Religionskritisches von Oskar Panizza

Das Wachsfigurenkabinett (1890)

von

Oskar Panizza


Herausgegeben von Alois Payer (payer@payer.de)


Zitierweise / cite as:

Panizza, Oskar <1853 - 1921 >: Das Wachsfigurenkabinett.  -- 1890. -- Fassung vom 2005-01-08. -- URL:  http://www.payer.de/religionskritik/panizza03.htm 

Erstmals publiziert: 2005-01-08

Überarbeitungen:

©opyright: Public Domain

Dieser Text ist Teil der Abteilung Religionskritik  von Tüpfli's Global Village Library


Erstmals erschienen in:

Panizza, Oskar <1853-1921>: Dämmrungsstücke. -- Leipzig : W. Friedrich, [1890]. -- 303 S. 19 cm.

Da Panizzas eigenwillige Orthographie in keinerlei Erkenntnisfortschritt bringt, habe ich sie — unter Wahrung des Lautbestandes — durch die moderne Orthographie ersetzt.


Zu Oskar Panizza siehe die Einleitung zu:

Panizza, Oskar <1853 - 1921 >: Die Wallfahrt nach Andechs.  -- 1894. -- Fassung vom 2005-01-07. -- URL:  http://www.payer.de/religionskritik/panizza01.htm 


Das Wachsfigurenkabinett

 

Pour bien connaitre les choses divines d'une religion, il faut se les figurer dans une forme tout-à-fait humaine.1
Renan.

  

Abendmahl10

Es war im alten Nürnberg. Ich war auf der Reise und hatte etwas Eile. Wir mochten um Anfang Oktober sein. Auf dem Marktplatz war ein großer Jahrmarkt aufgeschlagen, eine »Dult«3, wie dort die Leute sagen. Es war schon gegen Abend und bei der vorgerückten Jahreszeit schon etwas dunkel. Trotzdem war der Verkehr zwischen den Buden noch ziemlich rege. Nach Abschluss meiner Geschäfte führte mich mein Weg über den Marktplatz, und ich war eben im Begriff, nach Hause zu gehen, als ich auf einer der Schaubuden, vor der zu meiner Verwunderung kein Ausschreier stand, die Überschrift: »Leiden und Sterben unseres Heilandes Jesu Christi« las. Ich bin von Haus aus allen religiös-theatralischen Vorstellungen abgeneigt und wollte mich mit Abscheu von der Idee abwenden, einen so heiligen Stoff mitten in diesem Jahrmarktsgetriebe fest, plastisch oder beweglich, mit Drahtpuppen, gemalt, geformt, geschnitzt oder gar tragiert dargestellt zu sehen. Gleich darauf kamen aber in meinem Kopf Schlagwörter wie »Nürnberg«, — »Spielwaren«, — »Puppen«, — »Figuren auf Lebkuchen« zum Vorschein. Ich erinnerte mich des großen Rufes, den die Nürnberger Arbeiten der Art genießen, und mehr aus Interesse für den mechanischen Apparat, mehr aus Neugier für die Marionettenkünste kehrte ich um und schritt auf die Bude zu. — »Leiden und Sterben unseres Heilandes Jesu Christi« las ich noch einmal auf der gemalten Überschrift.

Nur einzelne Leute standen vor der sehr primitiv gehaltenen Baracke. Und diese gafften, wie das so Brauch ist. Der Preis schien mir etwas höher als bei den anderen künstlerischen Veranstaltungen. Ich trat ein. Ein segeltuchüberspannter, mit Lampen etwas düster beleuchteter Raum, in dem sich ein Dutzend Menschen beiderlei Geschlechts und aus allen Ständen des Volkes befand. »Sie kommen gerade recht«, sprach mich der Budenbesitzer, der ein Sachse war, an, »soeben beginnt die Vorstellung.« Im Hintergrund der Bude, in den alles erwartungsvoll blickte, befand sich ein erhöhtes Gerüst, eine Art Bühne, die aber geschlossen war. Doch sah man an den durchschimmernden Lampen, dass sich dort etwas vorbereitete. Und eben, als der Budenbesitzer die Worte gesprochen hatte, ging der Vorhang auf, und alles drängte nun vor bis zur Rampe.

Auf einer Estrade4, die einige Fuß über dem Erdboden erhaben und ringsum mit Soffitten5 entsprechend verkleidet war, befand sich eine große Gruppe dunkler, steifer Gestalten, sitzend, bunt gekleidet, zum Teil mit höchst pathetischem Gesichtsausdruck, aber regungslos an einem Tisch vereinigt, die einen schief, die anderen gerade, die dritten buckelig, glotzend, stierend, lächelnd, entrüstet, vor Wehmut zerfließend, wie es gerade der Moment oder der Schauspielpart erheischte. Es war kein Zweifel, das sollte die Abendmahlszene vorstellen.


Abb.: Leonardo da Vinci (1452 - 1519): Das Abendmahl. -- Mailand, Santa Maria delle Grazie, Refektorium. -- 1495-1497

Das Arrangement war das wie auf dem bekannten Bilde des Leonardo da Vinci: eine nach vorn offene, weiß gedeckte Tafel; die Brüche im Tischtuch von der Büglerin stark prononciert, damit das Tafeltuch als unzweifelhaft neu erscheint und so den Begriff des Feierlichen erhöhe. Die ganze hintere Front gegen den Zuschauer zu mit Jüngern und Christus in der Mitte dicht besetzt, aber doch so, dass auf den zwei schmalen Seitenkanten noch zwei bis vier Jünger Platz nehmen, die ja das Publikum noch immer von der Seite sehen konnte. Meistens nimmt man zwei untergeordnete Apostel6, den Bartholomäus oder jüngeren Jakobus, für diese Seitenkanten, da ja das Hauptinteresse sich doch der Mitte zuwendet, wo Christus sitzt; und gewöhnlich begnügt man sich, ein paar gutprofilierte Köpfe, die in nicht zu schreienden Kaftanen stecken, hier an die Enden des Tisches zu platzieren, damit das Publikum hier zwar einen wohltuenden Abschluss finde, aber ja nicht mit der Aufmerksamkeit abgelenkt werde.

Es ist klar, dass die späteren Apostel Paulus und Matthäus hier bei der Einsetzung des Abendmahls noch keine Verwendung finden können. Denn Paulus7 ist eigentlich Extraordinarius, hat mit der Zwölfzahl gar nichts zu tun und hat sozusagen auf eigene Verantwortung die Apostelgeschäfte ausgeübt, und Matthäus wurde an Stelle des später ausgeschiedenen Judas Ischariot8 gewählt. Dieser letztere ist aber hier noch von der größten Wichtigkeit und wird, wie der Leser bald sehen wird, eine imposante, alles elektrisierende Rolle spielen. Die ganze Gesellschaft war durch sechs am Boden durch ein Brett gegen das Publikum hin gedeckte Lampen aufs grellste beleuchtet. In der Mitte Christus mit einer fein gearbeiteten, blonden Perücke; er hat die größte Ähnlichkeit mit einem englischen Lord, wie man sie bei uns auf dem Theater in komischen Stücken darstellt. Nur war er ganz bartlos: aber die gleiche blasierte Langweile lag auf dem regungslosen Gesicht: man erwartete jeden Moment, dass er den Mund zum Gähnen öffne. Der Blick, regungslos blau den Beschauer anstarrend, hatte etwas Lammfrommes, Trauriges, kindlich Unbewusstes; der bleiche, glatte Unterkiefer ragte etwas zu weit vor und forderte zu Vergleichen mit Repräsentanten aus dem Tierreich auf. Der Wachsguss war etwas zu fettig ausgefallen, man meinte, Christus schwitze Fett, was nicht zur Heiligkeit beitrug. Vor ihm auf einem zinnernen Teller lag ein Karpfen aus dem Bach Kidron9; auf dem Tisch verteilt standen in Glasschalen Brote und einige Äpfel mit auffallend roten Backen. Christus streckte mit brünstiger Gebärde die beiden langgefalteten Hände über den Fisch aus; doch war es offenbar, er konnte zu keiner Verteilung der Speisen noch zu einem Brechen der Brote schreiten, denn beide Hände waren vorn an den Fingerspitzen zusammengepappt. — Das Publikum und ich waren beschäftigt, die einzelnen Gruppen und Persönlichkeiten in der Weise durchzumustern; es herrschte eine lautlose Stille, als der Budenbesitzer plötzlich mit weinerlich-sächsischem Pathos laut die Worte ins Publikum rief. »Wahrlich, ich sage euch, einer unter euch wird mich verraten!«10 — Nun ist es klar, dass diese Worte als aus dem Mund Christi hervorgehend gedacht waren. Sei es nun, dass der Sprachmechanismus dieser Hauptfigur nicht in Ordnung oder durch vieljährigen Gebrauch ausgelaufen war, oder dass er gar niemals dagewesen war, in jedem Falle konnte Christus die ihm zukommenden Worte nicht sprechen; er bekräftigte aber das eben Gehörte durch ein eigentümliches, norddeutsch klingendes und etwas schnurrendes »Nja!«

Dieses »Nja« war so sonderbar betont, dass ich es dem Leser etwas analysieren muss: zuerst kam ein schnurrendes Geräusch, dann hob sich die Oberlippe und zeigte zwei Reihen vortrefflich eingesetzter Zähne fest aufeinandergebissen. Da die Holzpfeife, welche das schnurrende Geräusch hervorbrachte, ziemlich dicht hinter den Kiefern saß, so wurde der Ton jetzt bei geöffneten Lippen heller, hatte aber gleichzeitig einen gaumigen, holzigen Klarinettentimbre, der übrigens, wie ich glaube, beabsichtigt war. Nun sprang der Unterkiefer auf und die Mundhöhle wurde sichtbar. Die gleiche Feder, die dies bewirkte, musste auch noch ein anderes Register öffnen, denn im gleichen Moment, und direkt anschließend an das schnurrende »N«, sprang ein helles, tönendes, frisches »ja!« heraus, welches insofern vortrefflich konstruiert war, als jetzt der Mund durch das Etwas-offen-Bleiben der Lippen einen zufriedenen, heiteren Ausdruck annahm, der mit dem bejahenden Charakter der Partikel »ja!« durchaus im Einklang stand. — Nun kamen aber die Fehler hintennachgehinkt: Nachdem die Kiefer sich wieder geschlossen, blieb die Oberlippe viel zu lange oben, da Lippe und Kiefer getrennte Mechanismen hatten; die obere Zahnreihe mit ihren breiten, wie mit dem Meißel abgehackten Zähnen, gab dem ganzen Gesicht etwas peinlich Lustiges, etwas Lachendes; und als endlich die Oberlippe sich langsam herabsenkte, bekam der Mund einen solchen Ausdruck des Müden, des plötzlich Erstarrenden, Leichenähnlichen, wie ihn der Künstler gewiss nicht beabsichtigt hatte.

Gleichzeitig mit dem »Nja!« aber begann Christus Kopf und Arme ruckweise in die Höhe zu heben und die wächsernen Hände wie segnend über den Karpfen vor sich auszustrecken. Dann sank er wieder zu der halb geknickten und resignierten Positur, die er anfangs eingenommen hatte, herab. Dieser Aktus hatte eine mächtige Wirkung auf das Publikum. An der veränderten Atmungsweise aus dem Dutzend Menschen, die wir beisammen waren, konnte man dies deutlich entnehmen. Das blaue Christusauge, welches bei etwas veränderter Kopfstellung nun aus einer schrecklich breiten, wächsernen Apathie herausstarrte, blieb fast gerade mir gegenüber stehen und schaute mich an. Das Kinn, der rechts im Guss zusammengeflossene rote Mund, die Nase und die massigen Fleischteile waren zweifellos auf größere Entfernung berechnet — aber wie schön war dieses blaue Auge! Wenn der Blick des wirklichen Heilandes nur halb so innig war, dann musste er alle Frauen Jerusalems in dem Maße entzücken, dass sie nach Hause zu ihren Männern liefen und unter Androhung der Entziehung aller weiblichen Gnadenmittel erklärten, ein Mensch mit so schönen blauen Augen dürfe nicht hingerichtet werden! — Der Budenbesitzer hatte nach den schwerwiegenden, Christi Mund entnommenen Worten: »Einer unter euch wird mich verraten!« offenbar dem Publikum Zeit gelassen, sich zurechtzufinden. Er musste aber auch warten, bis der Sinn dieser Worte in die Wachsköpfe der Jünger eingedrungen war. Und dies schien nun wirklich der Fall zu sein. Denn als der artistische Leiter, ich meine der Budenbesitzer, noch einmal mit kräftigem Dresdener Dialekt, eindringlich und mit echt protestantischer Verve betont hatte: »Wahrlich, ich sage euch, einer unter euch wird mich verraten!« — als dann Christus wieder mit hinschmelzendem Rhythmus das breite Lordsgesicht erhoben, die prachtvoll weißen Hände über den Fisch ausgestreckt und ein klingendes »Nja!« herausgestoßen hatte, begann sofort eine wächsern-glänzige Revolution unter den Jüngern. Jakobus (der Ältere)6 und Andreas6, jener in einem schottisch karierten Überwurf, die beide an der linken äußersten Tischecke einander zugewandt saßen, und von denen der letzte bis dahin ständig in die rechte Soffitte5, Jakobus dagegen auf eine vor ihm stehende Schale mit roten Äpfeln geblickt hatte, begannen nun beide, mit bedenklicher Miene die Köpfe hin und her, von den Jüngern zum Publikum und vom Publikum wieder zu den Jüngern, zu drehen, als wollten sie sagen: »Das ist ganz unmöglich! Diese Geschichte mit dem ›Verraten‹ ist ganz unmöglich; wirklich ganz unmöglich!« — Einige Leute im Publikum, fröstelnd getroffen von den schwarz lackierten Augen des Jakobus (des Älteren), räuspern verlegen und schauen vorsichtig um, ob sich der Verräter unter den Zuschauern befinde. Die ruhelos schnurrenden Köpfe der beiden Jünger bleiben schließlich dicht einander gegenüber stehen und durchbohren sich gegenseitig mit glänzigstarrenden Blicken, als röchen sie mit den Augen gegenseitig auseinander heraus, wer von ihnen heute noch »den Herrn« verraten werde.

Zweifellos war auf der anderen Seite des Tisches eine ähnliche Reihe von Entrüstungen vor sich gegangen, ohne dass ich sie beobachten konnte; ich schloss dies daraus, dass die oben schon genannten Bartholomäus6 und jüngerer Jakobus6, von denen der letzte einen gelbseidenen Kaftan anhatte, und die beide zu Anfang ruhig und gelassen dortgesessen hatten, nun mit Händen und Oberkörper zum Tisch hingelümmelt waren und trotzig und wie herausfordernd zu Christus hinüberschauten. Der artistische Arrangeur hatte hier offenbar eine große Schwierigkeit zu überwinden und wäre durch diese Gruppe beinahe zu Fall gekommen. Zum Glück hatte der jüngere Jakobus, der eine von den beiden etwas ungeschlachten Jüngern, die hohlgemachte Hand am Ohr, so dass man sah, er horchte. Was seine wulstigen, dicken Lippen trugen, war etwa: »Was ist da gesagt worden von ›Verraten‹? Haben wir recht gehört? Wer verraten? Wie verraten? — Beim ›Verraten‹ müssen wir bitten, unsere Namen auszuschließen!« — Eine sehr gute Geste hatte sich Matthäus11 einstudiert, der als späterer Evangelienschreiber seinen Platz gleich links vom »Herrn« hatte, und der mit der rechten Hand immer in bestimmten Pausen an die Stirne fuhr, als besänne er sich, ob denn ein ähnlicher Verdacht früher schon ausgesprochen worden sei, im übrigen aber in dessen maßvoller Zurückweisung mit seinen Genossen gleichen Sinnes war. Dass Thomas12, der später durch seinen Unglauben so viel Aufsehen gemacht, und der wiederum links von Matthäus saß, ungläubig sein Haupt — nun schon seit fünf Minuten — schüttelte, war vom Mechaniker der Gruppe zu erwarten gewesen. Und da in diesem Falle der Akteur — Thomas — von jedem Übertreiben sich fernhielt, also beim Schütteln auf der Höhe der Exkursion nicht jeweilig mit dem Blick das Ohr seines Nachbarn zur Rechten oder Linken (dort saß Philippus6) streifte, so war sein ewiges Verneinen durchaus im Rahmen des Protestes der anderen.

In all dieser fleißigen Bewegung, diesem Fragen, Besinnen, Kopfschütteln, Entrüstet-Tun usw. war aber Christus, dieser schöne Mann in der Mitte, vollständig apathisch und sozusagen stocksteif, er kümmerte sich nicht im geringsten um das, was um ihn vorging, sondern blickte ruhig auf seinen Fisch.

Nun aber ging es auf der linken Seite wieder mit verstärkter Vehemenz los. Petrus6, ein Mann in den Sechzigern, mit grauem, spitzig zulaufendem Vollbart und resoluten Gesichtszügen, der, zur Linken von seinem Bruder Andreas platziert, die ganze Zeit mit verdutztem Kopfe dortgesessen hatte, wurde plötzlich lebendig, hob den Kopf gegen das Publikum, zog ein mit Silberpapier überzogenes, sensenartiges Messer hervor und fuhr mit kopfabschneidenden, kräftigen Bewegungen hoch über seinem Haupte etwa fünf- bis sechsmal hin und her, wobei der dicht neben ihm (in der Richtung zu Christus) sitzende Judas Ischariot8 eine deutliche, ruckartige Bewegung machte und an seinen Hals langte, während im Publikum tiefe, Entsetzen verratende Atemzüge hörbar wurden, und ein Zuschauer zu meiner Linken seinen Rockkragen hinaufschlug. In der Tat, diese energische Handlung Petri machte den besten Eindruck; wie überhaupt auf dieser linken Seite (rechts vom »Herrn«), wo außer den schon genannten noch der agitatorisch angelegte Simon der Zelot6 saß (neben Judas), sich, wie man sofort erkannte, die älteren, reiferen und kritikbegabteren Elemente vereinigt hatten. Während auf der anderen Seite (links vom »Herrn«) man sich mit zweifelsüchtigen Mienen, Mundwinkelzucken und Augenzwinkern begnügte, aber keine großartig theatralische Bewegung, Messerführung oder resolutes Sich-in-den-Bart-Greifen das Vorhandensein eines tiefer angelegten Räderwerks in den betreffenden Geistesmaschinen verriet. Aber weder vermochte hier Ruhe und Gleichgültigkeit, noch dort Aufgeregtheit und Petrus mit seinem Blankziehen, das zu bewirken, was jetzt am allernötigsten gewesen wäre, um die Sache vorwärts zu bringen, nämlich Christus aus seiner Lethargie aufzumuntern oder ihn zu veranlassen, etwas darüber zu sagen, wer denn eigentlich der »Verräter« sei. — Christus hatte seine langen Hände auf dem Fisch, sein Gesicht war auf die Hände gerichtet, und über dem Gesicht hing die prachtvollblonde englische Perücke in unlösbarer Steifheit herunter über Gesicht, Fisch und Hände. — »Einer unter euch wird mich verraten!« — Diese Worte aus dem Munde des »Herrn« muss ich statt des Budenbesitzers hier noch einmal dem Leser ins Gedächtnis zurückrufen. Diese Phrase hatte all die Aufregung in dieser wächsernen Gesellschaft hervorgerufen; alles Messerziehen und Sich-an-den-Kopf-Langen bezog sich auf sie. Es würde keine Ruhe unter diesen ehrenwerten Männern eintreten, bis der Verräter bekannt ist. — Als demnach Christus jeder Versuchung von Seiten der Apostel, sich näher zu äußern, trotzte, wandte man sich an Johannes13, von dem bekannt war, dass er alle Gedanken des »Herrn« wusste. Alle Köpfe wandten sich also jetzt — erst am Tisch und dann im Zuschauerraum — dem rechts neben dem »Herrn« sitzenden jugendlichen Johannes zu, gleichsam mit der Frage, was er zu der schrecklichen Anklage meine. Dieser Johannes war ein blutjunger, liebenswürdiger, schöner Mensch mit vollen Mädchenwangen, blauen, unverdorbenen Augen und süßem, roten Mund; er trug ein rosafarbiges, bauschiges Kleid mit weiblichem Schnitt, das mit einem blendendweißen Kragen den jungfräulichen Hals abschloss. Eine blonde Lockenfülle, die bis auf den schneeweißen Kragen niederfloss, ergänzte dieses pausbäckige Gesicht zu einer so verführerischen Erscheinung, dass die jungen Mädchen, die sich zu zwei oder drei im Zuschauerraum befanden, flüsternd zusammenrückten und sich mit dem Ellbogen anstießen, auch von diesem Moment an keinen Blick mehr von dem prächtigen jungen Menschen abwandten. Seine geheime Konstruktion erlaubte ihm, die Arme flügelähnlich vom Körper auf und nieder zu heben, und als er dies zum Zeichen der Bejahung oder der Meinung, dass er an dem Wort des »Herrn« nichts zu ändern habe, etwa fünf- bis sechsmal hintereinander mit luftiger Geschwindigkeit tat, wurden plötzlich die Mienen aller Apostel bleich und käsig, bleicher fast als Wachs. Die zwei Hingelümmelten am äußersten Ende des Tisches, Bartholomäus und der jüngere Jakobus, zogen sich von der Tischplatte zurück, wie durch die Geste des jungen Johannes gleichsam vergewissert, dass also wirklich der »Verräter« da sei; der jüngere Jakobus ließ die hohle Hand vom rechten Ohr niedersinken, als habe er genug gehört; Thomas stellte sein ungläubiges Schütteln ein; Matthäus schlug sich nicht mehr mit der Hand vor die Stirn. Und auch drüben auf der linken Seite ließen alle die steifen, teils zur Abwehr, teils staunend und fragend erhobenen Arme fallen; eine allgemeine resignierte Abspannung gab sich durch die Reihen der schwergetroffenen Jünger kund.

Nun darf der Leser nicht vergessen, was es für eine Bewandtnis damit hat, dass diese elf Apostel, alles bejahrte, ergraute Männer mit ernsten Gesichtszügen, durch diese kleine, fast flatterhafte Meinungskundgebung des jungen Johannes so im Innersten getroffen wurden. Johannes war eben der erklärte Liebling Jesu, er »lag an der Brust des ›Herrn‹«14 , wie es im Evangelium von ihm heißt, und wusste dessen Gedanken; Christus muss dem jungen Johannes wiederholt Dinge mitgeteilt haben, von denen die anderen erst viel später Kenntnis erhielten; dies erklärt die apodiktische Sicherheit, mit der jedes Wort und jede Geste von ihm aufgenommen wurde; und dies erklärt auch den Umstand, dass der junge Fant den Ehrenplatz rechts neben Christus einnahm, und zwar auf einer Seite des Tisches, auf der die Charakterköpfe der ältesten und wichtigsten Apostel den größten Gegensatz zu einem Milchgesicht bilden mussten, dessen Gesichtszüge zwar Unschuld, aber auch vollständige Unerfahrenheit verrieten. Denn auf dieser Seite, ihm zunächst, folgten — um noch einmal die Reihe zu nennen — der entflammte Zelot Simon (der Kananiter), dann der verwegene und zielbewusste Judas Ischariot8 (der, wie das gebildete Publikum wohl größtenteils weiß, der »Verräter« ist); dann der gleich vom Leder ziehende, stets bewaffnete Petrus; dann dessen nicht minder entschlossener Bruder Andreas; und schließlich der mürrisch und finster dreinschauende, jedenfalls sorgengequälte ältere Jakobus in seinem schottischen Anzug. Der Kontrast kam noch in anderer Weise zum Ausdruck: während nämlich alle Apostel sich von dem gedeckten Tisch losgelöst hatten, als hätten sie kein Recht mehr, an dem heiligen Mahl teilzunehmen, und — durch geschickte Machination der unter dem Sitz befindlichen Hauptschraube jedes einzelnen — mit freiem Oberkörper dortsaßen, war Johannes neben Christus der einzige, der, wenn der Ausdruck verständlich ist, den Tisch belegt hatte. Aber wie belegt! Denn während Christus in seiner stereotypen Haltung, Hände und Gesicht in unerbittlicher Apathie über den Karpfen gebeugt, nach wie vor stumm verharrte, lag der junge Johannes mit beiden Armen über die ganze Tischplatte gelümmelt, das Kinn am Tischtuch und die apfelblütigen Wangen hinaus ins Publikum gerichtet, wo er mit seinen naiven Unschuldsaugen ein junges Mädchen anguckte, das zitternd und erregt neben ihrer Mutter stand. Diese war eine Postoffizialswitwe, wie ich zufällig wusste, da ich sie draußen zwischen den Buden schon einmal hatte anreden hören. Und sie schien nichts wider dieses gegenseitige Angucken der jungen Leute zu haben. — Nun will ich gern zugeben, dass der Künstler den jungen Johannes zu jugendlich, zu läppisch gebildet hatte, vielleicht um gerade dem Publikum die Stelle begreiflich zu machen, in der es von ihm heißt, dass »ihn der ›Herr‹ lieb hatte, und dass er an der Brust des ›Herrn‹ ruhte«14. — Aber das alles hindert nicht, dass die alten Apostel von dem jungen Menschen in der unwürdigsten Weise abhingen, auf jedes seiner Worte lauschten, und dass dieses unnatürliche Verhältnis hier in der schroffsten Weise seinen Ausdruck fand.

Eine bleierner trübe Stimmung lag nun auf der ganzen Versammlung. Der Heiland unbeweglich in seiner früheren Haltung. Die Apostel tief in Gedanken versunken. Der junge Johannes mit seinem pausbäckigen Lächeln schien von der ganzen Sache gar nichts zu verstehen. Auch im Publikum war eine gewisse trostlose Gedrücktheit zu bemerken. Ein schallendes »Nja!« entfuhr noch einmal den Lippen des Heilandes — und zwar diesmal, ohne dass er aufsah — und schien zum Überfluss nochmals zu bekräftigen: »So ist's, wie ich gesagt habe. Und da wird nichts dran geändert!« — Für mich war damit, nebenbei bemerkt, entschieden, dass der »Nja«-Mechanismus mit der Bewegung des Kopfaufrichtens und des Fischsegnens nichts zu tun hatte. Nun aber änderte sich plötzlich die Szene: Judas8, der während der letzten Minuten sich mit dem schottischgekleideten Jakobus — über den Tisch hinüber — leise unterhalten hatte und zweifellos des Englischen mächtig war, war plötzlich aufgesprungen. Und indem er mit dem goldgestickten, gefüllten Beutel, den er in der Hand hatte, ein paarmal tüchtig auf den Abendmahlstisch einhieb, schrie er: »What's the matter?« dreimal mit so schneidender, inquisitorischer Stimme, dass alle heftig erschraken und sogar Christus in leise zitternde Bewegung geriet. — »What's the matter? —What about ›wird mich verraten‹? What's the matter?«* Dabei warf er den wunderschönen, von schwarzem, hohenpriesterähnlichem Vollbart umrahmten, funkelnden Kopf heftig nach links und rechts, im Vorübergleiten den Heiland fest ins Auge nehmend. Er war ein prächtiger Mann, mit rassigem, scharfgeschnittenem Gesicht; eine kühne Adlernase gab dem ganzen Kopf etwas Siegreiches, Ideales. Zweifellos war er der Bedeutendste der ganzen Gesellschaft, von imponierendem Äußern. Gewiss hatte er längst die jede echte Genialität erstickende Gefahr der sanften, unscheinbaren Heilandslehre erkannt, die alle Menschen gleichmachen wollte. Er verband mit der Schärfe des Denkens die Entschlossenheit des Handelns. Und nur das Herz fehlte ihm. Sein Plan, die neue Lehre unschädlich zu machen, war korrekt in Konzeption und Ausführung. Die paar Silberlinge waren gar kein Gegenstand. Nur vergaß er, dass der blonde Heiland auch zum Sterben bereit war. Ein süßer Herzenswahnsinn hatte in diesem längst Platz gegriffen, als er sich entschloss, nach Jerusalem zu reisen. Eine fatalistische Schwelgerei ließ ihn innerlich lächeln über die Spieße und Stangen der Pharisäer und die Mordtaktik des Judas. Aber dieser, wie gesagt, war ganz korrekt. Er war ein guter Schüler cäsarischer Berechnung und Rücksichtslosigkeit, welche er ja durch die römische Herrschaft täglich vor Augen hatte. Nur vergaß er, dass mit dem Tod Christi nicht alles vorbei sei. Diesen blutigen Schachzug hatte er aus dem so milden, guten, tränenreichen Antlitz des Heilandes nicht herausgelesen.

* Der Verleger, welcher die obigen englischen Worte ursprünglich beanstandete, da er als Mitglied des Deutschen Sprachreinigungsvereins das Eindringen fremder Worte und Phrasen in die deutsche Sprache verabscheut, einigte sich mit dem Verfasser, der sich weigerte, durch Weglassung der Worte sich einer Geschichtsfälschung schuldig zu machen, dahin, durch Wiedergabe der kleinen englischen Phrase im Deutschen, jede Missdeutung auszuschließen. Was Judas sagt, lautet ungefähr: »Was ist denn da los? — Was soll denn das mit dem ›wird mich verraten‹? — Was ist denn? — Was soll denn das alles?« Über die merkwürdige Tatsache, dass Judas hier Englisch spricht, wird der Leser später einiges Nähere finden.

Das Publikum konnte nicht umhin, seiner Freude über die dramatische Kühnheit des Judas8 Ausdruck zu geben. Alle waren plötzlich fast auf seiner Seite. Ein angenehmes Grausen über die schroffe Manier des schönen »Verräters« überkam alle. Besonders die Weiber waren entzückt. Viele fanden den schwarzen Schnurrbart göttlich. Nur ein altes Weib neben mir, mit einer Zahnlücke auf der rechten Seite, pfiff und zischte aus dieser Lücke so kräftig heraus, dass man ihr die Entrüstung anmerkte, ohne hinzusehen. Sie war jedenfalls bibelfest. — Vielleicht Protestantin. — Judas trug prächtige Kleidung. Offenbar standen ihm bedeutende, hohepriesterliche Mittel zu Gebote. Die dreißig Silberlinge10 kamen nicht in Betracht, schon der scharlachrote Überwurf, der mit goldenen, sich ringelnden Schlänglein bestickt war, konnte um diese Summe nicht hergestellt werden. Der Kopf drehte sich vorzüglich. Er machte immer eine ganze halbe Wendung, vom Heiland hinüber zum Andreas, ohne das Publikum zu würdigen. — Die Direktion wusste, dass dieser Moment das Publikum aufs tiefste erregte, und ließ zugunsten des Bekleidungsfonds für die Apostel einen Teller herumgehen.

Pause

Während der Sachse mit dem Teller herumging, fiel zu meiner größten Überraschung der Vorhang plötzlich über der Abendmahlszene. Auf den Moment, wo Christus Judas den Bissen reicht14, schien also der Verfertiger der Gruppe wohl wegen der großen mechanischen Schwierigkeiten Verzicht geleistet zu haben. »Sogleich beginnt der zweite Akt!« rief der Budenbesitzer mit lauter Stimme jenem Teil des Publikums zu, welches sich nach Fallen des Vorhangs etwas in den Hintergrund des Zuschauerraums zurückgezogen. Er war wohl besorgt, es möchten einige das Theater verlassen. Offenbar wurde noch einmal gesammelt. Ich suchte durch ein etwas größeres Geldstück die Aufmerksamkeit des Tellerträgers auf mich zu lenken, da ich verschiedene Fragen zu stellen hatte. Auf der Bühne verdunkelten sich jetzt die Lampen und aus dem Rumoren und Poltern merkte man, es werde eine neue Szene aufgeschlagen. — »Sie haben da vortreffliche Figuren!« sprach ich den Sachsen an, der im Zuschauerraum die Herrschaft führte. »Ja«, meinte er, »seit wir den neuen Christus haben, geht es besser.« — »Hatten Sie früher einen anderen Christus?« — »Ja, der war geschnitzt, aber ganz schlecht, und schon ganz schwarz; der nahm sich unter den schönen Wachsköpfen wie der Teufel aus. Wir haben ihn verkauft.« — »Allerdings, der neue Christus ist vortrefflich.« — »Oh, ich sag' Ihnen, der ist so schön, so sanft, wissen Sie, das blonde Haar, das blaue Auge, ich sag' Ihnen, die Leute haben oft geweint.« — »Spricht er denn nicht die Worte: Wahrlich, ich sage euch...?« — »Nein, der hat nie gesprochen, das käm' zu teuer. Das ›Ja!‹, welches er spricht, haben wir hier in Nürnberg erst machen lassen, das kostete uns allein über achtzig Gulden.« — »Dieses ›Nja!‹ scheint aber selbst wieder sehr kompliziert zu sein?« — »Ja, es hat zwei Pfeifen und ein Schnarr-Register.« — »Sagen Sie einmal: Warum spricht der Judas englisch?« — »Den haben wir von einer englischen Truppe gekauft.« — »Ja, aber gerade die inhaltsschweren Worte, die er zu reden hat, die versteht ja kein Mensch?« — »Oh, das macht nichts; im Gegenteil, es wirkt ungeheuer; die Leute sind ganz baff, diesen Judas geben wir für keinen anderen her, nicht einmal für einen hannoveran'schen, der ist unsere beste Figur!« — »Was ist das, ein ›hannoveranischer Judas‹?« — »Pst!« machte der Sachse und deutete auf den Vorhang, der sich soeben erhoben hatte.

Kreuztragung

Eine weite kahle Heide. Auf dem Boden hie und da etwas buschiges Gras, dessen breite, prachtvoll grüne Halme, wie mir schien, in Schweinfurtergrün getaucht und mit Silberpuder bestreut waren. Keine Seele auf der weiten Fläche. Ob dieses Feld in der Nähe von Jerusalem war, ob der Zug nach Golgatha hier vorüber musste, ob voraussprengende römische Kriegsknechte jeden Moment zu erwarten waren, oder ob es das Stelldichein einer friedlichen Szene werden würde, ob die schöne Magdalene15 hier vor dem Publikum ihre blonden Flechten auseinanderwickeln werde, um sie mit ihren Tränen zu waschen, das alles wusste kein Mensch, da ja im Vorausgehenden die Direktion bewiesen hatte, dass sie sich unmöglich, weder in der Aufeinanderfolge der Szene, noch in den Einzelheiten des jeweilig Dargestellten, wortgetreu an den Text der synoptischen16 Evangelien halten könne. Aber Stimmung machte schon diese weite, grünumflossene Ebene, die von den acht Lampen hinter der Verschalung grell beleuchtet wurde. — Und plötzlich näherte sich aus der rechten Kulisse eine große Maschine, deren Schatten die Soffittenbeleuchtung5 zu früh auf der hinteren Szenenwand zu Gesicht brachte. Man wusste noch nicht, was es war. Es schien nur ein kolossales Ding. Jetzt kam es näher. Und plötzlich erschien ein Balken, der hinunterging; dann kam ein Balken, der hinausging; dann die Vereinigung der beiden Balken, und dann ein Kopf. Ein wachsbleicher Kopf mit wunderschönen blonden Haaren, die auf dem Scheitel geteilt waren. Es war wieder der weiße Lord. Es war Christus, der in ein großes, bauschiges, helles Gewand gehüllt, unter dem Kreuz zusammengeknickt, auf der Szene vorüberzog. Doch bewegte er die Füße nicht. Im Gegenteil, alles war starr und steif. Und dieses vermehrte noch das Eindrucksvolle. Offenbar wurde durch einen Bühneneinschnitt über die ganze Breite der Bühne hin die im Souterrain genügend befestigte Figur hindurchgezogen. Der Rücken war wohl gekrümmt, und überhaupt die ganze Gestalt so tragisch und gebrechlich wie möglich hingestellt; trotzdem war der Kopf in einer ganzen Vierteldrehung nach links zum Publikum hinausgedreht und außerdem noch so weit zur Schulter hinaufgehoben, dass die Augen fast waagerecht zu liegen kamen. Er schaute nun so mit gespenstig-bleichen, wie erstarrten, wie bei einer anderen milden Gelegenheit gefrorenen Gesichtszügen, aus denen jeder Schmerz und jede Anstrengung gewichen war, direkt aus der Bühne heraus: eine Kombination von Pose und Affekt, die in der Natur gar nicht möglich wäre, die aber hier die kolossalste Wirkung hervorbrachte. Es war nicht derselbe Christuskopf wie beim Abendmahl. Der dort war englischer, breitkiefrig, fleischig und die Perücke glatt gestriegelt. Der hier war idealer, deutscher, etwas hohlwangig, mit feinfühligem Kinn und wunderschönen blonden Locken, die auf die Schulter herniederflossen. Langsam, starr, lautlos und stet zog dies gepeinigte Christusbild wie eine Vision quer über die Bühne. Es war jetzt beiläufig in der Mitte. Der Sachse sprach kein Wort. Dies wir auch gar nicht nötig. Jedermann, das kleinste Kind, wer nur aus dem Publikum jemals einen Schulkursus in deutschen Landen mitgemacht hatte, oder einmal ein Bild von einem Franziskanerpater geschenkt bekommen hatte, der wusste: das ist Christus unter dem Kreuz.


Abb.: "wer ... einmal ein Bild von einem Franziskanerpater geschenkt bekommen hatte": Andachtsbildchen Kreuztragender Christus

Dieser stumme Religionsunterricht hatte die ungeheuerlichste Wirkung unter den Zuschauern und setzte sich in ihrer Phantasie wie eine gewaltige Macht fest. Und ich war froh, als der weiße Mann endlich zwei Drittel der Bühne zurückgelegt hatte. Auf Momente hatte ich die Empfindung, das vor Entrüstung fassungslose Publikum möchte hinausstürmen und irgendeinen zwischen den Buden ergreifen und als »Verräter« halb totgeschlagen hereinschleppen. Denn was das blonde bleiche Antlitz da droben nicht sprechen konnte, das sprach wie mit Stentorstimme im Gewissen des Publikums: »Wer hat das angerichtet? Wer ist schuld an dieser Marter? Wer ist der Teufel, der es zu verantworten hat, dass dieser wunderbare Mensch da droben so leidet?« — Wie es beim Vorüberführen von so festgegossenen Bildnissen geht: die Augen schauen, in welcher Stellung auch immer, stets den Beschauer an. Und als der Heiland sich der linken Soffitte5 näherte, schauten seine wasserhellen, blauen Augen mit einem schmerzlichen, vorwurfsvollen Ausdruck zurück ins Publikum, als sprächen sie: »Folge mir nach!«, so dass einzelne Mädchen entsetzt von der äußersten Rampe, bis zu welcher das Publikum vorgehen konnte, zurückwichen. Und in der Phantasie eines Menschen, der leichter entzündbar ist als andere, mochte jetzt der Gedanke entstehen, es könnte einer, von dem zurückschauenden Blick des Heilandes verwirrt und seiner Umgebung vergessend, mit einem einzigen Satz über Rampe und Lichter hinweg auf die Bühne springen, um zerknirscht dem bleichen, wächsernen Bild zu Füßen zu sinken. Aber Gott sei Dank, alles blieb still, wie durch ein Bleigewicht in der Brust hingefesselt, starr, fasziniert. — Jetzt war die lichtumflutete, gewaltige Erscheinung dicht bis an die linke Soffitte5 gekommen. Eine Verzögerung schien zu entstehen. Das Bild machte halt. Hinter ihm folgte, wie eine schwarze Schlange, der riesige Kreuzbalken. Aber vorn schienen die kleinen Balkenenden, die über die Schulter hereinhingen, nicht zur Soffitte5 hineinzukönnen. Das Bild schwankte jetzt hin und her. Der Sachse ging vor und schaute in die Soffitte5. Nur jetzt keine Katastrophe, dachte ich mir, den Menschen, die diese weiße Gestalt bis in ihr spätestes Alter mit sich in der Phantasie herumschleppen werden, noch ein Ärgernis zu bereiten! — Doch jetzt ging's wieder vorwärts. Noch ein einziger, langer, blauer Blick über die ganze Versammlung, und das blonde Haupt verschwand hinter der Soffitte5, und der Vorhang fiel. Ein einziger großer Atemzug im ganzen Publikum löste die Anwesenden wie von einem lange ertragenen Alp. »Zum Besten des Maschinisten!« sagte der Sachse und ließ einen Teller herumgehen.

Pause

Während noch alles still dastand, einige flüsterten, niemand aber die feierliche Stille zu unterbrechen wagte, hörte man plötzlich von hinter der Bühne her einen schallenden Klatsch und gleich darauf in norddeutschem Dialekt an jemanden zornig die Frage gerichtet: »Wie können Se man so dämlich sein und Christus an die Wandverkleidung anrennen lassen?« — Obwohl diese barbarische Unterbrechung, welche mit einem Schlag das ganze Komödiantenwesen aufdeckte, die feierliche Stimmung ins Gegenteil zu verkehren geeignet war, so zeigte sich doch im Publikum keine Neigung, auf die Komik des Vorgangs einzugehen. Die Macht der weißen Christuserscheinung, die mit ihren hellen, kolossalen Umrissen in der Phantasie nachzitterte, war doch stärker als diese Lappalie. Nur der Sachse lachte verstohlen in seinen Teller hinein. Er kannte offenbar den Schlingel, der die Christusfigur im letzten Moment ihres Verschwindens, als sie ins Wanken kam, schlecht dirigiert oder die Soffitte5 nicht richtig gestellt hatte. — »Sie scheinen stark auf die Nerven Ihres Publikums zu rechnen!« sagte ich zum Sachsen, als er zum Einsammeln zu mir kam, indem ich durch eine Silbermünze seine Aufmerksamkeit mir aufs neue zu sichern suchte. Bei dieser Gelegenheit bemerkte ich, dass seine Ernte an Geldstücken eine ganz überraschend reiche war. — »Wir müssen darauf halten«, antwortete er, »mit dem Entrée17 können wir knapp die Platzmiete bezahlen!« — »Sind während der letzten Nummer noch keine Unfälle vorgekommen?« fragte ich weiter. — »Manche bekommen ihre hinfallende Krankheit, — aber in England tut man ja noch viel mehr!« — »?« — »Die englischen Figuren sind viel derber und ungenierter; — sie hauen auf den Tisch und machen sich Fäuste, als wollten sie boxen; — einen englischen Christus habe ich gesehen, der Ihnen wunderschönes Blut schwitzte; — und die Truppe, von der wir den Jakobus in dem schottischen Kleid haben, brachte eine Nummer vor der Kreuzigung, in der sich Judas in einem Obstgarten an einem verdorrten Baum erhängt, — aber da, sage ich Ihnen, da fliegen die Sovereigns18, und der Strick wird in zehn bis fünfzehn Teile geteilt! Für eine Christuslocke werden fünf Pfund geboten!« — »In Deutschland ist dies alles wohl verboten?« — »Ach, die Behörden haben ja gar kein Verständnis für diese Dinge; bei uns steckt noch alles in den Kinderschuhen! Nur unsere Köpfe sind besser.« — Diese Unterredung wurde halblaut zwischen uns geführt. Ich wollte mich nur noch betreffs des »hannoveranischen Judas« erkundigen, als hinter der Bühne ein Zeichen gegeben wurde, worauf sich der Sachse entfernte. Alsogleich ging der Vorhang auf.

Golgatha

Die Bühne füllte eine große Menge von Personen, von denen es zunächst auffiel, dass ein Teil lebte, die anderen aus Wachs waren. Links vorn auf einer Seitenestrade saß der kurzgeschorene Pilatus19 mit etwas mürrischem Gesicht und wusch seine Hände in einem zinnernen Becken. Korrespondierend rechts stand der Hohepriester Kaiphas20, im reichen Ornat, den mit der Mitra21 geschmückten Kopf so den Bühnenvorgängen zugewendet, dass man vom Gesicht nur Nase und den glänzendschwarzen Vollbart sah. Er zuckte in rhythmischer Weise fortwährend mit der Achsel, wobei sein mit Steinen geziertes Priestergewand jedesmal in rasselnde Bewegung kam, als wollte er sagen: »Ja, ich kann nicht helfen, — wenn es das Volk so will!« — Beide Figuren, der Jude und der Römer, schienen selbsttätige Mechanismen zu sein, die zu ihrer Ingangsetzung keine weitere Bedienung nötig hatten. Die Waschbewegung war ganz vortrefflich in Idee wie Ausführung. Der fortwährend stumme Protest, wie: »Mich geht eure Sache nichts an!«, der in diesem allegorischen Händewaschen lag, war eine vorzügliche Charakteristik für den formellen römischen Beamten und bildete einen wirksamen Gegensatz zu der blutigen Handlung, die sich unter ihm abspielte. Mechanisch betrachtet war aber die kreisförmige, stets sich ineinander verwickelnde Bewegung der Wachshände eine Kunstleistung ersten Ranges; übrigens, wie ich später erfuhr, französische Arbeit. Weniger erträglich auf die Dauer war das Achselzucken des Kaiphas20; aber was war zu wollen? Die Figur war aufgezogen; besser, sie zuckte, als dass sie gar nichts machte; so bekam man wenigstens eine Vorstellung von der Meinungsrichtung dieser einflussreichsten Persönlichkeit im »Hohen Rat22«.

Im Hintergrunde der Bühne standen drei Kreuze; das mittlere leer; an den zwei äußeren die zwei Schächer23. Diese beiden, alte, schlechte Holzfiguren, mit ein paar farbigen Fetzen ausgestattet, waren mit Absicht, wie mir schien, außerhalb der Beleuchtung gerückt, um das Publikum ihre Zerstörtheit nicht zu sehr merken zu lassen, und waren überhaupt sehr vernachlässigt. — Am mittleren Kreuz, welches bereits die Inschrift trug, wurde soeben Christus aufgezogen. Er hatte bereits die Dornenkrone auf und war nackt bis auf die Lendenbinde. Der Oberkörper war anatomisch so schön in Wachs modelliert, dass er jedem Museum zur Zierde gereicht hätte. Die Hauptschwierigkeit lag aber in der Behandlung des Kopfes; zwar bewegte er sich anstandslos auf und ab, nach rechts und links, konnte auch die Lider halb senken und das Auge nach oben schlagen, aber was nicht zu erreichen war: die beiden Hauptempfindungen, die des Schmerzes, zu Anfang der Kreuzigung, und die der seligen Ruhe bei eingetretenem Tod, welche sich, physiognomisch betrachtet, kontradiktorisch gegenüberstehen, konnten nicht auf ein und demselben festmodellierten Kopfe zur Darstellung gebracht werden. Und zwei Köpfe konnte man doch nicht verwenden. Übrigens kam dies jetzt, wo noch alles mit Aufmerksamkeit bei dem Akt des Aufzuges engagiert war, noch nicht so zum Ausdruck, wie später, nachdem einmal die Leiche hing. — Was nun dieses Aufziehen am Kreuz selbst anlangt, so war es klar, dass eine so komplizierte Arbeit nicht von Wachsfiguren, und wären es englische gewesen, verrichtet werden konnte. Man hatte deshalb als Kriegsknechte, welche dies zu besorgen hatten, zwei Statisten der Truppe verwendet. Leider war aber der eine ein lümmelhafter, himmellanger Mensch, der fast bis zum Querholz des Kreuzes reichte, mit einem hässlichen, schrecklich bärtigen Gesicht; der andere schielte, war kurz und breitschultrig und steckte immer den Kopf hinein, da er, wie ich zu sehen glaubte, noch immer eine verblasste blaue Krawatte von seinem Werktaganzug anhatte. Schon dies musste auf das Publikum revoltierend wirken. Die beiden Burschen standen hinter dem Kreuz und zogen an Stricken, die über das Querholz liefen, den Christuskörper, der noch eben vor dem Kreuz ausgestreckt am Boden gelegen hatte, in die Höhe. Vor dem Kreuz stand mit dem Rücken gegen das Publikum ein großer Mensch mit Samtmantel und turbanähnlicher Kopfbedeckung, der, wenn ich nicht irre, Nikodemus24 vorstellen sollte, und der den eben jetzt oben am Kreuzesstamm erscheinenden Christus an den Füßen hielt. Abgesehen nun davon, dass Nikodemus hier bei der Kreuzigung noch gar nichts zu tun hatte, kam es mir sonderbar vor, dass die beiden Kerls hinter dem Kreuz mit solch übertriebener Vorsicht und einstudierter Langsamkeit, ganz gegen ihr eigenes Naturell und den Charakter ihrer Rolle, den Aufzug bewerkstelligten. Ich habe Grund zu glauben, dass der Direktor, der für seine Wachsfigur fürchtete, dazu Auftrag gab, und dass eben den Nikodemus der Direktor machte, um diesen Aufzug besser überwachen zu können. Doch war das Publikum voll Teilnahme und Spannung und ganz auf der Höhe der tragischen Situation. Lautlos hing alles an der schwebenden Christusfigur. Links wusch fleißig Pilatus seine Hände; und rechts zuckte Kaiphas, dessen Blick jetzt gerade auf die Kreuzeshöhe gerichtet war, mit den Schultern, als sagte er: »Es war wirklich nicht zu ändern. Ich bin im Rat überstimmt worden.«

Als endlich die Figur fest am Kreuz angekommen war, ließ Nikodemus die Füße los, trat einen Schritt zurück und machte eine verkehrtbrünstige Bewegung, indem er die Hände weit ausstreckte und wieder zusammenklatschte und dabei den Kopf etwas auf die linke Schulter fallen ließ, so den langgestreckten Christus unverwandt anstarrend. Als nun aber die beiden Kriegsknechte, die ihre Seile irgendwo angebunden hatten, hervorkamen, die Leiter ansetzten, hinaufstiegen und mit etwas übertriebener Wucht und gemachter Rohheit die Nägel durch Christi Hände schlugen, deren rotgeränderte Wunden mit dem herabfließenden Blut übrigens schon vorgezeichnet waren, entstand im Publikum eine heftige Bewegung. Man hörte einige laute Schreie ausstoßen, die Vordersten wichen von der Barriere zurück, und einige drohende Hände fuhren bei dem Zwielicht der Beleuchtung wie Schatten durch die Luft. Der Sachse, wie mir schien, an solche Dinge gewöhnt, rief mit ruhiger, plärrender Stimme: »Ich ersuche das hochverehrliche Publikum im Namen der Direktion, keine Schmähungen gegen die weniger beliebten Persönlichkeiten der heiligen Handlung auszustoßen! Es ist ja alles nur von Wachs; es ist ja nur ein Vorgang; das alles hat ja vor zweitausend Jahren stattgefunden! Ich bitte das verehrliche Publikum, sich ruhig zu verhalten; der Direktor hat von der hochverehrlichen königlichen Polizeidirektion den Befehl, die Vorstellung sofort zu schließen, wenn Ungehörigkeiten vorkommen. Vor vierzehn Tagen hat jemand aus dem Publikum mit harten Brotrinden nach dem Judas geworfen und den Judas schwer verletzt. Das geht doch nicht; so ein Kopf kostet uns über zweihundert Gulden!« — Diese Rede hatte aber nur teilweise die gewünschte besänftigende Wirkung; denn nachdem jetzt die Kriegsknechte mit den Leitern sich entfernt, und Christus, dessen wunderschöner Kopf in vollste Beleuchtung gerückt war, mit schmelzendem Augenaufschlag und gebrochener Stimme, von der ich nicht wusste, woher sie kam, die »Worte am Kreuz« stammelte, hörte man im Publikum vielfach schluchzen. Nikodemus ließ sich nun auf ein Knie nieder, um dem Publikum die Blickrichtung über ihn hinweg zu ermöglichen, und unter das Kreuz traten jetzt Maria, Magdalena und Johannes. Maria und Johannes symmetrisch rechts und links vom Kreuz; während Magdalena, eine hübsche üppige Person, stark dekolletiert, mit aufgelösten blonden Flechten, in kniender Stellung und mit brünstiger Gebärde den Kreuzesstamm umfasste. Es war die Kassiererin, der ich draußen beim Eingang der Bude begegnet war, und welche jetzt, da die Vorstellung zu Ende ging, zur Mitwirkung auf der Bühne verwendet werden konnte. Auch Maria und Johannes waren, wie Magdalena, keine Wachspuppen, sondern wirkliche Personen. Maria, schrecklich mager und heruntergekommen, machte trotz einer höchst gewählten Toilette in Dunkelblau keinen günstigen Eindruck hinsichtlich der Ernährungsverhältnisse der Truppe, auf welche Maria Magdalena erst in so vorteilhafter Weise hinzudeuten schien. Und bei Johannes, der auf der rechten Seite stand, einem jungen, etwas hageren Menschen, mit braunen Locken, fiel mir eine rechtsseitige Gesichtsröte nebst tränendem Auge auf derselben Seite auf. Da die Tränen kaum auf die Handlung sich bezogen, weil er sonst künstlich mit beiden Augen geweint hätte, er auch ein etwas verdutztes Gesicht machte, so fiel mir unwillkürlich der schallende Schlag ein, der in der vorigen Pause hinter dem Vorhang gefallen war. Und wenn ich an die breite Hand des Nikodemus dachte, wie er sie vorhin, die Arme gegen das Kreuz erhebend, gezeigt hatte, so war die kausale Verbindung der halbseitigen Gesichtsröte des Johannes mit früheren Momenten zwar nicht sichergestellt, aber doch angedeutet.

Eine ziemliche Schar »Volks« drängte sich jetzt auch, aus dem Hintergrund kommend, zu beiden Seiten gegen das Kreuz vor. Es waren meist Nürnberger Straßenjungen und Mädchen, bei denen es sich nicht bezahlt machte, sie erst in lange Kaftans zu stecken. Ihre Aufgabe war, mit großen Augen und erstaunten Mienen zum Kreuz hinaufzuschauen. Und so gaben sie auch ein vortrefflich eindrucksvolles Moment ab. Im Publikum war alles mäuschenstill. Alles sah in atemloser Spannung auf die prächtige Christusleiche. Und obwohl es wahrhaftig an Einzelheiten nicht gefehlt hatte, um die ganze Vorführung nur als höchst ärmliche Komödie zu erkennen, so konnte sich doch kein Mensch von der wunderbaren Symbolik, die je ärmlicher, um so inniger war, losreißen. Als nun gar die Lampen heruntergeschraubt wurden, und der Kopf des Heilandes durch eine vom Schnürboden aus wirkende elektrische Lampe in magische Beleuchtung gerückt wurde, und Christus mit den Worten: »Eli, Eli, lama asabthani!«25 das Haupt emporrichtete und mit schmerzlichem Augenaufschlag den Blick zum Himmel wandte, entstand jenes fröstelnde Atmen unter den Zuschauern, welches auf eine zurückgehaltene, aber tiefe Bewegung schließen lässt. Aber es war kein »Lump« da, den man hätte fassen können; kein Judas und dergleichen, den man für die Tragik verantwortlich machen konnte, sonst hätte ihn sich das Publikum auf der Bühne oder im Zuschauerraum schon herausgeholt.

Bis dahin war alles gut gegangen. Und es wäre auch weiterhin gut gegangen, wenn nicht die Direktion durch einen unbegreiflichen Missgriff eine Kollision geradezu heraufbeschworen hätte. Nachdem nämlich Christus bald darauf mit einem letzten Schrei verschieden, sein Haupt schlenkernd auf die Brust herabgefallen, die elektrische Lampe oben erloschen, alles mit feiner Berechnung entsetzt vom Kreuz zurückgewichen und durch mäßiges Aufschrauben der acht Lampen eine Dämmerstimmung über der ganzen Szene ausgebreitet war, kam der obenerwähnte langbeinige Kriegsknecht, der sowieso beim Publikum nicht besonders beliebt war, nahm eine Lanze und stach Christus in die rechte Seite, wo unter dem Wachsmodell höchst geschickt eine Blutblase angebracht worden war, so dass eine ziemliche Menge roter Flüssigkeit sprudelnd über den Körper sich ergoss, über die weiße Lendenbinde und bis zu den Schenkeln hinabfloss. Im Zuschauerraum wurde ein vielstimmiger Ausruf des Erstaunens und des Grausens laut. Nun hatte dieser Kriegsknecht die unglückselige Idee, auf diesen Ruf hin sich umzukehren, und da sein bärtiges Gesicht auch ohne jeden Affekt immer den Eindruck machte, als lache es, oder vielmehr, als grinse es, so glaubten die Zuschauer sich verhöhnt, fühlten sich als Juden, die Christo beim Einzug zugejubelt hatten, und machten in diversen »Oh! Oh! — Pfui!« und ähnlichen Ausrufen ihrem Unwillen Luft. Das zahnlückige Weib zu meiner Rechten glaubte sich zur Stimmführerin der allgemeinen Missstimmung berufen. Mit einem »Hundsknochen, elendiger!« sprang es kreischend bis zur Bühne vor und hob gegen den lanzenführenden Kriegsknecht die geballte Faust empor, aus deren bläulichverwittertem Aussehen ich entnehmen zu dürfen glaubte, dass sie eine Wäscherin war. Nun fing der Kriegsknecht wirklich hellauf zu lachen an. Andererseits aber brachte die ungehörige Äußerung dieses Weibes das übrige Publikum zur Besinnung; man erkannte, dass man nur in einer Komödie war. Die Frau, welche in ihrer lebhaften Empfindung jedenfalls an die Wirklichkeit dieses Vorgangs geglaubt hatte, wurde unter lauten Äußerungen der Entrüstung zurückgerissen. Aber die Wäscherin, welche inzwischen vermutlich auch wieder nüchtern geworden war, wurde nun durch die Opposition gereizt. Und da sie sehr mager und gelenkig war, so gelang es nicht, sie zu bändigen. »Ihr seid auch nichts Besseres als Christusschinder!« gilfte26 sie vor Zorn heraus. Während sie aber vielleicht nichts weiter bezweckte als loszukommen und nach Haus zu ihren Kindern zurückzukehren, brachte sie durch ihren Widerstand das ganze Publikum in Unordnung und Aufregung, welches glaubte, sie wolle sich zur Bühne drängen. Jetzt begannen auch die Darsteller sich dreinzumischen. Maria Magdalena trat ganz vorn an die Rampe zwischen Pilatus, der ruhig seine Hände weiterwusch, und Kaiphas, der noch immer gegen das Kreuz hin seine Zuckungen machte, und mit vorgestreckten nackten Armen beschwor sie das Publikum um Ruhe. Der Lanzenträger stand starr da, keiner Bewegung fähig. Allmählich kam die ganze Nürnberger Straßenjugend vor, welche als »Haufen Volks« figuriert hatte; wie sie vorher mit großen Augen das Kreuz angestarrt hatten, so starrten sie jetzt auf die Vorgänge im Zuschauerraum. Dort war es inzwischen nun zu einer förmlichen Rauferei gekommen. Die Wäscherin lag am Boden. Der Sachse, den ich nicht mehr sah, muss nicht weit von ihr gewesen sein. Da sie aber einen höchst abgewetzten, bläulichen Drillichrock27 anhatte und sonst nichts, so gelang es nur sehr schwer, sie zu fassen. Sie quiekste und gilfte26 in einem fort. Auf einmal ertönte eine tiefe Bassstimme mit norddeutschem Timbre von der Bühne herab. Es war, in seinem samtnen Gelehrtentalar, Nikodemus, welcher den Turban vom erhitzten Kopf nahm und das »hochverehrte Publikum« inständigst bat, doch Ruhe zu halten. Auch Josef kam vor, um zu beschwichtigen; da er aber fast keine Stimme hatte, begnügte er sich mit Fisematenten28 und Gestikulationen. Er kam gerade neben dem unentwegt weiterwaschenden Pilatus zu stehen, und diese beiden Figuren bildeten in ihren zwangsmäßigen und gewollten Gesten ein merkwürdiges Quodlibet29. Nur Maria hielt sich unbeteiligt im Hintergrunde. Sie schien in der Tat leidend zu sein. — Ich weiß nicht, wie lange noch diese fatale Situation gedauert hätte, und was noch daraus geworden wäre, denn einige Unbeteiligte lagen bereits am Boden und waren, nach den Hilferufen zu schließen, in Gefahr, ertreten zu werden, wenn nicht einer Frau auf der Bühne ein rettender Gedanke gekommen wäre. Maria Magdalena erschien plötzlich mit fliegenden Haaren vorn am Eingang der Bude, wo immer ihr Platz als Kassiererin gewesen war, und indem sie den Vorhang, welcher das Licht vom Zuschauerraum abschloss, weit zurückriss, rief sie laut ins Publikum hinein: »Meine Herrschaften, die Vorstellung ist zu Ende!« Dies wirkte. Alle ließen voneinander ab. Die am Boden Liegenden erhoben sich. Merkwürdigerweise war die Wäscherin die erste, welche mit einigen fluchtähnlichen Sätzen über die Eingangsrampe der Bude hinweg sich auf und davon machte. Der Sachse, welcher jetzt auch hervorkroch, war abgemattet wie ein Hund; offenbar hatte er gegen die Wäscherin verloren. Alles atmete nun erleichtert auf. Man wandte sich dem Ausgang zu, wo Maria Magdalena immer noch den Vorhang hielt. Ihre nackten Arme, auf denen wunderschön geheilte Impfnarben zu sehen waren, zitterten heftig; man wusste nicht: vor Erregung oder wegen der nasskalten Luft, der sie besonders ausgesetzt war. Man sah, sie hatte etwas Zorniges auf den Lippen; aber sie schwieg. Und während drinnen auf der Bühne Nikodemus zwischen den ruhelos weitermanöverierenden Pilatus und Kaiphas auf und nieder ging und für seine Erregung keine weiteren Worte fand als die ewige Wiederholung von: »Nein, dieses Publikum! Ein solches Publikum! Nein, da haben wir in Norddeutschland ein anderes Publikum!« — und von hinten aus dem nun ganz verfinsterten Bühnenraum die Christusleiche starr und wächsern hervorglänzte — verließen die Letzten das Wachsfigurenkabinett.


Erläuterungen:

1 "Um die göttlichen Dinge einer Religion gut zu kennen, muss man sie sich in einer ganz und gar menschlichen Gestalt vorstellen." (französisch)

2 Renan

"Renan (spr. rönang), Joseph Ernest, Orientalist, geb. 27. Febr. 1823 in Tréguier (Depart. Côtes- du-Nord), gest. 2. Okt. 1892 in Paris, gab den geistlichen Beruf, den er erwählt hatte, 1845 auf und widmete sich dem Studium der semitischen Sprachen. Seit 1856 Mitglied der Akademie der Inschriften, unternahm er 1860 im Auftrag der Regierung eine wissenschaftliche Reise nach Syrien, worüber er die Schrift »Mission de Phénicie« (1874) veröffentlichte, und ward nach seiner Rückkehr 1862 zum Professor der hebräischen, chaldäischen und syrischen Sprache am Collège de France ernannt. Hatte er in verschiedenen wissenschaftlichen Werken Anstoß erregt, so rief er vollends durch sein Werk »Vie de Jésus« (Par. 1863, 2 Bde.; 17. Aufl. 1882; deutsch, 5. Aufl., Leipz. 1893 und in mehreren andern Übersetzungen) allgemeines Aufsehen hervor. Das Buch wurde in fast alle europäischen Sprachen übersetzt und veranlasste eine ganze Flut von Gegenschriften. Infolgedessen 1863 seiner Professur entsetzt und die ihm angebotene Stelle eines kaiserlichen Bibliothekars ablehnend, unternahm Renan eine Reise nach Ägypten. Erst im Dezember 1871 erhielt er die Erlaubnis, seine Vorlesungen am Collège de France wieder zu eröffnen, und wurde 1878 Mitglied der Akademie."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

3  Dult (althochdeutsch tuld), ursprünglich Fest, jetzt nur noch in Bayern soviel wie Jahrmarkt, Messe, Kirchweih.

4 Estrade (franz.): der um eine oder einige Stufen erhöhte Teil des Fußbodens vor einem Fenster, Thron, Katafalk etc.

5  Soffitte (ital.): die Unteransicht eines Bogens, einer Hängeplatte, einer Balkendecke etc.; eine getäfelte Zimmerdecke; die über der Bühne aufgehängten, den Himmel oder eine Decke darstellenden Dekorationsstücke. Hier wohl im Sinne von Kulisse gebraucht

6 Apostel

"Apostel (griech., »Gesandte, Sendboten«), im allgemeinen im Neuen Testament alle diejenigen, die irgendwie ausgesendet wurden, um das Evangelium zu verkündigen; im engern Sinne die zwölf Jünger, die Jesus aus dem großen Kreise seiner Anhänger auswählte und aussandte, um durch ihre Predigt die neue Gemeinde zu stiften.

Ihre Namen gibt uns das Neue Testament in vier sogen. Apostelkatalogen (Matth. 10, 2-4; Markus 3, 16-19; Lukas 6, 14-16; Apostelgeschichte 1,13); sie heißen:

  • Simon Petrus,
  • Andreas,
  • Jakobus,
  • Johannes,
  • Philippus,
  • Bartholomäus,
  • Thomas,
  • Matthäus,
  • Jakobus
  • Alphäi Sohn,
  • Lebbäus,
  • Simon,
  • Judas Ischariot, an dessen Stelle später Matthias getreten ist.

Die Namen stimmen in den vier Verzeichnissen nicht völlig überein; doch wird in der Regel angenommen, daß Bartholomäus dieselbe Person ist mit Nathanael, Matthäus mit Levi, Lebbäus mit Thaddäus oder Judas Jakobi (d.h. des Jakobus Sohn).

Die erste Stelle nehmen die beiden Brüderpaare ein, Petrus und Andreas und die Zebedaiden Jakobus und Johannes.

An der Spitze erscheint in allen Katalogen Simon Petrus, der zuerst Berufene und ständige Wortführer seiner Mitapostel. Mit ihm bilden die beiden Zebedaiden den engern Kreis der Vertrauten Jesu, alle zwölf aber gleichsam die Mustergemeinde, die Jesus heranbildete, einen mit Bezug auf das zwölfstämmige Israel abgeschlossenen Kreis, in dem die neuen religiösen und sittlichen Grundsätze sich verwirklichten und auch der Besitz für gemeinsam galt, während Jesus zu ihnen in dem Verhältnis eines Familienvaters steht. Erst allmählich reiste in ihnen, und wieder in Petrus zuerst, der Glaube an die Messianität ihres Meisters. Ihre eigentliche Wirksamkeit beginnt erst mit dem Pfingsttage, als an die Stelle der Niedergeschlagenheit, in die sie der Tod Jesu versetzt hatte, eine volle Glaubenszuversicht getreten war.

Von den meisten Aposteln, ihrer fernern Wirksamkeit und ihren Schicksalen schweigt die biblische Erzählung, und die sie betreffenden apokryphischen Überlieferungen haben keinen geschichtlichen Wert. Nach diesen sollen die Apostel die Erde als Missionsgebiet unter sich verteilt haben, dann zur Missionsarbeit ausgezogen und fast sämtlich als Märtyrer gestorben sein.

Noch bis in die Mitte des 2. Jahrh. wurde der Name Apostel auch im weitern Sinne von wandernden Glaubensboten überhaupt gebraucht, wogegen das Apostolat als Amt oder Würde nicht fortgeführt wurde; nur als Rechtsnachfolger des Petrus nennt der römische Stuhl sich apostolisch."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

7 Paulus

"Paulus (vor seiner Bekehrung [vgl. Apostelgeschichte 13, 9] eigentlich Saul oder Saulu, hebr. Schaul, d.h. der Erbetene), der Heidenapostel, geboren in Tarsos, der Hauptstadt Kilikiens, von jüdischen Eltern, ward von seinem Vater zum Rabbi bestimmt und deshalb frühzeitig nach Jerusalem gebracht, wo er durch Gamaliel in die pharisäische Theologie eingeweiht wurde. Daneben erlernte er das Handwerk eines Zeltwebers. Als strenger Pharisäer leitete er die Verfolgungen der neuen Sekte zu Jerusalem ein und ließ sich, als sich die Christengemeinde von dort zerstreut hatte, Vollmachten vom Synedrium erteilen, um auch in Damaskus das Werk der Vernichtung fortzusetzen. Vor Damaskus kam es zu jener innern, von einer Vision begleiteten Katastrophe, daraus der frühere Verfolger der Christen als Apostel der Messianität Jesu hervorging. Nach einem dreijährigen, durch eine Reise nach Arabien unterbrochenen Aufenthalt in Damaskus entzog er sich den Nachstellungen der dortigen Juden durch die Flucht und begab sich dann auf zwei Wochen nach Jerusalem, wo er Petrus und Jakobus, den Bruder Jesu, antraf. Durch Barnabas (s. d.) ließ er sich in die aus gebornen Heiden und Juden gemischte Gemeinde zu Antiochia einführen, in deren Auftrag beide eine Missionsreise unternahmen, die sie über die Insel Cypern durch die kleinasiatischen Provinzen Pamphylien, Pisidien und Lykaonien führte. Nach Antiochia zurückgekehrt, fand Paulus die dortige Gemeinde über die Frage geteilt, unter welchen Bedingungen gläubig gewordene Heiden in die christliche Gemeinschaft aufzunehmen seien. Eine dadurch herbeigeführte Reise des Paulus und Barnabas nach Jerusalem führte etwa 50-52 zu dem Resultat der Trennung der Missionsgebiete der Urapostel und des Paulus unter Erweis gegenseitiger Anerkennung (s. Apostelkonvent). Gleichwohl trug ihm die noch ungelöste Frage nach dem Verhältnis von Juden und Heiden im Christentum einen harten Konflikt mit Petrus und selbst mit Barnabas in Antiochia ein. Nach seiner Trennung von letzterm unternahm er, von Silas begleitet, eine zweite Bekehrungsreise durch die schon besuchten kleinasiatischen Provinzen, dann durch Phrygien und Galatien nach Mysien, von da nach Mazedonien, wo in Philippi und Thessalonich, und nach Achaia, wo besonders in Korinth christliche Gemeinden gegründet wurden. Nach anderthalbjährigem Aufenthalt daselbst lässt ihn wenigstens die Apostelgeschichte über Jerusalem nach Antiochia zurückkehren. Eine dritte Missionsreise führte ihn durch Galatien und Phrygien nach Ephesos. Von hier nach einem fast dreijährigen Aufenthalt vertrieben, reiste er durch Mazedonien und Achaia nach Korinth, sammelte hier eine Beisteuer für die Christen in Jerusalem, kehrte 58 wieder nach Mazedonien zurück und ging von dort 59 zu Schiff über Miletos und Cäsarea nach Jerusalem. Kaum angekommen, wurde er bei einem Volksaufstand von den Römern in Hast genommen und als Gefangener nach Cäsarea zum Verhör vor den Prokurator gebracht. Da er an den Kaiser appellierte, wurde er im Herbst 61 nach Rom gesandt, wo er im nächsten Frühjahr anlangte, um zwei volle Jahre in der Gefangenschaft zuzubringen. Mit dieser Nachricht schließt die Apostelgeschichte. Späterer Tradition zufolge soll Paulus aus dieser römischen Gefangenschaft befreit worden sein, noch mehrere Reisen, insbes. nach Spanien, gemacht haben, endlich wieder in Rom verhaftet und unter Nero zugleich mit Petrus hingerichtet und zwar enthauptet worden sein. Wahrscheinlicher schlossen schon die zwei Jahre der Apostelgeschichte mit Prozess und Hinrichtung ab. Die Kirche hat Paulus zugleich mit Petrus den 29. Juni als Peter- und Paulstag (s. d.) und den 25. Jan. als Pauli Bekehrungstag gewidmet."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

8 Judas Ischariot

"Judas Ischariot, Sohn Simons, aus Kariot im Stamm Juda, einer der zwölf Apostel Jesu, der Jesum mit einem Kuss (Judaskuss) für die Summe von 30 Sekel (etwa 60 Mk.) verriet und sich darauf in der Verzweiflung selbst das Leben genommen haben soll, worüber schon im Urchristentum drei verschiedene Berichte umliefen. Über die Motive des Verrats gibt es nur Vermutungen. Die Gestalt des Verräters, dem die Volksphantasie bald auch einen bestimmten Typus lieh, tritt in allen poetischen Erzählungen vom Leben Jesu wie in den biblischen Dramen des 16. Jahrh. in gleich abschreckender Weise auf: überall erscheint er als Repräsentant der niedrigsten Habsucht, teuflischer Bosheit und trauriger geistiger Beschränktheit, zugleich als eine gemeine Alltagsnatur. Auch der Halbroman »Judas der Erzschelm« von Abraham a Santa Clara (1689) folgt dieser Auffassung, während neuere Dichtungen, wie die Tragödien: »Judas Ischarioth« (1852) von Elisa Schmidi, »Jesus der Christ« (1865) von Dulk und »Maria von Magdala« (1902) von Paul Heyse, den Charakter des Verräters zu heben und psychologisch verständlich zu machen suchen. In der frühchristlichen Kunst findet sich nur auf einigen wenigen Denkmälern der Verrat des Judas (Judaskuss) und der Selbstmord des Judas (z. B. auf einem Elfenbeinrelief des 6. Jahrh. im Britischen Museum, s. Tafel »Christliche Altertümer II«, Fig. 15) dargestellt. In der Kunst des Mittelalters und der Renaissance kommen dagegen keine Darstellungen des Selbstmordes vor; Judas fehlt dafür in keiner der zyklischen Darstellungen der Passion und in keiner der Darstellungen des Abendmahls. Auf letztern wird er gewöhnlich mit einem Beutel mit dem Lohn seines Verrates dargestellt (bekanntestes Beispiel das Abendmahl Leonardos da Vinci), in der ältern italienischen Kunst von den übrigen Jüngern isoliert an einer Seite des Tisches allein sitzend (Beispiel: Fresko von D. Ghirlandajo in Ognissanti zu Florenz). In neuerer Zeit ist E. v. Gebhardt auf seinem Bilde des Abendmahls in der Berliner Nationalgalerie von der Überlieferung abgewichen, indem er Judas dargestellt hat, wie er bei den Worten Christi heimlich hinausschleicht."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

9 Bach Kidron


Abb.: Lage des Kidron-Tals bei Jerusalem

10 Der Bericht über Abendmahl, Passion und Kreuzigung im Matthäusevangelium:

Matthäus 26

1Und es begab sich, da Jesus alle diese Reden vollendet hatte, sprach er zu seinen Jüngern:
2Ihr wisset, dass nach zwei Tagen Ostern wird; und des Menschen Sohn wird überantwortet werden, dass er gekreuzigt werde.
3Da versammelten sich die Hohenpriester und Schriftgelehrten und die Ältesten im Volk in den Palast des Hohenpriesters, der da hieß Kaiphas,
4und hielten Rat, wie sie Jesus mit List griffen und töteten.
5Sie sprachen aber: Ja nicht auf das Fest, auf dass nicht ein Aufruhr werde im Volk!
6Da nun Jesus war zu Bethanien im Hause Simons, des Aussätzigen,
7da trat zu ihm ein Weib, das hatte ein Glas mit köstlichem Wasser und goss es auf sein Haupt, da er zu Tische saß.
8Da das seine Jünger sahen, wurden sie unwillig und sprachen: Wozu diese Vergeudung?
9Dieses Wasser hätte mögen teuer verkauft und den Armen gegeben werden.
10Da das Jesus merkte, sprach er zu ihnen: Was bekümmert ihr das Weib? Sie hat ein gutes Werk an mir getan.
11Ihr habt allezeit Arme bei euch; mich aber habt ihr nicht allezeit.
12Daß sie dies Wasser hat auf meinen Leib gegossen, hat sie getan, dass sie mich zum Grabe bereite.
13Wahrlich ich sage euch: Wo dies Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat.
14Da ging hin der Zwölf einer, mit Namen Judas Ischariot, zu den Hohenpriestern
15und sprach: Was wollt ihr mir geben? Ich will ihn euch verraten. Und sie boten ihm dreißig Silberlinge.
16Und von dem an suchte er Gelegenheit, dass er ihn verriete.
17Aber am ersten Tag der süßen Brote traten die Jünger zu Jesus und sprachen zu ihm: Wo willst du, dass wir dir bereiten das Osterlamm zu essen?
18Er sprach: Gehet hin in die Stadt zu einem und sprecht der Meister lässt dir sagen: Meine Zeit ist nahe; ich will bei dir Ostern halten mit meinen Jüngern.
19Und die Jünger taten wie ihnen Jesus befohlen hatte, und bereiteten das Osterlamm.
20Und am Abend setzte er sich zu Tische mit den Zwölfen.
21Und da sie aßen, sprach er: Wahrlich ich sage euch: Einer unter euch wird mich verraten.
22Und sie wurden sehr betrübt und hoben an, ein jeglicher unter ihnen, und sagten zu ihm: HERR, bin ich's?
23Er antwortete und sprach: Der mit der Hand mit mir in die Schüssel tauchte, der wird mich verraten.
24Des Menschen Sohn geht zwar dahin, wie von ihm geschrieben steht; doch weh dem Menschen, durch welchen des Menschen Sohn verraten wird! Es wäre ihm besser, dass er nie geboren wäre.
25Da antwortete Judas, der ihn verriet, und sprach: Bin ich's Rabbi? Er sprach zu ihm: Du sagst es.
26Da sie aber aßen, nahm Jesus das Brot, dankte und brach's und gab's den Jüngern und sprach: Nehmet, esset; das ist mein Leib.
27Und er nahm den Kelch und dankte, gab ihnen den und sprach: Trinket alle daraus;
28das ist mein Blut des neuen Testaments, welches vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden.
29Ich sage euch: Ich werde von nun an nicht mehr von diesen Gewächs des Weinstocks trinken bis an den Tag, da ich's neu trinken werde mit euch in meines Vaters Reich.
30Und da sie den Lobgesang gesprochen hatte, gingen sie hinaus an den Ölberg.
31Da sprach Jesus zu ihnen: In dieser Nacht werdet ihr euch alle ärgern an mir. Denn es steht geschrieben: »Ich werde den Hirten schlagen, und die Schafe der Herde werden sich zerstreuen.«
32Wenn ich aber auferstehe, will ich vor euch hingehen nach Galiläa.
33Petrus aber antwortete und sprach zu ihm: Wenn sich auch alle an dir ärgerten, so will ich doch mich nimmermehr ärgern.
34Jesus sprach zu ihm: Wahrlich ich sage dir: In dieser Nacht, ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen.
35Petrus sprach zu ihm: Und wenn ich mit dir sterben müsste, so will ich dich nicht verleugnen. Desgleichen sagten auch alle Jünger.
36Da kam Jesus mit ihnen zu einem Hofe, der hieß Gethsemane, und sprach zu seinen Jüngern: Setzet euch hier, bis dass ich dorthin gehe und bete.
37Und nahm zu sich Petrus und die zwei Söhne des Zebedäus und fing an zu trauern und zu zagen.
38Da sprach Jesus zu ihnen: Meine Seele ist betrübt bis an den Tod; bleibet hier und wachet mit mir!
39Und ging hin ein wenig, fiel nieder auf sein Angesicht und betete und sprach: Mein Vater, ist's möglich, so gehe dieser Kelch von mir; doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst!
40Und er kam zu seinen Jüngern und fand sie schlafend und sprach zu Petrus: Könnet ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen?
41Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallet! Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach.
42Zum andernmal ging er wieder hin, betete und sprach: Mein Vater, ist's nicht möglich, dass dieser Kelch von mir gehe, ich trinke ihn denn, so geschehe dein Wille!
43Und er kam und fand sie abermals schlafend, und ihre Augen waren voll Schlafs.
44Und er ließ sie und ging abermals hin und betete zum drittenmal und redete dieselben Worte.
45Da kam er zu seinen Jüngern und sprach zu ihnen: Ach wollt ihr nur schlafen und ruhen? Siehe, die Stunde ist hier, dass des Menschen Sohn in der Sünder Hände überantwortet wird.
46Stehet auf, lasst uns gehen! Siehe, er ist da, der mich verrät!
47Und als er noch redete, siehe, da kam Judas, der Zwölf einer, und mit ihm eine große Schar, mit Schwertern und mit Stangen, von den Hohenpriestern und Ältesten des Volks.
48Und der Verräter hatte ihnen ein Zeichen gegeben und gesagt: Welchen ich küssen werde, der ist's; den greifet.
49Und alsbald trat er zu Jesus und sprach: Gegrüßet seist du, Rabbi! und küsste ihn.
50Jesus aber sprach zu ihm: Mein Freund, warum bist du gekommen? Da traten sie hinzu und legten die Hände an Jesus und griffen ihn.
51Und siehe, einer aus denen, die mit Jesus waren, reckte die Hand aus und zog sein Schwert aus und schlug des Hohenpriesters Knecht und hieb ihm ein Ohr ab.
52Da sprach Jesus zu ihm; Stecke dein Schwert an seinen Ort! denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen.
53Oder meinst du, dass ich nicht könnte meinen Vater bitten, dass er mir zuschickte mehr denn zwölf Legionen Engel?
54Wie würde aber die Schrift erfüllet? Es muss also gehen.
55Zu der Stunde sprach Jesus zu den Scharen: Ihr seid ausgegangen wie zu einem Mörder, mit Schwertern und Stangen, mich zu fangen. Bin ich doch täglich gesessen bei euch und habe gelehrt im Tempel, und ihr habt mich nicht gegriffen.
56Aber das ist alles geschehen, dass erfüllet würden die Schriften der Propheten. Da verließen ihn die Jünger und flohen.
57Die aber Jesus gegriffen hatten, führten ihn zu dem Hohenpriester Kaiphas, dahin die Schriftgelehrten und Ältesten sich versammelt hatten.
58Petrus aber folgte ihm nach von ferne bis in den Palast des Hohenpriesters und ging hinein und setzte sich zu den Knechten, auf dass er sähe, wo es hinaus wollte.
59Die Hohenpriester aber und die Ältesten und der ganze Rat suchten falsch Zeugnis gegen Jesus, auf dass sie ihn töteten,
60und fanden keins. Und wiewohl viel falsche Zeugen herzutraten, fanden sie doch keins. Zuletzt traten herzu zwei falsche Zeugen
61und sprachen: Er hat gesagt: Ich kann den Tempel Gottes abbrechen und in drei Tagen ihn bauen.
62Und der Hohepriester stand auf und sprach zu ihm: Antwortest du nichts zu dem, was diese wider dich zeugen?
63Aber Jesus schwieg still. Und der Hohepriester antwortete und sprach zu ihm: Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, dass du uns sagest, ob du seist Christus, der Sohn Gottes.
64Jesus sprach zu ihm: Du sagst es. Doch ich sage euch: Von nun an wird's geschehen, dass ihr werdet sehen des Menschen Sohn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen in den Wolken des Himmels.
65Da zerriss der Hohepriester seine Kleider und sprach: Er hat Gott gelästert! Was bedürfen wir weiteres Zeugnis? Siehe, jetzt habt ihr seine Gotteslästerung gehört.
66Was dünkt euch? Sie antworteten und sprachen: Er ist des Todes schuldig!
67Da spieen sie aus in sein Angesicht und schlugen ihn mit Fäusten. Etliche aber schlugen ihn ins Angesicht
68und sprachen: Weissage uns, Christe, wer ist's, der dich schlug?
69Petrus aber saß draußen im Hof; und es trat zu ihm eine Magd und sprach: Und du warst auch mit dem Jesus aus Galiläa.
70Er leugnete aber vor ihnen allen und sprach: Ich weiß nicht, was du sagst.
71Als er aber zur Tür hinausging, sah ihn eine andere und sprach zu denen, die da waren: Dieser war auch mit dem Jesus von Nazareth.
72Und er leugnete abermals und schwur dazu: Ich kenne den Menschen nicht.
73Und über eine kleine Weile traten die hinzu, die dastanden, und sprachen zu Petrus: Wahrlich du bist auch einer von denen; denn deine Sprache verrät dich.
74Da hob er an sich zu verfluchen und zu schwören: Ich kenne diesen Menschen nicht. Uns alsbald krähte der Hahn.
75Da dachte Petrus an die Worte Jesu, da er zu ihm sagte: »Ehe der Hahn krähen wird, wirst du mich dreimal verleugnen«, und ging hinaus und weinte bitterlich.

Matthäus 27

1Des Morgens aber hielten alle Hohenpriester und die Ältesten des Volks einen Rat über Jesus, dass sie ihn töteten.
2Und banden ihn, führten ihn hin und überantworteten ihn dem Landpfleger Pontius Pilatus.
3Da das sah Judas, der ihn verraten hatte, dass er verdammt war zum Tode, gereute es ihn, und brachte wieder die dreißig Silberlinge den Hohenpriestern und den Ältesten
4und sprach: Ich habe übel getan, dass ich unschuldig Blut verraten habe.
5Sie sprachen: Was geht uns das an? Da siehe du zu! Und er warf die Silberlinge in den Tempel, hob sich davon, ging hin und erhängte sich selbst.
6Aber die Hohenpriester nahmen die Silberlinge und sprachen: Es taugt nicht, dass wir sie in den Gotteskasten legen, denn es ist Blutgeld.
7Sie hielten aber einen Rat und kauften den Töpfersacker darum zum Begräbnis der Pilger.
8Daher ist dieser Acker genannt der Blutacker bis auf den heutigen Tag.
9Da ist erfüllt, was gesagt ist durch den Propheten Jeremia, da er spricht: »Sie haben genommen dreißig Silberlinge, damit bezahlt war der Verkaufte, welchen sie kauften von den Kindern Israel,
10und haben sie gegeben um den Töpfersacker, wie mir der HERR befohlen hat.«
11Jesus aber stand vor dem Landpfleger; und der Landpfleger fragte ihn und sprach: Bist du der Juden König? Jesus aber sprach zu ihm: Du sagst es.
12Und da er verklagt ward von den Hohenpriestern und Ältesten, antwortete er nicht.
13Da sprach Pilatus zu ihm: Hörst du nicht, wie hart sie dich verklagen?
14Und er antwortete ihm nicht auf ein Wort, also dass der Landpfleger sich verwunderte.
15Auf das Fest aber hatte der Landpfleger die Gewohnheit, dem Volk einen Gefangenen loszugeben, welchen sie wollten.
16Er hatte aber zu der Zeit einen Gefangenen, einen sonderlichen vor anderen, der hieß Barabbas.
17Und da sie versammelt waren, sprach Pilatus zu ihnen: Welchen wollt ihr, dass ich euch losgebe? Barabbas oder Jesus, von dem gesagt wird, er sei Christus?
18Denn er wusste wohl, dass sie ihn aus Neid überantwortet hatten.
19Und da er auf dem Richtstuhl saß, schickte sein Weib zu ihm und ließ ihm sagen: Habe du nichts zu schaffen mit diesem Gerechten; ich habe heute viel erlitten im Traum seinetwegen.
20Aber die Hohenpriester und die Ältesten überredeten das Volk, dass sie um Barabbas bitten sollten und Jesus umbrächten.
21Da antwortete nun der Landpfleger und sprach zu ihnen: Welchen wollt ihr unter diesen zweien, den ich euch soll losgeben? Sie sprachen: Barabbas.
22Pilatus sprach zu ihnen: Was soll ich denn machen mit Jesus, von dem gesagt wird er sei Christus? Sie sprachen alle: Lass ihn kreuzigen!
23Der Landpfleger sagte: Was hat er denn Übles getan? Sie schrieen aber noch mehr und sprachen: Lass ihn kreuzigen!
24Da aber Pilatus sah, dass er nichts schaffte, sondern dass ein viel größer Getümmel ward, nahm er Wasser und wusch die Hände vor dem Volk und sprach: Ich bin unschuldig an dem Blut dieses Gerechten, sehet ihr zu!
25Da antwortete das ganze Volk und sprach: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder.
26Da gab er ihnen Barabbas los; aber Jesus ließ er geißeln und überantwortete ihn, dass er gekreuzigt würde.
27Da nahmen die Kriegsknechte des Landpflegers Jesus zu sich in das Richthaus und sammelten über ihn die ganze Schar
28und zogen ihn aus und legten ihm einen Purpurmantel an
29und flochten eine Dornenkrone und setzten sie auf sein Haupt und ein Rohr in seine rechte Hand und beugten die Kniee vor ihm und verspotteten ihn und sprachen: Gegrüßet seist du, der Juden König!
30und spieen ihn an und nahmen das Rohr und schlugen damit sein Haupt.
31Und da sie ihn verspottet hatten, zogen sie ihm seine Kleider an und führten ihn hin, dass sie ihn kreuzigten.
32Und indem sie hinausgingen, fanden sie einen Menschen von Kyrene mit Namen Simon; den zwangen sie, dass er ihm sein Kreuz trug.
33Und da sie an die Stätte kamen mit Namen Golgatha, das ist verdeutscht Schädelstätte,
34gaben sie ihm Essig zu trinken mit Galle vermischt; und da er's schmeckte, wollte er nicht trinken.
35Da sie ihn aber gekreuzigt hatten, teilten sie seine Kleider und warfen das Los darum, auf dass erfüllet würde, was gesagt ist durch den Propheten: »Sie haben meine Kleider unter sich geteilt, und über mein Gewand haben sie das Los geworfen.«
36Und sie saßen allda und hüteten sein.
37Und oben zu seinen Häupten setzten sie die Ursache seines Todes, und war geschrieben: Dies ist Jesus, der Juden König.
38Und da wurden zwei Mörder mit ihm gekreuzigt, einer zur Rechten und einer zur Linken.
39Die aber vorübergingen, lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe
40und sprachen: Der du den Tempel Gottes zerbrichst und baust ihn in drei Tagen, hilf dir selber! Bist du Gottes Sohn, so steig herab von Kreuz.
41Desgleichen auch die Hohenpriester spotteten sein samt den Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen:
42Andern hat er geholfen, und kann sich selber nicht helfen. Ist er der König Israels, so steige er nun vom Kreuz, so wollen wir ihm glauben.
43Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, hat er Lust zu ihm; denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn.
44Desgleichen schmähten ihn auch die Mörder, die mit ihm gekreuzigt waren.
45Und von der sechsten Stunde an ward eine Finsternis über das ganze Land bis zu der neunten Stunde.
46Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut und sprach: Eli, Eli, lama asabthani? das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
47Etliche aber, die dastanden, da sie das hörten, sprachen sie: Der ruft den Elia.
48Und alsbald lief einer unter ihnen, nahm einen Schwamm und füllte ihn mit Essig und steckte ihn an ein Rohr und tränkte ihn.
49Die andern aber sprachen: Halt, las sehen, ob Elia komme und ihm helfe.
50Aber Jesus schrie abermals laut und verschied.
51Und siehe da, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von obenan bis untenaus.
52Und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, die Gräber taten sich auf, und standen auf viele Leiber der Heiligen, die da schliefen,
53und gingen aus den Gräbern nach seiner Auferstehung und kamen in die heilige Stadt und erschienen vielen.
54Aber der Hauptmann und die bei ihm waren und bewahrten Jesus, da sie sahen das Erdbeben und was da geschah, erschraken sie sehr und sprachen: Wahrlich dieser ist Gottes Sohn gewesen!
55Und es waren viele Weiber da, die von ferne zusahen, die da Jesus waren nachgefolgt aus Galiläa und hatten ihm gedient;
56unter welchen war Maria Magdalena und Maria, die Mutter der Kinder des Zebedäus.
57Am Abend aber kam ein reicher Mann von Arimathia, der hieß Joseph, welcher auch ein Jünger Jesu war.
58Der ging zu Pilatus und bat ihn um den Leib Jesus. Da befahl Pilatus man sollte ihm ihn geben.
59Und Joseph nahm den Leib und wickelte ihn in eine reine Leinwand
60und legte ihn in sein eigenes Grab, welches er hatte lassen in einen Fels hauen, und wälzte einen großen Stein vor die Tür des Grabes und ging davon.
61Es war aber allda Maria Magdalena und die andere Maria, die setzten sich gegen das Grab.
62Des andern Tages, der da folgt nach dem Rüsttage, kamen die Hohenpriester und Pharisäer sämtlich zu Pilatus
63und sprachen: Herr, wir haben gedacht, dass dieser Verführer sprach, da er noch lebte: Ich will nach drei Tagen auferstehen.
64Darum befiehl, dass man das Grab verwahre bis an den dritten Tag, auf dass nicht seine Jünger kommen und stehlen ihn und sagen dem Volk: Er ist auferstanden von den Toten, und werde der letzte Betrug ärger denn der erste.
65Pilatus sprach zu ihnen: Da habt ihr die Hüter; gehet hin und verwahret, wie ihr wisset.
66Sie gingen hin und verwahrten das Grab mit Hütern und versiegelten den Stein.

[Luther-Bibel 1912]

11 Matthäus

"Matthäus (hebr. Mattai, »Treumann«), einer der zwölf Jünger Jesu, hieß wahrscheinlich auch Levi, war ein Sohn des Alphäus und, ehe er Jesu folgte, Zolleinnehmer am See Genezareth. Nach der Überlieferung soll er an den entlegensten Orten für die Ausbreitung des Evangeliums gewirkt haben und als Märtyrer gestorben, sein Leichnam aber 954 nach Salerno gebracht worden sein, wo sein Grab gezeigt wird. Sein Attribut ist der Engel (vgl. Evangelist). Die römische Kirche hat ihm den 21. September, die griechische den 16. November geweiht. Das ihm zugeschriebene Evangelium ruht wahrscheinlich auf einer von Matthäus aramäisch verfassten Schrift, darin »Reden des Herrn«, Aussprüche, Gleichnisse, Weissagungen Jesu zusammengestellt waren (s. Evangelium). Der unter den slavischen Kaisern schreibende Verfasser will die fortgeschrittene und universalistische, im katholischen Kirchentum ausgehende Gestalt des Urchristentums vertreten. Dabei sind deutliche Spuren einer noch spätern Überarbeitung vorhanden."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

12 ungläubiger Thomas: Johannesevangelium 20, 24 ff:

"19Am Abend aber desselben ersten Tages der Woche, da die Jünger versammelt und die Türen verschlossen waren aus Furcht vor den Juden, kam Jesus und trat mitten ein und spricht zu ihnen: Friede sei mit euch!
20Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und seine Seite. Da wurden die Jünger froh, dass sie den HERRN sahen.
21Da sprach Jesus abermals zu ihnen: Friede sei mit euch! Gleichwie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.
22Und da er das gesagt hatte, blies er sie an und spricht zu ihnen: Nehmet hin den Heiligen Geist!
23Welchen ihr die Sünden erlasset, denen sind sie erlassen; und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.
24Thomas aber, der Zwölf einer, der da heißt Zwilling, war nicht bei ihnen, da Jesus kam.
25Da sagten die andern Jünger zu ihm: Wir haben den HERRN gesehen. Er aber sprach zu ihnen: Es sei denn, dass ich in seinen Händen sehe die Nägelmale und lege meinen Finger in die Nägelmale und lege meine Hand in seine Seite, will ich's nicht glauben.
26Und über acht Tage waren abermals seine Jünger drinnen und Thomas mit ihnen. Kommt Jesus, da die Türen verschlossen waren, und tritt mitten ein und spricht: Friede sei mit euch!
27Darnach spricht er zu Thomas: Reiche deinen Finger her und siehe meine Hände, und reiche dein Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!
28Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein HERR und mein Gott!
29Spricht Jesus zu ihm: Dieweil du mich gesehen hast, Thomas, glaubest du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!
30Auch viele andere Zeichen tat Jesus vor seinen Jüngern, die nicht geschrieben sind in diesem Buch.
31Diese aber sind geschrieben, dass ihr glaubet, Jesus sei Christus, der Sohn Gottes, und dass ihr durch den Glauben das Leben habet in seinem Namen.

[Luther-Bibel 1912]

13 Johannes

"Johannes der Apostel, einer der Vertrauten Jesu, Sohn des Fischers Zebedäus und der Salome, Bruder des ältern Jakobus, trieb das Gewerbe seines Vaters am See Genezareth und gehörte zu den Erstberufenen in Jesu Nachfolgeschaft. Die synoptischen Evangelien schildern ihn und seinen Bruder als heftige. ehrgeizige, sogar zur Gewalttat neigende »Donnerskinder«, während das seinen Namen tragende vierte Evangelium in ihm den sanften und treuen Lieblingsjünger sieht, der selbst beim Tode Jesu in dessen Nähe ausharrt und von dem sterbenden Meister die Weisung empfängt, sich der Mutter desselben als Sohn anzunehmen. In der Urgemeinde hat er als eine der »Säulen«, der Autoritäten der judenchristlichen Richtung, eine führende Stellung eingenommen. Dass er mit seinem Bruder Jakobus von Juden getötet wurde, lässt sich aus Mark. 10,19 in Verbindung mit einer bestimmten Angabe bei Papias (s. d.) von Hierapolis wahrscheinlich machen. Der spätern kirchlichen Überlieferung zufolge soll er nach Kleinasien übergesiedelt sein und von Ephesos aus eine oberhirtliche Tätigkeit entfaltet haben. Dass er unter Domitian auf die Insel Patmos verwiesen worden und unter Nerva zurückgekehrt sei, beruht auf Offenb. 1,9 und hängt zusammen mit der Annahme, dass der Verfasser der Apokalypse mit dem Jünger Jesu identisch sei. Aber sowohl diese Annahme wie überhaupt die Tradition von dem ephesinischen Aufenthalt eines Zwölfapostels haben in neuer Zeit starke Anfechtung erfahren, und man will in der judenchristlichen Autorität, die nach den Zeiten des Apostels Paulus in Ephesos unter dem Namen Johannes auftritt und wahrscheinlich in der Apokalypse sich bezeugt, sogar einen andern Johannes finden, den der gegen 150 schreibende Papias den Presbyter Johannes nennt. Dann wären auf diesen Johannes auch die kirchlichen Zeugnisse zu beziehen, denen zufolge Johannes zu Ephesos als der letzte der Apostel während der Regierung Trajans eines natürlichen Todes gestorben sein soll. Im Verlauf der zweiten Hälfte des 2. Jahrh. verdichtet sich diese Form der Johannislegende, und die spätere Kirche hat sie noch mehr ausgeschmückt. In der katholischen Kirche ist der 27. Dezember sein Gedächtnistag. Den Namen des Apostels Johannes, als des Verfassers, tragen in unserm neutestamentlichen Kanon ein Evangelium, drei Briefe und eine prophetische Schrift, die Apokalypse oder Offenbarung des Johannes"

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

14 Johannesevangelium 13:

 21Da Jesus solches gesagt hatte, ward er betrübt im Geist und zeugte und sprach: Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Einer unter euch wird mich verraten.
22Da sahen sich die Jünger untereinander an, und ward ihnen bange, von welchem er redete.
23Es war aber einer unter seinen Jüngern, der zu Tische saß an der Brust Jesu, welchen Jesus liebhatte.
24Dem winkte Simon Petrus, dass er forschen sollte, wer es wäre, von dem er sagte.
25Denn derselbe lag an der Brust Jesu, und er sprach zu ihm: HERR, wer ist's?
26Jesus antwortete: Der ist's, dem ich den Bissen eintauche und gebe. Und er tauchte den Bissen ein und gab ihn Judas, Simons Sohn, dem Ischariot.
27Und nach dem Bissen fuhr der Satan in ihn. Da sprach Jesus zu ihm: Was du tust, das tue bald!

[Luther-Bibel 1912]

15 Magdalene

"Maria Magdalena (»Maria aus Magdala«) schloss sich Jesu an, als dieser sieben Dämonen von ihr ausgetrieben (Luk. 8,2). Die spätere Sage lässt sie nach Rom reisen, in Gallien das Evangelium verkündigen und in Ephesos den Märtyrertod erleiden. Die katholische Kirche identifiziert sie mit der Büßerin, die nach Luk. 7,37 s. Jesu in Simons Hause die Füße salbte, und feiert ihr Gedächtnis 22. Juli. Die bildende Kunst stellt sie gewöhnlich mit dem Salbgefäß dar, bei der Kreuzigung Christi den Stamm des Kreuzes umfassend, bei der Grablegung wehklagend, unter den drei Marien am Grab Christi, mit Christus, der ihr als Gärtner erscheint, und als Büßerin in der Wüste. Letztere Darstellungen waren bei den Malern besonders beliebt (Correggio, Tizian, Rubens, van Dyck, Batoni). Auch in den geistlichen Schauspielen des Mittelalters spielt sie eine nicht geringere Rolle als das »Magdalenentum« in der modernsten Literatur. Paul Heyse machte Magdalena zur Heldin seines Dramas »Maria von Magdala«. Wohltätig wirkt ihr Andenken noch in dem der Rettung gefallener Frauen gewidmeten »Magdalenenwerk« der innern Mission (s. Magdalenenstifter)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

16 Synoptische Evangelien: Matthäusevangelium, Markusevangelium und Lukasevangelium (d.h. ohne Johannesvangelium). Diese drei Evangelien weisen viele Ähnlichkeiten und Parallelen auf. Von daher wird allgemein angenommen, dass ihre Entstehungsgeschichte auf irgendeine Weise zusammenhängt.

17 Eintrittsgeld

18 Sovereign (spr. ßöwwerin): seit 1816 geprägte britische Goldmünze von 160/623 Troyunzen Gewicht und 11/12 Feinheit = 20,4295 Mark, stellte die Einheit des englischen Münzwesens, das Pfund Sterling, dar.

19 Pilatus

"Pilatus, Pontius, röm. Prokurator von Judäa zur Zeit Jesu, den er gegen bessere Überzeugung dem Hass der Priester und Pharisäer opferte. Er bekleidete sein Amt zehn Jahre lang (27-37), erregte aber durch sein willkürliches, gewaltsames Verfahren mehrmals Unruhen in Jerusalem und ward deshalb von dem Präses von Syrien, Vitellius, nach Rom geschickt, um vor dem Kaiser Tiberius Rechenschaft abzulegen Über sein Ende ist nichts bekannt. Die christliche Legende spricht von Selbstmord, später auch von Hinrichtung unter Nero. Sein Leichnam findet nirgends Ruhe. In der mittelalterlichen Legende verschmilzt die Pilatusfigur mit der eines Bergunholdes, der von einem Bergsee aus Unheil über die Landschaft bringt (Mont Pilate bei Vienne, Pilatus bei Luzern). Seine Frau, mit dem legendären Namen Procla (Claudia Procula), wird in der griechischen Kirche am 27. Okt. als Heilige verehrt."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

20 Kaiphas

"Kaiphas (»Seher« oder »Inquisitor«; Talmud: Qajjaph, Josephus: Kaiaphas), Beiname des Joseph, Schwiegersohns des Hannas, Hoherpriester von 18-37 n. Chr.. Während seiner Amtszeit erfolgten zahlreiche Bedrückungen und Provokationen, die sich bis zum Zugriff auf Tempelgelder erstreckten (Josephus, Ant. 18 §§ 55-62 [Bell. Jud. 2 §§ 169-177]; Lk 13, 1; Philo, Leg. § 38). Kaiphas kann seine Stellung (damals prinzipiell ein Jahramt!) nur durch äußerste Nachgiebigkeit gegenüber Pilatus behauptet haben; nach dessen Entsetzung verlor auch er das Pontifikat. Schon Hannas hatte den Pharisäern gegenüber eine einlenkende Politik betrieben. Kaiphas nahm sie auf, als die antisemitische Politik Roms dem Höhepunkt entgegentrieb. Diese Verständigung ermöglichte und bestimmte den Anfang der von den Pharisäern betriebenen Strafverfolgung Jesu (Joh 11, 45 ff.). Zum synedrialen Schuldspruch ist es erst durch das Eingreifen des Hohenpriesters (Mk 14, 60 f.) gekommen. Die römische Bestätigung des Urteils konnte Kaiphas erwirken, indem er eine Zwangslage ausnützte, in der sich der Sejansgünstling Pilatus nach der Hinrichtung seines Protektors für kurze Zeit befand."

[Quelle: Ernst Bammel (1923 - ). -- In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG3). --  Bd. 3. -- 1959. -- Sp. 1091] Siebeck)]

21 Mitra: Bischofshut

22 Hoher Rat =  Synedrion (Sanhedrin): zur Zeit Jesu die höchste jüdische Regierungsbehörde

23  Schächer = Räuber: herkömmliche Bezeichnung der zwei mit Jesus gekreuzigten Übeltäter

24 Nikodemus: nach Joh 3, 1 ff. Name eines angesehenen Rabbi pharisäischer Herkunft, der Mitglied des Synhedrion (hohen Rats) ist, gelegentlich für Jesus eintritt (Joh 7, 50 ff.) und ihn zusammen mit Joseph von Arimathia begräbt (Joh 19, 38 ff.).

25 Matthäusevangelium 27, 46: "Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut und sprach: Eli, Eli, lama asabthani? das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"

26 gilfen (gelfen): gellend schreien

27 Drillich: grobes, buntgestreiftes Gewebe

28 Fisematenten: listige Ausflüchte oder Streiche

29  Quodlibet: ordnungslose Zusammenstellung verschiedener Gegenstände


Zurück zu Religionskritik