Religionskritik

Antiklerikale Karikaturen und Satiren XXVI:

Moralapostel und Heuchelei


kompiliert und herausgegeben von Alois Payer

(payer@payer.de)


Zitierweise / cite as:

Antiklerikale Karikaturen und Satiren XXVI: Moralapostel und Heuchelei  / kompiliert und hrsg. von Alois Payer. -- Fassung vom 2005-02-06. -- URL:  http://www.payer.de/religionskritik/karikaturen26.htm    

Erstmals publiziert: 2004-05-28

Überarbeitungen: 2005-02-06 [Ergänzungen]; 2004-12-15 [Ergänzungen]; 2004-11-17 [Ergänzungen];  2004-10-08 [Ergänzungen]; 2004-07-27 [Ergänzungen]; 2004-07-08 [Ergänzungen]; 2004-06-22 [Ergänzungen]

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Dieser Text ist Teil der Abteilung Religionskritik  von Tüpfli's Global Village Library


1654


Friedrich von Logau (1604 - 1655): Heuchler. -- 1654

Kirchen-gehen, Predigt-hören,
Singen, beten, andre lehren,
Seufzen und gen Himmel schauen,
Nichts als nur vom Gott-vertrauen
Und vom glauben und vom lieben
Und von andrem Guts-verüben
Reden führen: ich will meinen,
Die es tun, Gott sind die deinen.
O, noch lange nicht! im Rücken
Schmützen und von vormen schmücken,
Seinen Nächsten hassen, neiden,
Dessen bestes stets vermeiden,
Dessen Nachtheil emsig stiften,
Zungen-Honig, Herzens-Giften,
Jenes außen, dieses innen
Lieblich, tückisch führen künnen:
Meinstu, dass dem Christen-Leben
Beides ähnlich sei und eben?
Gott hat neben sich gesetzet
Auch den Nächsten; wird verletzet
Durch den Dienst, der ihn gleich liebet
Und den Nächsten übergibet;
Halbe Christen sind zu nennen,
Die da Gott und Nächsten trennen.


Friedrich von Logau (1604 - 1655): Die Faste. -- 1654

So gute Fische häufig essen,
So ohne Maß den Wein vermessen
So viel als fasten heißen soll,
So fastet der so gut und wohl,
Der, wann er will ein Huhn verzehren,
Nur meint, als wann es Fische wären.


1663


Andreas Gryphius (1616-1664): Auf den  [Prediger] Selius

Du lebst nicht wie du lehrst, dies ärgert die Gemein',
Dass Lehr und Leben nicht bei dir stimm' überein.
Sie irret: du bist recht; du zeigest uns mit beiden;
Durch Lehren was zu tun, durch Taten was zu meiden.


1697


Christian Wernicke (1661-1725): Auf den scheinheiligen Thrax. -- 1697

Thrax spricht, wenn ich ihn unverwacht
Bei einer schönen Thais finde;
Sein Amt hab' ihn hieher gebracht,
Um sie von ihrer schnöden Sünde
Durch seinen treuen Unterricht
Gewissenhaftig abzuschrecken:
Er wärmt sich an der Sonn', und spricht,
Er schaue nur nach ihren Flecken.


1712


Christoph Woltereck (1686 - 1735): Die verkehre Welt. -- 1712

Mein Christ! betrachte doch die umgetaufte Welt.
Der schwärzsten Sündenbrut sein ganzes Herz ergeben
Heißt: nach galanter Art frei und ergötzlich leben.

Wer sich dem Geiz ergibt und Wuchern zugesellt,
Der liebt die Sparsamkeit und ist ein Nahrungsheld.
Durch Pracht und Hoffart sich mit stolzem Geist erheben
Heißt: nach der Nettigkeit, nach Ehr und Großmut streben.

Die Arglist nennet man politisch sich gestellt.
Der Fress- und Sauflust sich aufs üppigste verschreiben
Heißt: in Gesellschaft ihm den Trauergeist vertreiben.

Räumt man der Flatterie das Tor des Herzens ein,
So heißt das: seinen Hut recht nach dem Winde setzen;
Und endlich, Gottes Wort wie taube Nüsse schätzen,
Nicht in der großen Schar der blassen Heuchler sein.


1762


Magnus Gottfried Lichtwer (1719 - 1783): Das Pferd und der Esel. -- 1762

Ein sattes Pferd ging von der Krippe
Und fiel vor Wollust auf die Streu,
Ein dürrer Esel stund dabei,
Kein Esel, sondern ein Gerippe.
Den redete der Hengst mit diesen Worten an:
„Wie geht es, guter Greis! du scheinst mir ziemlich hager,
Bist du nicht recht gesund? macht dich der Gram so mager?'

„Ach!" sprach das Müllertier, „das hat es nicht getan,
Der Hunger und das viele Tragen,
Des Treibers Fluchen, Stoßen, Schlagen,
Mit einem Wort, mein Freund, die Not ist schuld daran.
O käme nur der Tod, das Ende meiner Plagen!"

„Ob es dir schon so elend geht",
Erwiderte der Gaul, „so sollst du doch nicht klagen;
Ein Weiser trägt die Not, die nicht zu ändern steht,
Du leidest nicht allein, und kurz, was willst du machen?
Das Schicksal tut, was ihm gefällt,
Dem wird das Leben süß, und dem wird es vergällt,
Das Weinen nützt oft mehr als Lachen."

Da sprach das graue Tier: „Dein Bauch ist voll und satt,
Und deine Weisheit stammt aus dem gefüllten Magen."

———

Der hat gut predigen und von Verleugnung sagen,
Der selber keine Sorgen hat.


1765


Gottlieb Konrad Pfeffel <1736 - 1809>: Der Fuchs und das Eichhorn. -- 1765

Der Attila für Huhn und Hähne,
Herr Fuchs, war alt und wohlbetagt;
Er kam um alle seine Zähne
Und ward vom Podagra geplagt.
Das alte deutsche Sprichwort sagt:
Der allerärgste Schelm auf Erden
Muss noch zuletzt ein Mucker werden.
Warum? Ist hier die Frage nicht;
Genug, der alte Bösewicht
Begann itzt seine Räubereien
Durch Seufzen, Fasten und Kasteyen,
Vor allen Tieren zu bereuen.
Mit tränenvollem Angesicht
Trat er nach den zermalmten Knochen
Von einem jungen Auerhahn,
Dem er nur erst vor wenig Wochen
Mit schlauer Wut den Hals gebrochen,
Voll Andacht eine Wallfahrt an.
Er wählte sich die rauhsten Stege,
Die man im Wald nur finden kann
Und traf auf seinem weiten Wege
Ein junges rasches Eichhorn an.
Er sah es mit vergnügten Sprüngen
Sich auf die höchsten Wipfel schwingen,
Und schnell erhebt sich in der Brust
Des Büßers eine fromme Lust,
Sich an dem Tänzer zu erbauen
Und ihn von nahem zu beschauen.
Sei mir gegrüßet, lieber Sohn,
So sprach er in gebrochnem Ton,
Ich sehe mit vergnügtem Herzen
Dich so beglückt, so sorgenfrei,
Des Lebens Gram vorüberscherzen.
Doch ich gestehe dir dabei,
Dass ich auf meinen Pilgerzügen
An der entfernten Wolga Strand
Vorlängst ein weißes Eichhorn fand,
Das in der seltnen Kunst zu fliegen
Es dir noch weit zuvor getan.
Der Vorwurf kränkte Mäzchens Ehre.
Ich dächte, hub es höhnisch an,
Dass ich kein Klotz im Springen wäre.
O! sprach der Alte, glaube mir,
Du kannst mit jenem Wundertier
Auf keine Weise dich vergleichen.
Es drückte fest die Augen zu
Und konnte doch so flink wie du
Die Wipfel tausendjährger Eichen
Mit einem sichern Flug durchstreichen.
Ha, sprach das Eichhorn, blöder Greis!
Das kann ich auch, so viel ich weiß.
Es schließet flugs die Augenlieder,
Nimmt einen ungemessnen Satz
Und stürzet auf den Rasenplatz
Zu Meister Fuchsens Füßen nieder,
Der plötzlich alle seine Kraft
Verräterisch zusammenrafft,
Um unsern Springer bei dem Nacken
Mit scharfen Krallen anzupacken.
Das Eichhorn schrie: Barmherzigkeit!
Herr Fuchs, der Spaß geht allzuweit;
Sie tun als wollten Sie mich fressen.
Nur sachte, lieber kleiner Sohn,
Sprach Reinecke mit bitterm Hohn,
Ich habe längst den Spaß vergessen
Und suche mir ein Abendessen.
Auf diesen freundlichen Bericht
Rief Mäzchen voller Angst und Grauen:
O Zeus ... jedoch ich murre nicht;
Ein zu gerechtes Strafgericht
Gibt mich in dieses Heuchlers Klauen;
Allein du falscher Bösewicht,
Der lachend mir den Nacken bricht,
Ich sah dich erst als Pilger wallen,
Ich hörte dein Gebet erschallen,
Und nun dankst du den Göttern nicht,
Die dir ein fettes Mahl bescheren?
Ein Heuchler will auch selbst zur Zeit,
Wenn er den Arm dem Laster leiht,
Die Welt durch falschen Schein betören.
Der alte Schelm war schon bereit
Den Leckerbissen aufzuzehren;
Doch itzt sieht er ein Haselhuhn
In einem niedern Busche ruhn.
Ich muss mich, denkt er, nicht verraten,
Hier gibt ein zweites Meisterstück
Vielleicht mir einen zweiten Braten.
Voll Andacht kehrt er seinen Blick
Nach des Olymps lazurnen Kreisen
Und faltet, um den Zeus zu preisen,
Der Pfoten blutgefärbtes Paar.
Das Eichhorn nimmt des Zeitpunkts wahr,
Und schneller als des Habichts Schwingen
Durch die zerteilten Lüfte dringen,
Erreicht es einen sichern Ast.
Hier sah es unter tausend Flüchen
Den Gaudieb sich vor Scham verkriechen,
Und rief ihm nach: Mein frommer Gast
Willst du hinfort ein Eichhorn speisen,
So musst du nie die Götter preisen,
Als bis du es verzehret hast.


1771


Gotthold Ephraim Lessing (1729 - 1781):  Auf den Sanktulus (In: Sinngedichte, 1771)

Dem Alter nah, und schwach an Kräften,
Entschlägt sich Sanktulus der Welt
Und allen weltlichen Geschäften,
Von denen keins ihm mehr gefällt.
Die kleine trübe Neige Leben
Ist er in seinem Gott gemeint,
Der geistlichen Beschauung zu ergeben;
Ist weder Vater mehr, noch Bürger mehr, noch Freund.
Zwar sagt man, daß ein trauter Knecht
Des Abends durch die Hintertüre
Manch hübsches Mädchen zu ihm führe.
Doch, böse Welt, wie ungerecht!
Ihm so was übel auszulegen!
Auch das geschieht bloß der Beschauung wegen.


1789


Karl Gustav von Brinkmann (1764 - 1847): Die Betende. -- 1789

Dass doch der Neid nicht selbst errötet,
Der Trullas Gottesfurcht in Zweifel ziehen kann;
Die kennt ja doch wohl jedermann,
Da sie nicht ohne Zeugen betet.


1798



Abb.: Die kirchliche Prüfungskommission bei der Arbeit. -- England. -- 1798

[Quelle:  Fuchs, Eduard <1870 - 1940>:  Die Frau in der Karikatur. -- 3. Aufl. -- München : Langen, 1928. -- 487 S. : Ill. -- Nach S. 244]


1803


Gottlieb Konrad Pfeffel <1736 - 1809>: Pastor Duns. -- 1803
Nur dreimal kräht der Hahn und stracks erwacht Sankt Peter,
Der schwere Sünder, auf sein Schrein.
Zwo ganze Stunden kräht Herr Duns, der Bußtrompeter,
Und alle Sünder schlafen ein.

Ernst Theodor Johann Brückner (1746 - 1805): Lehrer und Zuhörer. -- 1803

Die christliche Gemeinde dieses Orts
Besteht aus Lehrern
Und aus Zuhörern.
Wo sind denn die Täter des Worts.


1807



Abb.: Der entrüstete Bischof. -- England. -- 1807

[Quelle:  Fuchs, Eduard <1870 - 1940>:  Die Frau in der Karikatur. -- 3. Aufl. -- München : Langen, 1928. -- 487 S. : Ill. -- S. 425]


1808


Gottlieb Konrad Pfeffel (1736 - 1809): Der Bußprediger. -- 1808

Der wilde Pater Chrisolog,
Der täglich neue Ketzer machte
Und täglich neue Wunder log,
Die selbst der Pöbel oft belachte,
Stieg einst, es war zur Faschingszeit,
Auf einen Eckstein, um zu lehren
Und von dem Dienst der Eitelkeit
Das Volk zur Buße zu bekehren.
Schon hatte der erhitzte Streit
Mit Sünd und Teufel angehoben,
Als ein Hanswurst mit lautem Toben
Der Hörer dichten Damm durchbrach.
Schnell ward der Prediger verlassen;
Janhagel lief durch alle Gassen,
Dem bunten Pickelhering nach.
Der Mönch ergrimmte: Welche Schmach,
Rief er, ein Auswürfling der Hölle,
Ein Narr, entlocket euch der Quelle
Des Heils und tötet euern Durst
Nach Weisheit. Ach! ihr seid verloren!
Bin ich, ihr Gottsvergessne Toren,
Denn nicht so gut, als ein Hanswurst?


1819


Franz Grillparzer (1791-1872): Aus: Zwei Oberländer Lieder. -- 1819

D' Luzind hat mir g'schrieben,
Will jetzt sich bekehrn,
Wann d'Hurn amal alt sin,
Tans Betschwestern wern.

Erläuterung: Bezieht sich auf  Friedrich Schlegel (1772 - 1829): Roman "Lucinde" (1799)


1820


Franz Grillparzer (1791-1872): Die Büssende. -- 1820

Der frommen Buße Dauer zu vermehren
Wie einst Penelope im Freier-Hauf
Was du bei Tag erwirkt an Kirchen und Altären,
Trennst du bei Nacht geduldig wieder auf.

Erläuterung:

"Penelope war die Frau Odysseus' und die Mutter des Telemachos.

Penelope, eine spartanische Prinzessin, ist das Muster einer treuen Ehefrau. Sie weiß ihre zahlreichen Freier zu vertrösten, indem sie vorgibt, sie müsse erst ein Totentuch für ihren Schwiegervater weben, und regelmäßig in der Nacht wieder auftrennt, was sie am Tag gewebt hat. Das geht drei Jahre gut, bis eine Dienerin sie verrät und die Freier sie bei ihrem nächtlichen Treiben überraschen (Odyssee II 93-110; XIX 134-156). Die Odyssee endet mit der Heimkehr des Odysseus (auf die Penelope 20 Jahre warten musste) und der Bestrafung der Freier."

[Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Penelope. -- Zugriff am 2004-06-17] 


1836


Adolf Glaßbrenner (1810 - 1876): Guckkästner <Auszug>. -- 1836

Guckkästner: Keine dumme Bemerkungen, Musje! Die Engländer singen Jott seeft det Kind, halten dabei ihre Rechte aufrecht, un essen Pudding. — Rrrr! ein anderes Bild! — Auf diesem Bilde, welches von einem Maler nach der Natur gezeichnet is, präsentirt sich Ihnen die schöne Stadt Königsberg in Preußen bei brillanter Erleuchtung. Sie sehen vorne den Fluss, an welchem sie liegt, die Prüjel, über welche sieben Brücken führen, und sich in den frischen Hafen erjießen. Sie sehen in der Ferne das Achmiralitäts-Collejum und die Uneversetät, wo die Studenten studieren, nich weit davon das Rejierungsjebäude, den Kneiphof un die Börse; auch der lange Schlossteich is zu sehen, in welchem schon König Ottokar von Böhmen jeanjelt hat. —Vorne jeht ein Mucker!

Dritter Junge: En Mucker, wat isdenn det?

Guckkästner: Ein Mucker, das ist eine Versammlung von Menschen, die sich ausziehen und fromm sind. Dieser, welchen Sie da sehen, kommt eben von einer Jräfin, mit welcher er auf den Sopha über den neuen Messias nachjedacht hat; er ist aber verdrieslich, weil es vielleicht ein Mächen werden könnte. Do-retheee, einen Schnaps!


1842


Johannes Scherr (1817 - 1866): An die Verstockten. -- 1842

I

Ihr dauert mich, ihr armen Freiheitsritter,
Die offne Fehde ihr dem Wahn geboten,
Die ihr das Tote warf et zu den Toten,
Des Unkrauts Saaten mähtet, rüst'ge Schnitter.

Geht, eure Pillen sind uns allzu bitter,
Gebt Milch und Honig, leckt dem Volk die Pfoten,
Verdreht die Augen, reißt mitunter Zoten,
Verbrämet sie mit frömmelndem Geflitter.

Dann rufen „Heil euch!" alle Pietisten,
Dann wird auf euch man mit den Fingern zeigen:
Seht da den Tugendmann, den Glaubensstreiter!

Ihr werdet in dem Schoß der Kirche nisten
Und fest stehn auf des Glückes schwanker Leiter,
Der Himmel hängt euch allen voller Geigen.

II

O lasst sie gehn einmal die schlechten Witze
Von Freiheit, Gleichheit, Wahrheit und dergleichen,
Ihr werdet nimmer euer Ziel erreichen -
Entschlaget euch der tollen Fieberhitze!

Wem in den Händen ruhn des Goldes Blitze,
Dem müssen Freiheit, Gleichheit, Wahrheit weichen,
Der mag behaglich seinen Bauch sich streichen,
Und schmunzelnd schrein von seinem weichen Sitze:

Kein Gott, als Geld! Der Reiche sein Prophet!
Wer anders glaubt, der glaubet an Lappalien,
Uns, unserm Gott, errichtet Hochaltäre!

Mit eurem Gotte euch von hinnen dreht,
Der beste Gott sind sichre Kapitalien,
Dem Geld allein, dem Geld allein sei Ehre!

[Quelle: Morgenruf : Vormärzlyrik 1840 - 1850 / [hrsg. von Werner Feudel]. --  Leipzig : Reclam, 1974. -- 427 S. : 8 Ill.  -- Reclams Universal-Bibliothek ; Bd. 574 : Versdichtung : Lyrik). -- S. 98f.]


1844


Heinrich Heine (1797-1856): Deutschland : ein Wintermärchen. -- 1844


Abb.: Titelblatt

Caput I

Im traurigen Monat November war's,
Die Tage wurden trüber,
Der Wind riss von den Bäumen das Laub,
Da reist ich nach Deutschland hinüber.

Und als ich an die Grenze kam,
Da fühlt ich ein stärkeres Klopfen
In meiner Brust, ich glaube sogar
Die Augen begunnen zu tropfen.

Und als ich die deutsche Sprache vernahm,
Da ward mir seltsam zumute;
Ich meinte nicht anders, als ob das Herz
Recht angenehm verblute.

Ein kleines Harfenmädchen sang.
Sie sang mit wahrem Gefühle
Und falscher Stimme, doch ward ich sehr
Gerühret von ihrem Spiele.

Sie sang von Liebe und Liebesgram,
Aufopfrung und Wiederfinden
Dort oben, in jener besseren Welt,
Wo alle Leiden schwinden.

Sie sang vom irdischen Jammertal,
Von Freuden, die bald zerronnen,
Vom Jenseits, wo die Seele schwelgt
Verklärt in ew'gen Wonnen.

Sie sang das alte Entsagungslied,
Das Eiapopeia vom Himmel,
Womit man einlullt, wenn es greint,
Das Volk, den großen Lümmel.

Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,
Ich kenn auch die Herren Verfasser;
Ich weiß, sie tranken heimlich Wein
Und predigten öffentlich Wasser.

Ein neues Lied, ein besseres Lied,
O Freunde, will ich euch dichten!
Wir wollen hier auf Erden schon
Das Himmelreich errichten.

Wir wollen auf Erden glücklich sein,
Und wollen nicht mehr darben;
Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,
Was fleißige Hände erwarben.

Es wächst hienieden Brot genug
Für alle Menschenkinder,
Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,
Und Zuckererbsen nicht minder.

Ja, Zuckererbsen für jedermann,
Sobald die Schoten platzen!
Den Himmel überlassen wir
Den Engeln und den Spatzen.

Und wachsen uns Flügel nach dem Tod,
So wollen wir euch besuchen
Dort oben, und wir, wir essen mit euch
Die seligsten Torten und Kuchen.

Ein neues Lied, ein besseres Lied!
Es klingt wie Flöten und Geigen!
Das Miserere ist vorbei,
Die Sterbeglocken schweigen.

Die Jungfer Europa ist verlobt
Mit dem schönen Geniusse
Der Freiheit, sie liegen einander im Arm,
Sie schwelgen im ersten Kusse.

Und fehlt der Pfaffensegen dabei,
Die Ehe wird gültig nicht minder -
Es lebe Bräutigam und Braut,
Und ihre zukünftigen Kinder!

Ein Hochzeitkarmen ist mein Lied,
Das bessere, das neue!
In meiner Seele gehen auf
Die Sterne der höchsten Weihe -

Begeisterte Sterne, sie lodern wild,
Zerfließen in Flammenbächen -
Ich fühle mich wunderbar erstarkt,
Ich könnte Eichen zerbrechen!

Seit ich auf deutsche Erde trat,
Durchströmen mich Zaubersäfte -
Der Riese hat wieder die Mutter berührt,
Und es wuchsen ihm neu die Kräfte.


1846


Ludwig Pfau (1821 - 1894): Herr Biedermeier, Mitglied der "besitzenden und gebildeten Klasse".  -- 1846

Schau, dort spaziert Herr Biedermeier,
Und seine Frau, den Sohn am Arm;
Sein Tritt ist sachte wie auf Eier,
Sein Wahlspruch: Weder kalt noch warm.
Das ist ein Bürger hochgeachtet,
Der geistlich spricht und weltlich trachtet;
Er wohnt in jenem schönen Haus
Und leiht sein Geld auf Wucher aus.

Gemäßigt stimmt er bei den Wahlen,
Denn er missbilligt allen Streit;
Obwohl kein Freund vom Steuerzahlen,
Verehrt er sehr die Obrigkeit.
Aufs Rathaus und vor Amt gerufen,
Zieht er den Hut schon auf den Stufen;
Dann aber geht er stolz nach Haus
Und leiht sein Geld auf Wucher aus.

Am Sonntag in der Kirche fehlen,
Das wäre gegen Christenpflicht;
Da holt er Labung seiner Seelen
Und schlummert, wenn der Pfarrer spricht.
Das führt ihn lieblich bis zum Segen,
Den nimmt der Wackre fromm entgegen.
Dann geht er ganz erbaut nach Haus
Und leiht sein Geld auf Wucher aus.

Ach! Wandrer, die gen Westen streben!
Wie rühret ihre Not sein Herz!
Wohl sieht er sammeln, doch zu geben,
Vergisst er ganz in seinem Schmerz.
»Ihr Schicksal ruht in Gottes Händen!«
Spricht er dann geht er auszupfänden,
Nimmt einem Schuldner Hof und Haus
Und leiht sein Geld auf Wucher aus.

Den einz'gen, hoffnungsvollen Sprossen
Denn mehr, das wäre Überfluss
Den hält er klösterlich verschlossen:
Die Sünde stammt ja vom Genuss.
Die Mutter führt ihr Küchlein sittig
Wie eine Henne unterm Fittig;
Sie sorgt für strenge Zucht im Haus
Und leiht ihr Geld auf Wucher aus.

O edles Haus! o feine Sitten!
Wo jedes Gift im Keim erstickt,
Wo nur gepflegt wird und gelitten,
Was gern sich duckt und wohl sich schickt.
O fromme Bildung! Glaubensblüte,
Dass der Besitz dich heg' und hüte!
Respekt muss sein in Staat und Haus:
Sonst geht dem Geld der Wucher aus.


1864


Theodor Storm (1817 - 1888): Der Lump. -- 1864

Und bin ich auch ein rechter Lump,
So bin ich dessen unverlegen;
Ein frech Gemüt, ein fromm Gesicht,
Herzbruder, sind ein wahrer Segen!

Links nehm von Christi Mantel ich
Ein Zipfelchen, dass es mir diene,
Und rechts du glaubst nicht, wie das deckt ,
Rechts von des Königs Hermeline.


1868/69


Friedrich Rückert (1788 - 1866). -- 1868/69

Warum tun Buße nicht, die Buße predigen?
Weil sie sich ihrer Pflicht durchs Wort erledigen.


1886



Abb.: Kapital und Arbeit: Der Vampir Kapitalismus hat als einen Flügel Religiöse Heuchelei. -- Von Walter Crane (1845-1915). -- In: Cartoons for the cause. -- 1886

[Quelle: Fuchs, Eduard <1870 - 1940>: Die Karikatur der europäischen Völker vom Jahre 1848 bis zur Gegenwart. -- Berlin : Hofmann, 1903. -- 486 S. : Ill. -- S. 481.]  


1895



Abb.: Hilarité - Heiterkeit: Englischer Geistlicher auf Inspektionstour in Pariser Bordell. . -- Karikatur von Théophile Alexandre Steinlen <1859 - 1923>. -- In: Gil Blas Illustré. -- 1895-04-14



Abb.: Lage von Lombok, Indonesien (©MS Encarta)

Theodor Fontane (1819-1898): Die Balinesenfrauen auf Lombok. -- 1895

Unerhört,
Auf Lombok hat man sich empört,
Auf der Insel Lombok die Balinesen
Sind mit Mynheer1 unzufrieden gewesen.

Und die Mynheers fasst ein Zürnen und Schaudern,
»Aus mit dem Brand, ohne Zögern und Zaudern,«
Und allerlei Volk, verkracht, verdorben,
Wird von Mynheer angeworben,
Allerlei Leute mit Mausergewehren
Sollen die Balinesen bekehren.
Vorwärts, ohne Sinn und Plan,
Aber auch planlos wird es getan,
Hinterlader arbeitete gut,
Und die Männer liegen in ihrem Blut.

Die Männer. Aber groß anzuschaun
Sind da noch sechzig stolze Fraun,
All eingeschlossen zu Wehr und Trutz
In eines Buddha-Tempels Schutz.
Reichgekleidet, goldgeschmückt,
Ihr jüngstes Kind an die Brust gedrückt,
Hochaufgericht't eine jede stand,
Den Feind im Auge, den Dolch in der Hand.

Die Kugeln durchschlagen Trepp' und Dach,
»Wozu hier noch warten, feig und schwach?«
Und die Türen auf und hinab ins Tal,
Hoch ihr Kind und hoch den Stahl
(Am Griffe funkelt der Edelstein),
So stürzen sie sich in des Feindes Reihn.
Die Hälfte fällt tot, die Hälfte fällt wund,
Aber jede will sterben zu dieser Stund,
Und die Letzten, in stolzer Todeslust,
Stoßen den Dolch sich in die Brust.

Mynheer derweilen, in seinem Kontor,
Malt sich christlich Kulturelles vor.

Erläuterungen

1 Mynheer = Holländer (Indonesien war niederländisches Kolonialgebiet. Die Niederländer herrschten dort "barbarisch").


1898


Theodor Fontane (1819-1898): Britannia an ihren Sohn John Bull1. -- 1898

»Sohn, hier hast du meinen Speer,
Nimm dir viel und dann noch mehr;
Dass die Meere dir gehören,
Brauch' ich dir nicht erst zu schwören,
Aber auch die Terrafirmen2
Musst du Christi will'n beschirmen,
Christi will'n und cottons wegen,
Our Navy gibt den Segen.
Denk' und woll' es nie vergessen:
Wo sie jetzt noch Menschen fressen
Und in ihren nackten Leibern
Tanzen mit noch nacktern Weibern,
Auch an solchen schlimmsten Stellen
Braucht man nächstens sieben Ellen.
Endlich muss die Stunde schlagen,
Wo auch diese Hosen tragen,
Und auf hundert Hosenpaare
Kommen fünfzig Missionare,
Nebenher wird Gold gegraben -
Andre mögen andres haben,
Andre mögen andres nehmen,
Und du darfst es nicht verfemen,
Wenn am Nordpol sie versaufen
Oder auch bloß Schlittschuh laufen.«

Erläuterungen:

1 John Bull: Spitzname der Briten seit der Darstellung seines Volkscharakters durch J. Arbuthnot in der "History of John Bull" (1712).

2 Terrafirmen = terra firma = Festland


1909



Abb.: Die Sittenkommission / von Heinrich Kley (1863 - 1945). -- In: Skizzenbuch. -- 1909


1910



Abb.: Diözesanball / von Heinrich Kley (1863 - 1945). -- In: Skizzenbuch II. -- 1910


1913


Werner Möller (1888 - 1919): Bilder aus einer Gießerei. -- 1913

I

Kein Donnerkrachen, kein Hämmergedröhn,
Kein Sausen und Stampfen und Rädergestöhn;
Wie ein Ameisenhaufen in kribbelnder Hast,
So eilt's durcheinander ohne Ruhe und Rast.
Die tragen Formen mit eilendem Fuß,
Die schleppen von dannen den fertigen Guss;
Die sieben und schaufeln, der Staub wallt empor,
Er dringt in das Auge, füllt Nase und Ohr
Und lagert schwarze Wolken im Raum,
Dass einer erkennt den anderen kaum.
Doch die Arbeit geht weiter, ohne Ruhe und Rast,
Das eilt durcheinander in kribbelnder Hast,
Die Stunden sind kostbar, ist lang auch die Fron,
Denn schwer sind die Zeiten, und karg ist der Lohn,
Und der Sklave von heute front nur im Akkord;
Zwar trieft der Fabrikherr von christlichem Wort,
Doch drückt er die Löhne mit christlichem Fleiß
Und prägt Dukaten aus Menschenschweiß.
Drum, hurtig, hurtig; die Zeit verrinnt,
Das Eisen brodelt, der Guss beginnt.

[Quelle: Des Morgens erste Röte : frühe sozialistische deutsche Literatur 1860 - 1918 / [hrsg. vom Zentralinst. für Literaturgeschichte d. Akad. d. Wiss. d. DDR. Auswahl: Norbert Rothe (Lyrik u. Prosa) u. Ursula Münchow (Dramatik). Nachw.: Ursula Münchow. Anm. zu d. Autoren: Hans Heinrich Klatt]. -- Leipzig : Reclam, 1982. -- 459 S. : 56 Ill. -- (Reclams Universal-Bibliothek ; Bd. 926 : Belletristik). -- S. 397.]


1922



Abb.: Die Kirche und die Arbeiter

[Bildquelle: Beißwanger, Konrad: Illustrierter Pfaffenspiegel : kritisch-historisches Handbuch der Verirrungen des menschlichen Geistes und des Lasterlebens in der christlichen Kirche. -- 2. Aufl. --  Nürnberg: Beißwanger, 1922. -- 420 S. : Ill. -- S. 388]


1924


Erich Weinert (1890-1953): Der Sittenzensor. -- 1924

Ein Zensor mit moralischem Gemüt,
Nicht wissend, was noch keusch, was schon gemein ist.
Ist unbrauchbar, weil er nur Reines sieht,
Wie ja dem Reinen eben alles rein ist.
Daraus erhellt, was von der Gabe
Des Zensors man zu halten habe:
Er muss im Grund ein größres Schwein
Als alle Zensurierten sein.



Abb.: Worte des Erzbischofs von Köln (seit 1920), Karl Joseph Kardinal Schulte (1871 - 1941), der sich schmerzlich berührt zeigt über "die Mitteilung von vielfältigen Bestrebungen, den Karneval, den seit zehn Jahren unter dem Ernst der Lebensnot zu Grabe getragenen, wieder aufleben zu lassen." Gegenüber den Nazis wird er sich später weniger forsch benehmen. -- 1924-12-16 (Bildmontage. A. Payer)

[Quelle der zitierten Worte: Die Chronik Kölns / Kölner Stadt-Anzeiger, Kölnische Zeitung. Carl Dietmar. Übersichtsartikel und fachliche Beratung: Gérald Chaix ... -- Dortmund : Chronik-Verl., 1991. -- 600 S. : zahlr. Ill. ; 30 cm. -- ISBN 3-611-00193-7. -- S. 356]


1925


Erich Weinert (1890-1953): Lustbarkeitsgesetz. -- 1925

Gesetz zum Schutz! Gesetz zum Schmutz!
Es mufft aus dem Talare,
Der Sittlichkeit zum Schutz und Trutz.
Das Schöne, Gute, Wahre.
Das Hemd der Sexualität,
Das heute allzu offen steht,
Das wird verflucht und zugenäht.
Es steckt den Operngucker
Durch jedes Astloch sehr diskret
Der Mucker.

Germania steigt ins keusche Bett
Und schnallt das stolze Brustpaar
Ins Bäumersche Reformkorsett;
Da wirkt es nicht mehr lustbar.
Denn Unzucht schielt aus jedem Scharm.
Der Pastor wandelt Arm in Arm
Mit Wohlfahrtstante und Gendarm.
Sie streuen Glaubenszucker
Und schlagen sittlichen Alarm.
Die Mucker.

Man steigt voll Mut in jeden Schlamm.
Von Wedekind bis Schnitzler,
Und nimmt errötend Anstoß am
Perversen Seelenkitzler.
Der kulturelle Restbestand
Wird bald gekreuzigt und verbrannt.
Sie sind heut außer Rand und Band,
Die Bild- und Buchbespucker.
Und überall regiert im Land
Der Mucker!

[Erklärung: Bäumersches Reformkorsett: Anspielung auf die Frauenrechtlerin Gertrud Bäumer (1873-1954)]


1929


Erich Weinert (1890-1953): Die Ober-Sittlichkeits-Postbehörde. -- 1929

Dass bei Beamtinnen der Postbehörde
Die Zucht und Sitte wieder heimisch werde,
Ist heut im Dienste jeder nackte Reiz
Verboten, ministeriellerseits.

Denn Halsausschnitt und unbedecktes Knie
Sind förderlich der schmutzgen Phantasie;
Auch stört der Blick in eine Achselhöhle
Sehr leicht den Frieden mancher keuchen Seele.

Doch da die Damen in den Ferientagen
Wahrscheinlich keine Nonnenkleidung tragen,
Besteht Gefahr, Dass, was man ausgesät
An Geist der Keuschheit, dort verlorengeht.

Drum wird den Urlaubsdamen eventuell
Ein neues Deutsche-Reichspost-Strand-Modell,
Begutachtet von geistlichen Behörden,
Vom Herrn Minister vorgeschrieben werden.

Und das ist gut. Denn diese Kostümierung
Beseitigt die Gefahren der Verführung.
So werden sie nach Urlaubsschluss in Ehren,
Moralisch unbeschädigt wiederkehren.


Für Zucht und Sitte

Die „Liga katholischer Frauen und Jungfrauen gegen die unsittliche Kleidung unter dem Protektorat Ihrer Königlichen Hoheit der Frau Prinzessin Friedrich Christian von Sachsen" veröffentlicht im „Bayrischen Kurier" ihre wichtigsten Vereinsstatuten. Sie lauten Punkt für Punkt:

Bekleidung

  1. Die Ärmel des Kleides müssen den Arm mindestens bis über den Ellbogen herab bedecken.
  2. Die Beine müssen mindestens bis über die Wadenmuskeln vom Kleide bedeckt werden.
  3. Der Oberkörper muss mindestens bis zur Halsgrube bedeckt sein.
  4. Vollkommen abgelehnt werden zu eng anschließende Kleider, durchsichtige Kleiderstoffe.

Körperpflege

  1. Beim Turnen: Trennung der Geschlechter unter Beibehalt einer dem Schamgefühl entsprechenden Turnbekleidung. Vollkommene Ablehnung der Teilnahme an öffentlichen Schauder Wetturnen von Frauen und Mädchen.
  2. Beim Baden: Trennung der Geschlechter und anständige Badebekleidung. Ablehnung von Schau- und Wettschwimmen von Frauen und Mädchen.
  3. Beim Sport: Ablehnung der gemeinsamen Wanderausflüge von Mädchen und Jungen. Bei Wanderausflügen am Sonntag wird zuerst die Erfüllung der religiösen Pflichten sichergestellt.
  4. Beim Tanz: Ablehnung der modernen Tänze, die die Sittsamkeit und Schamhaftigkeit bedrohen.
  5. Um der Entheiligung des Sonntags vorzubeugen, enthalten sich die Ligamitglieder ferner am Samstagabend jeder Festlichkeit, die sich bis in den Morgen des Sonntags ausdehnt.


Jede Frau und Jungfrau, sofern sie moralisch ernst genommen werden möchte, und von der Halsgrube über den Ellbogen bis zu den Wadenmuskeln die Forderungen der Liga bei sich selbst zu erfüllen willens ist - „wohlan", sie schicke noch heute ihre Mitgliedserklärung an das Kgl. sächsisch-katholische Sekretariat in Regensburg, ermuntert das Blatt. Doch tue besagte Frau und Jungfrau (und das gibt der Werbung erst die verlockende höhere Weihe!) noch ein übriges: sie lege dem Brief ein kleines Etikett, Größe 272-4 cm, bei und schreibe fein säuberlich Namen, Stand und Wohnort darauf. Denn „diese Etikettchen sollen in hübschem Umschlag dem Heiligen Vater überreicht werden, damit er sehe, dass er noch gehorsame Kinder habe".

Wird das eine Freude in Rom sein, wenn der Papst die vielen Regensburger Etikettchen, für die man sinnvollerweise die Form von Feigenblättchen wählen sollte, vorgelegt bekommt und der erwachsenen Schulkinderchen in Deutschland gedenkt, die so brav und folgsam ihre Reize vor der sündigen Welt verstecken!

Erschienen in:

Der Eulenspiegel : Zeitschrift für Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. - Berlin   1.1928 - 4.1931. -- 1929

Wieder abgedruckt in:

Feuilleton der roten Presse 1918 - 1933 / ausgewählt und hrsg. von Konrad Schmidt. -- Berlin : Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung, 1960. -- 179 S. -- (Kämpfende Kunst). -- S. 132f.


Kurt Tucholsky (1890 - 1935): Das Schaufenster. -- In: Deutschland, Deutschland über alles. -- 1929

Das Schaufenster

I.

Predigt des Kaplans Untermoser in Obertupfingen, Niederbayern:

,,. . . . ein frommer Christ aber muhs mit Abscheu auf Berlin blicken, wo die Fleischeslust hohe Bogen schlägt und der Teufel die Menschenkinder versuchet! Darum sage ich euch: hütet euch vor denen Saupreußen, die da saugen an den Zitzen der Sünde und die die Unkeuschheit betreiben für und für! Gott der Herr aber wird sie nicht einlassen in die Pforten des Paradieses, Amen."

II.

Der Berliner Friseur vor seinem Schaufenster: „Doch, so können wirs lassen. Vielleicht die mittlere noch 'n bisschen mehr nach vorn — so. Glauben Sie, dass es wieder Stunk aufm Revier gibt . . .? Na, noch weniger Brust geht nich! Ich hab schon die dezentesten bestellt, die er hatte — aber die stellen sich auf der Polizei an, als war das wer weiß was! Meinetwegen . . . ziehn Sie der mittleren die Spitzen noch ein bisschen in die Höhe, dann hat die liebe Seele Ruh . . . wissen Sie, das mit der Weiberbrust — das ins doch heute gahnich mehr so . . . Aber mir solls recht sein: den Schweinen ist alles schwein."


Kurt Tucholsky (1890 - 1935): Von unten. -- In: Deutschland, Deutschland über alles. -- 1929

Dieses Bild ist dem „Deutschen Frauenkampfbund"1 und den ihm angeschlossenen Unsittlichkeitsschnüfflern in Züchten gewidmet.
So sieht diese Schmutzsonderklasse2 die Welt. So sieht mancher Pfaffe die Welt. Immer mit einem roten Kopf und von unten.
Wir lachen drüber. Und sehen unsre Welt von oben.

Erläuterung:

1 Deutscher Frauenkampfbund gegen die Entartung im Volksleben: 1926 gegründete Untergruppierung der 1916 von Guida Diehl (1868  - 1961) gegründeten "Neulandbewegung".

"Ihrem Selbstverständnis nach wollten die «Neuländerinnen», häufig Lehrerinnen und somit wichtige Multiplikatorinnen in der Jugenderziehung, eine weibliche Parallelbewegung zum Nationalsozialismus darstellen. Sie trugen insofern zur nationalsozialistischen Machtergreifung bei, als sie sich schon zu einem recht frühen Zeitpunkt, 1929, dem Nationalsozialismus zuwandten und in ihrem «Neulandhaus» renommierten Nationalsozialisten ein Forum zur Selbstdarstellung boten. Stolz äußerte man, dass dieses Haus schon seit 1920 «judenrein» gewesen sei und sich öffentlich mit einem SA-Emblem geschmückt habe. Die in ihrer Zeitschrift «Neulandblatt» vorgetragene, explizit antidemokratische und kriegstreiberische Hetze machte die Anhängerinnen dieser Bewegung zu geistigen Brandstifterinnen, obwohl sie sich ursprünglich «nur» der Aufgabe der geistigen Mobilisierung der «gebildeten weiblichen Jugend» für den Ersten Weltkrieg verschrieben hatten. Die Wahrnehmung der Weimarer Republik, die den «Schandfrieden von Versailles» anerkenne, die «erotische Revolution» und den «Kulturbolschewismus» befördere, bereitete dann den Boden für diese Verschiebung der Kampffront. "

[Quelle: Angelika Dörfler-Dierken: Rezension zum unten angegeben Buch von Silvia Lange. -- In: Neue Zürcher Zeitung]

Liste der "Frauen-Kampfblätter" des Deutschen Frauenkampfbundes (1926 - 1932):

  1. Aufruf! Deutsche Frauen! Deutsche Mädchen!

  2. Wider die Unkultur im Tanz

  3. Wider die falsche Scham!

  4. Wider das undeutsche Festefeiern!

  5. Wider die Wohltätigkeitsbälle

  6. Wider die Abstumpfung des Schamgefühls

  7. Wider die Geldmacherei mit Nacktbild-Zeitschriften

  8. Wider die Mode der kurzen und kniefreien Kleidung!

  9. Wider die Verunreinigung des Badelebens

  10. [nicht eruierbar]

  11. Wider die Urheber der Verschmutzung und Verschlammung des sittlichen Lebens

  12. Wider die Angriffe auf § 218

  13. Wider das laufenlassen wie es läuft

[Quelle: Lange, Silvia: Protestantische Frauen auf dem Weg in den Nationalsozialismus : Guida Diehls Neulandbewegung 1916 - 1935. -- Stuttgart ; Weimar : Metzler. -- 1998. -- 327 S. ; 23 cm. -- (Ergebnisse der Frauenforschung ; Bd. 47). -- Zugl.: FU Berlin, Diss. -- ISBN 3-476-01596-3. -- S. 326]

2 1929 bezeichnete der "Deutsche Frauenkampfbund gegen die Entartung im Volksleben" den Schriftsteller Erich Kästner als "Schmutzsonderklasse"


1930


Wie sag ich's meinem Kinde

Diese Frage, die natürlich auf die sexuelle Aufklärung hinzielt, bereitet besonders unseren Pfaffen und deren Schäflein viel Kopfzerbrechen und manche schlaflose Nacht. Um diesem tiefempfundenen Übelstand abzuhelfen, hat sich eine fremde Mutti hingesetzt und sozusagen einen Leitfaden ausgeknobelt, an Hand dessen andere fromme und „schamvolle" Muttis ihre Bubis und Mädels im christlichen Sinne aufklären sollen. Hermine Thedy heißt diese Mutti, die es ihrem Kinde sagt, und wie, zeigt die folgende Kostprobe aus ihrem Leitfaden „Das Büchlein von Mutter, Kind und Gott". Hermine Thedy macht's also so:

„Dein Liebling soll gebadet werden. Wenn ihr eingetreten seid, schiebst du den Riegel der Tür vor und schließest so das Zimmer ab. Einmal wird dich dein Kind fragen: »Mutter, warum schließt du die Tür zu, wenn ich gebadet werde?' Du sprichst: Jetzt ist mein liebes Kindlein ganz nackt und bloß. Und so ein nacktes Kind darf von gar niemandem gesehen werden als vom lieben Gott, der alles sieht, und von der Mutter, die ihr Kindlein pflegen muss ... Aber kein neugieriger Mensch darf deinen bloßen Körper sehen, und ein braves Kind schaut auch selbst seinen Körper nicht an mit neugierigen Äuglein. Ein braves Kind gibt immer gut acht darauf, dass sein Körper nicht aufgedeckt ist; dass es beim Aufstehen und Schlafengehen die Knie recht schön zudeckt mit dem Hemdlein; dass die Geschwisterchen oder andere Kinder beim Spielen nicht dahinsehen können, wo ich jetzt meine Hand hinlege.' - Eine Mutterhand ist so heilig und meint es so gut mit ihrem Kinde, dass sie es ruhig wagen kann, bei einer solchen Belehrung die Körperstelle für einen Augenblick zu bedecken, die das Kind sorgfältig vor jedem Menschenblick zu verhüllen hat ... Fahre dann fort: ,In deinem kleinen Herzen, Kind, ist eine Stimme, die sagt dir deutlich: man darf sich da... nicht berühren. Kinder, die nicht auf diese Stimme hören und es doch tun, nennt man unschamhafte Kinder. So nennt man sie, weil sie sich eigentlich schämen müssten vor dem lieben Gott, der alles Böse sieht, das ein Kind tut, und weil sie sich nicht schämen, so etwas anzusehen, anzurühren.'"

Soweit die fromme Mutti Hermine. Ob der „süße Bubi" oder das „herzige Mädi", nachdem sie diese schmalzige, heuchlerische und verlogene Predigt genossen haben, um einen Grad schlauer geworden sind, bezweifeln wir allerdings. Aber das ist ja letzten Endes auch der Zweck der christlichen „Aufklärung": Um Gottes willen dem Kinde keine vernünftige, naturgemäße Erziehung zuteil werden lassen. Denn selig sind die Einfältigen, denn sie werden auf ewig willige und billige Arbeitshände bleiben.

Erläuterung: Bezieht sich vermutlich auf:

Thedy, Hermine: Ein Büchlein von Mutter und Kind und Gott. -- 4.-6. Tsd. -- Paderborn : Schöningh, 1920. -- VII, 202 S.

Erschienen in:

Die rote Fahne : Zentralorgan der Kommunistischen Partei Deutschlands (Sektion der Kommunistischen Internationale). -- [Wechselnde Verlagsorte]. --    1923ff.. -- 1930-07-09

Wieder abgedruckt in:

Feuilleton der roten Presse 1918 - 1933 / ausgewählt und hrsg. von Konrad Schmidt. -- Berlin : Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung, 1960. -- 179 S. -- (Kämpfende Kunst). -- S. 134f.


1931



Abb.: Vorstoß des Muckertums. -- In: Figaro. -- 1931

[Bildquelle: : Chronik 1931 / Ernst Christian Schütt. -- 2., überarb. Aufl. -- Gütersloh : Chronik-Verl., 1991. -- 240 S. : zahlr. Ill. -- (Die Chronik-Bibliothek des 20. Jahrhunderts.) -- ISBN 3-611-00071-X. -- S. 97]


Nicht datiert



Abb.: Der geheiligte Sünder. -- Von Thomas Rowlandson (1756-1827)


Jens Baggesen (1764 - 1820): Noch eine

Selbst im Gähnen der Frommen ist unverkennbar die Andacht.



Abb.: Gewissenqualen / von Richard Newton (um 1777 - 1790)


Wilhelm Müller (1794-1827): Frommer Aufblick

Wisst ihr, warum Pius' Blicke stets gen Himmel sich ergehn?
Weil er es nicht wagt, auf Erden einem ins Gesicht zu sehn.


Ernst Arthur Lutze (†1870): Friedrich Wilhelm IV. und das Chamäleon

Einst hielt sich Humboldt ein Chamäleon.
Der König sprach: „Was haben Sie davon.
das Tierchen stundenlang sich anzuschau'n?"
„Ei," sagte Humboldt, .."nicht genug betrachten
kann ich's, nur um die Farben zu beachten.
Jetzt ist es schwarz, nun wieder grün, nun braun.
Und dieser Farbenwechsel muß ihm nützen,
so kann es sich vor seinen Feinden schützen.

Jedoch das wunderbarste an dem Tier
sind seine Augen; unbegreiflich schier,
denn ihre Richtung wechselt Schlag auf Schlag.
Das eine blickt herab zur Erdenwelt,
das and're gleicherzeit zum Himmelszelt."

Da lächelte der König fein und sprach:
„Für mich ist das nichts Neues in der Tat,
das tut mein ganzer Oberkirchenrat."


Adolf Glaßbrenner (1810 - 1876): Muckerlied


Abb.: Mucker (= Scheinheiliger, Frömmler)

Tagtäglich zehnmal beten
Und Bibelspruch' im Maul,
Sonst hab' ich nichts vonnöten,
Bin ganz erschrecklich faul.
Ich war ein armer Schlucker,
Hatt' kaum das liebe Brot,
Da wurde ich ein Mucker:
Nun hat es keine Not!

Bei jeder neuen Sitzung
Die unsre Bande hält,
Da wird mir Unterstützung
Durch bares, blankes Geld.
Dass ich bin fromm geworden,
Hat mir doch sehr gefrommt!
Vielleicht dass noch ein Orden
Mir in das Knopfloch kommt.

Den Kopf gesenkt zur Erde
Geh' ich des Morgens aus;
Mit heuchelnder Gebärde
Tret' ich ins Kaffeehaus,
Trink' Wasser dort mit Zucker
Und werbe Fromme an:
Kein Mensch ahnt, was ein Mucker
Zu Hause saufen kann!

Zu hohem Zins verleih' ich,
Was ich beim Muckern spar',
Und meine Seele weih' ich
Herrn Jesu immerdar,
Und den Gewinn notier' ich
Im frommen Liederheft;
Auf diese Weise führ' ich
In Frieden mein Geschäft.

Des Abends im Theater
Sitz' ich mit gierem Sinn,
Und schmunzle wie ein Kater
Nach jeder Tänzerin;
Mit meinem Operngucker
Schau' ich nach Wad' und Brust:
Ach, lieber Gott, ein Mucker
Hat auch so seine Lust!

Dann schleich' ich still zur Klause,
Da wo mich niemand sieht,
Und nach dem Abendschmause
Sing' ich ein frommes Lied
Recht laut: von heil'ger Stätte,
Von Jesu Glanz und Thron!
Daweile macht mein Bette
Die kleine Köchin schon.

Ich preise die Regierung,
Ich finde alles gut,
Ich fluche der Verführung
Durch jetz'ge Freiheitsbrut:
So leb' ich armer Schlucker
Ganz heiter, Gott sei Dank!
Und das Geschäft als Mucker
Treib' ich mein Lebelang!


Adolf Glaßbrenner (1810 - 1876): Punschlied <Auszug>

Einer

Und wenn die Welt voll Pfaffen war',
Wir wollen innen pred'gen!
Schnell uns der Pietisterei,
Papisjerei entled'gen!
Die Heuchler sollen länger nicht
Sich gegen uns empören:
Wir schmeißen in die Hölle sie,
Da, wo sie hingehören!

Chor

Ein braver Bursch' liebt seinen Gott -
Doch, bei den vollen Bowlen!
Wer ihn gebraucht zu Schand' und Spott,
Den soll der Teufel holen!


Hermann von Gilm (1812 - 1864): Meinung

Ich habe durchsichtige Wangen,
Ein Tränchen im Aug', das nie fällt,
Da ist es denn ein leichtes,
Zu täuschen die gläubige Welt.

Wenn während der Kirch' die Gedanken
Auch weit vom Prediger sind,
So sagen doch immer die Leute:
Das ist ein frommes Kind.


Abb.: "Das ist ein frommes Kind". -- 1950


Ludwig Anzengruber (1839 - 1889): Die Herzenskündiger

Oft singt ein hohes Lied vom weine,
Das selbst der Kenner Ohr bestrickt,
Ein Mann, dem nie gewankt die Beine
Und den nur dünnes Bier erquickt.

Und oft, die engste dieser Welten
Zertrümmernd, freie Liebe singt
Ein Mann, dem nachts der Gattin Schelten
Sein Jüngstes in die Arme zwingt.

Und wer im Frührot erst die Kammer
Betritt, in treuer Freund Geleit,
Der singt sonach in seinem Jammer
Den Hymnus der Enthaltsamkeit.

Und mancher bis an die Gestirne
Der Frauen Reinheit preisend hebt,
Der in den Armen einer Dirne
Soeben wild die Nacht durchlebt.

Moral lobpreist der satte Sünder,
Der Darbende besingt Genuss;
Es sind von je des Herzens Künder:
Das Sehnen und der Überdruss!


Arthur Fitger (1840 - 1909): 2. Korinther 8, Vers 91

Die Amtswohnung des neuen Herrn Pastor
Möbliert ein reicher alter Jungfernchor;
Eins, zwei, drei Möbelwagen fahren vor.

Fauteuil und Sofa, Esstisch und Buffet,
Bratofen, Fliegen-, Eisschrank, Ehebett,
Silber- und Porzellanservice komplett.

Kompott, Konserven haufenweis beschafft,
Der Mettwurst Anmut und des Schinkens Kraft,
In Fass und Flaschen edler Rebensaft

Besonders fehl ein Christusangesicht,
In goldnem Rahmen überm Schreibtisch nicht,
Des dornumrankte Inschrift also spricht:

"Bedenk, dass unser Heiland Jesus Christ
Um deinetwillen arm geworden ist,
Und dass du reich durch seine Armut bist."

Erläuterung:

1 2. Korintherbrief 8,9: "Denn ihr wisset die Gnade unsers HERRN Jesu Christi, dass, ob er wohl reich ist, ward er doch arm um euretwillen, auf dass ihr durch seine Armut reich würdet."


Carl Spitteler (1845 - 1924): Schlechte Gesellschaft

Kam eines Mannes Seele jüngst gegangen,
der Erde Licht und Leben zu empfangen.
Im Tale Josaphat am Brückensteg
vertrat ein Abgeschiedner ihm den Weg.
"Halt ein! Wohin?" Der Neuling sprach verwundert:
"Wieso? Warum? Ins währende Jahrhundert."
"Du könntest, darf ich meinen Rat empfehlen,
dir eine bessere Gesellschaft wählen

"Es ist kein Mannesmark, es ist ein Teig,
mit Fäusten tapfer, an Charakter feig.
Es fehlt der Mut, der im gewissen sitzt,
der freie Geist, der frisch die Wahrheit blitzt.
Duckmäuser, hinter die Moral versteckt,
blinzelt ein jeder pfiffig nach Respekt.
Mit Anstand ist ihr Muckerherz befrackt;
Heucheln, das Wort klingt schlecht, drum nennt mans Takt.

"Mit Öl und Andacht salben sie ihr Haupt
vor einem Gott, an welchen keiner glaubt.
Prüd bis zur Zehe, bis zum Molekül,
entbehren sie das erste Schamgefühl,
das Schamgefühl, den Spiegel vorzunehmen,
um vor der Weltgeschichte sich zu schämen.
Denn, was erstritten unsrer Väter Taten,
das haben sie verschachert und verraten.
Ich würd mirs doch noch einmal überdenken
und in ein redlicher Jahrhundert schwenken."


Gustav Falke (1853-1916): Konfirmandinnen

Es war ein feuchter Novembertag,
Sankt Gertrud in dichten Nebeln lag;
da sprang eine fröhliche Schar mir vorbei,
halbwüchsige Dirnen, mit viel Geschrei,
mit roten Backen und roten Ohren.
Kamen direkt vom Herrn Pastoren,
der die munteren Lämmlein all
schäfern sollte in Bethlehems Stall.

Waren gar schmucke Lämmlein darunter,
eins weiß, eins schwarz, eins etwas bunter,
eins größer, eins kleiner, eins glatt, eins gerauht,
wie sie der liebe Herrgott gebaut.
Von Andacht sah ich nicht eine Spur,
aber viel frische, frohe Natur.
Zum Schluss eine zierliche, schlanke, blasse,
ging gesondert von der Masse.
Traumumschleierte Augen schienen
noch immer ihrem Gott zu dienen;
in dieser frommen Kinderseele
klangen noch des Herrn Befehle
mit heiligem Erschauern weiter,
der himmlische Bräutigam war ihr Begleiter.
Sittig ging sie und fromm einher,
erfüllt von der heiligen Christenlehr',
sah einmal, zweimal ins Buch hinein,
woraus ein lieblicher Widerschein
des köstlichen Inhalts sie überstrahlte,
mit einem zarten Rot übermalte.
Sah aus wie eine Himmelsbraut,
die ihren Bräutigam erschaut. — —

Wie rührte mich das junge Ding,
das so an seinem Gott schon hing!
Ich sah sie an, sie ward verlegen,
spürte wohl, was mich mochte bewegen.
Wie schnell sie das Buch zusammenklappte,
als ob ich auf Sünden sie ertappte!
Wie denn meistens den wahrhaft Frommen
nichts vor allem so unwillkommen,
als wenn man ihr christlich Tun belauscht,
während Heuchelei gerne radschlägt und rauscht
und läutet vor allem Volk die Glocken
mit Bettelsuppen und Waisensocken.

Bescheiden ging das gute Kind
an mir vorüber, wie Mailuft lind,
wie im Nebel ein Sonnenschein,
wie dem Sünder ein Engelein . . .
Da sah ich auf der Erde liegen,
eine Strecke im schwachen Winde fliegen
und wieder liegen und winken mir,
ein loses Blättchen, ein weiß Papier;
gewiss ein Spruch, ein frommer Traktat,
den die Vertiefte verloren hat.
Ich hob es auf: ein zierlich Kuvert
mit großen Buchstaben überquert.
Verwundert sah ich mich um, da stand
die Kleine und lachte hinter der Hand.
Warte nur, Schelm! Was seh' ich geschrieben:
Hauptpostlagernd G. F. 7.



Abb.: Der Quäker auf Reisen: "Wenn ich einmal schauen würde, ob sie auch Hosen anhat? ... Mut! Mut! Es geschieht ja im Interesse der Moral ..."


Abb.: "Ein paar Beinkleider sind also sehr teuer, meine liebe Schwester?"

Abb.: "Vortrefflich! ... aber 80 Franken für ein Paar Beinkleider! ... ohh .. ich werde von der Liga wohl getadelt werden."

Abbildungen: Der Quäker auf Reisen. -- Von Adolphe Willette (1857-1926)

[Quelle: Fuchs, Eduard <1870 - 1940>: Die Karikatur der europäischen Völker vom Jahre 1848 bis zur Gegenwart. -- Berlin : Hofmann, 1903. -- 486 S. : Ill. -- S. 456f.]  



Abb.: Nachtgedanken des Patrioten Semmelschmarn: "Herr, ich danke dir, dass ich nicht bin wie andere Leute". -- Katholische Karikatur

[Bildquelle: Dr. Sigl, ein Leben für das Bayerische Vaterland / hrsg. von Rupert Sigl. -- Rosenheim : Rosenheimer, 1977. -- 327 S. : Ill. ; 21 cm. -- (Rosenheimer Raritäten). --  ISBN 3-475-52201-2. -- S. 112]


Marie Eugenie delle Grazie (1864 - 1931): Aus dem Satyrspiel Moralische Walpurgisnacht

Humanität:

Heilig, heilig ist das Werk,
das verbirgt, was ihr zerstört,
und, was auch der Tadel merk,
durch ein Tränlein ihn betört!
Die ihr triebt von Hof und Haus
speis im Armenstift ich aus;
christlich pfleg ich im Spital,
die ein Triebrad bracht zu Fall!
Mit geraubtem Waisengut
half ich Denkmäler errichten
und wie bläht sich erst mein Mut,
darf ich Glaubenshändel schlichten!
Die euch morden sollten, küssen
euch die Hände, dankbeflissen,
Schurken werden Menschheitsretter,
Diebe preisen laut die Blätter —
Ja, ob ich auch Luxus schein —
immer bring ich Zinsen ein!


Karl Henckel (1864 - 1929): Klingelbeutel

Der Klingelbeutel klingelt im Kirchenstuhle:
Almosen den Hungerleidenden in unsrer Schule!
Viel hundert Kinder hungern von Tag zu Tage,
die "Presse" schreibt es, das Faktum ist außer Frage;
barmherzig war der biedere Wiener von je,
mit eurem goldenen Herzen o stillt das Weh!

Den braven Bürger kitzelts gütig und gruselts,
In seinem faulen Hirne dämmerts und duselts.
Am Hungertuche — Kaum glaublich scheint die Geschichte,
vorläufig gebe man ihnen Erbsengerichte:
Drei Deziliter! Hülsenfrüchte sind gut,
Fleischkost, ja, ja, verdickt und verdirbt das Blut.

Nun wird der Rahm der Humanität gebuttert,
die armen Gören privatwohltätig gefuttert;
des echten Christen Wohltat muss sich verzinsen,
drum opfern mild wir Erbsen, Bohnen und Linsen;
der Fabrikant bekreuzigt sich und denkt: Parbleu1!
Helft, helft! Die industrielle Reservearmee!

Ich aber sage euch: Alles muss anders werden,
Ein groß Geräusch wird fahren über die Erden!
Aus allen Winkeln hör ich es heimlich brausen,
meine dunkle Seele durchzuckt ein leuchtend Grausen:
Der Klingelbeutel empörter Natur geht um,
ihren Kreuzer die Dirne opfert und weinet stumm.

Erläuterung:

1 Parbleu: Ausruf des Staunens, aus "par dieu" ("bei Gott") umgemodelt.


J. Bergmann: Gottesdienst

Es werden bei mancher Gelegenheit
selbst Atheisten zu Frommen;
sie schreiten voll Würde ins Gotteshaus,
um — in die Zeitung zu kommen.


Christian Morgenstern (1871 - 1914): Schule

I

Das Erste, was ich sah, war Heuchelei.
Ein Lehrer faltete die fetten Hände
und sprach ein weinerlich Gebet dabei.

II

Und lieber Gott und aber lieber Gott.
Ich fühlte, fromm, mir Seligkeit verbrieft.
Dann kam der Sturz. Der wilde Schmerz und Spott.
Und doch. Was tats. Selbst ihr habt mich - vertieft.

III

Aus reifem Leben nun zurückgewendet:
Zu keinem Hass mehr fühl ich mich beherzt.
Kein Fluch mehr, einem Teil der Welt gespendet!
Das Ganze ists, das Ganze, was heut schmerzt.


Christian Morgenstern (1871 - 1914)

Erfahr ich, wie Mitchristen sich gebärden,
möcht ich aus Scham und Ingrimm Jude werden.
Noch mehr! Wie's Jude, Christ und Heide treiben,
verwehrt mir fast, noch länger Mensch zu bleiben. 


Aha!

Oberlehrerin im Oberlyzeum höherer Töchter: "Wann nennt man unser Tun unmoralisch, Thusnelda-Margareta?"

Die höhere Tochter, errötend: "Wenn — wenn es jemand gesehen hat, Fräulein Doktor."

Ohne Quellenangabe zitiert in:

Feuilleton der roten Presse 1918 - 1933 / ausgewählt und hrsg. von Konrad Schmidt. -- Berlin : Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung, 1960. -- 179 S. -- (Kämpfende Kunst). -- S. 93.


Zu: Antiklerikale Karikaturen und Satiren XXVII: Geistliche

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