Religionskritisches von Gottfried Keller

Das verlorne Lachen <Auszug> (1874)

von

Gottfried Keller


Herausgegeben von Alois Payer (payer@payer.de)


Zitierweise / cite as:

Keller, Gottfried <1819 - 1890>: Das verlorne Lachen <Auszug>.  -- 1874.  -- Fassung vom 2005-03-02. -- URL:  http://www.payer.de/religionskritik/keller01.htm        

Erstmals publiziert: 2005-03-02

Überarbeitungen:

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Dieser Text ist Teil der Abteilung Religionskritik  von Tüpfli's Global Village Library


Erschienen in:

Keller, Gottfried <1819 - 1890>: Die Leute von Seldwyla. -- 2. Band. -- Stuttgart : Göschen, 1874.

Die ganze Novelle online:

http://gutenberg.spiegel.de/keller/seldwyla/lachen/lachen.htm. -- Zugriff am 2005-03-02



Abb.: Gottfried Keller [Bildquelle: http://bpun.unine.ch/icono/JPG01/2Q105.400.jpg. -- Zugriff am 2005-03-02]

"Keller, Gottfried, hervorragender Dichter, geb. 19. Juli 1819 in Zürich, gest. daselbst 16. Juli 1890, widmete sich zuerst der Landschaftsmalerei und verweilte zu seiner künstlerischen Ausbildung 1840-42 in München; von bitterer Not gezwungen, kehrte er in die Heimat zurück, wo er sich bald darüber klar wurde, dass er mehr zur Poesie als zur Malerei begabt war. Die erste Sammlung seiner »Gedichte« (Heidelb. 1846) fand den Beifall berufenster Kenner, wie Varnhagen, und mit Hilfe eines Züricher Staatsstipendiums konnte Keller 1848 für mehrere Jahre nach Heidelberg gehen, um an der Universität und im Verkehr mit Ludwig Feuerbach, Hermann Hettner u. a. seine Bildung zu ergänzen und zu vollenden. 1850 zog er nach Berlin, zunächst um seine Kenntnis des Theaters zu bereichern, denn er wollte Dramatiker werden. Er blieb daselbst bis Dezember 1855, gewann allerdings viel Einsicht in die dramatische Kunst, vollendete aber keinen seiner dramatischen Entwürfe; dagegen gelangen ihm zahlreiche lyrische Erzeugnisse, die er in einer zweiten Sammlung: »Neue Gedichte« (Braunschw. 1851), vereinigte, und vor allem der große autobiographische Roman: »Der grüne Heinrich« (das. 1854-55, 4 Bde.; neue Bearbeitung, Stuttg. 1879-80), mit dem er sich in die vorderste Reihe der deutschen Dichter stellte. Er hat darin die Geschichte seines eignen Irrtums in der Berufswahl sowie seiner künstlerischen und religiösen Entwickelung in ungemein gedankenreicher Weise und poetischer Fülle dargestellt. Bald darauf erschien der erste Band seiner Erzählungen »Die Leute von Seldwyla« (Braunschw. 1856; mit den Meisterstücken: »Romeo und Julia auf dem Dorfe«, »Die drei gerechten Kammacher«), die wegen der Anmut ihres Humors, der Tiefe ihrer Poesie und der Kraft der Gestaltung die Bewunderung aller Einsichtigen errangen, aber nur sehr langsam den Weg zum großen Publikum fanden. 1861 wurde Keller zum ersten Staatsschreiber des Kantons Zürich ernannt und blieb es bis 1876 in so reger amtlicher Tätigkeit, dass ihm dichterisches Schaffen kaum möglich war. Erst nach seinem Rücktritt konnte er alte und neue poetische Pläne ausführen, und nun erst kam die Blütezeit seines literarischen Ruhmes. Noch kurz vorher waren die reich vermehrte 2. Auflage seiner »Leute von Seldwyla« (Stuttg. 1873-74, 4 Bde.; 36. Aufl. 1904) sowie die höchst anmutigen und geistvoll heitern »Sieben Legenden« (das. 1872, 28. Aufl. 1903) erschienen, in denen ein ganz neuer Ton der Ironie gegen die Kirche angeschlagen war. Nun schrieb Keller die oben erwähnte Neubearbeitung seines »Grünen Heinrich« (29. Aufl. 1903), dessen erster tragischer Schluss einem tröstlichern, kontemplativen Ende weichen musste (vgl. Leppmann, G. Kellers »Grüner Heinrich« von 1854/55 u. 1879/80, Berliner Diss., 1902), und eine neue Sammlung: »Züricher Novellen« (Stuttg. 1878, 2 Bde.; 32. Aufl. 1903), darin die Meisterwerke: »Der Landvogt von Greifensee« und »Das Fähnlein der sieben Aufrechten«. In dem folgenden Novellenzyklus »Das Sinngedicht« (Berl. 1882, 28. Aufl. 1903) fand jene lebensfreudige Gesinnung des Dichters, die allen seinen Werken eigentümlich ist, erhöhten Ausdruck; und gegen die unerfreulichen Auswüchse der Zeit schwang er die Geißel des satirischen Humors in dem Roman »Martin Salander« (das. 1886, 24. Aufl. 1903), der sich durch Klarheit der Komposition und Schönheit der Gestaltung auszeichnet. Eine mit den im Laufe der Jahre entstandenen neuen Versen vermehrte Ausgabe seiner Lyrik veranstaltete Keller in den »Gesammelten Gedichten« (Berl. 1883; 17. Aufl. 1903, 2 Bde.); hier erschien er als ein männlich herber, zur Satire geneigter, aber inniger Sänger ganz eigner Art. Kellers Poesie wurzelt tief im heimisch schweizerischen Volkscharakter, den er stets mit glühender Liebe umfasste, auch seine Sprache behielt die schweizerische Färbung bei. Er ist ausgezeichnet durch echt männliche ideale Gesinnung, kernigen Humor, anschauliche und originelle Phantasie und durch ein großartiges Darstellungsvermögen. Als epischer Dichter gehört er zu den ersten Meistern des Jahrhunderts. Sein Bildnis s. Tafel »Deutsche Klassiker des 19. Jahrhunderts« (in Band 11). Die Ausgabe seiner »Gesammelten Werke« (Berl. 1889-90, 10 Bde.; seitdem mehrfach aufgelegt, zuletzt Stuttg. 1904), besorgte Keller noch selbst. Nach seinem Tod erschienen: »Nachgelassene Schriften und Dichtungen« (Berl. 1893) und »Gottfried Kellers Leben. Seine Briefe und Tagebücher«, herausgegeben von Jakob Bächtold (Berl. 1892-96, 3 Bde. in mehreren Auflagen; dazu als Nachtrag die »Gottfried Keller-Bibliographie«, das. 1897; kleine Ausgabe der Biographie, ohne die Briefe und Tagebücher, das. 1898); den »Briefwechsel zwischen Theodor Storm und Gottfried Keller« veröffentlichte Köster (das. 1904)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]


[Das Folgende ist ein Abschnitt aus dem 2. Kapitel]

Justine war auf den Abend ins Pfarrhaus eingeladen, wo der Pfarrherr eine Abhandlung über die zeitgemäße Wiederbelebung und Erneuung der Kirche durch die Künste vorlesen wollte, ein Thema, welches sie sehr ansprach und auch nach Maßgabe der kleinen Verhältnisse schon beschäftigte. Jukundus seinerseits verhielt sich kühl in dieser Sache und liebte so wenig als möglich in der Sprechweite des Geistlichen zu weilen Doch hatte er, da es ein dunkler Herbsttag war, versprochen, die Gattin abzuholen.

Der Pfarrer stand auf der äußersten Linie der Streiter für die zu reformierende Kirche, die religiöse Gemeinde der Zukunft. Die Jugendjahre hindurch hatte er im allgemeinen freisinnig und schön gepredigt, so dass die Herden, die er gehütet, sehr erbaut, wenn auch nicht durchaus klar waren, auf welcher Boden sie eigentlich standen. Unter dem Schutze der weltlicher Macht und nach dem Beispiel altbewährter Führer hatte das jüngere Geschlecht die freiere Weltbetrachtung auf der Kanzel sowie die freiere Bewegung im Leben errungen. Die streng gläubige Richtung war unvermerkt zur bloßen Verteidigung ihres Daseins hinübergedrängt worden, ohne dass von alledem an der äußeren Form des Gottesdienstes viel zu merken war Die alten Lieder, die alten Gebetformen, die alten Bibeltext herrschten, und nur bei gegebenem Anlasse wurde das Übermenschliche menschlich behandelt; im übrigen blieb Christus der Erlöser und Herr, und an der Einheit und Persönlichkeit der Weltordnung sowie an der Unsterblichkeit der Seele durfte nicht gerüttelt werden. Die Theologie galt noch für eine geschlossene Wissenschaft, auch wo ihre Träger längst im Stillen allen möglichen zweifelhaften Anschauungen nachhingen und den lieben Gott einen guten Mann sein ließen, auch mit geheimen Seufzern das mögliche Ende ihres Selbstbewusstseins bedachten.

Dabei wurde mit Geringschätzung auf die früheren Aufklärer und Rationalisten herabgesehen, welche mit ihrer trockenen Tapferkeit doch die jetzige Zeit vorbereitet hatten, und die philiströsen Wundererklärer wurden selbstzufrieden belächelt, während man selbst immer das eine oder andere Wunder ausnahm und dasselbe halb natürlich, halb übernatürlich geschehen ließ.

Allein diese glückliche Zeit, wo alles so behaglich und rühmlich verlief für jeden, der gewandt in der Rede war und dem es nicht an Keckheit mangelte, verwandelte sich wie alles in der Welt.

Gerade durch die wachsende Ausbreitung und Macht der freien Richtung wurde die Lust zur festeren Vereinigung und Gestaltung und der Wunsch nach der Herrschaft genährt, was zugleich ein deutlicheres Aussprechen dessen mit sich brachte, was man eigentlich bekannte und meinte.

Nun war aber gerade wieder die Zeit, wo die Physiker eine Reihe merkwürdiger Erfahrungen und Entdeckungen machten und die Neigung, das Sehen mit dem Begreifen zu verwechseln, überhandnahm und naturgemäß vom Stückweisen auf das Ganze geschlossen wurde, öfter aber nur da nicht, wo es am nötigsten war.
Auch verbreiteten neue Philosophen, welche ihre Stichwörter wie alte Hüte von einem Nagel zum andern hingen, böse verwegene Redensarten, und es geschah ein großer Zwang in nachgesagten Meinungen und Sprüchen.

Wer nun unter den Priestern ruhiger und bescheiden war, dachte, es komme auf ein gewisses Maß des Mehr oder Weniger in der Unklarheit nicht gerade an, und verhielt sich klüglicherweise friedlich auf dem gewonnenen Standort, streitbar nur gegen die alten Feinde und Unterdrücker. Andere dagegen wollten um keinen Preis den Anschein haben, als ob sie hinter irgendeiner Sache zurückblieben, nicht alles wüssten und nicht an der Spitze der Dinge ständen. Diese rüsteten sich mit schweren Waffen und setzten sich auf die äußersten Zweige des Baumes hinaus, von wo sie einst mit großem Klirren herabfallen werden.

Der Pfarrer von Schwanau hatte sich zu dieser Schar gesellt, weil auch ihm es nicht möglich war, im Widerspruche mit de Geiste und der Bildung der Zeit zu leben, wie er sie verstand.

Er lehrte daher, es sei der Wissenschaft zuzugeben, dass ein persönlicher Lenker der Welt und hierüber eine Theologie nicht mehr bestehen könne. Aber da, wo die Wissenschaft aufhöre, fange das Glauben und Ahnen des Unerklärten und Unbestimmten an, welches allein das Gemüt ausfüllen könne, und diese Ausfüllung sei eben die Religion, die nach wie vor verwaltet werden müsse, und die Verwaltung dieses Gebietes sei jetzt Theologie, Priester- und Kirchentum. Das göttliche Wort sei demnach unsterblich und heilig und seine Verwaltung heilig und weihevoll. Nach wie vor stelle der Tabernakel aufgerichtet, um welchen alle sich scharen sollen, die nicht an trostloser Leere, des Herzens zugrunde gehen wollen. Ja, das geheimnisvolle Ausfüllsel des Tabernakels bedürfe mehr als je der weihenden und räuchernden Priester, als Lenker der hilfslosen Herde. Keiner dürfe hinter dem Tabernakel herumgehen, sondern jeder müsse sich vertrauensvoll an dessen Verwalter wenden; dafür dürfen die Priester nichts Menschlichem mehr fernbleiben, das sie immer noch am besten verständen, und sie seien erbötig, Überall nach wie vor zu helfen und beizustehen, dass die Wurst am rechten Zipfel angeschnitten würde. Nur verlangen sie dafür Heilighaltung des Tabernakels des Unbekannten und allgemeine Aufmerksamkeit bei Verkündung und Beschreibung desselben.

Hiebei beklagte der Pfarrer in ergreifender Weise die Unwahrhaftigkeit auf der Kanzel, welche die Dinge nicht beim rechten Namen nenne und dem Volke keinen reinen Wein einzuschenken wage, als ob es denselben nicht vertragen könnte und er beschrieb die Unwahrhaftigkeit und Kunst des Verwischens so trefflich, dass die zuhörende Gemeinde von neuem hingerissen ausrief: »Wie schön, wie wahr und tief hat er das wieder gesagt!«

Dann aber forderte er die Versammlungen wiederum auf, alle Schlacken auszuwerfen und sich zu weihen für den Gedanken der Unsterblichkeit durch, die Heiligung alles Tuns. Zwar sei der Wissenschaft zuzugeben, dass die persönliche Fortdauer der Seele ein Traum der Vergangenheit sein dürfte. Wolle und müsse inzwischen einer doch darauf hoffen, so sei ihm das unbenommen; im übrigen aber sei die Unsterblichkeit jetzt schon und in jedem Augenblicke da. Sie bestehe in den unaufhörlichen Wirkungen, die aus jedem Atemzug in den andern folgen und in denen die Gewähr ewiger Fortdauer liege. Seinen Schilderungen konnte dann die unvermählt gebliebene Greisin entnehmen, dass wir in unsern Kindern und Enkeln fortleben; der Arme im Geiste getröstete sich der unsterblichen Fortwirkung seiner Gedanken und Werke; der durch haushälterischen und sparsamen Sinn oft Geplagte freute sich, dass nicht ein Atom seines Leiblichen wirklich verlorengehe, sondern in dem Haushalte der Natur in ewig wechselnder Gestaltung zu Ehren gezogen bleiben und verschwenderisch zur Hervorbringung von tausend neuen Keimen beitragen werde. Der Mühselige und Beladene endlich durfte auf ein durchgreifendes Ausruhen von aller Beschwerde hoffen.

Das Gebäude seiner Rede tapezierte er schließlich mit tausend Verslein und Bildern aus den Dichtern aller Zeiten und Völker auf das schönste aus, wie nie zuvor gesehen worden; es war wie in dem Stübchen eines Zolleinnehmers, der die Armut seiner vier Wände mit Bildausschnitten und Fragmenten, mit Briefköpfen und Wechselvignetten aus allen Ecken der Welt überklebt und vor dem Fenster ein Kapuzinerchen stehen hat, das die Kapuze auf- und abtut.

Es galt aber nicht nur, den Tempel des gesprochenen Wortes also auszuschmücken, sondern auch der wirkliche gemauerte Tempel musste der neuen Zeit entsprechend wiederhergestellt werden. Die Kirche zu Schwanau war noch ein paar Jahrhunderte vor der Reformation erbaut worden und jetzt in dem schmucklosen Zustande, wie der Bildersturm und die streng geistige Gesinnung sie gelassen. Seit Jahrhunderten war das altertümliche graue Bauwerk außen mit Efeu und wilden Rebe übersponnen, innen aber hell geweißt, und durch die helle Fenster, die immer klar gehalten wurden, flutete das Licht des Himmels ungehindert über die Gemeinde hin. Kein Bildwerk war mehr zu sehen als etwa die eingemauerten Grabsteine früherer Geschlechter, und das Wort des Predigers allein waltet ohne alle sinnliche Beihilfe in dem hellen, einfachen und doch ehrwürdigen Raume. Die Gemeinde hatte sich seit drei Jahrhunderten für stark genug gehalten, allen äußern Sinnenschmuck zu verschmähen, um das innere geistige Bildwerk der Erlösungsgeschichte um so eifriger anbeten zu können. Jetzt, da auch dieses gefallen vor dem rauhen Wehen der Zeit, musste der äußere Schmuck wieder herbei, um den Tabernakel des Unbestimmte zieren zu helfen.

Hiefür war vorzüglich Justine gewonnen worden, welche, um den lauen Sinn ihres Mannes soviel als möglich gutzumachen, dem wunderlichen Reformwerke doppelt zugetan war und so wohl mit eigenen reichen Gaben als mit dem eifrigen Sammeln fremder Spenden voranging und kräftig eingriff.

Das sonnige, vom Sommergrün und den hereinnickenden Blumen eingefasste Weiß der Wände hatte zuerst einem bunter Anstrich gotischer Verzierung von dazu unkundiger Hand weichen müssen. Die Gewölbefelder der Decke wurden blau bemalt und mit goldenen Sternen besäet. Dann wurde für gemalte Fenster gesammelt, und bald waren die lichten Bogen mit schwächlichen Evangelisten- und Apostelgestalten ausgefüllt, welche mit ihren großen schwachgefärbten moderner Flächen keine tiefe Glut, sondern nur einen kränklichen Dunstschein hervorzubringen vermochten.

Dann musste wieder ein gedeckter Altartisch und ein Altarbild her, damit der unmerkliche Kreislauf des Bilderdienstes wieder beginnen könne mit dem »ästhetischen Reizmittel«, um unfehlbar dereinst bei dem wundertätigen, blut- oder tränenschwitzenden Figurenwerk, ja bei dem Götzenbild schlechtweg zu endigen, um künftige Reformen nicht ohne Gegenstand zu lassen.

Endlich wurden die Abendmahlkelche von weißem Ahornholze, die weißen reinlichen Brotteller und die zinnernen Weinkannen verbannt und silberne Kelche, Platten und Schenkkrüge vergabt bei jedem Familienereignis in reichen Häusern, auf Justines Betreibung hin, deren reichstolzes Gemüt sich an dem Glanze erfreute, nicht fühlend, dass sie der neuen Kirche zur Grundlage eines artigen alten Kirchenschatzes verhalf, der sich ja jeden Tag still, aber beharrlich vermehren und auch den Ackern und Weinbergen und dem Zehnten von jeder Hand Arbeit wieder locken konnte, zumal ein leerer Tabernakel noch mehr Platz hat als ein besetzter.
Schon waren alle Künste, selbst die Bildhauerei mit einigen übermalten Gipsfiguren, vertreten, ausgenommen die Musik, welche daher eiligst herbeigeholt wurde. Weil zu einem Orgelwerk die Mittel noch nicht beisammen waren, stiftete einer einen trompetentönigen Quiekkasten; ein gemischter Chor studierte kurzerhand alte katholische Messstücke ein, die man der erhöhten Feierlichkeit wegen, und weil niemand den Text verstehen konnte, lateinisch sang. Dieser Chor spaltete sich in verschiedene Abteilungen; Kindergruppen wurden zugezogen und eingeübt, und unter dem Namen einer den Gottesdienst neu belebenden Liturgie wurde, nur versuchsweise, ein wackeres kleines Dramolet in Szene gesetzt, aus welchem sich mit der Zeit wieder die pomphafte Darstellung eines Weltmysteriums gestalten konnte.

Alles Geschaffene wäre aber salzlos gewesen ohne die Übung heilsamer Zucht. Um das erneuerte Tempelhaus zu füllen, duldete der Pfarrherr keinen, der nicht hineingehen wollte. Er kehrte also den Spieß vor allem gegen diejenigen, welche sich draußen hielten und sich vermaßen, das, was er verkündige, selbst schon zu wissen.

»Nicht die Jesuiten und Abergläubigen«, rief er von der Kanzel mit lauter Stimme, »sind jetzt die gefährlichsten Feinde der Kirche, sondern jene Gleichgültigen und Kalten, welche in dünkelhafter Überhebung, in trauriger Halbwisserei unser Kirche und religiösen Gemeinschaft glauben entraten zu können und unsere Lehren verachten, indem sie in schnödem Weltsinne nur der Welt und ihren materiellen Interessen und Genüsse nachjagen. Warum sehen wir diesen und jenen nicht unter uns wenn wir in unserm Tempel vereinigt uns über das Zeitliche zu erheben und das Göttliche, Unvergängliche zu finden trachten? Weil er glaubt, nachdem wir in hundertjährigem Kämpfe die Kirche befreit vom starren Dogmenpanzer, er habe jetzt nichts mehr zu glauben, nichts mehr zu fürchten, nichts mehr zu hoffen, was er sich nicht selbst besser sagen könne als jeder Priester! Weil er nicht weiß, dass alles vergangene und gegenwärtige Glauben und Wissen von göttlichen Dingen nur eine zusammenhängende große und tiefe Wissenschaft bildet, die fortlebt und verwaltet werden muss von denen, die es gelernt haben und verstehen. Weil er endlich nicht weiß, dass, er in der bitteren Stunde seines Todes nach unserm Beistande schmachten und des geheimnisvollen Trostes des Tabernakels bedürftig sein wird!
Aber jetzt ist er noch in Selbstsucht und Dünkel befangen. Weil er frei und ungehindert ist durch unser Verdienst, so verschmäht er es voll Undank, an unserm Zusammenhalte gegen die Gewalt der Finsternis und der Lüge teilzunehmen, den Kampf des Lebens gemeinschaftlich mit uns zu kämpfen, unsere Freude zu der seinigen zu machen und, indem er sich ein Christen nennt, den Altar mit uns zu zieren! Da geht er denn nun so hin, der Dieser und Jener, der Gleichgültling, der Indifferentist, der Stölzling. Freilich weiß er nicht, wie dürftig und betrübt er uns vorkommt in seiner Sicherheit, die wir ihm freilich nicht mehr nehmen können oder wollen, obgleich er! nur von uns hat! Freilich weiß er nicht, wie dürr der Pfad ist, auf dem er so dahinwandelt, an welchem keine Sonntagsglocken läuten, auf dem keine Ostern und keine Auferstehung blüht, nicht die Auferstehung des Fleisches meine ich, sondern die Auferstehung des Geistes, die ewige Ostern des Herzens! Es geht ihm auch darnach! Kein Segen begleitet ihn, sein Gemüt verbittert sich und grollt mit uns, die wir uns unserer Errungenschaften und des Werkes unseres Herren Jesu Christi erfreuen und das Osterlamm genießen jetzt und alle Tage. Wenn dann Strom und Bäche vom Eise befreit sind und selig und jubelvoll, 'bis zum Sinken überladen, entfernt sich unser letzter Kahn'1, dann wird er traurig am Ufer stehen und uns trotzig nachschauen, ein Selbstausgeschlossener und Selbstverurteilter! Denn wir verurteilen niemanden und verdammen keinen. Nein, wir lassen jedem seine Freiheit, eingedenk des allerdings furchtbar doppelsinnigen Wortes: 'Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht, vor dem freien Menschen erzittert nicht!'2

Du aber lass ihn nicht entrinnen aus den diamantenen Ketten deiner ewigen Sittengesetze, die du gegründet hast, o alliebender Schöpfer und Herr, Urheber der Grundfesten des Landes und der gürtenden Flut des Meeres, o du Spanner des ewigen Himmelszeltes! Führe ihn zurück in dein schützendes Heiligtum, das wir dir errichtet nach deinem Gebote, das du uns verkündet durch den Mund Mose:

Und wer unter euch verständig ist, der komme und mache, was der Herr geboten hat: nämlich die Wohnung mit ihrer Hütte und Decke, Ringen, Brettern, Riegeln, Säulen und Füßen; die Lade mit ihren Stangen, den Gnadenstuhl und Vorhang; den Tisch mit seinen Stangen und allem seinem Geräte, und die Schaubrote; den Leuchter, zu leuchten, und sein Geräte und seine Lampen, und das Öl zum Licht; den Räucheraltar mit seinen Stangen, die Salbe und Spezerei zum Räucherwerk; das Tuch vor der Wohnung Tür; das Handfass mit seinem Fuße; die Kleider des Amtes zum Dienst im Heiligen, die heiligen Kleider Aarons, des Priesters, mit den Kleidern seiner Söhne, zum Priestertum.3

Bringe ihn herein in deine Wohnung, dass er mit uns bete:

Geist der Liebe, Weltenseele, Vaterohr, das keine
Stimme überhöret der dich lobenden Gemeine!
Eine Reihe Dankgebetes, Lobgesangs ein Faden,
Zieht sich hin vom Duft des Morgens zu des Abends Scheine.
Eine Reihe Lobgesanges, Dankgebets ein Faden,
Zieht sich hin vom Duft des Abends zu des Morgens Scheine.
Gib, dass diese Seele auch durch der Gebetesflammen
Schürung dir die innere Lebendigkeit bescheine!4

Gib, dass er das Land der Unvergänglichkeit suche mit der Sehnsucht der Goetheschen Priesterjungfrau, die da sagte:

Und an dem Ufer steh ich lange Tage,
Das Land der Griechen mit der Seele suchend!5

dass er einst mit der sterbenden Blume des Dichters singe:

Ew'ges Flammenherz der Welt,
Lass verglimmen mich an dir!
Himmel, spann dein blaues Zelt,
Mein vergrüntes sinket hier.
Heil, o Frühling, deinem Schein!
Morgenluft, Heil deinem Wehn!
Ohne Kummer schlaf ich ein,
Ohne Hoffnung aufzustehn6

und ihm die Antwort werde:

O bescheidenes Gemüt,
Tröste dich, beschieden ist
Samen allem, was da blüht.
Lass den Sturm des Todes doch
Deinen Lebensstaub verstreun,
Aus dem Staube wirst du noch
Hundertmal dich selbst erneun.7

Amen!«

Hatte er dermaßen wohlklingend und nicht selten mit wirklich feuchten Augen, von seinem Galimathias selbst aufgeregt, geendet, so geschah es häufig, dass auf dem Kirchwege die Zuhörer herbeieilten und ihm dankend die Hände drückten, und an den wohlbesetzten Mittagstafeln wurde er aus schönem Munde gefühlsbedürftig gepriesen, von klugen Männern gelobt, dass man jetzt auch wieder einmal kirchlich und christlich sein könne, ohne sich dem Verdachte der Beschränktheit und des Zurückbleibens auszusetzen.

Zu den also bescholtenen Gleichgültigen und Indifferenten gehörte auch Jukundus. Er war der neuen Kirche nicht feindlich gesinnt und wünschte ihr nichts in den Weg zu legen, wohl wissend, dass alle Dinge in der Welt ihren Verlauf haben müssen. Allein mit seiner naiven Wahrheitsliebe war es ihm unmöglich, den Schein einer solchen wenigstens für gedankengeübte Männer unwahren Kirchlichkeit mitzutragen, und machte von dem Rechte seiner persönlichen Freiheit ohne Geräusch und Prahlen Gebrauch. Er tat dies um so hartnäckiger, als dieses Gebiet fast das einzige war, auf welchem er seine volle Unabhängigkeit von der Sorge wie von der Liebe noch bewahrte.

Der Pfarrer aber, welcher die Frau Justine zu seinen Hauptstützen zählte, da sie mit ihrem Ansehen fast für einen Kirchenältesten gelten konnte, mochte nicht gerne leiden, dass deren Mann die Sache durch sein Fernstehen nicht zu billigen und so über derselben stehen zu wollen schien. Er empfand alles solches Fernstehen als einen stillen Vorwurf gegen sich selbst und eine schweigende Kritik seines Tuns, und er hatte daher einen Groll gegen Jukundus gefasst und predigte gegen ihn. Denn auch diese Untugend hatten einige der neuen Priester von de alten herübergenommen, dass sie auf der Kanzel, wo sie allein das Wort führten und niemand erwidern durfte, aussprachen, was sie irgend persönlich bedrückte, und nach Gutdünken anklagten und verzeigten. Jener wusste aber hievon nichts, weil nicht viel achtgab auf der Leute Reden und dem Sinne undeutlicher Anspielungen nicht nachfragte.

Als Jukundus am spätern Abend also auf den Pfarrhof kam um seine Frau versprochenermaßen abzuholen, hatte der Pfarrer seinen Vortrag über die gegenseitige Verjüngung der Kirch und der schönen Künste vor einigen Freunden eben beendigt. Jukundus musste noch ein wenig Platz nehmen.

»Wenn Sie mir gegönnt hätten, meine kleine Arbeit mit Ihrem Mitanhören zu beehren«, sagte der Pfarrherr, »so würden Sie vielleicht einen Ausgleichspunkt gefunden haben in dem Gedanken, dass jetzt die Zeit da ist, wo die Kunst ihr Dasein der Religion danken und der guten reichen und doch jetzt so armen Mutter vergelten kann! Sie würden vielleicht selbst einige Befriedigung in der Aussicht finden, wenigstens in eine, bedeutenden Tonwerk etwa einst in Gemeinschaft mit uns Ihr Herz aussingen zu können, möchten Sie auch dabei denken was Sie wollten, und uns überlassen, das gleiche zu tun!«

Justine schaute bei diesen Worten ihren Mann hoffnungsvoll an. Es war ihre schönste Erinnerung, in dem ersten Jahre ihrer Ehe mit ihm in einer größeren Stadt an einem musikalische Feste mitgewirkt zu haben. Bei der Aufführung eines mächtigen biblischen Oratoriums hatten sie sich, jedes bei seine Stimme, so nahe gestanden, dass sie in den Pausen einander die Hand geben konnten. Am Abend hatte Jukundus seine Frau zärtlich in die Arme geschlossen und ihr gestanden, dass er trotz allem Erlebten noch nie so glücklich gewesen sei wie heute, der in dem wohltönigen Sturme der Musik und des Gesanges mitgesungen und dabei neben sich noch ihre liebe Stimme mitgehört habe.

Allein jetzt erwiderte er dem Geistlichen, schon in trüber Stimmung gekommen und durch dessen Gewaltsamkeit nicht ausgeheitert, etwas trocken:

»Ich bin nicht Ihrer Ansicht, dass die Religion die Kunst hervorgebracht habe. Ich glaube vielmehr, dass die Kunst für sich allein da ist von jeher und dass sie es ist, welche die Religion auf ihrem Wege mitgenommen und eine Strecke weit geführt hat!«

Der Pfarrer wurde ganz rot; er ertrug im Kreise seiner engsten Gemeinde solchen Widerspruch nicht leicht und sagte:

»Nun, wir wollen die Sache nicht weiter verfolgen; Sie sind wohl in mehr als einer Beziehung ein Laie, sonst würde Ihnen bekannt sein, dass wir Theologen heutzutage manche Kreise des Wissens in unsere theologische Wissenschaft hereingezogen haben, die ihr sonst nicht verpflichtet waren und deren Übersicht Ihnen in Ihrer Lebensstellung fehlt!«

Jukundus versetzte etwas hart:

»Dieses Bedürfnis mögt Ihr Theologen fühlen; ich glaube aber nicht, dass Euere Theologie dadurch den Charakter einer lebendigen Wissenschaft wiedergewinnt, sowenig als die ehemalige Kabbalistik, die Alchimie oder die Astrologie noch eine solche genannt werden könnten!«

Hiedurch in seinem Innersten getroffen und beleidigt, rief der Geistliche:

»Ihr Hass gegen uns macht Sie blind und töricht! Aber es ist genug, wir stehen über Ihnen und Ihresgleichen, und Ihr werdet in Euerem verblendeten Dünkel die Köpfe an unserm festen Bau einrennen!«

»Immer gleich das Gefährlichste!« sagte Jukundus, der inzwischen ganz ruhig geworden war; »wir rennen gegen keine Wand! Auch handelt es sich nicht um Hass und nicht um Zorn! Es handelt sich einfach darum, dass wir nicht immer von neuem anfangen dürfen, Lehrämter über das zu errichten, was keiner den andern lehren kann, wenn er ehrlich und wahr sein will, und diese Ämter denen zu übertragen, welche die Hände danach ausstrecken. Ich als einzelner halte es vorläufig so und wünsche Euch indessen alles Wohlergehen; nur bitte ich, mich vollkommen in Ruhe zu lassen; denn hierin verstehe ich keine Scherz!«

Er hatte diese letzten Worte mit fester Stimme gesprochen, und diese Stimme zerriss seiner Frau, die seinen Arm zum Weggehen ergriffen hatte, das Herz. Sie hatte in der neuen Kirchenkultur, die ihr so freisinnig, so gebildet, so billig schien, zuletzt fast den einzigen Halt gegen den geheimen Kummer gefunden, der sie drückte; nun war ihr Mann in offene Auflehnung dagegen ausgebrochen. Denn sie hielt ihn dem Pfarrer gegenüber für unwissend und unzulänglich, für einen Unglücklichen! Das Unheil eines Glaubenszwiespaltes in Verbindung mit einem beginnenden häuslichen Unglück war plötzlich da, mitten in der so erleuchteten und wohlredenden Kirchenwelt.

Kaum auf die Straße gekommen, ließ Justine den Arm ihr Mannes fahren und ging wie taumelnd neben ihm her, leise weinend. Da es herbstlich stürmte und regnete, so glaubte Jukundus, sie wolle bequemer allein gehen, und achtete nicht a ihren Zustand. Bis sie zu Hause angekommen, hatte sie sich äußerlich gefasst; inwendig aber zitterte sie vor Aufregung und Entrüstung.

Jukundus, den Vorfall schnell vergessend und von andern Sorgen erfüllt, wollte mit ihr jetzt die gemeinsame Lage: sprechen und ihr darstellen, wie er glaube, dass sein rechter Platz nicht in diesem Hause sei, dass er doch versuchen müsse auf eigenen Füßen zu stehen, wozu wohl noch schöne Zeit sei; dass sie ihm in die Hauptstadt folgen sollte, wo er gute Verbindungen und Freunde habe. Wenn sie einige Mittel von den Eltern mitnehmen könnte für den Anfang, nur so viel, als sie etwa für den Kirchenkultus und die andern Lieblingssachen schon ausgegeben habe, so wäre ihm für die Zukunft nicht bange.


Erläuterungen:

1 Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832): Faust I (1808), Szene vor dem Tor:

FAUST.

Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick;
Im Tale grünet Hoffnungsglück;
Der alte Winter, in seiner Schwäche,
Zog sich in rauhe Berge zurück.
Von dorther sendet er, fliehend, nur
Ohnmächtige Schauer körnigen Eises
In Streifen über die grünende Flur;
Aber die Sonne duldet kein Weißes:
Überall regt sich Bildung und Streben,
Alles will sie mit Farben beleben;
Doch an Blumen fehlt's im Revier,
Sie nimmt geputzte Menschen dafür.
Kehre dich um, von diesen Höhen
Nach der Stadt zurückzusehen.
Aus dem hohlen finstern Tor
Dringt ein buntes Gewimmel hervor.
Jeder sonnt sich heute so gern.
Sie feiern die Auferstehung des Herrn,
Denn sie sind selber auferstanden,
Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
Aus Handwerks- und Gewerbesbanden,
Aus dem Druck von Giebeln und Dächern,
Aus der Straßen quetschender Enge,
Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht
Sind sie alle ans Licht gebracht.
Sieh nur, sieh! wie behend sich die Menge
Durch die Gärten und Felder zerschlägt,
Wie der Fluss, in Breit' und Länge,
So manchen lustigen Nachen bewegt,
Und bis zum Sinken überladen
Entfernt sich dieser letzte Kahn.

Selbst von des Berges fernen Pfaden
Blinken uns farbige Kleider an.
Ich höre schon des Dorfs Getümmel,
Hier ist des Volkes wahrer Himmel,
Zufrieden jauchzet groß und klein;
Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein.

2 Friedrich Schiller: Die Worte des Glaubens (1789 - 1805):

Drei Worte nenn ich euch, inhaltschwer,
Sie gehen von Munde zu Munde,
Doch stammen sie nicht von außen her,
Das Herz nur gibt davon Kunde.
Dem Menschen ist aller Wert geraubt,
Wenn er nicht mehr an die drei Worte glaubt.

Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei,
Und würd er in Ketten geboren,
Lasst euch nicht irren des Pöbels Geschrei,
Nicht den Missbrauch rasender Toren.
Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht,
Vor dem freien Menschen erzittert nicht.


Und die Tugend, sie ist kein leerer Schall,
Der Mensch kann sie üben im Leben,
Und sollt er auch straucheln überall,
Er kann nach der göttlichen streben,
Und was kein Verstand der Verständigen sieht,
Das übet in Einfalt ein kindlich Gemüt.

Und ein Gott ist, ein heiliger Wille lebt,
Wie auch der menschliche wanke,
Hoch über der Zeit und dem Raume webt
Lebendig der höchste Gedanke,
Und ob alles in ewigem Wechsel kreist,
Es beharret im Wechsel ein ruhiger Geist.

Die drei Worte bewahret euch, inhaltschwer,
Sie pflanzet von Munde zu Munde,
Und stammen sie gleich nicht von außen her,
Euer Innres gibt davon Kunde,
Dem Menschen ist nimmer sein Wert geraubt,
Solang er noch an die drei Worte glaubt.

3 Exodus (2. Buch Mose) Kapitel 35, 10 - 19

4 Friedrich Rückert (1788-1866): Pantheon (1843)

5 Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832): Iphigenie auf Tauris (1787), 1. Aufzug, 1. Auftritt:


IPHIGENIE.

Heraus in eure Schatten, rege Wipfel
Des alten, heil'gen, dichtbelaubten Haines,
Wie in der Göttin stilles Heiligtum
Tret' ich noch jetzt mit schauderndem Gefühl,
Als wenn ich sie zum erstenmal beträte,
Und es gewöhnt sich nicht mein Geist hierher.
So manches Jahr bewahrt mich hier verborgen
Ein hoher Wille, dem ich mich ergebe;
Doch immer bin ich, wie im ersten, fremd.
Denn ach! mich trennt das Meer von den Geliebten,
Und an dem Ufer steh' ich lange Tage,
Das Land der Griechen mit der Seele suchend;

Und gegen meine Seufzer bringt die Welle
Nur dumpfe Töne brausend mir herüber.
Weh dem, der fern von Eltern und Geschwistern
Ein einsam Leben führt! Ihm zehrt der Gram
Das nächste Glück vor seinen Lippen weg,
Ihm schwärmen abwärts immer die Gedanken
Nach seines Vaters Hallen, wo die Sonne
Zuerst den Himmel vor ihm aufschloss, wo
Sich Mitgeborne spielend fest und fester
Mit sanften Banden aneinander knüpften.
Ich rechte mit den Göttern nicht, allein
Der Frauen Zustand ist beklagenswert.
Zu Haus und in dem Kriege herrscht der Mann,
Und in der Fremde weiß er sich zu helfen.
Ihn freuet der Besitz; ihn krönt der Sieg!
Ein ehrenvoller Tod ist ihm bereitet.

6 Friedrich Rückert (1788-1866): Pantheon (1843)

7 Friedrich Rückert (1788-1866): Pantheon (1843)


Nachwirkungen:

"Der in Horgen amtierende Pfarrer C. W. [Conrad Wilhelm] Kambli hatte eine theologische Untersuchung gegen Gottfried Keller angestellt:

«Gottfried Keller nach seiner Stellung zu Religion und Christentum, Kirche, Theologie und Geistlichkeit» (F. Hasselbrink, Stuttgart).

[Kambli, Konrad Wilhelm <1829 - 1914> Titel Gottfried Keller nach seiner Stellung zu Religion und Christenthum, Kirche, Theologie und Geistlichkeit. -- St. Gallen : [s.n.], 1891.]

Ausgangspunkt für seine Unternehmung war die Novelle «Das verlorene Lachen», worin der Dichter die Reformpfarrer anprangert. Kambli glaubte sich gar persönlich darin zu finden. Gegen diese Schrift zog Josef Victor Widmann, im Sonntagsblatt. Bd. Nr. 39, 1891 zu Felde. Er weist darin als ungehörig zurück, dass Kambli ein Jahr nach Gottfried Kellerss Tod diesen «pfäffisch» herabsetzen wolle und schlau im Gewande einer scheinbar objektiven Untersuchung zu Werk gehe, in Wahrheit aber gleichsam des Menschen Sohn mit einem Kuss verrate. Josef Victor Widmann stellt dann Gottfried Kellerss Gründe gegen die Reformer dar, vor allem die: er könne als Dichter nicht mit Halbheiten vorliebnehmen. Halbheiten aber leisteten sich die Reformer, indem sie, von naturwissenschaftlichen Zweifeln angegriffen, dennoch als Verwalter des göttlichen Geheimnisses aufträten. Diese Parierung des Kambli-Angriffs brachte die Reformtheologen in Harnisch, so dass Josef Victor Widmann noch wiederholt Stellung beziehen musste. So im Feulleton Bd.Nr. 289, wo er einen Artikel in der «NZZ» [Neuen Zürcher Zeitung], welcher Kambli in Schutz nahm, zurückweist und dabei auch C. F. Meyer abschirmt, den die Kambli-Freunde als Helfer mithineingezogen hatten. Dann kam im Feuilleton [der Zeitung Der Bund : unabhängige liberale Tageszeitung Verlag. -- Bern ] Bd. Nr. 314-315 die Besprechung einer die Kambli-Sache betreffenden Schrift von Otto von Greyerz in der «Schweizerischen Rundschau», im Feuilleton Bd. Nr. 315 ein Artikel mit dem scharfen Titel «Wieder ein Eselstritt, an Gottfried Keller verübt», worin Josef Victor Widmann gegen einen Anonymus in den zürcherischen «Zeitstimmen» vorgeht, welcher den Dichter mit Anspielungen auf seine Wirtshaussesshaftigkeit verunglimpft. Schließlich sah Josef Victor Widmann sich genötigt, seine Stellung zu Religion und Kirche genau darzulegen. Das geschah in dem großen Aufsatz «Aus meiner theologischen Zeit» im Feuilleton Bd. Nr. 319-324 mit der stachlichten Widmung «Den Herren Reformtheologen auf ihr Spezielles!»"

Bezieht sich auf den Brief Josef Victor Widmanns an Henriette Feuerbach vom 1891-12-06, in dem Widmann u.a. schreibt:

"79] Bern, den 6. Dezember 18 91

Verehrte Freundin!

Nun ist es bald einen Monat her, daß Ihr schöner Brief unbeantwortet auf meinem Tische liegt. Es war eben für mich ein Monat großer Arbeit, teilweise auch publizistischen Kampfes.

Einmal zog ich gegen die angeblich freisinnigen sogenannten "Reformpfarrer" zu Felde, von denen Einer das Andenken unseres großen Gottfried Keller verunglimpft hatte durch eine Untersuchung, wie sich G. Keller zu Religion und Kirche gestellt habe, was ein negatives Resultat ergab. Als ich diesen
Pfarrer beim Schopf kriegte, liefen alle die andern Raben herbei und wollten dem Kameraden helfen und hackten nach mir mit den Schnäbeln. Da antwortete ich ihnen mit einem langen Aufsatze: Lebenserinnerungen eines Theologen, worin ich schlicht und recht, zum Teil auch mit gutem Humor, die Erfahrungen erzählte, die ich selbst in dem einen Jahr eines Pfarrhelferamtes mit der sogenannten freisinnigen Theologie machte, wie dieselbe nämlich nur Mignons Eiertanz (und leider ohne Mignons Grazie!) ist. Die ganze deutsche protestantische Schweiz — die Betroffenen natürlich ausgenommen — hat an dieser Artikelserie ihre helle Freude gehabt und ich darf mit Zufriedenheit auf diesen Kampf zurückblicken."

[Quelle: Widmann, Josef Victor <1842 - 1911>: Briefwechsel mit Henriette Feuerbach und Ricarda Huch / Einführung von Max Rychner. Hrsg. von Charlotte von Dach. -- Zürich ; Stuttgart : Artemis Verl., 1965. -- XXIV, 577 S. ; 21 cm. -- S. 474f.; 143f.]

Die Lebenserinnerungen eines Theologen siehe:

Widmann, Josef Victor <1842 - 1911>: Aus meiner theologischen Zeit.  -- 1891. -- URL:  http://www.payer.de/religionskritik/widmann03.htm   


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