Herausgegeben von Alois Payer (payer@payer.de)
Zitierweise / cite as:
Lenin, Wladimir I. <1870 - 1924>: Sozialismus und Religion. -- 1905. -- Fassung vom 2005-01-03. -- URL: http://www.payer.de/religionskritik/lenin02.htm
Erstmals publiziert: 2005-01-03
Überarbeitungen:
©opyright: Public Domain
Dieser Text ist Teil der Abteilung Religionskritik von Tüpfli's Global Village Library
Erstmals erschienen in:
Nowaja Shisn. -- Nr. 28, 3. Dezember 1905
Kritische Ausgabe:
Lenin, Vladimir Il'ich <1870-1924>: [Werke] Sochineniia. -- [Moskva] : Gos. izd-vo polit. lit-ry, 1941 - . -- Bd. 10. -- S. 70 -75
Übersetzung nach:
Lenin, Vladimir Il'ic <1870 - 1924>: Über die Religion : eine Auswahl. -- Berlin : Dietz, 1981. -- 160 S. ; 18 cm. -- (Bücherei des Marxismus-Leninismus). -- S. 39 - 44
Sozialismus und Religion
Die moderne Gesellschaft ist ganz auf der Ausbeutung der ungeheuren Massen der
Arbeiterklasse durch eine verschwindend kleine, zu den Klassen der
Grundeigentümer und Kapitalisten gehörende Minderheit der Bevölkerung aufgebaut.
Das ist eine Sklavenhaltergesellschaft denn die »freien« Arbeiter, die ihr Leben
lang für das Kapital arbeiten, »haben Anrecht« nur auf solche Existenzmittel,
die zum Lebensunterhalt der Profit erzeugenden Sklaven und zur Sicherung und
Verewigung der kapitalistischen Sklaverei notwendig sind.
Die ökonomische Unterdrückung der Arbeiter verursacht und erzeugt unvermeidlich
alle möglichen Arten der politischen Unterdrückung und sozialen Erniedrigung,
der Verrohung und Verkümmerung des geistigen und sittlichen Lebens der Massen.
Die Arbeiter können sich mehr oder weniger politische Freiheit für den Kampf um
ihre ökonomische Befreiung erringen, aber keinerlei Freiheit wird sie von Elend,
Arbeitslosigkeit und Unterdrückung erlösen, solange die Macht des Kapitals nicht
gestürzt ist. Die Religion ist eine von verschiedenen Arten geistigen Joches,
das überall und allenthalben auf den durch ewige Arbeit für andere, durch Not
und Vereinsamung niedergedrückten Volksmassen lastet. Die Ohnmacht der
ausgebeuteten Klassen im Kampf gegen die Ausbeuter erzeugt ebenso unvermeidlich
den Glauben an ein besseres Leben im Jenseits, wie die Ohnmacht des Wilden im
Kampf mit der Natur den Glauben an Götter, Teufel, Wunder usw. erzeugt.
Denjenigen, der sein Leben lang arbeitet und Not leidet, lehrt die Religion
Demut und Langmut hienieden und vertröstet ihn mit der Hoffnung auf himmlischen
Lohn. Diejenigen aber, die von fremder Arbeit leben, lehrt die Religion
Wohltätigkeit hienieden, womit sie ihnen eine recht billige Rechtfertigung ihres
ganzen Ausbeuterdaseins anbietet und Eintrittskarten für die himmlische
Seligkeit zu erschwinglichen Preisen verkauft. Die Religion ist das Opium des
Volks. Die Religion ist eine Art geistigen Fusels, in dem die Sklaven des
Kapitals ihr Menschenantlitz und ihre Ansprüche auf ein halbwegs
menschenwürdiges Leben ersäufen.
Abb.: "Religion ist Opium des Volkes": Opiumraucher. -- 1890 [Bildquelle:
http://uchronia.free.fr/g_scene_etrange.htm. -- Zugriff am 2005-01-03]
Doch der Sklave, der sich seiner Sklaverei bewusst geworden ist
und sich zum Kampf für seine Befreiung erhoben hat/hört bereits zur Hälfte auf,
ein Sklave zu sein. Durch die Fabrik der Großindustrie erzogen und durch das
städtische Leben aufgeklärt, wirft der moderne klassenbewusste Arbeiter die
religiösen Vorurteile mit Verachtung von sich, überlässt den Himmel den Pfaffen
und bürgerlichen Frömmlern und erkämpft sich ein besseres Leben hier auf Erden.
Das moderne Proletariat bekennt sich zum Sozialismus, der die Wissenschaft in
den Dienst des Kampfes gegen den religiösen Nebel stellt und die Arbeiter vom
Glauben an ein jenseitiges Leben dadurch befreit, dass er sie zum diesseitigen
Kampf für ein besseres irdisches Leben zusammenschließt.
Erklärung der Religion zur Privatsache — mit diesen Worten wird gewöhnlich die
Stellung der Sozialisten zur Religion ausgedrückt. Doch die Bedeutung dieser
Worte muss man genau definieren, damit sie keine Missverständnisse hervorrufen
können. Wir fordern, dass die Religion dem Staat gegenüber Privatsache sei,
können sie aber keinesfalls unserer eigenen Partei gegenüber als Privatsache
betrachten. Den Staat soll die Religion nichts angehen, die
Religionsgemeinschaften dürfen mit der Staatsmacht nicht verbunden sein. Jedem
muss es vollkommen freistehen, sich zu jeder beliebigen Religion zu bekennen
oder gar keine Religion anzuerkennen, d. h. Atheist zu sein, was ja auch jeder
Sozialist in der Regel ist. Alle rechtlichen Unterschiede zwischen den
Staatsbürgern je nach ihrem religiösen Bekenntnis sind absolut unzulässig.
Selbst die Erwähnung der Konfession der Staatsbürger in amtlichen Dokumenten
muss unbedingt ausgemerzt werden. Es darf keine Zuwendungen an eine
Staatskirche, keine Zuwendungen von Staatsmitteln an kirchliche und religiöse
Gemeinschaften geben, die völlig freie, von der Staatsmacht unabhängige
Vereinigungen gleichgesinnter Bürger werden müssen. Nur die restlose Erfüllung
dieser Forderungen kann Schluss machen mit jener schmählichen und verfluchten
Vergangenheit, da die Kirche in leibeigener Abhängigkeit vom Staat war und die
russischen Bürger in leibeigener Abhängigkeit von der Staatskirche waren, da
(bis auf den heutigen Tag in unseren Strafgesetzbüchern und Prozessualordnungen
erhalten gebliebene) mittelalterliche, inquisitorische Gesetze bestanden und
angewandt wurden, die Glauben oder Unglauben verfolgten, das Gewissen der
Menschen vergewaltigten, Staatspöstchen und Staatspfründen mit der Verteilung
dieses oder jenes Staatskirchenfusels verknüpften. Vollständige Trennung der
Kirche vom Staat — das ist die Forderung, die das sozialistische Proletariat an
den heutigen Staat und die heutige Kirche stellt.
Abb.: Auch noch 85 Jahre nach der russischen Revolution: Metropolit Kirill von
Smolensk -- 1902 [Bildquelle:
http://www.livenet.ch/www/index.php/D/article/192/5335/. -- Zugriff am
2005-01-03]
Die russische Revolution muss diese Forderung als unerlässlichen Bestandteil der politischen Freiheit verwirklichen. Die russische Revolution findet diesbezüglich besonders günstige Bedingungen vor, denn die widerwärtige Bürokratenwirtschaft des absolutistischen Polizei- und Leibeigenschaftsstaates hat selbst innerhalb der Geistlichkeit Unzufriedenheit, Gärung und Empörung hervorgerufen. So geduckt und unwissend die russische rechtgläubige Geistlichkeit auch war, sogar sie wurde jetzt von dem Getöse geweckt, mit dem die alte, mittelalterliche Ordnung in Russland eingestürzt ist. Sogar sie schließt sich der Forderung nach Freiheit an, protestiert gegen die Bürokratenwirtschaft und Beamtenwillkür, gegen die polizeilichen Spitzeldienste, zu denen die »Diener Gottes« genötigt werden. Wir Sozialisten müssen diese Bewegung unterstützen, indem wir die Forderungen der ehrlichen und aufrichtigen Geistlichen bis zu Ende führen, diese Leute, wenn sie von Freiheit sprechen, beim Wort nehmen, von ihnen fordern, dass sie jedes Band zwischen Religion und Polizei entschlossen zerreißen. Entweder ihr seid aufrichtig — dann müsst ihr für die völlige Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche, für die uneingeschränkte und vorbehaltlose Erklärung der Religion zur Privatsache sein. Oder ihr akzeptiert diese konsequenten Forderungen nach Freiheit nicht — dann seid ihr also immer noch in den Überlieferungen der Inquisition befangen, dann klebt ihr also immer noch an den Staatspöstchen und Staatspfründen, dann glaubt ihr also nicht an die geistige Kraft eurer Waffe und lasst euch nach wie vor von der Staatsmacht bestechen — und dann erklären euch die klassenbewussten Arbeiter ganz Russlands den schonungslosen Krieg.
Abb.: "Dann klebt ihr also immer noch an den Staatspöstchen und Staatspfründen":
Russlands Präsident Putin und hohe Geistliche: "Orthodoxy, which occupies a special place
in Russian history, continues to play a paramount role in preserving the moral
pillars of social life," Putin said. -- 2004 [Bildquelle:
http://www.apn.gr/ubb/Forum1/HTML/000726.html. -- Zugriff am 2005-01-03]
Für die Partei des sozialistischen Proletariats ist die Religion
keine Privatsache. Unsere Partei ist ein Bund klassenbewusster,
fortgeschrittener Kämpfer für die Befreiung der Arbeiterklasse. Ein solcher Bund
kann und darf sich nicht gleichgültig verhalten zu Unaufgeklärtheit, zu
Unwissenheit oder zu Dunkelmännertum in Form von religiösem Glauben. Wir fordern
die völlige Trennung der Kirche vom Staat, um gegen den religiösen Nebel mit
rein geistigen und nur geistigen Waffen, mit unserer Presse, unserem Wort zu
kämpfen. Aber wir haben unseren Bund, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei
Russlands, unter anderem gerade für einen solchen Kampf gegen Jede religiöse
Verdummung der Arbeiter gegründet. Für uns ist der ideologische Kampf keine
Privatsache, sondern eine Angelegenheit der ganzen Partei, des gesamten
Proletariats.
Wenn dem so ist, warum erklären wir in unserem Programm nicht, dass wir
Atheisten sind? Warum verwehren wir es Christen und Gottesgläubigen nicht, in
unsere Partei einzutreten?
Die Antwort auf diese Frage soll einen sehr wichtigen Unterschied zwischen der
bürgerlich-demokratischen und der sozialdemokratischen Fragestellung
hinsichtlich der Religion klarmachen.
Unserem ganzen Programm liegt eine wissenschaftliche, und zwar die
materialistische Weltanschauung zugrunde. Die Erläuterung unseres Programms
schließt daher notwendigerweise auch die Klarlegung der wahren historischen und
ökonomischen Quellen des religiösen Nebels ein. Unsere Propaganda schließt
notwendigerweise auch die Propaganda des Atheismus ein; die Herausgabe
entsprechender wissenschaftlicher Literatur, die von der
absolutistisch-fronherrschaftlichen Staatsmacht bisher streng verboten und
verfolgt worden ist, muss jetzt einen Zweig unserer Parteiarbeit bilden. Wir
werden jetzt wahrscheinlich den Rat befolgen müssen, den Engels einmal den
deutschen Sozialisten erteilt hat1: die Literatur der französischen
Aufklärer und Atheisten des 18. Jahrhunderts zu übersetzen und massenhaft zu
verbreiten.
Doch wir dürfen uns dabei auf keinen Fall dazu verleiten lassen, die religiöse
Frage abstrakt, idealistisch, »von Vernunft wegen«, außerhalb des Klassenkampfes
zu stellen, wie das radikale Demokraten aus der Bourgeoisie häufig tun. Es wäre
unsinnig, zu glauben, man könne in einer Gesellschaft, die auf schrankenloser
Unterdrückung und Verrohung der Arbeitermassen aufgebaut ist, die religiösen
Vorurteile auf rein propagandistischem Wege zerstreuen. Es wäre bürgerliche
Beschränktheit, zu vergessen, dass der auf der Menschheit lastende Druck der
Religion nur Produkt und Spiegelbild des ökonomischen Drucks innerhalb der
Gesellschaft ist. Durch keine Broschüren, durch keine Propaganda kann man das
Proletariat aufklären, wenn es nicht durch seinen eigenen Kampf gegen die
finsteren Mächte des Kapitalismus aufgeklärt wird. Die Einheit dieses wirklich
revolutionären Kampfes der unterdrückten Klasse für ein Paradies auf Erden ist
uns wichtiger als die Einheit der Meinungen der Proletarier über das Paradies im
Himmel.
Das ist der Grund, warum wir in unserem Programm von unserem Atheismus nicht
sprechen und nicht sprechen dürfen; das ist der Grund, warum wir den
Proletariern, die noch diese oder jene Überreste der alten Vorurteile bewahrt
haben, die Annäherung an unsere Partei nicht verwehren und nicht verwehren
dürfen. Die wissenschaftliche Weltanschauung werden wir immer propagieren, und
die Inkonsequenz irgendwelcher »Christen« müssen wir bekämpfen; das bedeutet
aber durchaus nicht, dass man die religiöse Frage an die erste Stelle rücken
soll, die ihr keineswegs zukommt, dass man eine Zersplitterung der Kräfte des
wirklich revolutionären, des ökonomischen und politischen Kampfes um
drittrangiger Meinungen oder Hirngespinste willen zulassen soll/ die rasch Jede
politische Bedeutung verlieren und durch den ganzen Gang der ökonomischen
Entwicklung bald in die Rumpelkammer geworfen werden.
Die reaktionäre Bourgeoisie hat überall danach getrachtet und beginnt jetzt auch
bei uns danach zu trachten, den religiösen Hader zu entfachen, um so die
Aufmerksamkeit der Massen von den wirklich wichtigen und grundlegenden
ökonomischen und politischen Fragen abzulenken, die das gesamtrussische
Proletariat das sich in seinem revolutionären Kampf zusammenschließt, jetzt
praktisch löst. Diese reaktionäre Politik der Zersplitterung der proletarischen
Kräfte, die sich heute hauptsächlich in Pogromen der Schwarzhunderter äußert,
kann morgen sehr wohl auch irgendwelche raffinierteren Formen ersinnen. Wir
werden ihr jedenfalls die ruhige, beharrliche und geduldige, von jeder
Aufbauschung zweitrangiger Meinungsverschiedenheiten freie Propaganda der
proletarischen Solidarität und der wissenschaftlichen Weltanschauung
entgegenstellen.
Das revolutionäre Proletariat wird durchsetzen, dass die Religion für den Staat
wirklich zur Privatsache wird. Und unter diesem, vom mittelalterlichen Moder
gesäuberten politischen Regime wird das Proletariat einen breiten und offenen
Kampf führen, um die ökonomische Sklaverei, diese wahre Quelle der religiösen
Verdummung der Menschheit, zu beseitigen.
Erläuterung:
1 Engels, Friedrich <1820 - 1895>: Programm der blanquistischen Kommuneflüchtlinge <Auszug>. -- (Flüchtlingsliteratur ; II). -- 1874. URL: http://www.payer.de/religionskritik/engels02.htm. -- Zugriff am 2005-01-03
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