.
Der Junge soll in der Schule nicht drunter leiden.
Und meine Frau ist für Taufe und Konfirmation.
Ich möchte eben Differenzen vermeiden!
Trotzdem bin ich Atheist, wie du weißt,
Und kläre die Menschen auf, wo ich kann." —
„Und zu Hause duldest du den heiligen Geist?
Die Aufklärung fängt nämlich zu Hause an!
Deine Frau ist doch gar nicht mehr gläubig gesonnen.
Die ist sicher bald für den Austritt gewonnen."

Ich habe einen Kommunisten gefragt:
„Bist du noch in der Kirche? — Da hat er gesagt:
„Ach, du denkst wohl, ich gehe sonntags beten?
Da wäre ich ein schöner Kommunist!
Wir sind zwar formell noch nicht ausgetreten,
Was ja schließlich auch überflüssig ist.
Wir hatten keine kirchliche Trauung.
Bei Vaters Begräbnis hat keiner gepredigt.
Der Pastor kennt unsere Weltanschauung.

Für den sind wir schon lange erledigt.
Und Kirchensteuern bezahl ich ja nicht!
Was soll ich da noch auf dem Amtsgericht?" —
„Genosse, nun will ich dir mal was flüstern!
Dein Name steht in den Kirchenregistern!
Und nun erzählt dein Pastor seiner Gemeinde:
Bei uns ist sogar noch ein Kommunist,
Ein Mann aus dem Lager der Glaubensfeinde!
Das beweist, liebe Freunde, Dass Jesus Christ
Doch stärker als gottlose Lehren ist!" —
„Ja, daran hab ich noch gar nicht gedacht!" —
„Nun aber schnell einen Strich durch gemacht!"

Allen dreien sag ich noch eins zum Schluss:
Ihr seid euch völlig darüber klar,
Die Kirchenherrschaft ist eine Gefahr,
Die mit allen Mitteln bekämpft werden muss!
Heute verbietet sie uns schon, wie ihr wisst,
Sie als das zu bezeichnen, was sie ist.
Die Geistesfreiheit, die sie irritiert,
Wird mit staatlichem Gummi hinwegradiert.
Doch wenn sie uns auch zum Schweigen zwingen -
Es gibt noch ein Mittel, legal und erlaubt,
Womit man den geistlichen Finsterlingen
Den Boden unter den Füßen raubt:

Wenn die Millionen den Austritt erklären,
Die innerlich nicht mehr zur Kirche gehören,
Das war für die Reaktion ein Schlag,
Den kein Gesetz zu verhindern vermag!
Doch die, die sich jetzt nicht endgültig trennen,
Die sollen sich ja nicht mehr Kämpfer nennen!


1938



Abb.: Arnold Böcklin (1827 - 1901): Der Hl. Antonius predigt den Fischen. -- 1892 (Kunsthaus Zürich)

Christian Morgenstern: (1871 - 1914): Der Hecht. -- In: Alle Galgenlieder. -- 1938

Ein Hecht, vom heiligen Anton
bekehrt, beschloss, samt Frau und Sohn,
am vegetarischen Gedanken
moralisch sich emporzuranken.

Er aß seit jenem nur noch dies:
Seegras, Seerose und Seegrieß.
Doch Grieß, Gras, Rose floss, o Graus,
entsetzlich wieder hinten aus.

Der ganze Teich ward angesteckt.
Fünfhundert Fische sind verreckt.
Doch Sankt Anton, gerufen eilig,
sprach nichts als »Heilig! heilig! heilig!«


1947



Abb.: Caspar Walter Rauh (1912 - 1983): Den Lieben Gott suchen: In dieser Kirche suchen die armen Toten den Lieben Gott vergebens. -- 1947

[Bildquelle: Rauh, Caspar Walter <1912 - 1983>: Niemandsland : 48 Federzeichnungen mit begleitendem Text des Künstlers. -- München : Desch, 1948. -- 102 S. ; 8°. -- S. 61]



Abb.: Caspar Walter Rauh (1912 - 1983): Der tote Christus: Zerfällt auch das Bild des Gekreuzigten, das jenseitige Leere mit Hoffnung ausfüllte?. -- 1947

[Bildquelle: Rauh, Caspar Walter <1912 - 1983>: Niemandsland : 48 Federzeichnungen mit begleitendem Text des Künstlers. -- München : Desch, 1948. -- 102 S. ; 8°. -- S. 67] 61]


1950


Johannes R. Becher (1891 - 1958): Lob dem Schöpfer. -- 1950

Wir lassen nicht mehr einen Herrn
Sich über uns erheben.
Hoch über uns soll Stern an Stern
Am nächtgen Himmel schweben,

Und über uns wird Vollmondschein
Den Weltenraum durchdringen,
Weit über uns soll Sonne sein,
Soll Licht und Wärme bringen.

Zu Ende ist geträumt ein Traum,
Die alten Götter schweigen.
Unendlichkeit — gottleerer Raum.
Den wir im Flug ersteigen.

Es ist kein Raum für einen, der
Die anderen will bedrücken,
Und unten ist ein Raum nicht mehr
Für solche, die sich bücken.

So hat der Raum sich wunderbar
Ins Menschliche geweitet,
Und ist, der einst geschieden war,
Für alle hingebreitet.

Erhoben von der eignen Kraft,
Sei über uns und oben
Der Mensch, der neu die Welt erschafft!
Den Schöpfer lasst uns loben!


1971



Abb.: Gottesanbetung / von Siné (1928 - ). -- 1971


1998



Abb.: Ich folge dem Aufruf des Zentralkomitees der deutschen Katholiken zum Katholikentag 1998


1999


Rainer Schepper: [Das ist Christentum]. -- 1999

Im Anfang war der Betrug.
Und der Betrug war bei Gott,
Und der Betrug war Gott.
Dieser war im Anfang bei Gott.
Durch diesen ist alles manipuliert worden.
Und ohne ihn wäre nichts von dem.
Was geworden ist.
In ihm ist die Verneinung des Lebens.
Die Lebensverneinung bringt Finsternis über die Menschen.
Die Finsternis verhindert das Licht;
Allein das Licht hat die Finsternis nicht überwunden.

Erläuterung: Parodie auf Johannesevangelium 1, 1 - 5: "Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott.  Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht ergriffen."

[Quelle: Schepper, Rainer Wilhelm Maria <1927 - >: Das ist Christentum : Informationen aus zweitausend Jahren Geschichte ; das Kirchenjahr in 2471 historischen Daten (30. März 315 - 30. Juni 1998) / Rainer Schepper. -- Neustadt am Rübenberge : Lenz, 1999. -- 614 S. : Ill. -- ISBN 3-933037-11-5. -- S.


2004



Abb.: Joseph Kardinal Ratzinger (geb. 1927), Spezialist für theologische primäre Geschlechtsmerkmale [Bildquelle: http://www.domus-ecclesiae.de/magisterium/veliternum-signia.josephus-ratzinger.01.html. -- Zugriff am 2004-09-06]

Am 31. Mai 2004, dem Fest Mariä Heimsuchung, veröffentlicht  die Kongregation für die Glaubenslehre (Vorsitz: Joseph Kardinal Ratzinger) das von den "Lehraussagen der biblischen Anthropologie" inspirierte

SCHREIBEN AN DIE BISCHÖFE DER KATHOLISCHEN KIRCHE
ÜBER DIE ZUSAMMENARBEIT VON MANN UND FRAU
IN DER KIRCHE UND IN DER WELT

Zentrale Aussage ist der Satz:

"Mann und Frau sind von Beginn der Schöpfung an unterschieden und bleiben es in alle Ewigkeit."

[Offizielle Übersetzung: http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_con_cfaith_doc_20040731_collaboration_ge.html. -- Zugriff am 2004-09-06 

Dieser göttlichen Einsicht gingen lange Untersuchungen voraus, unter anderen im Priesterseminar St. Pölten (Österreich) und in der Vatikanischen Bibliothek.


Abb.: Bischof Kurt Krenn (geb. 1936), unter dessen oberhirtlicher Aufsicht das Priesterseminar St. Pölten gestanden ist [Bildquelle: http://stjosef.at/bischof.k.krenn/index.htm?nav/lebenslauf.htm~mainFrame. -- Zugriff am 2004-09-06]

Im Priesterseminar St. Pölten haben Priesteramtskandidaten monatelang in selbstlosem Einsatz tausende von Pornoseiten auf die primären Geschlechtsmerkmale hin untersucht. Sie stellten eindeutig fest, dass der zitierte Satz auch heute sowohl für Erwachsene als für Kinder uneingeschränkt gültig ist. In Tastversuchen wurde von der Leitung des Priesterseminars festgestellt, dass sogar Priesteramtskandidaten sich durch einen Penis von Frauen unterscheiden. Uneinsichtige österreichische Katholiken erzwangen leider durch massenhaften Kirchenaustritt, dass diese Institution der theologischen Grundlagenforschung geschlossen werden musste.

In der Vatikanischen Bibliothek liefen zeitgleich intensive historische Studien zu den primären Geschlechtsmerkmalen von Mann und Frau. Dazu ist diese Bibliothek wie keine zweite geeignet, da sie angeblich die größte Sammlung an Erotica auf der ganzen Welt besitzt (Päpste und die hohe Geistlichkeit waren immer schon sehr um das Geschlechtsleben besorgt).

Mit meinen bescheidenen Mitteln habe ich Stichproben zur Überprüfung obiger göttlicher Wahrheit gezogen und konnte keinerlei Widerlegung finden. Hier zwei Belege:


Abb.: "von Beginn der Schöpfung an ... unterschieden": Albrecht Dürer: Adam und Eva, 1504


Abb.: "unterschieden ... in alle Ewigkeit": Beginn des 20. Jahrhunderts

Ich empfehle obiges göttlich inspirierte Lehrschreiben wie alle Dokumente päpstlicher Lehre uneingeschränkt zur allgemeinen Erbauung und Erheiterung.

Gegeben zu Ofterdingen am 9. September 2004, am Fest des Heiligen Alexius von Tamsweg

Aloisius Maria Payer, Theologe aus Leidenschaft


2004-11-18


Abb.: Maria hat geholfen: Das wunderbare Käsebrot

Eine zehn Jahre alte Brotscheibe, durch deren Käsebelag angeblich das Antlitz der Gottesmutter Maria scheint, hat eine Hausfrau aus Florida zum Medienstar gemacht. Diana Duyser bot ihre alte Schnitte im Internet bei Ebay an - und erhielt am Mittwoch Angebote von knapp 100 Millionen Dollar. Die Auktionsfirma riet ihr daraufhin, die Bieter zu kontaktieren und Spaßvögel auszuschließen, sagte Sprecher Hani Durzy. Der Preis fiel sofort rapide.

Die 52-jährige aus Florida sagte der Zeitung „Miami Herald“, sie habe vor zehn Jahren in das Käsebrot gebissen und das Marienbild entdeckt. Seitdem lag das Brot in einer Plastikbox auf ihrem Nachttisch. In den zehn Jahren habe sich kein Schimmel gebildet. Sie habe sehr viel Kraft daraus gewonnen, sagte Duyser, und wolle das Wunder nun mit anderen teilen. Um Geld, sagt sie, geht es natürlich nicht. „Ich will nur, dass sie ein neues Zuhause bekommt.“


Nicht genau datiert (Todesdatum der Autoren ab 1900)


Der bestrafte Frevler : Eine wahre Begebenheit aus der neuesten Zeit

Munter, lustig und verwegen
Streifet Joseph durch die Flur,
Um ein Böcklein zu erlegen,
Kühn verfolgt er seine Spur.
Nach der Arbeit auf dem Feld,
Nur das Jagen ihm gefällt.

Wenn am Sonntag andre Leute
Sehnsuchtsvoll zur Kirche wall'n,
Hat der Joseph seine Freude
An der Büchse lust'gem Knall'n.
Die Geliebte oft ihn warnt,
Doch zu sehr hat's ihn umgarnt.

Frönt dem Laster, immer wieder
Treibet er den Frevel fort;
Annerl sinkt am Altar nieder,
Betet für ihn fort und fort.
Doch der Wilde mag nicht hör'n,
Will sich nimmermehr bekehr'n.

Auf der Jagd ist Joseph wieder,
Ein Gewitter zieht herauf,
Grelle Blitze zucken nieder,
Aber Joseph steigt bergauf,
Da, ein fürchterlicher Schlag!
Josephs Gut der Blitzstrahl traf.

Bald ist nur ein Aschenhaufen,
Haus und Hof, die Mutter gar
Könnt' dem Feuer nicht entlaufen,
Fand hier eine Totenbahr.
Als der Frevler kehrt zurück,
Sieht er sein zerstörtes Glück.

Härter noch wird sein Gemüte,
Finster treibt er sich umher;
Annerl aber wird nicht müde,
Ist die Arbeit noch so schwer.
Frech schießt nieder er das Wild,
Gott's Gebot ihm nichts mehr gilt.

Da, ein Aar mit starken Schwingen
Raubt das einzige, liebe Kind.
Niemand kann es wiederbringen,
Zu dem Nest trägt er's geschwind.
Annerl auf den Fels sich wagt,
Joseph folgt ihr unverzagt.

Ach, das Kind, es ist gerettet,
Beide drücken es ans Herz.
Im Neste war es weich gebettet,
In Freude wandelt sich der Schmerz.
Sie kehren von dem Fels zurück
und danken Gott für dieses Glück.

Ein andrer Mensch ist Joseph worden;
Zur Kirche sieht man ihn jetzt gehn.
Und an des Tempels heil'gen Pforten
Hat Gott erhört sein heißes Flehn.
Der Wohlstand kehret bei ihm ein,
Er mag nicht wieder Wildschütz sein.

[Quelle: Die Moritat vom Bänkelsang : wieder ans Licht geholt u. hrsg. Mit mehr oder weniger passenden An- u. Bemerkungen vers / Elsbeth Janda ; Fritz Nötzoldt. -- München : Ehrenwirth,: 1976. -- 174 S. : Ill. ; 17 cm. -- (Ehrenwirth-Bibliothek). -- ISBN 3-431-01807-6. -- S. 58ff.] 


Hieronymus Lorm (= Heinrich Landesmann) (1821 - 1902): Fromme Bücher

Aus Gottes Herzen ist die Welt entsprungen,
als seiner Liebe, seiner Huld Erscheinung!
So spricht die Katze, wenn ihr Fang gelungen —
die Maus doch ist nicht ganz der gleichen Meinung.
Zwar täglich kommt ein frommes Buch heraus,
doch nirgends fand ich widerlegt die Maus.


Paul Heyse <1830 - 1914>: Bittgang. -- In: Landschaften mit Staffage

Im Sonnenfeuer lechzt die Flur,
Versengt stehn Wälder und Almen,
Verschmachten muss die Kreatur,
Die Frucht verbrennt an den Halmen.

Das Bächlein, das ihr Kühle gesandt,
Verlernte fein muntres Rieseln;
Es glüht und glastet Julibrand
Über den staubigen Kieseln.

Ein Bauer stapft entlang dem Rain,
Ist einer von den Frommen
Und flucht doch still in den Bart hinein;
Da sieht er den Pfarrer kommen.

Er zieht die Kappe und weist umher:
Zugrund geht all der Segen.
Hochwürden, das Gescheitste wär',
Einen Bittgang tun um Regen.

Der Pfarrer nickt: Ein fromm Gebet
Tät not. Doch warten wir, Peter,
Zwei Täglein noch. Einstweilen steht
Zu hoch noch der Barometer.


Arthur Fitger (1840 - 1909): Hochzeit

Beim Pfarrer sind wir nicht gewesen;
Was ging sein Segensspruch uns an?
Wir sprengen dreimal übern Besen
Und hielten uns als Weib und Mann.

Wir luden keine Herrn und Damen,
Und kein Bankett hat uns umtobt,
Doch Sonne, Mond und Stern vernahmen,
Wie wir uns Treu um Treu gelobt.

Wir wechselten nicht güldne Ringe;
Wir gaben Lieb um Liebe hin;
Doch beut1 kein reicheres Brautgedinge
Der König seiner Königin.

Erläuterung:

1 beut = böte


Maximilian Bern (1849-1923): Kritik der Weltschöpfung.

Wenn ich der liebe Hergott war',
dann würde ich mich schämen
und diese Welt verbessert neu
zu schaffen mich bequemen.

Denn wahrlich, recht misslungen scheint
sie mir in manchem Teile,
was mich durchaus nicht wundernimmt,
denk' ich der großen Eile,

in der Gott dies, sein Erstlingswerk,
vollbracht in nur sechs Tagen,
anstatt mit seiner Schöpfung sich
noch manches Jahr zu plagen. —

Das Welterschaffen ist wohl schwer I
Drum, wenn ich's recht betrachte,
muss ich gesteh'n, dass einzelnes
Gott nicht so übel machte.

Zu früh nur fand er alles gut
mit selbstgefäll'ger Miene.
Nicht leugnen lässt sich sein Talent,
ihm fehlte bloß Routine.


Wilhelm Ludwig Rosenberg (1850 - 1928): Meines Vaters Glaubensbekenntnis

Einen Zettel hatt neulich der Lehrer geschickt
Für Vater und Mutter beide.
Mein Vater hat lachend darunter gesetzt:
"Memento!1 Ich bin ein Heide.

Ich glaube nicht, dass zum Jammertal
Die Erde ist auserkoren.
Ich glaube nicht, dass der Mensch auf ihr
Als Sünder ist geboren.

Ich glaube nicht, dass wir an Kreuz und Not,
An Schrecken und Tod solln denken,
Die Blicke von hier in ein Land des Spuks,
In düstere Nebel solln lenken.

Ich glaube nicht, dass wir demütiglich,
Zerknirscht die Knie solln beugen,
Vor einem strafenden, rächenden Gott,
Von dem viel Menschen zeugen.

Ich glaube auch an die Abtötung nicht
Des Fleisches und des Leibes,
An die Seele, geklärt von Leidenschaft,
Stumpf gegen die Liebe des Weibes.

Ich glaube nicht an die Durchgangstation
Der Erde als Vorplatz vom Himmel,
Trotz inbrunstvollstem Kirchengesang
Und lautestem Glockengebimmel.

[Hier konnte man Glockengebimmel einer christlichen Kirche hören. Die entsprechende Datei musste entfernt werden, da dies mehrere Bürger der betreffenden Gemeinde nicht erfreute!]

Ich glaub nur, dass man die Demut lehrt,
Damit die Dummen sich ducken
Und die Armen, Geknechteten, geistesblind,
Nicht ob ihrer Ketten mucken.

Damit sie geduldig sie schleppen dahin,
Als göttliche Strafe bewundert,
Für Sünden und Schuld, die das Menschengeschlecht
Belasten seit zwanzig Jahrhundert.

Ich glaub an die Schönheit der ewigen Welt,
Und die wahre, menschliche Güte,
An die Liebe und Freude, so wie das Kind
Glaubt an die Zuckertüte.

Ich glaub an das Licht des Geistes auch,
Und oft an gründliche Hiebe
Als Hebel und Fortschrittselement
Der tätigen Menschenliebe.

Ich glaub an ein Donnerwetter auch
Und glaub auch an die Rache
Der gekränkten Natur und an den Sieg
Einer heiligen, großen Sache.

Dies mein Bekenntnis, Herr Lehrer! Ich hoff,
Sie nehmens mir nicht zu Leide,
Und werden verstehn, warum ich bin
Mit Gruß

Ihr ergebener

Heide!"

Erläuterung:

1 memento (lateinisch): gedenke!


Wilhelm Ludwig Rosenberg (1850 - 1928): Der Gott der Reichen

Die Leute sagen, weiß nicht, ist's wahr?
Da hinter dem Sternengewimmel,
Da wohn ein allgewaltiger Herr
In einem prächtigen Freuden-Himmel.


Abb.: Gott ruht sich von der Schöpfung aus (und falls er nicht gestorben ist, ruht er heute noch) / Julius Schnorr von Carolsfeld (1794-1872 ), 1860

Der habe die Welt aus dem Nichts gemacht,
Die Menschen und Tiere und Bäume,
Wie ein Hexenmeister hab er erfüllt
Dereinst die Leere der Räume.

Auch sagt man: Er habe ein Paradies
Geschaffen im Garten von Eden,
Doch das sei, seit Adam drin Äpfel stahl
Geschlossen schon längst für Jeden.

Und drum schauen die Menschen zum Himmel auf,
Die Herzen voll Sehnsucht und Hoffen,
Als schlösse da oben ein Paradies
Von neuem der Herrgott offen.

Mein Lehrer sagt: Es nimmt tausend Jahr
Da hinauf zum Himmel zu fahren,
Selbst der Blitz, der brauchte zum letzten Stern
Allein an 500 Jahren.

Wie schad! Dass keiner empor da kann!
Ich wagte sonst wahrlich mein Leben,
Ich flöge hinauf im Luftballon,
Um's einmal dem Herrgott zu geben.

Ich sagte ihm dann: Deine Welt taugt Nichts,
Sie ist nur für Schlechte und Böse,
Und wenn du wirklich allmächtig bist,
Dann schnell die Armen erlöse.

Dann mache, dass Zehn nicht Alles ha'n
Und Tausend müssen hungern,
Dass Tausend zu Tode sich rackern fast,
Indessen die Wenigen lungern.

Dann gib der Mama ein neues Kleid,
Und dem Schwesterchen eine Puppe,
Und tu nicht so, als ob Alles dir
Auf Erden wäre schnuppe;

Als on du keine Ohren hättst
Und Augen nicht um zu schauen,
Dass, was auf der Erde geschieht, ist so,
Dass Menschen vor Menschen grauen;

Dass man denkt, du wärest bloß ein Gebild
Der Dummen und Schlauen nicht minder,
Wie die dumme Geschicht vom schwarzen Schaf
Zu erschrecken die kleinen Kinder.

Und das sag ich dir und das mein ich ernst,
Wenn du nicht bist Herrgott der Armen,
Dann fühl ich, wenn dir ein Malheur passiert
Im Himmel, für dich kein erbarmen.

Einen Herrgott für Reiche brauchen wir nicht,
Spräch ich zum Schluss nachdrücklich,
Und wie mein Papa, so lebte die Welt
Wohl ohne dich ebenso glücklich.


Wilhelm Ludwig Rosenberg (1850 - 1928): Der Weltenherrscher

Ich bin der Herrscher der ganzen Welt,
Der Herrgott der Menschenwesen,
Mich hat die Habgier und Intelligenz
Zur Allmacht auserlesen.

Ich stehe auf Säcken, gefüllt mit Gold,
Der Frucht der Menschenbienen,
Ich schwinge die Peitsche über sie,
Und zwinge sie, mir zu dienen.

Ich werfe die Saat der Verderbnis aus
Über alle Meere und Lande,
Ich lösche die Fackel der Hoffnung aus,
Füll den Sorgenbecher zum Rande.

Ich bin das verkörperte, selbstische Ich,
Die Bestie im Menschenkleide,
Sie erwürgt wie ein unersättlicher Wolf
Die Lämmer auf blühender Weide.


Abb.: Mich trägt die unendliche Schafsgeduld, die Trägheit der blökenden Massen [Bildquelle: http://www.earlychildhoodlinks.com/montessorians/catechesis.htm. -- Zugriff am 2004-11-24]

Mich trägt die unendliche Schafsgeduld,
Die Trägheit der blökenden Massen,
Die mit Versprechungen, Hunger und Not
Sich schinden und treten lassen.

Mein Thron steht fest auf Menschengebein.
Mich segnen als Herrscher die Pfaffen
Und ich bringe beim perlenden, schäumenden Wein
Ein Hoch auf die menschlichen Affen.


Jaroslav Vrchlicky (1853–1912): Auf Golgatha

Aus dem Tschechischen übersetzt von Felix Dörmann (= Felix Biedermann, 1870 - 1928)

Einsam ragt das Kreuz ins Dunkle,
Volk und Jünger flohn,
Nirgends eine Spur des Lebens
Tot der Menschensohn.

An den Speer gelehnt verharrte
Ein Soldat allein,
Unbewegt und ohne Rührung
Schien er, wie aus Stein.

Einzig diese Beiden blieben
Ob der Erde Bau,
Gott war tot — der Andre aber
Trotzig, fühllos, rauh.

Gott ersetzt beim Volk der Pfaffe,
Der ans Kreuz es schlägt,
Der Soldat blieb ohne Mitleid,
Trotzig, unbewegt.

Der Soldat am Kreuz der Menschheit
Langher Wache hält,
Gott ist tot — vergeblich fragst du:
Wem gehört die Welt?


Georg Schaumberg (1855 - 1931): Apokalypse

Wie im Buch der Bücher1 es prophezeit,
Wird kommen einst eine schreckliche Zeit.

Wo die Erde öffnet den Riesenschlund,
Die Wasser versiegen bis auf den Grund.

Wo erstarrt und verdorrt  was Leben heißt,
Der große Vernichter die Welt umkreist.


Abb.: Wassilij Korenj: Die vier Apokalyptischen Reiter. -- 1695

Doch jenen Zeiten voll Schrecken, voll Graus
Reiten als Boten drei Reiter2 voraus.

Wacht auf ihr Träumer, die Zeiten sind nah,
Schon sind die grausigen Boten da.

Sie haben über die Welt gebracht
Den Tod, das Elend die finstere Nacht.

Und sort, wo sie enden einst ihren Lauf,
Steigt mit Blut und Flammen das Chaos auf.

Fragt ihr mich, woher sie kommen die drei?
Aus Kaserne, Börse und Sakristei.

Erläuterungen:

1 nämlich im letzten Buch der Bibel, der Apokalypse bzw. Offenbarung des Johannes, in welcher in Visionen die Zukunft der Erde bis zum Weltende offenbart wird.

2 es sind vier! Apokalyptische Reiter: die vier im 6. Kapitel der Offenbarung Johannis geschilderten, aus den ersten vier Siegeln des Buches mit sieben Siegeln hervorgegangenen Reiter, die Pest, Krieg, Hungersnot und Tod symbolisieren. Sie sind häufig Gegenstand der bildenden Kunst gewesen:

Johannes-Apokalypse 6, 1- 8:

"Und ich sah, dass das Lamm der Siegel eines auftat; und hörte der vier Tiere eines sagen wie mit einer Donnerstimme: Komm! Und ich sah, und siehe, ein weißes Pferd. Und der daraufsaß, hatte einen Bogen; und ihm ward gegeben eine Krone, und er zog aus sieghaft, und das er siegte.

Und da es das andere Siegel auftat, hörte ich das andere Tier sagen: Komm! Und es ging heraus ein anderes Pferd, das war rot. Und dem, der daraufsaß, ward gegeben, den Frieden zu nehmen von der Erde und dass sie sich untereinander erwürgten; und ward ihm ein großes Schwert gegeben.

Und da es das dritte Siegel auftat, hörte ich das dritte Tier sagen: Komm! Und ich sah, und siehe, ein schwarzes Pferd. Und der daraufsaß, hatte eine Waage in seiner Hand. Und ich hörte eine Stimme unter den vier Tieren sagen: Ein Maß Weizen um einen Groschen und drei Maß Gerste um einen Groschen; und dem Öl und Wein tu kein Leid!

Und da es das vierte Siegel auftat, hörte ich die Stimme des vierten Tiers sagen: Komm! Und ich sah, und siehe, ein fahles Pferd. Und der daraufsaß, des Name hieß Tod, und die Hölle folgte ihm nach. Und ihnen ward Macht gegeben, zu töten das vierte Teil auf der Erde mit dem Schwert und Hunger und mit dem Tod und durch die Tiere auf Erden."


Friedrich Adler (1857 - 1938): Ein Gebet

Heut morgens hab ich ein Gebet vernommen,
wie noch kein bessres mir ans Ohr gekommen.
Es sprachs ein Weib, den Knaben an der Hand,
die mühsam sich durchs Marktgetümmel wand.
Der Knabe sah die Weihnachtsherrlichkeiten
und ließ begehrlich seine Blicke gleiten,
sie sprach und schaute freudig auf das Kind:
"Gib, Gott, nur Kraft, dass ich mich tüchtig schind!"



Abb.: Der beste Witwentrost: "Dieses Wasser fördert die Verdauung, reinigt den Magen, bewahrt den Schlaf vor unruhigen Träumen, verleiht eine frische und gesunde Gesichtsfarbe, und durch den Kauf erwirbt man überdies völligen Sündenablass für die Seele eines Verstorbenen." -- Karikatur von Théophile Alexandre Steinlen <1859 - 1923>

[Quelle:  Fuchs, Eduard <1870 - 1940>:  Die Frau in der Karikatur. -- 3. Aufl. -- München : Langen, 1928. -- 487 S. : Ill. -- S. 172]


Maurice Reinhold von Stern (1860 - 1938): Sonnenwende

Kirchenglocken hör ich schallen,
"Fromme" Pfaffen plärren drein,
Und die alten Geister wallen
Seh ich im verlassnen Hain;
Sie beklagen Odin's1 Ende —
Sonnenwende! Sonnenwende!


Abb.: Carl Gottlieb Peschel (1798 - 1879): Bonifatius fällt die heilige Eiche. -- 1856

In des Nazareners Namen
Traf die Axt den heilgen Baum2,
Mit dem Kreuz und mit dem Amen
Floh dahin Walhalla's3 Traum;
Scharfe Axt und Pfaffenhände —
Sonnenwende! Sonnenwende!

Längst vom Stamm die Blüten sanken,
Sturmwind braust durch Feld und Tal; —
Und es jagen sich Gedanken
Wolkengleich im "Himmelssaal".
Tiefer Schnee deckt das Gelände:
Sonnenwende! Sonnen wende!

In der Zukunft Ungewittern,
Eh der Freiheitsmorgen tagt,
Wird auch einst das Kreuz zersplittern,
Das den Eichbaum überragt!
Lodert hell, ihr Feuerbrände!
Sonnenwende! Sonnenwende!

Erläuterungen:

1 Odin = Wotan: germanischer Gott

2 heilgen Baum: die heilige Eiche des Gottes Donar, die der Heilige Bonifatius (Winfried) 723 bei Geismar fällte

3 Walhalla: ("Halle der Erschlagenen"), in der nordischen Mythologie der Aufenthaltsort für die in der Schlacht Gefallenen


Wenzel Breuer (1860 - ): Mein Glauben

Man sagt, ich hätte keinen Glauben mehr
Und gottlos hör ich gar oft mich nennen,
Weil ich um ihren Wahn mich nicht mehr scher,
Von dem sie einmal nun nicht lassen können.
Nun wohl, ich gebe zu, was sie da sagen,
Die frommen, guten und gescheiten Leute,
Doch was ich Bessres mag im Busen tragen,
Sie ahnen's nicht, was immer es bedeute.

Sie die so reden, ach, die wissen nicht,
Wie groß mein Glauben, Hoffen und mein Lieben.
Ich sag es ihnen ruhig ins Gesicht,
Sie haben selbst der Menschheit Gott vertrieben.
Gern wollt ich achten, was sie so verfechten
Und selbst auch glauben ihre Wundermären,
Wenn sie nur selbst die Wahrheit glauben möchten,
Ach, wenn sie selbst nur nicht so gottlos wären.

Warum glaubt ihr an einen lieben Gott,
Wollt ihr den Menschen nicht die Liebe lassen?
Wer wahrhaft liebt, ist Zielpunkt eurem Spott,
Die ganze Welt scheint nur ein Reich zum Hassen.
Dem Gott der Liebe will man nicht vergönnen
Ein armes Menschenherz, man muss es quälen;
Als ob daraus sie irgend Heil gewännen,
Wenn sie der Herzen Seligkeiten stehlen.

Drum glaub ich nicht, dass sie zum Seelenheil
Den einzig wahren weg gefunden haben;
Nicht eines Herzens Seligkeit ist feil
Mir um den Glauben, der sie untergraben.
Drum glaub ich nicht an Gott, der's ruhig sähe,
Wenn wir uns hassen, quälen und betrüben;
Ich glaube selig nur an Gottes Nähe,
Wenn wir einander recht vom Herzen lieben.


Carl Haupt (1863 - ): Mein Gebet

Ich geißle nimmer meinen Leib
Und rutsche blutig meine Kniee,
Verdrehe heuchelnd nicht mein Aug
Bis Abends spät von Morgens frühe.

Ich faste nicht um meine Sünd,
Ich fühl mich nicht dazu bewogen;
Die Toren, die es tun, däucht mir,
Die haben sich nur selbst betrogen.

Denn dazu ist der Mensch nicht da,
Dass ers ein Leben soll verkümmern;
Und alle fromme Narretei
Wird nur des Menscehn Los verschlimmern.

Nein! Wenn ich beten will zu Gott,
So sing ich eine schlichte Weise,
Von meinem Glück und meinem Leid
Und wer ist, der ihn besser preise? —


Otto Erich Hartleben (1864-1905): Jesus Christus

Du lebtest noch, so sagen sie und knien
Vor deinem Kreuzesholz, daran in Qual
Du hängst, und küssen deine Füße.

Sie sahn die Hunde mit dem Schweife wedeln,
Sich niederducken vor dem Fuß des Herrn
Und gingen hin und taten Gleiches.

Du lebtest noch, so sagen sie. Sie knieten
Vor keinem Menschen — vor dem höchsten Gott!
Denn du bist Gott und bist lebendig . . .

Ha! Wärest du's, du rissest von dem Nagel,
Dem martervollen, deinen Fuß — in Staub
Trätest du sie verachtend nieder!


Karl Henckell (1864 - 1929): Friedhof

Kein Salvenschuss, kein Trommelklang,
als sie den Freund begruben,
kein Sonnenschein, kein Lerchensang
war doch ein Held sein Leben lang
im Kampf mit großen Buben.

Der Herbstwind pfiff, sein Heulen schwoll,
die Weiden seufzten schaurig!
Die Schaufel voll, die Erde scholl,
verschränkten Armes stand der Groll
am Grabe stumm und traurig.

Kein Pfarrer drosch Unsterblichkeit,
kein Pfaffe grunzte Messen;
ein heilig Lied, ein schweigend Leid,
in ihrem dunklen Feierkleid
wehklagten die Zypressen.

So blieb die Menge drängend stehn,
als sich das Grab geschlossen;
da dröhnt es: Auseinandergehn!
Und schon war Helm an Helm zu sehn —
des Himmels Zähren flossen.

Nun flog ein Kranz mit rotem Band
wohl auf des Grabes Mitte;
und als er auf den Hügel sank,
da zogen schon die Wächter blank
der Zucht und frommen Sitte.

Von Leichenstein zu Leichenstein
die Klingen aus den Scheiden!
Auf Schädelstatt und Totenbein
sie hieben in die Massen ein —
da weinten alle Weiden.

Das freche Lärmen klirrt ans Ohr
der schlummernden Gerippe;
Entsetzen schlug den bleichen Chor,
und schwerbeleidigt fuhr empor
der Toten stille Sippe.

Der Regen goss, der Sturm schrie auf,
Blut floss um Kreuz und Hügel,
und ruhig von des Kranzes Schlauf
ein Vogel stieg gen Himmel auf
mit purpurrotem Flügel . . .


Karl Kaiser (1868 - ): Antagonismus1

So lang sich die Menschen glauben
Von einem Gott "gemacht",
Werden sie meucheln und rauben
In tierischer Geistesnacht.

Erst wenn die Erkenntnis Funken
Zu Flammen bläst, darwinhell
Werden sie göttlich und prunken
Nicht länger im tierischen Fell.

Zwei Hirnhauthalbkugeln uns lenken,
Gemeinsam — und doch getrennt —
Kein Wunder, wenn solchem Denken
Der Widerspruch immanent.

Erläuterung:

1 Antagonismus: (griechisch "Widerstreit"): der Widerstand zweier entgegengesetzter Kräfte gegeneinander


Karl Kaiser (1868 - ): Wahrheitsdrang

Erkläret mir doch jenen Strahl,
Der aus den Augen leuchtet,
Bald hoffnungsreich, bald düster, fahl,
Bald schmerzensvoll befeuchtet.

Ein Strahl ist es voll Lust und Pein,
Wie soll ich ihn verstehn?
Das ist der Glanz und Widerschein
Rebellischer Ideen.

Auf mancher bleichen Menschenstirn
Aufflammet ihre Fährte,
Sie machen sich jed grübelnd Hirn
Zu ihrem Feuerherde.

Erkenntnis brennet lichterloh
Die frommen Glaubenskrücken,
Aufflackern sie wie trocknes Stroh
Vor den erstaunten Blicken.


Abb.: Dem Ohr verhallt der Kirchgesang [Bildquelle: http://www.evang-kirche-eysoelden.de/aktgeme3.htm. -- Zugriff am 2004-11-23]

Dem Ohr verhallt der Kirchgesang,
Der frommen Mutter Lehren,
Ins Herz hinein zieht Wahrheitsdrang,
Und lässt sich nicht beschwören.

Er möchte folgen jeder Spur —
Und sieht in Nacht sie schwinden,
Er möcht ergründen die Natur —
Und zweifelt an den Gründen.

Wen diese innre Glut erfasst,
Der ist nicht zu beneiden.
Tief hassend und auch tief gehasst
Wird er durchs Leben schreiten.

Er sieht ringsum die Unvernunft
Sich spreizen und sich wiegen,
Ausrotten möchte er die Zunft
Althergebrachter Lügen.

Allein sein Wissen ist noch schwach,
Er selbst nicht frei vom Schwanken,
Und unter jedem Schädeldach
Sind andere Gedanken.

Muss oft sich fragen herzbeklemmt:
Was hilft dein Stirnerunzeln,
So lang sich dir entgegenstemmt
Dies fromm zufriedne Schmunzeln.


Abb.: Dies fromm zufriedne Schmunzeln: Christoph Kardinal Schönborn, Erzbischof von Wien [Bildquelle: http://worldroots.com/brigitte/gifs28/christophschoenborn1945-2.jpg. -- Zugriff am 2004-11-23]

So lang man noch den Zweifel flieht
Und wahre Geistespflege,
So lang man noch das Kind erzieht
Zum Glauben und durch Schläge?

Dann wird es ihm so trüb und schwer —
Und, kaum kann ers recht fassen —
Kommts über ihn — als müsste er
Die ganze Menschheit hassen.


Karl Kaiser (1868 - ): Auch dann nicht!

Für die feigen Sklavenseelen
Mag ein Gott am Platze sein,
Dass sie ihre frommen Kehlen
Bettelnd können heiser schrein.

Aber wer in stolzen, freien
Anschauungen eingelebt
Wird nicht nach dem Himmel schreien
Selbst wenn ihn der Tod umschwebt.

Lebenslust wir jäh erwachen,
Niederringen wird er sie
Stöhnen wird er oder lachen,
Aber beten wird er nie.


Eduard Fuchs (1870 - 1940): Skeptizismus

Die Fata Morgana vom Himmelreichsglück
Zerflossen ist vor meinen Augen,
In der Erkenntnis hell leuchtendem Licht
Die Götter mir längst nichts mehr taugen.

Vor denen ich einst auf den Knieen gerutscht,
Sie liegen in Scherben am Boden,
Mit rüstigem Denken erricht ich mir nun
Jetzt neue an Stelle der toten.

Und schau ich die neuen Göttergestalten,
Der Alten hell lachende Erben:
"Wie lange?" zieht höhnend es durch mein Gehirn,
Und auch sie, sie liegen im Sterben.


Eduard Fuchs (1870 - 1940): Ein Nichtglaubens-Bekenntnis

Gebrochen und zerrissen sind die Bande
Moralität und Heuchelei;
Was einst mein ganzes Ich umspannte,
Gestorben ist es — ich bin frei! —
Ja frei, o welch ein Hohn
Gen alles Hergebrachte
Durchzieht die Brust, wenn aus des Hirnes Schachte
Dogmatscher Firlefanz entflohn.
Ich lach der altersgrauen Sitten
Einst hoch und heilig, jetzt zum Spott;
Ich kenn kein flehentliches Bitten
Zum Christen- oder Geldsacksgott.
Es sind die grauen Nervenstränge
Jetzt Leiter anderer Ideen
Und seit abwegs der großen Menge
Erlernet erst mein Geist das Gehen.
Ich fülle nicht mit "Idealen"
Den Kopf mit utopistscher Schwärmerei,
Und ob auch tausend sie empfahlen,
Erbarmungslos reiß sie entzwei.
Es taucht mein Geist in der Erkenntnis Labyrinthe
Als Pionier der neuen Zeit,
Und was ich schreib, schreib ich mit Herzbluts Tinte
Bis wir vom Zwang des Alten sind befreit.
Und ihr, ihr faden, seichten Schwätzer
Nennt ihr mich wütend einen Hetzer,
So spott ich euer.
Nennt ihr mein Denken unmoralisch,
Mein Tun und Treiben kannibalisch,
Dann brech ich aus in eine Lache
Und stimme an ein Lied der Rache.


Anton Behr: Das Paradies

Noch immer narrt man dich mit blöden Sagen,
Und füttert dich mit schnöden Lügen groß,
Es tröstet noch der schwarze Heuchlertross
Dich mit des Jenseits schönen, goldnen Tagen,
Da dir schon unerträglich wird die schwere Last,
Die du jahrein, jahraus zu tragen hast.

Man faselt dir dann vor von einem Paradiese,
Wo du entschädigt wirst für alles Leid,
Und wo das Herrlichste für den bereit,
Der hier auf Erden brav sich schinden ließe.
Drum dulde nur auf dieser Welt die größte Pein,
Dann wird der Himmel dir stets offen sein.

Nie in Verlegenheit, um Mittel zu erfinden,
Dir zu erhalten immer die Geduld,
Wächst täglich ihre riesenmäßge Schuld
Und du, du lässt dich ruhig weiter schinden,
Dieweil sie herrlich leben und in Saus und Braus
Und dir das Fell noch ziehn womöglich aus.

O reibe endlich dir den Schlaf aus deinen Augen,
Damit du siehst der Schurken frevelnd Spiel.
Setz ihrem Treiben endlich du ein Ziel,
Lass nimmer sie von deinem Marke saugen,
Auf Erden schaffe lieber dir ein Paradies,
Dann ist der Lohn für deine Müh gewiss.


Erich Mühsam (1878 - 1934): Ewiges Diesseits

Löscht die Lichter aus auf den Altären!
Nicht in Kirchen und in Synagogen
sucht den Gott, noch hinter Himmelsschleiern.
Wo der Perlschaum quirlt auf Meereswogen,
wo der Wind kämmt über blonden Ähren
und im Bergschnee mögt ihr Andacht feiern.

Besser noch: am eignen Feuerherde,
in der Einung mit dem nackten Weibe
lasst euch heilige Weihe überkommen.
Wenn die Seele eins wird mit dem Leibe
und die Stunde zeitlos auf der Erde,
dann erzeugt ihr Gott in euch, ihr Frommen!

Alles keimt zugleich und blüht und schwindet.
Wenn ihr Wein trinkt, sollt ihr schon die Reben
für die neue Ernte reifen wissen.
Diesseits, irdisch ist das ewige Leben!
Was den Menschen an die Menschheit bindet,
wird von keinem Tode je zerrissen.


Erich Mühsam (1878 - 1934): Heilige Nacht

Geboren ward zu Bethlehem
ein Kindlein aus dem Stamme Sem.
Und ist es auch schon lange her,
seit's in der Krippe lag,
so freun sich doch die Menschen sehr
bis auf den heutigen Tag.
Minister und Agrarier,
Bourgeois und Proletarier -
es feiert jeder Arier
zu gleicher Zeit und überall
die Christgeburt im Rindviehstall.
(Das Volk allein, dem es geschah,
das feiert lieber Chanukah1.)

Erläuterung:

1 Zu Chanukka siehe

Payer, Alois <1944 - >: Judentum als Lebensform. -- 13. Chanukka. --  (Materialien zur Religionswissenschaft). -- URL: http://www.payer.de/judentum/jud513.htm. -- Zugriff am 2004-12-20]


Erich Mühsam (1878 - 1934): Ich möchte Gott sein ...

Ich möchte Gott sein und Gebete hören
und meine Schutz versagen können
und Menschenherzen zunichte brennen
und Seelenopfer begehren.
Und möchte Erde, Welt und All vernichten
und Trümmerhaufen über Trümmer schichten.
Dann müsste ein Neues entstehn
und das ließ ich wieder vergehn.

 


Fred Endrikat (1890 - 1942): Unzulänglichkeit

Was Gott tut, das ist wohlgetan,
das stimmt in vielen Regeln.
Er lenkt den Stern in seiner Bahn,
er lenkt den Strom zum Ozean;
er lenkt den Mensch in seinem Wahn,
er lenkt sogar des Tigers Zahn,
nur nicht den Ball beim Kegeln.


Oskar Maria Graf (1894 - 1967):  Etwas über den Bayerischen Humor <Ausschnitt>

Bei uns nennt man alles beim richtigen Namen, keine Deutlichkeit schreckt uns. Alles ist schlechthin menschlich und infolgedessen nicht allzu wichtig. Vor allem aber bei uns ist man noch immer unangekränkelt katholisch, und das schaut so aus:

Ein alter Bauer sitzt nach Feierabend auf der Bank vor seinem Haus und schaut sinnend vor sich hin. Er sinnt und sinnt, und die andern neben ihm denken auch stumm. Auf einmal schnauft der alte Bauer kräftig und sagt aus einer tiefen Betrachtung heraus: »Hm, lacha, tat i, wenn mir an falschen Glauben hätt'n!«

Wir alle haben seit Urväterzeiten den Katechismus auswendig gelernt, und natürlicherweise ist's brauchmäßige Gewohnheit bei uns, dass man seine kirchlichen Pflichten erfüllt, aber glauben? Glauben tun wir bloß eins: Alles, was auf der Welt ist, vergeht. Jeder Mensch muss einmal sterben, da hilft ihm alles nichts. Und weil uns das schon schier ins Blut übergegangen ist, weil wir gewissermaßen mit dieser instinktmäßigen Voraussetzung an alles herangehen, so kann man sich ausmalen, dass wir vor nichts Respekt haben, vor uns selber sowenig wie vor anderen Leuten.

[Quelle: Graf, Oskar Maria <1894 - 1967>: Das Oskar-Maria-Graf-Lesebuch / hrsg. von Hans Dollinger. Mit einem Geleitwort von Will Schaber. -- München ; Leipzig : List, ©1993. -- 351 S. ; 20 cm. -- ISBN: 3-471-77670-2. -- S. 205]


Anonym: Halleluja!


Abb.: Was gehn den Papst im Vatikan denn eigentlich unsere Bäuche an

1. Was gehn den Papst im Vatikan
denn eigentlich unsere Bäuche an,
der niemals selbst ein Kind gebar?
halleluja!

2. Das Kirchenvolk im ganzen Land
glaubt an den heiligen Ehestand
und auch an die Enzyklika1
halleluja!

3. Die Kirchenmänner alt und morsch
die reiten auf dem Klapperstorch.
Wer dumm, bleibt fromm, ein Kind pro Jahr,
halleluja!

4. Willst du kein Kind, du kriegst es doch,
sonst hätt die ganze Moral ein Loch.
Die Lust ist schließlich zum Zeugen da.
halleluja!

5. Und treibst du ab - das darfst du nicht,
Kinder gebären ist Weibespflicht.
Später verrecken können sie ja.
halleluja!

6. Doch hast du Geld, bist angesehen,
kannst du zum Onkel Doktor gehn,
der macht dirs weg im Nu, na klar,
halleluja!

7. Und bist du arm, schickt er dich weg.
Für ihn bist du der letzte Dreck.
So schützt man Leben, das ist wahr,
halleluja!

8. In Karlsruh sitzen der Richter2 acht,
die halten übers Gesetz die Wacht,
dass alles bleibt, wies immer war.
halleluja!

9. Das Frauenschicksal, alt bewährt,
ist Kirche, Kinder, Heim und Herd.
Damit soll'n wir zufrieden sein?
hallelu-NEIN!

Erläuterungen:

1 Enzyklika Papst Pauls VI.. über die rechte Ordnung der Weitergabe menschlichen Lebens (Humanae vitae) vom 25. Juli 1968

2 beim Bundesverfassungsgericht: 1975 erklärt Bundesverfassungsgericht die im Bundestag beschlossene Fristenregelung für "nicht verfassungsgemäß", denn vom 14. Tag der Schwangerschaft an sei der Embryo "werdendes Leben", das gemäß Art. 2 des Grundgesetzes zu schützen sei.

[Quelle: "Freiheit lebet nur im Liede" : das politische Lied in Deutschland. Eine Ausstellung des Bundesarchivs in Verbindung mit dem Deutschen Volksliedarchiv Freiburg i. Br. / [hrsg. von] Tilman Koops ... -- 2., erw. Aufl. -- Koblenz : Bundesarchiv, 1995. -- 160 S. : Ill. -- (Kataloge zu Ausstellungen des Bundesarchivs ; 21). -- ISBN 3-89192-036-9. -- S. 132f.]


Zu: Antiklerikale Karikaturen und Satiren XXV: Kirche und Staat, Kirche und Politik

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