Religionskritisches von Oskar Panizza

Ein skandalöser Fall (1893)

von

Oskar Panizza


Herausgegeben von Alois Payer (payer@payer.de)


Zitierweise / cite as:

Panizza, Oskar <1853 - 1921 >: Ein skandalöser Fall.  -- 1893. -- Fassung vom 2005-01-14. -- URL:  http://www.payer.de/religionskritik/panizza06.htm 

Erstmals publiziert: 2005-01-14

Überarbeitungen:

©opyright: Public Domain

Dieser Text ist Teil der Abteilung Religionskritik  von Tüpfli's Global Village Library


Erstmals erschienen in:

Panizza, Oskar <1853 - 1921 >: Visionen : Skizzen und Erzählungen. -- Leipzig : W. Friedrich, [1893]. -- 298 S. ; 20 cm. -- S. 230 -  264

Da Panizzas eigenwillige Orthographie in keinerlei Erkenntnisfortschritt bringt, habe ich sie — unter Wahrung des Lautbestandes — durch die moderne Orthographie ersetzt.


Zu Oskar Panizza siehe die Einleitung zu:

Panizza, Oskar <1853 - 1921 >: Die Wallfahrt nach Andechs.  -- 1894. -- Fassung vom 2005-01-07. -- URL:  http://www.payer.de/religionskritik/panizza01.htm 



Abb.: Umschlagtitel


Ein skandalöser Fall

"Und Er schuf sie, ein Männlein und Fräulein, und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret Euch."
Genesis 1, 27-28.

Das säkularisierte Kloster Douay in der Normandie wurde 1830 insofern seinem ursprünglichen Zweck zurückgegeben, als ein Erziehungs-Institut für Mädchen in den weiten prachtvollen Räumen, und unter der geistlichen Oberleitung eines Abbé1 mit der nötigen Anzahl von Lehrkräften in der Gestalt von Dominikanerinnen2 die auch früher das Kloster inne gehabt — von der Regierung gestattet worden war. Die dort erzogenen, jungen Damen gehörten den ersten Familien des Landes an. Man wollte dem damals noch gekränkten französischen Adel gern einige Konzessionen machen, und ihm, der damals die Hauptstädte, und besonders Paris, mied, gern auf dem Lande das einräumen, was er dort nicht erreichen konnte: Ansehen, freies, glanzvolles Auftreten, und besonders einen gewissen Einfluss auf die örtlichen Institutionen des Landes und der Bevölkerung. Dass dieser Einfluss sich mit einer Stärkung des katholischen Gedankens deckte, lag in der Natur der Sache. Und es war ganz im Einvernehmen mit den Protectricen3 des klösterlichen Erziehungs-Instituts, wenn die jungen Damen beim Eintritt in ihre Lernzeit eine Art von Gelübden ablegten. Das war vor Allem vornehm. Und es gab einen Vorgeschmack für das eigentliche klösterliche Leben, sollte die Eine oder Andere, bei dem damaligen niedrigen Kurs aristokratischer Brautschaften, es vorziehen, definitiv den Schleier zu nehmen. Also Gelübde4 wurden abgelegt. Von den bekannten Drei war das der Armut natürlich nicht von jungen Aristokratinnen zu verlangen, deren Eltern sonntäglich zwei- und vierspännig von ihren Gütern herüberkamen, und den Kindern ein reiches Extra-Taschengeld für Obst- und Zuckersachen daließen. Dagegen wurde das Gelübde des Gehorsams streng gefordert und geleistet, und ebenso — die Mädchen waren alle zwischen 14 und 18 — das der Keuschheit. Wir kommen auf den letzteren Punkt später zurück. Er ist nicht ganz irrelevant in der gleich zu beginnenden Geschichte. — Nur ein ganz kurzes Personenverzeichnis noch vorher, eines Stückes, welches der Leser am Schluss mutmaßlich als Tragikomödie bezeichnen dürfte; Da waren also einmal Monsieur l'Abbé (de Rochechouard), meist kurzweg Monsieur l'Abbé bezeichnet, oder sogar Monsieur, da er neben dem Gärtner und einem Kirchengehülfen für die grobe Arbeit der einzige Mann im Kloster-Institut war. Ein feiner, hochgebildeter Geistlicher aus altem Adel, in den 50ern; aber etwas bequem; es war doch mehr eine Sinekure5 als eine Arbeits-Stellung; Monsieur hatte die geistlichen Obliegenheiten der Institutskirche, unterstützt noch von einem Amtsgehülfen, und eine Art Aufsichtsrecht über die kleine Kirche des fast mit den Klosterbaulichkeiten zusammenhängenden Dörfchens Beauregard; Monsieur hatte also eigentlich nur eine Respekts-Stellung; er war vermögend und konnte seiner Vorliebe für Bücher ungehindert nachgehen; doch war Wissensdurst nicht eigentlich das, was ihn trieb. Er war ein Schlecker; er öffnete heute dies, morgen jenes Bändchen, um ein paar Gedanken zu fischen, und mit diesen dann den Tag über zu scherzen; sein Feld war ausschließlich Theologie; natürlich fehlten auf seinen Regalen nicht die Klassiker, und nicht die paar erotischen Schriften, die zu ihnen gehören; sinnlich war Monsieur l'Abbé nicht; dazu war der Körper zu beleibt und das Gesicht zu gutmütig; auch produktiv war er nicht; er behandelte keine These des Thomas d'Aquino6; und gab keine Vorschläge zur zeitgemäßen Abänderung der geistlichen Exerzitien7 in Klosterschulen heraus; er war eine ruhige, sublime Natur, zufrieden mit Allem, was der Tag brachte; so ein Geistlicher aus den Romanen des Cherbuliez8; ein braver Spaziergänger in dem Weinberg des Herrn, der nicht auf die Trauben schimpft, aber auch nichts zur Verbesserung der Reben beiträgt; sondern wachsen lässt, was wächst; die Stirne war nieder, das kurze Haar kräftig und voll; die Augen klein und friedlich; volle, zufriedene Wangen; einen äußerst feinen Mund; die Statur untersetzt; die Rede kurz, klein, knapp, frei von jedem Pathos; absolut keine Predigernatur; ein still in sich und für sich arbeitendes Wesen; das Habit immer tadellos.

Da war dann Madame la Superieure9, meist nur Madame genannt, das weibliche Oberhaupt des Instituts; sie war eine de Vremy, aus alter normännischer Adels—Familie; sie trug das Dominikanerinnen-Habit2; eine unsäglich stolze Dame; gut in den 40; voll Klugheit und Würde; sogar die adeligen Komtessen-Mütter der Mädchen, wenn sie auf Besuch oder zur Ordnung von Angelegenheiten kamen, machten ihr Reverenz, die sie ausdrücklich forderte; denn außer ihrem alten Adel war sie doch fast in der Stellung einer Äbtissin; auf dem chamois-gilblichen Ordenskleid trug sie stets ein großes goldenes Kreuz, das sie vom Papst geschenkt erhalten hatte; ordnungsgemäß stand sie unter dem Abbé; faktisch aber war ihre Stellung hoch über ihm; sie leitete die sämtlichen komplizierten Institutsangelegenheiten, und nahm damit ihrem geistlichen Oberherrn, der sehr bequem war, einen großen Teil Arbeit vom Hals; das Verhältnis zum Abbé war daher ein vorzügliches; ja ein intimes; stundenlang verweilte Madame auf seinem Zimmer; sie plauderten vertraulich, einsam und flüsternd; doch war kein Hauch von Sinnlichkeit, oder nur sinnlicher Neigung in diesem Vis-à-vis. Die negativen Gründe dafür lagen auf beiden Seiten. Monsieur war eine quietive10, meditierende Natur; Madame scharfsichtig, in ihrem Gemüt erkaltet, und in ihren Jahren gänzlich vom Verstande beherrscht. Was Madame leidenschaftlich liebte, war Lektüre weltlicher Gattung; und außer der Bibliothek des Abbé, die sie allein zu durchstöbern das Recht hatte, bekam sie monatlich ein großes Packet aus Paris. Wenn die Mägde ihre Zimmer am Abend herrichteten, fanden sie selbe mit einem feinen, bläulichen Rauch erfüllt. Auffallend war es, dass Madame, obwohl sie gar keine Stunden gab, und sich nur an der Morgenandacht und den Gottesdiensten in der Kirche beteiligte, viele der jüngsten Pensionärinnen stundenlang auf ihrem Zimmer zurückhielt. Im Übrigen war die Superiorin selten zu sehen, war sehr schweigsam, mischte sich nie persönlich in Affären, ließ sich von den 8 Ordensschwestern mündlich Bericht erstatten, schickte ihre Befehle durch Untergeordnete hinunter und durch alle Räumlichkeiten und Sparten der weitläuftigen Klosteranlage; sogar im Dorfe war jeder ihrer Winke eine sichere Ordre; und ihr unsichtbarer Geist beherrschte alle Verhältnisse rings um Douay und weit über Beau-Regard hinaus. —

Mit der folgenden Persönlichkeit kommen wir in die Nähe des eigentlichen Kloster-Konflikts, der weiter unten Gegenstand der Erzählung. Mademoiselle Henriette de Bujac war die Nichte von Madame de Vremy, der Superiorin, ein etwa 17jähriges, hübsches und temperamentvolles Mädchen, meist nur Henriette genannt, mit dunklem, kurzgelocktem sogenanntem Tituskopf11, schwarzen, feurigen Augen, schlankem, etwas mageren Wuchs, erregter Fantasie, und eigentlich den Kloster-Vorschriften entwachsen, welche ihre Aufnahme nur mit Rücksicht auf häusliche Verhältnisse, — wo eine mit schweren Krampf-Anfällen behaftete Tante ihre Anwesenheit verbot, — und auf die nahe Verwandtschaft mit Madame de Vremy geschehen ließen. Der »weiße Teufel« wurde sie nur genannt wegen der großen Zahl reicher weißer oder crême-farbiger Toiletten, die sie, als eines der reichsten Mädchen, von Hause mitbekommen; und wegen der Gewandtheit ihrer Bewegungen, Reden und mimischen Fertigkeiten. Natürlich war sie der »ungezogene Liebling« von Madame, und der »unausstehliche Kobold« im Zimmer von Monsieur l'Abbé. Damit waren aber ihre Alliancen in dem ewigen Kampf von Eifersüchteleien und Partei-Ergreifungen in einem weiblichen Kloster-Leben erschöpft. Denn gehasst wurde sie von allen acht Kloster-Schwestern, die ihr an weiblicher Findigkeit nichts mehr lehren konnten, und von denen Henriette an gewöhnlichen Kloster- und Lehrdisziplinen nichts lernen wollte. Dieser Hass konzentrierte sich wesentlich auf la Soeur première12 meist nur La Première — die vierte Person unseres Schauspiels — genannt — eine gescheite und kluge Dame, ebenfalls dem Adel angehörig, die erste Lehrkraft der Anstalt, die erste Dame des Klosters nach Madame la Supérieure, und deren präsumtive Nachfolgerin. — Gehasst war Henriette aber auch von fast allen ihren Kolleginnen, die meist viel jünger waren wie sie, einmal wegen ihren weißen Toiletten, wegen ihres reiferen Alters, und dann wegen ihrer zahllosen Freiheiten und Unbekümmertheiten. — In welchem Verhältnis Henriette zu Mademoiselle Alexina Besnard stand, dem eigentlichen Helden unserer Geschichte, sollen die folgenden Zeilen vermelden, sobald wir nur kurz das Porträt von Mademoiselle Alexina entworfen haben. Diese junge Dame, fast gleichalterig mit Henriette, und somit eine der prominentesten Schülerinnen der Anstalt, war das fleißigste und tüchtigste Mädchen der ganzen Schule, die Zierde, und für viele Familien der Aushängeschild für all' die Fortschritte, die man in Douay machen könne. Alexina selbst war das Kind ganz armer Eltern, von Jugend auf höchst keck und frühreif schon in der Schule Preisträgerin, und ein hervorragendes Talent für Mathematik und Sprachen. Sie eignete sich Alles mit spielender Leichtigkeit an, und gab es ebenso leicht an jüngere Mädchen in instruierender Form ab. In dieser Hinsicht galt sie als Phänomen. Dem Pfarrer ihres Dorfes konnte ein solches Übermaß von geistigen Fähigkeiten nicht verborgen bleiben. Mit einem warmen Empfehlungsschreiben von ihm pochten die armen Eltern in Begleitung ihres 14jährigen Kindes eines Tags an die Pforten von Douay. Dort erkannte man nach kurzer Prüfung, was man vor sich hatte. Alexina Besnard wurde kostenlos aufgenommen; und schon nach einem Jahr war alles darüber einig, das seltene Talent für das Kloster als Erzieherin heranzubilden. — Was Alexina nicht verstand und sogar mit Abscheu von sich wies, waren weibliche Handarbeiten; aber das kam natürlich nicht in Betracht; da man auf eine Rechnerin tausend Häklerinnen findet. Das Äußere von Alexina? Seltsam und sonderbar! Groß und schlank gewachsen, mit einem hastigen, weitausholenden Gang, so dass ihre Kleider stets in unzierlicher Bewegung waren; das Gesicht mager und fast hässlich, wenn nicht der imponierende, hastige, durchdringende und alles aufsaugende Blick sofort gefesselt, eine, für sich genommen schöne, Adlernase sofort den ungewöhnlichen Gedanken-Kreis dieses Mädchens verraten hätte. Ihre ungünstig gemachten Kloster-Toiletten ließen über ihre Körperformen nichts erfahren. Aber eine aphroditische13 Figur wird sie kaum gewesen sein; zumal sie nichts zur Verbesserung ihrer äußeren Erscheinung tat, Spitzen, Krausen, Häubchen vermied, und, wie sie sich ausdrückte, in tunlichster Bälde sich nach dem Kloster-Habit sehnte. Die Stimme von Alexina war scharf, ein hoher Diskant, wie zum Kommandieren von jüngeren Zöglingen geschaffen; im Chor fiel sie auf, da sie oft plötzlich mutierte, und in den Alt kam; überhaupt war sie ein rechter Rattenkönig14 von sonderbaren und ungewöhnlichen Anlagen und Fähigkeiten; und hatte eine glasharte, facettierte Manier, Alles um sich herum nach ihrem Willen umzuwenden, an sich zurechtzureiben, und ihren Neigungen anzupassen. An dieses arme, sonderbare, spröde und wenig duldsame Mädchen, welches nur ihre glänzenden Geistesfähigkeiten in die Wagschale eines Vergleichs mit jedem andern Instituts-Kind zu legen hatte, schloss sich Henriette, diese verwöhnte, reiche, luxuriöse, feingeartete junge Aristokratin schon in den ersten Tagen ihres Eintritts ins Kloster an, und beide waren, jetzt, am Tag unserer Erzählung, nach einjährigem Sich-Gegenseitig-Kennen die unzertrennlichsten Kameraden, wobei die Initiative dieses seltenen, innigen Verkehrs entschieden auf Seite von Mademoiselle de Bujac zu suchen war. Es ist richtig, Henriette de Bujac war ein gutes, mitleidfähiges Mädchen; und vielleicht war die Armut und die eigentümliche Stellung Alexina's im Kloster der erste Beweggrund für erstere, sich der letzteren zu nähern. Aber gerade vom Reichtum, vom Taschengeld, von der feinen Toiletteausrüstung Henriettes wollte und konnte Alexina nichts profitieren. Hier war also kein kräftig genug gewobenes Band, um zwei blutjunge Mädchen so innig zu fesseln; Alexina's Kenntnisse und geistige Fähigkeiten noch weniger, da das Alles der leichtsinnigen, munteren, lebenslustigen und — faulen Henriette gar nicht imponierte. Auch waren deren Fortschritte am Schluss so schlecht wie am Anfang. Aber Sympathie, dieses schon im gewöhnlichen Leben so geheimnisvolle Band, dessen Runenschrift nicht zu lesen, und welches die Menschen verbindet, wie leicht und durchsichtig gewoben ist es erst um die Herzen launenhafter Mädchen, und wie leicht zerreißlich!

Hiermit, — noch eine Anzahl Mägde, Zöglinge, weißgekleideter Schwestern mit Skapulier15 hinzugedacht, — sind wir mit unserem Personen-Verzeichnis fertig; und nun mag der 20. Juni 1831 beginnen, welchen Tag sich die Klostermauern von Douay gemerkt haben, an dessen Abend die 100 oder 120 Insassen, die das Institut zählte, ausnahmslos sich klopfenden Herzens und brütender Stirne zu Bett begaben; dann noch eine Nacht, und am folgenden frühen Morgen war dann eine der glänzendsten Natur-Äußerungen, aber auch eine der scheußlichsten Katastrophen zum Abschluss gebracht. —

Monsieur l'Abbé saß in seinem Zimmer; der Frühstückskaffee war getrunken und zur Seite gestellt; Monsieur l'Abbé rauchte nicht; aber er las; als Frühstückszigarre las er Liguori, Theologiae moralis libri sex16; Monsieur war auf keinem Gebiet so zu Haus, wie auf dem der Moraltheologie; Busenbaum17, Ribadeneira18, Sanchez19, die alle darüber geschrieben, lagen in hübschen, gepressten Pergament-Ausgaben daneben; ob Monsieur im Leben sehr moralisch war? Das lässt sich nicht beantworten; gehört aber auch nicht daher; Monsieur las gern moralische Werke, wie ein Anderer gern auf die Jagd geht; ohne dass diesen Jemand fragen würde, ob er mit Vorliebe Tiere umbringe; Monsieur wog gern die moralischen Begriffe hin und her, spielte mit den Kardinal-Tugenden20, zog einzelne Laster wie schwarze Versuchs-Phiolen21 aus seinen Traktaten heraus, und versenkte sie sorgfältig in seiner Einbildung in die Herzen ihm bekannter Menschen, und ließ sie nun agieren, um zu sehen, was daraus wird. — Wir können nicht erkennen, welches Kapitel Monsieur aus Liguori16 las, wie sehr wir auch über seine Schulter gebeugt uns den Text zu entziffern bemühen, denn die Drucke im siebzehnten Jahrhundert, und besonders die Lyoner Ausgaben waren so schlecht, gerippt und zerbröselt. Aber die Stelle muss dem Abbé gepasst haben, denn er blinzelte mit den Augen, und lief mit dem Zeigefinger der rechten Hand rund um die Nase, die von dem Buchtext gar nicht weit entfernt war. Wir haben schon oben erklärt, dass Monsieur nicht sinnlicher Natur war; Niemand darf deshalb hier einen falschen Schluss ziehen; Monsieur war sublim; und Alles was unter dieses Betrachtungsglas fiel, da verweilte er; gut, er mag gerade de Verecundia22 gelesen haben; aber dann war es nicht die Schamhaftigkeit selbst, die ihn interessierte, sondern die feinen Unterschiede mit der Castitas, der Keuschheit; und nicht etwa die Schamhaftigkeit, wie sie sich bei Dienstmädchen manifestierte, war dann der Gegenstand seines Interesses, sondern der viel feineren Darlegung, wie sich selbe etwa an den Engeln im Himmel zeige, spürte er nach. —

Da wir das genaue Kapitel, welches Monsieur studierte, nicht erkennen können, so wollen wir uns anderweitig im Zimmer des Abbé etwas umsehen. Hell und freundlich war es; die Morgensonne kam zu dem Fenster herein, an dem der große, platte Arbeitstisch des vornehmen Geistlichen stand; grüne schwere Portières23 milderten diese Morgensonne: am Fußboden ein leuchtendes Tigerfell, in dessen Falten die kleinen Schnallenschuhe von Abbé spielten; rückwärts, gegen das zweite Fenster zu, ein großer seideüberzogener Paravent24, der vom Zimmer ca. ein Drittel abschneidet, und hinter den wir, hinter dem Abbé stehend, nicht sehen können; nach Vorwärts, von einem weiteren Morgenfenster mit gänzlich aufgezogener Portière23 beleuchtet, vier bis fünf Bücherschreine, knapp an die Wand gerückt, vollgepfropft mit Volumina25, deren Titel wir von der Entfernung nicht lesen können, die aber nach den zahlreichen gilblichen Pergament- und Schweins-Rücken zu schließen, eine Menge Theologie bergen. Noch ein kleiner Betpult zu unserer Linken; zwei Türen auf dieser Seite; eine, die direkt zu den Appartements von Madame la Supérieure im nächsten Stock führte, und eine, die auf den Kloster- Korridor mündete, also der Eingang war; noch ein kleines Blumen-Arrangement; ein Kamin, zwischen den zwei Morgenfenstern, mit einigen Statuetten; und — das Auffallendste zuletzt — ein toller, aparter Geruch, wie ihn besondere Menschen in ihren Räumen haben, und der Jedem sofort auffiel, der Monsieur's Zimmer betrat, ein Geruch gemischt aus — vergleichsweise — Zibeben26 mit Druckerschwärze, Tigerfell-Pulver und dem persönlichen Schweiß des Prälaten, und der fest und unaustreibbar in diesem Zimmer lag. — Und damit haben wir das Arbeitsgemach von Monsieur de Rochechouard im ersten Stock des Klostergebäudes dem Leser vorgeführt. —

Während der Abbé sich hier in moralische Probleme des Liguori16 vertiefte, zogen oben im 3. Stock die 14-, 15- und 16-jährigen Mädchen ihre Höschen an, schlüpften in die Pantöffelchen, und begaben sich jedes an den abgezirkelt neben jedem Bett stehenden Waschtisch, und begannen das frische Wasser über die dünnen Nacken zu spritzen, und Wangen und Stirn ein wenig zu reiben, und die überhängenden Haare hinauszustreichen, und sich zu beugen, und wieder kerzengerad aufzurichten; denn es war Morgens 7 Uhr und Aufstehenszeit; und Monsieur war nur so früh daran, weil er ja seine Messe lesen musste; In dem ganzen Schlafsaal sah man jetzt nur weiße Lichter und Flächen; chamoisgelbe Arme und Nacken; blendendweiße Röckchen und Hemdstücke; und manchmal glitzernde Punkte von aufgesperrten Mündern; und ein Schliefen, Rutschen, Anziehe- und Auskleide-Geräusch, ein Knipsen der Strumpfbänder, ein Schlappen, Wischen und Wenden ging durch den Saal. Sonst war Alles ruhig; denn der Geist dieser jungen Geschöpfe lag noch eingebunden in den Windeln ihrer Träume, und hinderte sie am Plappern und Schwätzen.

Was geschah aber mit Madame la Supérieure um diese Zeit? Sie war wohl schon aufgestanden und trank Chocolade, und lag in einem mit Kreuzen, Herzen und Passionsnägeln gestickten Schlafrock, damit beschäftigt jenen blauen Rauch in ihren Zimmern zu entwickeln, den die Mägde immer bei ihr vorfanden, und den sie für den Weihrauch von Madame's Privatandacht hielten; und vielleicht griff sie in das halb aufgemachte Pariser Packet und holte sich einen Klein-Oktavband27 und fing an zu lesen, zu lesen, oft bis die Sonne schon hoch am Himmel stand. Denn Madame beteiligte sich nicht an der Morgenandacht, die alle Kloster-Inwohner vor dem Frühstück zusammenrief. Vormittag übte sie keine Präsidialgeschäfte aus. Und auch heute wäre sie in ihrem Passionsrock liegen geblieben und hätte wohl den Oktavband27 zu Ende gelesen, wenn nicht eine scharfe Flüsterstimme an ihrem Schlafzimmer schon bald erschienen, und ihr die seltsamste Mitteilung gemacht.

Inzwischen aber trampelten und rutschten und trappten die 70 oder 80 Klosterfräulein mit noch verschlafenen Wimpern die Treppen hinunter in die großen Betsäle im Parterre, um die kurze Morgenandacht zu absolvieren, der gleich darauf das fiebernd erwartete Frühstück mit viel Weißbrot, viel Butter und viel Kaffe folgte.

Schon während dieses Treppen-Hinabjagens, und während der Andacht, und noch mehr während des Frühstücks, wo die zarten Mäulchen die ersten Exerzitien für die Schwatztätigkeit des ganzen Tags machten, gewahrte man heute ein Zischeln, ein Zuflüstern, ein Gestikulieren, welches zu dieser verschlafenen Morgenstunde ganz ungewöhnlich war. Und als endlich nach dem Frühstück Groß und Klein an die Arbeit sich begeben sollte, und die einzelnen Klassenzimmer mit Arithmetik, Memorieren28, Klassiker, Aufsatz, Schönschreiben sich füllen sollten, zeigte sich's, dass eine ungewöhnliche Erregung den ganzen jungen Bienenschwarm ergriffen hatte, dass ein Ferment von intensiver Wirkung Allen in die Herzen und in die Köpfe gefahren war; dass alle Augen funkelten, alle Wangen glühten; und da La Soeur Première12, weit entfernt mit einer einzigen Handbewegung, wie sie's konnte, die kecken Palast-Revolutionäre in ihre Arbeitsstuben zu jagen, lächelnd alles geschehen ließ, so war's kein Wunder, wenn geschah, was nun folgte.

Monsieur l'Abbé saß noch immer auf seiner Tigerdecke und las noch immer Liguori, Theologiae moralis libri sex16. Er hatte ja schon längst gefrühstückt. Und bei der Morgenandacht pflegte er auch nicht zu erscheinen. Nun fing es plötzlich außen an seiner Türe, die zum Korridor führte, zu summen und zu brodeln an; es war ein Klirren, als wenn ein Hagelwetter von kleinen Zähnen sich da draußen zu üben begänne; und ein Wetzen von Röcken und Schürzen, und ein Schlürfen von jungen, kleinen Schuhsohlen, und ein Stumpen, Drücken, Gilfen29, Kichern und Pst!-Rufen. Monsieur kannte das Geräusch: Wenn 30-40 Mädchen an einem heißen Sommertag Mittags um 2 Uhr sich vor seiner Türe hinpflanzten und lärmten, bis er aufmachte, und dann die ganze Kohorte mit gefalteten Händen vor ihm in's Knie sank mit dem Ruf: »Wir bitten um Hitzvakanz30!!« — Aber es war ja gar nicht heiß. Und auch nicht zwei Uhr, sondern neun Uhr. Kein Mensch konnte auch wissen, ob es heiß werde.

Monsieur las noch immer und hatte den rechten Zeigefinger rings um den Nasenhöcker gelegt. Er pflegte gern sein moralisches Frühstück mit Liguori oder Thomas d'Aquino bis 10 oder 11 Uhr auszudehnen. Jetzt aber stand er auf, als vor dem Gestumpe31 die Türe einzubrechen drohte. Er ging hin, macht auf: und der ganze Haufe junger Mädchen, mit ihren grauen Arbeitsschürzchen umgebunden, an den Schultern weiße Tüllpuffen, die wilden Haare unter delikatem Chamois-Häubchen versteckt, stürmte herein, schrie durcheinander, voll Entrüstung, beugte sich vorwärts, spreitete die Hände auseinander, um sie dann zusammen zu patschen, und was Monsieur aus dem Tumult verstehen konnte, waren nur die Namen Henriette und La Maitresse32. La Maitresse nannten die Mädchen mit einem von ihnen eingeführten Namen Alexina, die in der letzten Zeit einige Lehrstunden bei den jüngeren Klassen erhalten hatte. La Maitresse blieb dann für Alexina, wurde allgemein akzeptiert, und schien für dieselbe in glücklicher Weise ihre zukünftige Stellung im Kloster anzudeuten. Jetzt aber sollte dieser Ausdruck plötzlich eine unerhörte Wendung bekommen. Also immer nur Henriette und La Maitresse war es, was Monsieur verstehen konnte. Endlich gebot der Abbé Stillschweigen, und frug eines der ältesten Mädchen, was vorgefallen. Nun kam es denn heraus: Man habe Henriette, die Nichte von Madame, mit Alexina, ihrer intimen Freundin, heute Morgen beim Aufstehen, im Schlafsaal der älteren Mädchen, Hände und Körper verschlungen, in einem Bett, dem Alexina's, schlafend gefunden; Henriette's Bett, das in einer ganz anderen Reihe stehe, sei leer gewesen; eines der älteren Mädchen, welches zufällig und wegen eines bestimmten Bedürfnisses etwas vor der Zeit aufgestanden, habe die Beiden liegen sehen; sei aber fortgegangen; bei ihrer Rückkehr seien sie aber immer noch so gelegen; nun habe sie andere Mädchen geweckt; die seien herbeigekommen, hätten mit Staunen dasselbe gesehen; durch das Geräusch und Kichern seien andere aufgewacht; schließlich sei der halbe Schlafsaal um die beiden Schläfer versammelt gewesen; nun habe man ihnen die Bettdecke weggezogen; habe Grässliches gesehen; Alexina und Henriette seien erwacht und kreischend auseinander gefahren. — Alle Mädchen hatten sich zuletzt an dem Referat mit glühenden Gesichtern beteiligt. Jetzt entstand eine Pause; und als Monsieur, der noch immer sein Liguoribändchen16 mit eingeschnapptem Finger in der linken Hand, und den rechten Daumen in einem Knopfzwischenraum seiner Soutane33 eingehakt hatte, sich nur mit einem ruhigen »Eh b'ien?« ["Na und?"] vernehmen ließ, als wollte er sagen: Nun, und was ist jetzt? — stürzten die jungen Fratzen mit aufgehobenen Händen auf ihn zu, und riefen fast wie aus einem Munde: »Mais c'est honteux! c'est terrible ça! c'est sale! Enfin c'est tout ce que vous voudrez!« ["Aber es ist beschämend! Es ist wirklich furchtbar! Es ist schmutzig! Es ist was Sie wollen!"] — Die jungen Zöglinge durften wohl in dieser Weise sich vernehmen lassen, ohne die ungeheure Distance, die sie von ihrem Vorstand und Priester trennte, zu verringern. Monsieur hatte so zu sagen einen breiten Buckel, auf den die jungen Fäustchen auch gelegentlich herumtrommeln durften. Und wenn er auf der einen Seite faktisch für die 80 oder 100 strengreligiösen Mädchen so gut als wie le bon Dieu [der liebe Gott] war, so war er dafür doch auch wieder le bon père [der gute Vater], der auch das in dieser hohen Stellung liegende Wohlwollen zum Ausdruck brachte; und gar in weiblichen Dingen durften die Mädchen ihre Ansichten mit den ihnen eigentümlichen extremsten Wortformen, und unter Aufwand einer großen Dosis Pathos, zum Vortrag bringen. Auffallend war dem Abbé, dass auch die größeren Mädchen sich eingefunden hatten, und mit verlegenen Gesichtern dortstanden. — Jetzt ging die Türe auf, und la Soeur Première kam mit einem verstörten Gesicht, welches vielleicht etwas übertrieben war, herein, fiel dicht vor dem Abbé auf die Kniee (das war eine übliche, pathetische Klosterform), bedeckte ihr Gesicht mit ihren Händen und teilweise seiner Soutane, und rief schluchzend »oh Monsieur, c'est honteux!« ["Oh, Herr, es ist beschämend!"] — Was es denn gebe, — beruhigte der Abbé, und hob die erste Schwester, der er sehr gewogen war, auf. Henriette und Alexina, — hieß es nun, — seien verschwunden, seien weder zur Andacht noch zum Frühstück gekommen. Dies, und allerlei Flüsterungen, die man jetzt im Kloster hören könne, ließen auf ein ungewöhnliches, schweres Verschulden schließen. — Nun drängten sich weitere Mädchen durch die halbgeöffnete Türe, und brachten andere Neuigkeiten, die sie von den Mägden erhalten haben wollten. Draußen, durch den geöffneten Türspalt, sah man die schadenfrohen Gesichter der Dienstmägde, horchend, ob ihre Referate richtig überbracht werden: Alexina sei gefunden, sie kaure im Hemd droben auf dem Boden, und weigere sich herunterzugehen, wenn ihr nicht Kleider gebracht würden. Auch Henriette sei jetzt gefunden; sie war, ebenfalls unbekleidet, zuerst in die Vorratskammer geflohen, und, als die Beschließerin sie dort entdeckt, hinauf zur Supérieure gesprungen. Madame habe dann die Kleider ihrer Nichte hinaufbefohlen. Ferner wurde konstatiert, dass das Bett von Henriette die Nacht über überhaupt nicht benutzt worden war, da es jetzt noch gänzlich unberührt stehe. Andere Mädchen fuhren jetzt sofort dazwischen, Henriette sei oft gesehen worden in aller Herrgottsfrühe ihr Bett absichtlich verrammeln, und dann sich ankleiden; es müsse demnach vorher unberührt gewesen sein; denn Niemand verkrümple sein Bett im Moment des Aufstehens aus demselben. — In diesem Moment ging die zweite Türe, die in Monsieur's Zimmer führte, auf, und Madame la Supérieure trat herein. Alles wich halb ehrfurchtsvoll, halb wie ertappt, zurück. Nur la Soeur première blieb standhaft stehen, und maß la Supérieure mit einem festen Blick. Aus diesem Blick und ihrem Widerprall aus Madame's Auge konnte ein Kundiger jetzt schon die ganze Situation erkennen; und Monsieur l'Abbé, wenn er scharfsichtiger gewesen wäre, konnte bereits sehen, dass die ganze dumme Schäfer-Liebelei zwischen Henriette und Alexina, um die es sich augenscheinlich handelte, nur ein Gelegenheitsfeld war, auf dem die beiden Damen sich maßen, und dass Henriette, die Nichte von Madame, wenn der Feldzug richtig geführt, offenbar die Flanke abgeben würde, von der aus, unter Aufdeckung des verdächtigen Lebenswandels von Madame, die Schwäche ihrer Stellung gezeigt, und sie selbst aus dem Feld geschlagen werden könne. — Madame schien entrüstet und überrascht, was die Zöglinge alle hier wollten; ob denn der jüngste Tag anbreche; Alle sollten unverzüglich in ihre Unterrichtsstunden. Mit einem Wink stob die ganze Menge auseinander. Scheinbar gütig ermahnte sie dann La Soeur première, die Zügel der Klosterordnung doch nicht in die Hände der rauflustigen, ausgelassenen Mädchen gleiten zu lassen. Sie habe gehört, was vorgefallen. Es sei nicht der Rede wert. Natürlich müsse eine kleine Disziplinierung stattfinden. Aber im Kloster Douay deswegen alles zu oberst und zu unterst kehren, sei unerhört. Sie mache la Première für die fernere Ordnung während des Tages verantwortlich. — Mit einem kleinen »C'est bien!« ["Ist gut!"] verließ die Première das Zimmer, und Madame und Monsieur waren nun allein. — Der Abbé hatte bis jetzt gar nichts entschieden. Er liebte es, stummer Zuschauer zu sein, und die Tatsachen in seinem Kopfe zu registrieren. Auch jetzt ergriff er nicht das Wort, sondern wartete, dass Madame sprach. — Das sei ja eine grauenhafte Geschichte, — meinte diese, und zeigte erst jetzt ihre große Besorgnis — nicht die Sache selbst, sondern die Aufregung, die sie hervorgerufen. Dass selbe solche Dimensionen annehmen konnte. Das sei ja, als wenn der Teufel der ganzen Klostertracht in die Glieder gefahren wäre. — Monsieur machte eine abwehrende Bewegung und schlug drei Kreuze in die Geste hinein. — Ach was! — meinte Madame, — es sei ein großer Fehler gewesen, die Sache soweit kommen zu lassen. Die Schwestern hätten nicht ihre Schuldigkeit getan. Sie verlange die Bestrafung von la Première, am besten deren Versetzung in ein Schwester- Kloster. — La Première, — wehrte Monsieur ab, der sie sehr gern mochte, — sei als Lehrkraft unentbehrlich für das Kloster. Wer solle sie, nur im französischen Stil, ersetzen. Abgesehen von ihren Qualitäten als Aufsichts-Person. Nein! der Fehler sei, dass weder er, noch sie, Madame, jemals bei der Andacht noch beim Frühstück anwesend seien. Dann hätte man die Affäre, die schon seit früh 6 oder 7 spiele, rascher entdeckt. Um 9 Uhr war der Bienenschwarm schon ausgeflogen. — Madame aber blieb dabei, die Schwestern hätten das Unglück angerichtet. Kinder mit 15, 16 Jahren kämen nicht von selbst so weit. — Aber, was Monsieur weit mehr interessierte, war der moralische Teil der Geschichte. Ob es denn etwas Häufiges sei, dass Mädchen so zusammen im Bett lägen. — Gewiss, die Kleinen spielten ja wie die Katzen. — Aber Henriette sei doch fast 17, und la Maitresse gehe in's 18te, und unterrichte schon die Jüngsten. — Allerdings, aber das Freundschaftsband zwischen Beiden sei ein außerordentlich enges. — Ob diese Mädchenfreundschaften sich so sinnlich äußerten? meinte der Abbé. — Zuweilen, ja! Von dieser Ausdehnung habe sie allerdings keine Ahnung gehabt; aber wohl schon gehört; in keinem Fall sei etwas Schlimmes dabei; es seien ja Beides Mädchen, jung, feurig, phantasievoll. — Abbé machte eine Handbewegung, als lange die Erklärung nicht, und wandte sich zu den Bücherständen am Fenster. — In jedem Fall — meinte Madame im Weggehen, sei die junge Brut wieder in ihren Käfigen. Sie wolle jetzt rasch Anordnungen geben, dass Alexina und Henriette bei Tisch erschienen, als sei nichts vorgefallen. Es dürfe keine Separation der zwei jungen Sünderinnen stattfinden. Noch könne Alles gut gehen. —

Darin irrte sie sich. Wenn nur La Première nicht entschlossen gewesen wäre, das Eisen, das jetzt glühend, unter keinen Umständen erkalten zu lassen. Und wenn nur Monsieur l'Abbé sein moralisches Interesse aufgegeben hätte, und auf jede weitere Zufuhr von Details Verzicht geleistet! — Dieser hatte inzwischen das Dictionnaire ecclésiastique34 hervorgezogen und unter dem Titel »Sappho«35 gesucht; und als er hier nicht fand, was er wollte, suchte er unter »Lesbos«36; und als ihm dies auch nicht genügte, holte er den Artikel »Tribade«37. Diesen nahm er mit auf's Tigerfell, und blieb über ihn wohl eine halbe Stunde. —

Für einen Moment war jetzt Alles ruhig. Aber wir können dem Leser keine Zeit zu einer Pause geben. Er muss die ganze Skandal-Affäre, so wie sie stattgefunden, in den paar Stunden des Nachmittags mit uns durchhetzen. Er muss durch diesen Hexen-Breughel38 eines Kloster-Interieurs wie im Flug mit uns durchsausen. Zum Erblicken von Details ist sowieso keine Zeit. Aber auch nicht zum Verhalten und Ausschnaufen.

Es bestand eine Kloster-Verordnung, wonach jeder einzelne Zögling sich zu jeder Zeit entweder zum Abbé oder zur Supérieure melden durfte, um ein Anliegen, eine Beschwerde vorzubringen. Dies war ein Paragraph, der zu Gunsten der Eltern und Angehörigen aufgenommen worden war, um diesen die denkbar größte Sicherheit gegen missbräuchliche Gewalt-Anwendung bei ihren Kindern von Seite der subalternen Organe zu geben, der aber bei der humanen und fast patriarchalischen Kloster-Zucht wohl niemals in Anspruch genommen wurde. Diese Verordnung scheint durch La Soeur Première und die übrigen Schwestern den Kindern und Zöglingen neu in Erinnerung gebracht worden zu sein; denn als um 10 Uhr die Mädchen aus ihren respektive Klassen entlassen wurden, um während der nächsten Viertel-Stunde ein Stück kräftigen Schwarz-Brots zu verspeisen, sammelte sich wieder der gleiche Schwarm vor Monsieur l'Abbé's Tür an, wie nach dem Frühstück, und wieder mahnte ein Wetzen, Stampfen, Flüstern, Klirren, Schaben und Kichern den nachdenklich in seinem Zimmer auf- und abgehenden, Sappho's35 Liederbuch in der Hand eingeklemmt auf dem Rücken tragenden, Abbé an neue Ereignisse moralischer Natur. Dieser Fall war ganz nach seinem Geschmack. Er wollte wissen, wie weit die an sich sündhafte Natur unschuldige Mädchen zu sinnlichen Exerzitien treibe, in denen zweifellos der Teufel, wenn auch in milder Gestalt, seine Hand im Spiel habe, und was für moral-theoretische, und disziplinär-praktische Fragen und Einwürfe sich daran knüpften. Von hier dann einen kühnen Sprung hinüber zur Antike, wo, zu einer Zeit, da der Fürst der Hölle noch nicht an Ketten gebunden, frei sein sündhaftes Spiel treiben konnte, und in der Form des »Tribadismus«37 die Weiber der Heidenwelt in rettungslos sündhafte Bande verstrickte; von welchen jetzt noch, im 19ten Jahrhundert, ein kleiner Rest, eine Faser, sogar in den Klöstern zum Vorschein komme, und von der noch immer nicht ganz gedämpften Macht des Bösen Zeugnis ablege. Et cetera. Et cetera. Dies war der Gedankengang Monsieur's, der ihn ganz beschäftigte, und in dem die diplomatischen Mahnungen von Madame von vorhin, die Sache nicht um sich greifen zu lassen, längst untergegangen waren. — Und somit öffnete der Abbé schnell die Türe, die auf den Korridor führte, und ließ die sämtlichen Mädchen, die mit heißen Lippen und ungegessenem Brot dortstanden, herein, die Türe darauf schließend. — Kinder, — sagte er, — nur um das Eine muss ich bitten: Eine nach der Andern, und: Nicht zwei dasselbe erzählen! Und nun kam ein ganzer Lavastrom der ungeheuerlichsten Dinge heraus, die die Mädchen in der letzten Stunde statt Schönschreibens, Geschichte, Memorieren28, Rechnen und dergl. aus ihrem Gedächtnis mit Hülfe der Aufsicht- übenden Schwestern geboren hatten: Schon lange habe man eigentümliche Dinge zwischen La Maitresse und Henriette vor sich gehen sehen; immer steckten sie beieinander in einem dunklen Winkel, und zischelten, und flüsterten; des gegenseitigen Küssens sei kein Ende gewesen; wenn sie in einer Klasse von einander entfernt gesessen, hätten sie »Augenschmeißen« und Handzeichen gewechselt; es sei unerhört, wie die Zwei einander nachliefen und ineinander »verbacken« seien, wie zwei Kletten, nicht mehr zum Losreißen. — Eine andere Gruppe: La Maitresse sei ein absonderliches Wesen und habe Dinge an sich, wie kein anderes Mädchen. Nie sei la Maitresse mit den Andern zum Baden gegangen; sondern unter irgend einem Vorwand zu Haus geblieben; sie habe sich stets gescheut, in Gegenwart anderer Mädchen ein natürliches Bedürfnis zu verrichten; dagegen habe man sie oft mit Henriette allein auf dem lieu d'aisance39 kichern hören; Henriette sei überhaupt im letzten halben Jahr nie in ihrem Bett geschlafen, sondern stets hinüber zu Alexina gegangen, nur sei sie sehr früh aufgestanden; Alexina, das ist la Maitresse, trage keine Mädchenhosen, sondern absonderliche Beinkleider, die an der unrechten Stelle den Schlitz hätten; ihr Korsett sitze nicht; sie sei auch so knochig; und gehen tue sie, wie gar kein Mädchen; kurz la Maitresse sei eine ganz merkwürdige Person; und deswegen könne sie auch Dinge, die andere nicht könnten, und sei gescheiter, als Alle miteinander. — Wieder eine andere Gruppe, darunter eine Schlafnachbarin von Alexina: Henriette und la Maitresse hätten sich im Bett, wie sie gehört, obwohl sie sich schlafend gestellt, oft leidenschaftlich geküsst, umschlungen, und sich ma bien aimée! ["meine Geliebte!"] genannt; als man heute morgen in Gegenwart vieler Mädchen den Beiden die Decke weggerissen, seien sie mit den Füßen durcheinander geschlungen gewesen, und mit einem großen Teil des Körpers gänzlich entblößt; auch habe Alexina grobe Glieder, und Haare an den Beinen wie der Teufel. — Diese letzte Wendung, die mit einem ekelnden »Äh!« von dem ganzen Chorus der Mädchen begleitet war, tadelte der Abbé, da es unsicher sei, ob und wie stark der Teufel an den Beinen behaart sei; dies auch kein Gegenstand der Untersuchung für junge Mädchen abgeben könne. — Ein einzelnes, schon zu den älteren gehöriges, Mädchen deponiert: sie habe Mademoiselle Alexina gesehen, wie sie Henriette unter die Röcke gelangt habe, welches diese, obwohl sie heftig errötet sei, habe geschehen lassen; als sie aber ihrer ansichtig geworden, seien sie unter Lachen hinweggesprungen. — Ah, c'est dégoûtant! ["Wie ekelhaft!"] — riefen alle Mädchen, c'est dégoûtant! ["ekelhaft!"] — Endlich sagte noch eine der älteren Schülerinnen: sie glaube überhaupt nicht, dass Alexina ein Mädchen sei; sie sei viel zu gescheit, und wisse fast Alles; sie sei auch gar nicht sanft, wie andere Mädchen, sondern wild und hart; sie glaube Alexina sei ein böser Geist in Mädchengestalt, der eines Tags unter Gestank und Gepolter plötzlich verschwinden werde. — Dies Alles und noch viel mehr hörte Monsieur ruhig an; sagte dann den Mädchen, sie sollten gemessen in ihre Stunden gehen, Alles würde genau untersucht werden; inzwischen möchten sie la Première suchen und ihr sagen, zu ihm zu kommen. — La Première! La Première! — riefen die Mädchen freudig durcheinander, und stürmten dann wild hinaus. —

Während diese wichtigen Verhöre und Aussagen in Monsieur's Arbeitszimmer statt hatten, schien Madame in ihrem II. Stock schon wieder ihr ganzes Wohlbehagen gefunden zu haben. Wenigstens kam sie nicht herunter, um über die fernere Kloster-Ordnung sich zu informieren. Und ihre treuen, dienenden Geister, die sonst sofort mit einem Sprung, und noch diesen Morgen bei ihr oben waren, um ihr die letzte Neuigkeit mit einem zischelnden Triumphieren in's Zimmer zu rufen, schienen plötzlich alle mit einem gewissen Ratteninstinkt zur Partei der Soeur Première übergetreten zu sein. Und so blieb die stolze und bis jetzt allmächtige soi-disant [sozusagen, sogenannt] Äbtissin oben bei ihren Romanen und Zigaretten, und hatte keine Ahnung von allem, was da unten vorging, und, wie sie eigentlich schon exkludiert40 war. — Im Nebenzimmer bei ihr saßen, wohl etwas stumm und in sich gekehrt in Folge der zweifellos erhaltenen Vermahnungen und Androhungen, aber im Übrigen auffallend frisch und erholt, Henriette und Alexina. Henriette, ein prachtvoll hübsches Mädchen, mit jener unbekümmerten Nonchalance41, die ein so obsiegendes Moment, wie strahlende Schönheit mit sich bringt, und im Bewusstsein ihrer Unangriffsfähigkeit, als Nichte von Madame, hatte sich ihre schönste Crême-Toilette holen lassen, und saß dort, heiter und zu allem aufgelegt. Ganz anders Alexina; nicht nur war ihre Zukunft unsicherer im Falle eines Fehltritts; sondern sie hatte auch ein gewisses Bewusstsein der Sachlage; und wenn sie auch ihr Verhältnis zu Henriette als ein harmloses, unschuldiges, berechtigtes auffasste, so hatte sie doch, schon durch ihre fromme Erziehung, ein scharfes Urteil für das, was sich für sie, die schon halb Lehrerin war, nun einmal nicht passte, und empfand das moralisch Bedenkliche des Vorgefallenen wie einen heftigen Stich in ihrem Innern. Daneben aber kam doch ein gewisses triumphierendes Gefühl in ihren Augen zum Ausdruck, darüber, dass sie mit ihrem starken Willen alle Hindernisse, die sich ihrer Neigung zu Henriette entgegengestellt, siegreich überwunden, und dass die Freundin mit allen Fasern ihres Seins nach wie vor an sie gefesselt war.

So kam das Mittagessen herbei. Dies war die einzige Gelegenheit, bei der alle Kloster-Insassen mit Ausnahme der Mägde, vereinigt waren. Wie ein plappernder Prozessionszug ergoss sich die Schar der auf's Höchste erregten und vor Neugier fiebernden Mädchen in die geräumigen Hallen des alten Kloster-Refektoriums. Und nun geschah das Unglaubliche: Als Madame in Begleitung von Henriette und Alexina den Speisesaal betrat und die zwei Mädchen ihre gewohnten Mittagsplätze einnehmen wollten, fuhren die Zöglinge, und besonders die ganz jungen, 14- und 15jährigen, wie von einer plötzlichen Panik ergriffen, kreischend und Abscheu ausdrückend, vor den zwei Sünderinnen, besonders aber vor Alexina, zurück, welch' letztere als 'la Maitresse'32 gleichzeitig die Aufsicht an einem Tisch ganz junger Zöglinge führte. Die Soeurs [Schwestern] im Habit machten nicht die geringste Miene die Szene zu ändern; und als Madame mit einer drohenden Miene, und, als wolle sie die Mädchen zu ihrer Ordnung zurückführen, hinüberrief, »Qu'est-ce que ça veut dire!« ["Was wollt ihr sagen?"] entstand eine solche Aufregung und Zusammenrotten, von dem schließlich auch die älteren Zöglinge ergriffen wurden, dass man jeden weiteren Widerstand aufgab, und die beiden Mädchen ihrem Schicksal überließ. Diese ganze Wendung hatte die scharfsichtige Alexina mit einem einzigen Blick aus Madame's Gesicht abgelesen, und im nächstfolgenden Moment ihren Entschluss fassend, eilte sie, die beiden Hände wie zur Abwehr vor sich streckend, im Sturmschritt zum Saal hinaus. Die Zöglinge wichen wie vor der Pest vor ihr zurück, und ließen sie durch. Und aus der Menge hörte man unter verschiedentlichen Atmungs-Erleichterungen und staunenden Interjektionen den präzisen Ausruf: »Ah, tenez, le diable!« ["Sieh, der Teufel!"] - »Le diable! Le diable!« ["der Teufel! der Teufel!"] klang es beistimmend durch alle Reihen. Und in der Tat, wenn man das scharfgeschnittene, knochige und edelgebaute Gesicht Alexina's mit den leuchtend schwarzen Augen und den drohend zusammengewachsenen Augenbraunen in Betracht zog, dann hatte dieser Ausruf etwas in der Phantasie der Kinder Berechtigtes. Aber kaum war Alexina verschwunden, so sah man Henriette, die sich im ersten Moment der Überraschung zu Madame geflüchtet, eine Zeit lang wirr umherschauen, um dann plötzlich, von einem ähnlichen Entschluss gepackt, sich durch die Mädchen zu drängen und ebenfalls hinauszueilen. — »Voilà sa fiançée!« ["Und hier seine Braut!"] rief wieder eine einzelne Stimme. Und »le diable et sa fiançée!« ["der Teufel und seine Braut!"]ging es jetzt besonders bei den Jüngeren wie etwas Selbstverständliches von Mund zu Mund. Und ganz von selbst begab sich jetzt Alles zu Tische und die Mägde begannen aufzutragen. — Die Masse hatte obgesiegt, und Monsieur und Madame sahen jetzt erst, welche Dimensionen dieser Fall angenommen, und was die kleine Schlafszene im Saal der älteren Zöglinge heute Morgen innerhalb wenigen Stunden in den Köpfen der erregbaren Mädchen angerichtet. Und die scharfen, von der Saaldecke zurückgeworfenen Laute von »la Mätresse!« und »la Prämiäre!« und »Aläxina!« und »la Fianßä!« ["Die Braut!"], welche die jungen Zähnchen zerknitterten und zerbissen, und die wie Schmeißmücken während des Essens durch den Saal schwirrten, bewiesen, dass von einem Zurückdämmen jetzt keine Rede mehr sein konnte. Jetzt konnte das Kloster und seine Intaktheit nur durch offene, strenge, disziplinäre Behandlung des Falles gerettet werden.

Unter großer Erregung war man nach dem Mittagessen auseinander gegangen. Monsieur und Madame hatten, zurückgeblieben, einige Worte miteinander gewechselt. Eine Magd, die oben im II. Stock bediente, kam und brachte La Supérieure eine leis vorgebrachte Meldung. Inzwischen wartete La Première an des Abbé Türe. Er hatte sie ja schon vor dem Mittagessen rufen lassen. Sie komme gerade recht, — meinte er — er müsse mit ihr gründlich sprechen. Sie gingen zusammen hinein, und Monsieur ging mit auf dem Rücken gekreuzten Händen längere Zeit erregt auf und ab. Die Sache war jetzt doch auch ihm über den Kopf gewachsen. Er fürchtete nicht nur für den Ruf und Besuch des Klosters. Er fürchtete, sein nächster Vorgesetzter, der Erzbischof von Rouen, könnte die Sache schlimm aufnehmen. Trotzdem war der Moralist und exegetische Spürhund in ihm noch nicht zum Schweigen gebracht. Der Fall war ja ganz großartig, ganz mittelalterlich. Gott! wenn Sanchez den Fall gekannt hätte! Was hätte der draus gemacht! In seinem Sensorium repetierten immer noch die Laute »le diable et sa Fianßä! — le diable et sa Fianßä!« ["Der Teufel und seine Braut!"]

Nein, er war wirklich stolz auf seine Zöglinge über diese Wendung. — Die Korrektion der Angelegenheit — begann er dann zu la Première, und blieb vor ihr stehen, — scheide sich in zwei Teile: einmal die Beruhigung der Kloster-Insassen und moralische Festigung derselben; und zweitens die Aufklärung des Falles selbst und Bestrafung der Malefikanten42, rücksichtslos der Stellung, die sie einnähmen, und rücksichtslos von Madame la Supérieure. Dies letztere betonte der Abbé, und machte damit La Première, der er so wie so sehr wohlwollte, zu seinem festen Bundesgenossen. Was den ersten Teil der Aufgabe angehe, so hätten die Zöglinge nach Ablauf des mittägigen Interstitiums43 in ihren Klassen zu bleiben und sich mit den Unterrichtsgegenständen abzugeben. Was den zweiten Teil, die Aufklärung des rätselhaften Falles selbst anlange, so wünsche er von La Première die Grenzen des Schmeichel-Verkehrs zu wissen und der unanständigen Griffe und Betastungen, die unter Mädchen vorkämen; ob selbe z.B., die Betastungen, in der Beichte gemeldet würden; ob selbe im jugendlichen oder auch im reiferen Alter, wie dem Alexina's, vorkämen; was sich die Mädchen dabei dächten; ob es eine innere Stimme, oder eine Versuchung von außen sei, et cetera, et cetera. — Die Sache — fügte Monsieur voll Eifer hinzu — habe auch wissenschaftlich und moraltheologisch die höchste Bedeutung. — Aber la Première, die erst kurz über die 30er war, senkte ihr bleiches Gesicht auf das Skapulier15, kreuzte die Hände über die Brust, und schwieg. — Mon Dieu! — sagte der Abbé und wurde etwas unwillig, — wenn sie nicht spräche, müsse er sich an la Supérieure wenden. Dies wirkte. Monsieur möge fragen, — meinte sie — sie werde dann antworten, so gut sie's vermöchte. — Dieser Modus konvenierte: »Ob junge Mädchen gewohnheitsgemäß beieinander schliefen? — »»Nicht gewohnheitsgemäß, aber häufig.«« — »Zu welchem Zweck« — »»Viele der Kleinen fürchteten sich allein zu schlafen.«« — »Ob es hier zu Berührungen käme?« — »»Zu den unvermeidlichen!«« — »Ob selbe sinnlicher Natur seien?« — »»Bei den größeren sei dies nicht ausgeschlossen; diese schliefen aber seltener zusammen;«« — »Kämen Ineinanderschlingungen und Umarmungen bei solchen Zusammenschlafungen vor?« — »»Hätte sie nie beobachtet; doch gäbe es kindlich und weichherzig angelegte Mädchen, die auch Tags über, und in den Kleidern, ihre Freundinnen umhalsten, abküssten und herzten.«« — »Ob sie, la Soeur Première, dies unter Umständen für teuflische Eingebungen halte?« — »»Unter keinen Umständen!«« — »Wem sie es zuschreibe?« — »»Der Gemütsanlage; dem Temperament!«« — »Ob die nicht durch die Erbsünde45 befleckt?« — »»Allerdings; doch den Unterschied zu finden zwischen dem was menschlich und was teuflisch in unserer Natur, müsse der Weisheit von Monsieur leichter fallen, als ihr!«« — »Ob es gewöhnlich sei, dass Mädchen sich gegenseitig unter die Röcke langten?« — »»Langen, gewiss nicht, aber schauen!«« — »Das gehe doch nicht!« — »»Bei den Kleinen wohl, die noch kurze Kleider tragen, wenn sie z.B. die Stiege hinaufgingen!«« — »Was damit bezweckt werde?« — »»Die Mädchen seien neugierig, was ihre Kameradinnen trügen, ob sie nachlässig in der Wäsche seien; sie liebten es, sich gegenseitig auszurichten; entdecke die Cécile z.B. bei der Claire ein defektes Unterkleid, einen nicht gestopften Strumpf, so erzähle sie bei ihren Freundinnen, Cécile trage zerrissene Unterröcke, durchlöcherte Strümpfe. Erfährt dies wieder Claire, so erzählt sie ihrerseits herum, Cécile schaue Allen unter die Röcke. Das sei Mädchengebrauch und bavardage [Schwatzerei]!«« — »Ob dies bei älteren, wie Alexina und Henriette, auch vorkäme?« — »»In anderer Form; und dann aus Interesse für die Toilette!«« — »Ob es hier zu Berührungen käme?«  »»Zu den unvermeidlichen!«« — »Ob ein direktes Berühren der Körperteile der Andern dabei beabsichtigt sei?« — »»Viele Mädchen brüsteten sich mit der Schönheit, Vollkommenheit ihrer Formen; andere wollten sich davon überzeugen, und so käme es zu gegenseitigen Untersuchungen!«« — »Ob sie glaube, dass dies das Produkt teuflischer Anreizungen sei?« — »»Sie können dies nicht entscheiden! übrigens trügen ja die Mädchen bei solchen Gelegenheiten immer noch Hüllen von Barchent45, Shirting46, Musselin47 um sich!«« — »Mussslin-, Tüll48-, Mull-Stoffe, das sei gerade das, was der Teufel besonders liebe!« — »»Dann sei allerdings die Gefahr sehr groß; — meinte la Première — und Henriette habe einen solchen Überfluss von kostbaren und feinen Toiletten!«« — Damit war die Unterredung zu Ende. Der Abbé war wieder so weit wie vorher. Was er wissen wollte, ob der Verkehr Henriettes und Alexinas eine teuflische, sinnliche Anreizung, die mehr oder minder in das Bereich des Tribadismus37 falle, oder ob es nur der exzessive Ausdruck einer leidenschaftlich freundschaftlichen Seelen-Übereinstimmung der beiden Mädchen gewesen, das konnte ihm la Première nicht sagen, weil sie es selbst nicht wusste, und weil Erfahrungen auf diesem Gebiet überhaupt sehr rar waren. Aber im ersten Fall war Monsieur entschlossen, dass La Maitresse trotz ihrer sonstigen guten Qualifikation gefasst werden müsse, ebenso wie Henriette entfernt; im zweiten Fall war nur ein Repriment49 notwendig.

Inzwischen waren Henriette und Alexina oben bei Madame geblieben, wo nicht minder leidenschaftliche Gespräche stattgefunden hatten. Zum Nachmittag-Café kam la Supérieure herunter zum Abbé. Sie erklärte, es müsse etwas zur Rettung des Rufes des Klosters dem Landesadel gegenüber geschehen. Die Briefe der Mädchen könne man ja inhibieren50; aber bei den sonntäglichen Besuchen, wo einzelne Zöglinge von ihren Eltern im Wagen abgeholt würden, werde die Sache doch ruchbar, und dann entsprechend aufgebauscht und entstellt. — Monsieur trug seine moral-theologischen Unterscheidungen und Bedenken vor, von denen einzig und allein der Ausgang des Falles abhänge. — La Supérieure erwiderte etwas gereizt: von wissenschaftlichen Spitzfindigkeiten verstände die Welt draußen so viel wie sie; zunächst handle es sich um Abschneidung aller weiteren Kontroversen; sie gedenke die beiden Mädchen für's erste auf einige Zeit aus dem Kloster zu entfernen. — Dem widersprach sehr ernst der Abbé; damit gestehe man eine Schande zu, bevor sie erwiesen. Er wünsche in jedem Falle Alexina zu verhören. — Das könne er — meinte Madame pikiert51 — inzwischen werde sie ihre Nichte, um sie weiteren Beschimpfungen zu entziehen, beim Pfarrer des Dorfes unterbringen; — und verließ ohne eine Antwort abzuwarten das Zimmer des Abbé. —

Wenige Minuten darauf betrat la Maitresse mit verweinten Augen das Zimmer von Abbé, warf sich ihm zu Füßen, und fing zu schluchzen und zu weinen an. — Ah Mademoiselle, begann der Abbé, Sie haben dem Kloster jetzt schon einen großen, unberechenbaren moralischen Schaden zugefügt, und ich fürchte, Sie haben eine noch weit größere Sünde auf dem Gewissen. — Mon père — fiel Alexina mit großem Nachdruck ein, und sah den Abbé mit großen, glänzenden Augen an, — meine Liebe zu Henriette ist rein wie der Schnee auf dem Hebron; meine Gefühle sind wie Tauben, die nichts vom Argen wissen! — Diese Sprache überraschte den Abbé nicht wenig, der in seiner sublimen Art für poetische Wendungen nicht unempfindlich war. Trotzdem kam ihm diese ideale Verwahrung im Zusammenhalt mit all' den bekannt gewordenen Schlüpfrigkeiten wie die Faust aufs Auge passend vor. Und so konnte er sich nicht enthalten hinzuzufügen: Aber wie steht es mit den Berührungen, Umarmungen, Untersuchungen zwischen Ihnen und Henriette? — Ah, mon père ["Oh, mein Vater!"], — fiel Alexina wieder mit dem Ton des vollsten Gefühl-Enthusiasmus ein — ja, ich bewunderte Henriette's Erscheinung, ihren Körper, ihre Augen, ihre Haare, ihre Stimme, ihren Gang, kurz Alles, Alles, ihre Strümpfe, ihre Schuhe, Alles was sie war und was sie trug, weil ich selbst so gar nichts bin, und nichts habe, und nichts gleich sehe; und ebenso bewunderte, glaube ich, Henriette meinen Geist, meine Energie, meine Kenntnisse, enfin [kurzum], das Bisschen, was ich von Gott bekommen habe: meine Seele; und gewiss berührten wir uns, wo es nur möglich war, wo es nur geschehen konnte; sie meine Seele; ich ihren Körper; oh, mit einer Inbrunst, mon père ["mein Vater"], wie sich nie zwei Mädchen geliebt haben; und Inbrunst, mon père, ist doch in der Freundschaft, in der Liebe erlaubt, wie im Gebet, in der Reue, in der Verehrung zu Gott. — Hier war der Abbé doch paff. Dieses Mädchen war stärker, als er. — Und niedrige, unziemliche Empfindungen und sündhaftes Verlangen kam nie in Eure Seele, ma fille ["meine Tochter"]? — frug nochmals der Abbé eindringlich. — Nur die Begeisterung — rief Alexina, und streckte beide Arme mit Enthusiasmus empor, — nur die Begeisterung, die Gott selbst in unsere Seele gepflanzt. — C'est bien! ["Gut!"] sagte nun der Abbé, und hob das Mädchen auf, das noch immer auf den Knieen lag; c'est bien, wir hoffen, dass sich noch Alles zum Besten wenden wird. Gott wird Deine Seele auch ferner bewahren. — Alexina ging wieder hinauf zu Madame; und nun schien Alles eine befriedigende Wendung zu nehmen. —

Aber schon um 4 Uhr kam la Première, und brachte ein Paket Briefe, welche man Henriette, als sie in höchst geheimnisvoller Weise ihr Schreibfach ausleeren wollte, um es mit zum Pfarrer zu nehmen, abgenommen. Die Briefe zeigten die Handschrift Alexinas, und es sei vielleicht zu erwarten, dass ihr Inhalt zur Aufklärung über das Verhältnis von la Maitresse zu Henriette beitrage. — Monsieur öffnete die Briefe, und las, und las, und merkte nicht, wo er war. Er las diese Briefe, wie er Liguori16 oder die Kirchenväter las. Monsieur war viel zu fein, zu geschult, zu klassisch und zu rein geistiger Mensch, um den kostbaren Äther, der aus diesen heißen Lettern emporstieg, nicht zu erkennen, sich an ihm zu berauschen. Das war also der gute, französische Stil, der an Alexina bewundert wurde, und der sie in erster Linie als Lehrerin qualifizierte, wenn nicht zur Schriftstellerin; und aus diesen leidenschaftlichen Ergüssen an Henriette ist er hervorgewachsen; aus einer schließlich doch weltlichen Neigung. Und Alexina berief sich immer auf Gott! Da fand sich in einem Brief folgende Stelle:

»Du willst vor mir fliehen, Henriette, Du fürchtest meine Augen, wenn sie am Erlöschen, und den Ton meiner Stimme, wenn sie am Ertrocknen ist. Weißt Du, dass es zu spät ist? Weißt Du, dass Du in meine Hände gegeben, wie Wachs dem Bildner? Dass Du das unglückliche Mädchen Alexina lieben musst, weil Du so reich und ich so arm. Fürchtest Du Gott? Fürchtest Du nicht, jammervoll unglücklich zu werden, weil Du das arme Dorfkind, Alexina, das Du liebst, und das Dich anbetet, verstießest. Haben wir zusammen nicht Alles? Hat nicht jedes von uns für sich Nichts? Du siehst meine dürren, kraftlosen Arme! Hast Du nicht Arme gefüllt mit Wollust? Du streichst über meinen mageren Leib und findest meine welken Brüste! Hast Du nicht strotzende Lebensfülle und Brüste quellend wie Milch und Blut? Du misst meine Beine und findest nur Krücken und kindliche Schwäche! Sind Deine Schenkel nicht so stark wie Marmorsäulen, und Deine Kniee zierlich wie die Eier des Rebhuhns? — Deine Seele schläft oft und Dein Gedächtnis will Nichts behalten! Hab ich nicht Kraft der Seele und kenne Dich und mich auswendig? Du bist zurückgeblieben und Deine Worte sind die eines Kindes! Bin ich nicht über alle vorgeschritten, und habe Dich mit mir gerissen. Bist Du nicht die Taube, und ich der Geier, der auf Dich herabstößt? Bist Du nicht in meiner Gewalt? Und Du fürchtest Dich vor mir, der Dich allein erretten kann! Und willst Dich in die bestialischen Arme eines Mannes werfen, wo nur Grausamkeit, Unflätigkeit und Gemeinheit herrscht? Bin nicht ich Dein Mann?!...« —

In einem andern Brief kam die Stelle vor:

»Du fliehst vor mir, und dann suchst Du mich wieder auf. Du meinst, ich wäre anders, als alle Mädchen im Kloster, und Du müsstest mich verabscheuen, weil ich Dinge forderte und Gewalttätigkeiten verübte, die ein braves Mädchen nicht erdulden dürfe; und dann müssest Du sie doch wieder gewähren. Die Klostervorschriften, Henriette, und die sogenannten Anstandsregeln sind kein Maßstab und Grenze für unser Empfinden. Und was wir verbrochen haben, Berührungen, und unerlaubte Küsse, und Umarmungen und Ergießungen, und was wir im Geheimen taten, ist an und für sich nichts, ist nicht das Eigentliche, was wir wollten, war nur symbolisch gemeint, weil wir es durch Worte nicht ausdrücken konnten; wie Händefalten nur symbolisch gemeint ist für das, was im Innern vorgeht; was dahinter steckt, ist etwas ganz anderes, Unaussprechliches; was wir empfinden, Henriette, Du und ich, wenn wir uns anblicken oder an uns denken, ist etwas Unaussprechliches. Was wir tun, was gegen die Klostervorschriften verstößt, ist demgegenüber nebensächlich, nur eine Ausdrucksform, eine Art Explosion, die auch anders ausfallen könnte, die aber zufällig so ausgefallen ist. Deine Liebe zu mir, Henriette, das ist für mich Alles. Bist Du deren sicher, dann halte an mir fest. Ich beschütze Dich......« —

In einem dritten Briefe hieß es:

»..... Woher die Menschen geboren werden? Ja, wir wissen es jetzt! Weil ich Dich aufgeklärt habe! Aber ist es nicht eine Summe von Unflat, Gestank, Erbrechen, gemeines Atmen, Glotzen und scheußliche Aufführung, was drum und dran hängt, und was ihm vorausgeht? Hier sind die äußeren Taten gräulich, und das innere göttliche Empfinden minimal. Unsere Verkehrsformen, Henriette, sind zierlich, sanft, kleinlich und minimal; aber unser inneres Empfinden, der göttliche Impuls, riesengroß! Oh, ich könnte die ganze Welt mit meinem Innern erfassen, umgreifen, aufsaugen! Und Du Henriette bist nur ein kleines, unsäglichschönes Figürchen-Ebenbild dieser Welt; ein kleiner glänzender Fisch in dem großen Meer!....« —

Mit der Lektüre dieser Briefe war es inzwischen fünf Uhr geworden. Der Abbé wusste wohl, dass er hier einem außerordentlichen Fall gegenüber stand, einem Ereignis, einem Verhältnis, das auf Monate zurückdatiere, das langsam gereift, wie ein Wespennest sich Zelle um Zelle agglomeriert hatte, zuletzt einen gewaltigen Stock gebildet, und in dem la Maitresse der eigentliche Baumeister, der Schöpfer und Angreifer gewesen, während Henriette sich auf eine mehr passive Rolle beschränkt hatte. Aber worüber sich Monsieur nicht klar werden konnte, war, wie weit die materiellen Beziehungen in dem erotischen Leben der beiden Mädchen gediehen waren, deren geistige Seite in den überschwenglichen, gefühlsenthusiastischen Briefen Alexina's vorlagen. Und, ob man hier nicht an einen höchst kalkulierten und versteckten Angriff des Teufels selbst denken musste! Dass Alexina eine naive, wenn auch impetuose52, auf die Echtheit ihres Gefühls in der Brust pochende, aber noch unverdorbene Natur war, darüber war kein Zweifel. Aber, was jetzt zu geschehen habe, Strafe, Ermahnung, Entfernung; Trennung der Zwei; auf ein so glänzendes Talent, wie das Alexina's verzichten; darüber konnte Monsieur zu keinem Entschluss kommen.

Es war jetzt Vesperzeit. Die Mädchen hatten eine halbe Stunde Erholung, bevor die zwei Abendstunden die Arbeit des Tages schlossen. Wie ein Bienenschwarm gärte und brauste es unter den jungen Geschöpfen, die, ermahnt, mit ihren Beobachtungen und Ansichten Monsieur l'Abbé nicht länger zu behelligen, um so eifriger unter sich und mit ihren eigentlichen Vertrauten, den Schwestern, Rats pflogen und Ansichten austauschten. Die Entfernung Henriettes zum Pfarrer des Dorfes hatte man als eine Art Bestätigung aller Vermutungen angesehen. Man wusste aber auch, dass la Maitresse, in der doch auch alle Mädchen den eigentlichen actor rerum53 sahen, noch oben bei la Supérieure weile. Und so Konzentrierten sich denn alle Kombinationen und Erörterungen noch einmal auf ihre Person. Schlimmer aber als Alles dies, war der Umstand, dass mit der Transferierung Henriettes in's Dorf Beauregard nun auch dieses anfing sich an der Diskussion zu beteiligen und Gelegenheit hatte, neues Material herbeizuschaffen. Ein Resultat dieser neuen Beziehungen war, dass gegen das Ende des Interstitiums43, um ½6, eine der Mägde an die Türe des Abbé klopfte, und eingelassen, in Begleitung von la Première, welche sie dazu aufgefordert hatte, folgende Mitteilung machte: Als sie Henriette heute Nachmittag zu Seine Hochwürden in's Dorf gebracht, den Brief von Madame la Supérieure abgegeben, und das Haus schon wieder verlassen, hätten sich mehrere Personen aus dem Dorf um sie gedrängt, zu erkennen gegeben, sie wüssten schon, dass sich Außerordentliches im Kloster zugetragen, und dergleichen. Sie habe, wohl erkennend, dass eigentlich nichts mehr zu verheimlichen sei, das Tatsächliche des Vorgefallenen zugegeben, mit den Leuten gesprochen, und Alle hätten sich fast dahin geäußert, dass die belle Henriette, wie man sie nenne, ein ganz braves, ehrbares Mädchen, diese Mademoiselle Alexina dagegen mit ihrem hohen Gang, ihren eckigen Schultern, ihrer hohlen Sprache, tiefen Wangen und zusammengewachsenen Augenbraunen eine ganz suspekte Person sei, vor der nur unser Herrgott das Kloster bewahren möge. Darauf sei ein großer sonnenverbrannter Mensch mit einem großen Bart unter dem Kinn und hinter den Backen, und einer Axt auf der Schulter, der die ganze Zeit aufmerksam zugehört, hervorgetreten, und habe erzählt, er habe vor etwa sechs Wochen auf einem seiner Kontrollgänge — er sei Waldhüter — mitten im Dickicht weit von der Landstraße ein Stöhnen gehört; er sei näher gekommen, habe sich aber durch das Knicken und Brechen der Zweige verraten; er habe immer eine hohe wimmernde, weibliche Stimme vernommen und eine kräftige, tiefe, beruhigende Männerstimme; als er die letzten Zweige auseinandergebogen, sei er erstaunt gewesen, zwei Mädchen zu finden, die eben aus dem Gebüsch aufgesprungen waren, also dort gelegen hatten; und zwar hatte die mit der hellen Stimme unten gelegen, da sie sich nicht so rasch erheben konnte; die mit der tiefen Stimme war schon aufgesprungen, aber Alles, die ganze Konstellation, ihre Stellung und der Eindruck am Boden hätten gezeigt, dass sie nicht neben ihrer Freundin gelegen; beide Mädchen seien unten am Körper entblößt gewesen, und hätten nicht rasch genug ihre Kleider ordnen können, um dies zu verheimlichen; auch sei ihm aufgefallen, dass die größere, schlankere an den Beinen stark behaart gewesen sei. Die beiden hätten sich dann schnell wegbegeben, und er habe sie nicht verfolgt. — Alle Anwesenden, und auch sie — die Magd — hätten darauf den Waldhüter gebeten, sich in der Nähe des Klosters zu halten, um, für den Fall Monsieur l'Abbé ihn zu sprechen wünsche, da zu sein. Monsieur möge nun nach Belieben handeln. —

Nach dieser Erzählung ließ der Abbé die Magd abtreten, um sich mit la Première allein zu besprechen. Aber beide hatten noch nicht zwanzig Minuten Unterredung gepflogen, wobei Monsieur la Première verschiedentliche Stellen aus lateinischen und französischen Büchern zeigte, und ihr übersetzte, als eine zweite Schwester in heller Bestürzung hereinkam und die Meldung brachte, vor dem Kloster ständen mehrere hundert Leute, mit Mistgabeln und Äxten, die die Faust gegen das Gebäude ballten, Verwünschungen ausstießen, und fortwährend riefen, der Teufel sei im Kloster. — Der Abbé war anfangs im Zweifel, was dieser neuen Sachlage gegenüber zu tun sei, beauftragte aber dann die zweite Schwester, welche die Meldung überbracht hatte, die Affäre Madame la Supérieure zu melden, und sie zu bitten, zu kommen. Zu la Première gewendet, meinte dann der Abbé, es sei wohl das Beste, den Waldhüter mit seiner Axt hereinzulassen, um die Menge zu beschwichtigen. — Aber, auf dem Wege dies auszuführen, traf la Première vor der Klosterpforte mit dem Pfarrer des Orts zusammen, der im Begriff war, zu Monsieur zu eilen. Beide kamen zurück, und Seine Hochwürden voll Erregung frug Monsieur l'Abbé was wohl vorgefallen; das halbe Dorf sei vor seiner, des Ortspfarrers, Wohnung versammelt, habe ihn beschworen, hierher in's Kloster zu eilen: ein Inkubus54, oder der Teufel selbst, habe die schöne Henriette, die Nichte von Madame, die im Walde gelegen, vergewaltigt, oder zu vergewaltigen versucht, und habe dies unter der Figur einer Lehrerin hier im Kloster getan, die allgemein nur la Maitresse genannt werde; man solle diese Lehrerin zu einem Geständnis bringen, eventuell den bösen Geist exorzisieren, und er, der Pfarrer, solle deshalb zu Monsieur l'Abbé ins Kloster eilen. — Während der Abbé seinen Amtsbruder in Kürze über die Ereignisse des Tages aufklärte, hörte man draußen die Zöglinge treppauf treppab stürmen und schrille Rufe ausstoßen: le diable et sa fianßä! — le diable et sa fianßä! ["Der Teufel und seine Braut!"] — Andere rezitierten nach festem Takt den rasch zu Stande gekommenen Vers:

»Le diable et triste
Et a bien peure:
Il a perdu sa fiancée
Et craint la Supérieure!«

["Der Teufel ist traurig, und hat wohl Furcht; er hat seine Braut verloren, und fürchtet die Superiorin."]

Gleich darauf kam auch Madame zitternd vor Erregung herein: die Mädchen seien wie auf ein gemeinsames Zeichen aus den Klassen gestürmt, hätten geschrieen, der Teufel sei im Kloster, und wollten Alexina aus ihrer Stube ziehen. Sie sei jetzt überzeugt, das Ganze sei ein gegen sie, die Superiorin gerichteter Komplott. Der Teufel habe mit der ganzen Sache so wenig zu tun, als mit ihr. — Die beiden Geistlichen machten zweifelhafte Gesichter. — Um aber den ganzen Schwindel mit einem Schlag aus der Welt zu schaffen, meinte Madame weiter, schlage sie vor, der Arzt des Dorfes solle in ihrer Gegenwart oben in ihrer Wohnung Alexina untersuchen; fänden sich die bekannten Male und Zeichen von Teufels-Besessenheit55 an ihrem Körper, woran sie stark zweifle, so könne man weiter sehen, und eventuell Exorzismus56 anwenden; ergebe sich aber Alexina, wie sie sicher annehme, als tadelloses, unberührtes Mädchen ohne Mal und Stigma, dann solle man die zur Verantwortung ziehen und züchtigen, die diese Fabel aufgebracht und wissentlich verbreitet hätten. — Damit waren alle einverstanden. Nur, meinte der Ortspfarrer, man solle dem Waldhüter, der drunten stehe, und die Dorfbewohner haranguiere57, Gelegenheit geben, Alexina unbemerkt zu sehen, um eventuell so durch einen unverdächtigen Zeugen, im Falle des Nichtidentifizierens, zur Beruhigung der Menge und des Klosters beizutragen. — Auch dies fand allgemeinen Beifall. — Was die Klosterinwohner selbst angehe, so wurde angeordnet, alle hätten im Refektorium58 sich unter Aufsicht der Schwestern ruhig zu halten, bis das Resultat der Untersuchung bekannt. —

Es war jetzt 7 Uhr Abends. Während zweier Stunden war wirklich der Teufel los gewesen, und Zucht und Ordnung im Kloster verschwunden. Die in Aussicht gestellten Schritte wirkten auf Alle beruhigend. Der Pfarrer ging in die Ortskirche, um Monstranz und Ciborium59 bereit zu halten. Auf dem Wege dahin sprach er begütigend zu Allen, die ihm begegneten. Auch trat die Dämmerung ein, und die meisten begaben sich nach Hause. La Première wurde zum Arzt geschickt. Madame selbst bereitete oben Alles für die Ankunft des Arztes vor. Monsieur hatte ebenfalls den Kooperator60 in der Klosterkirche avertiert61, Alles zum Exorzisieren bereit zu halten. Er selbst schlug die genauen diesbezüglichen Direktiven in seinem Ordinale auf, und machte sich aus Bodinus, Daemonomania61, mit den körperlichen Stigmata für Teufelsbund bekannt. Die Zöglinge bekamen im Refektorium ihr Abendessen. Mit der Dunkelheit war bei den Mädchen, statt Ausgelassenheit, Bangigkeit und Furcht getreten. Alle baten, heute Nacht die Lichter im Schlafsaal brennen lassen zu dürfen. — Inzwischen war der Holzknecht wieder heruntergekommen, und hatte aufs Bestimmteste dem Abbé versichert, das Frauenzimmer, welches er soeben durch die Türspalte bei Madame la Supérieure mit verweinten Augen habe sitzen sehen, sei der Inkubus54, der damals im Wald auf Henriette gesessen. —

Es war schon halb neun, als der Arzt, ein fast jung zu nennender Mann, der die Faculté in Paris mit Auszeichnung absolviert hatte, ankam. Er hatte noch einen Gang in's benachbarte Dorf gemacht, und hatte, eben erst zurückgekehrt, die ganze merkwürdige Geschichte gehört. Die Lichter im Kloster waren schon angesteckt. Es herrschte jetzt rings auf Gängen und Treppen tiefste Stille. Den Vorschlag Abbé's, mit ihm erst das Verzeichnis der Stigmata im Bodinus61 durchzugehen, hatte der Arzt abgelehnt. Er war dann von la Première sogleich in den II. Stock hinaufbegleitet worden. Droben empfing ihn Madame mit höchster Zuvorkommenheit in dem prächtig erleuchteten, reich ausgestatteten Salon, der zu ihren Appartements gehörte. In dem halb offen stehenden Nebenzimmer brannte nur ein Licht. Dort wartete Alexina halb entkleidet, auf dem Bettrand gekauert, auf den Arzt. Dieser wechselte nur wenig Worte mit Madame, und ging dann sogleich hinein, die Türe wieder, wie es gerade die Handbewegung wollte, halb oder dreiviertel zugehen lassend. Und nun konnte man heraußen folgendes hören trotz des lauten Buchumblätterns, mit dem Madame sich und die Stille zu betäuben suchte: Kurzes Gemurmel und Begrüßungsformeln; einzelne Fragen, sehr knapp, ebenfalls knapp beantwortet; beide Stimmlagen sind sehr tief; die des Arztes ist aber schärfer skandiert und heller; die Alexina's dumpf und gaumig. Das Licht wird gerückt, so dass die Helle jetzt ganz aus der Türspalte verschwindet; eine Aufforderung; dann ziehen und schleifen von ausgezogenen Gewändern; Pause, neue Aufforderung; Entgegnung; wiederholte Aufforderung in festerem Ton! ein Seufzen; dann wieder Ausziehen und Rutschgeräusche; strumpfiges Aufstampfen auf dem Boden; erst einmal; dann noch einmal; dann noch ein Rutschgeräusch; und jetzt ein weiches, schilfriges Gleiten; wie Epidermis auf Epidermis; und begleitet von zustimmenden Ah, c'est cela; c'est cela, oui ["recht so, ja"] des Arztes. Längere Pause. Dann wieder ein Kommando; man hört die knerzenden Bewegungen eines Bettgestells und das knistrige Hingleiten auf eine Matratze; ein ruhiges Kommando; ein stärkeres Kommando; dringende, unwillige Aufforderung; seufzendes Wimmern von der andern Seite; Ah, vous me faites mal, Monsieur; [Ach, Sie tun mir weh, Herr!"] rief auf einmal Alexina laut und wie explosiv; dumpfe Entgegnung des Arztes, dessen unterbrochenes Atmen auf schwieriges, intensives Arbeiten hinwies. Nunmehr ausgiebiges Schluchzen ohne Unterlass von Seite Alexina's, ohne stärkere Schmerzensrufe, aber mit unstillbarem Weinen, hingebend, machtlos, verzweifelnd, sich gänzlich überlassend; die Stimme des Arztes nunmehr weich und bedauernd, ohne plötzliche Kommandorufe. Der Kulminationspunkt schien überschritten; die Entscheidung schon erfolgt; das Ergebnis schien aber ein trauriges; und trotzdem dauerte es noch lange, bis alle Manipulationen zu Ende; Madame hatte nach dem Angstschrei Alexina's nicht mehr geblättert, sondern atemlos gelauscht, und an die Türspalte gestarrt; das Wimmern drinnen wurde allmählich schwächer, das Weinen hörte auf, und ging zuletzt in ein rhythmisches Wehklagen über, welches synchron mit dem Atmen ging. Endlich nach langer, langer Zeit, — es war fast eine Stunde verflossen — hörte man Wasser in ein Lavoir gießen und kurz darauf kam der Arzt mit dem Handtuch in der Hand verstörten Antlitzes heraus. La Supérieure stand auf und schien zu fragen. »Ein trauriger Fall, Madame, — sagte der Arzt in dunklem Ton, — ich muss ein eingehendes Gutachten über den Fall abstatten, welches ich morgen Vormittag schon Monsieur l'Abbé zustellen zu können hoffe; inzwischen möchte ich raten, sobald es angeht, — heute möchte es zu spät sein — le jeune Alexina ["den Jungen Alexina"] zum Dorfpfarrer zu bringen, und Mademoiselle Henriette zurückzuholen zu Madame. — Damit verabschiedete sich der Arzt, sagte dem draußen harrenden Messner, zu irgend einer religiösen Handlung bestehe kein Anlass, und begab sich dann durch das jetzt totenstille Kloster nach Hause. —

Jetzt war's 11 Uhr; und Alles schlief in seinen Betten; d.h. Alles wachte, denn wer konnte nach solch' einem Tag schlafen. Oben huschten die Schwestern in schleppend weißen Nachtgewändern von Bett zu Bett und beruhigten die Kleinen, die alle eine schreckliche Furcht vor'm Teufel hatten. Die Lampen brannten alle hell. Und la Première selbst ging von Schlafsaal zu Schlafsaal, um jetzt keine Unordnung, keine Panik mehr ausbrechen zu lassen. Sie wusste ja, sie hatte gewonnen. — Und unten wachte in seinem Bett Monsieur l'Abbé. Er hatte noch vom Messner die Nachricht erhalten, zum Eingreifen des exorzisierenden Apparats bestände kein Anlass, und war dann, nachdem er den gleichen Boten mit der gleichen Nachricht zum Ortspfarrer geschickt, und mit la Première einige Verordnungen wegen der Ruhe der Nacht besprochen, selbst zu Bett gegangen: kein Anlass zum Eingreifen des exorzisierenden Apparats; Ja, glauben denn diese neuen Ärzte, sie können die Welt ohne Geistlichkeit in Ordnung bringen? Und wenn sich keine Stigmata62 fanden, was war denn dann los mit Alexina? Bediente sich der Teufel nur ihres Phantoms, ihrer sinnlichen Hülle, so war dies nach allen Exorzisten des Mittelalters auf die Dauer unmöglich, ohne Spuren zu hinterlassen, war aber der Teufel nicht im Spiel, dann hatten offenbar Henriette und la Maitresse ein frevelhaftes, sündig-gottloses Spiel mit einander getrieben. Denn wer wird sich im Wald in so unsauberen Stellungen präsentieren. Wenn auch nicht für andere, doch für sich. Ja, ja, er erinnerte sich jetzt, Henriette hatte dieses Frühjahr einigemale von Madame die außergewöhnliche Erlaubnis erhalten, mit Alexina Nachmittags in den Wald zum Maiglocken pflücken gehen zu dürfen, und er sah sie einmal mit Sträußen und fieberhaft glänzenden Augen zurückkehren. — Was aber jetzt mit Konstatierung der Stigmalosigkeit von la Maitresse erreicht sei, könne er nicht begreifen. Die Sache stehe am alten Fleck. Und die Geistlichkeit werde die Sache doch zuletzt lösen müssen. — Mit diesen Gedanken war Monsieur l'Abbé beiläufig beschäftigt.

Und oben im II. Stock ruhte Madame. Sie hatte bange Ahnungen, es möchte mit ihrem Priorat im Kloster vorbei sein. Seit heute Abend 6 Uhr, als die Bauern die Sensen vor der Klostertür schwangen, und den Teufel in Gestalt einer Lehrerin im Kloster suchten, war ihr klar, dass dies an ihr hinausgehen werde; diesmal hatte la Première die Sache fein dirigiert, und zur rechten Zeit in die Flamme geblasen, die noch heute Morgen mit dem Schuh auszulöschen war. Mein Gott, zwei Mädchen, die sich in ihren körperlichen und seelischen Eigenschaften einander ergänzten, beieinander schlafen und sich mit Zärtlichkeiten überhäufen sehen, — was da dran sei! Allerdings, diese Alexina sei ein merkwürdiges Geschöpf; und der Ausspruch des Arztes lasse erwarten, dass mit ihr etwas ganz besonderes los sein müsse. —

Und neben dran lag Alexina auf ihrem Lager; gestern noch die bewunderte, ob ihrer phänomenalen geistigen Eigenschaften gepriesene, mit dem Ehrentitel la Maitresse benamte, deren Ansprache bei den Kleinen als Auszeichnung galt, und jetzt ein wimmerndes Geschöpf, wie zum Tod getroffen, von einem Arzt in ihren geheimsten Beziehungen vor aller Welt enthüllt, als Teufelsfrauenzimmer an den Pranger gestellt, und ihrer Lebenskraft, Henriette's, beraubt. Ja, heute Abend als sie der Arzt besuchte, war ihr wohl klar geworden, dass etwas außergewöhnliches bei ihr der Fall sein müsse; und als er vom Kopfe beginnend Alles abmaß und genau feststellte, und dann das untersuchte, was Jedes mit Scham verhüllte, und da einzudringen versuchte, und ihr die fürchterlichen Schmerzen verursachte, so dass sie hinausschreien musste, und als sie dann sein perplexes Gesicht sah, da fing sie an, an diesem springenden Punkt weiter zu spintisieren: ja, sie wusste es, etwas anders war sie ja gebildet wie die andern Mädchen, wie Henriette; aber das war ihr nicht aufgefallen; waren nicht auch die Andern in sonstigen Dingen verschieden? Hatte die eine nicht eine Adlernase, die andere eine eingebogene oder gerade; diese einen hässlichen, fleischigen Mund, jene einen feingeschnittenen, knospenden, wie an einer Statue; hatte diese nicht eine flache, jene eine gewölbte Brust? War die eine nicht dumm, die andere gescheit? Was war denn dann mit ihr so besonderes los? Diese Kleinigkeit, über die Henriette so oft gelacht? — Aber es musste doch etwas sein! Denn woher der schreckliche Schmerz? — Und so wimmerte und spintisierte und schluchzte das Geschöpf weiter. —

Noch bedeckte die Nacht mit ihrem kolossalen Mantel Alles, Kloster, Menschen und ihre Gedanken. Aber die Sonne brannte schon mit Inbrunst, hervorzubrechen, und die ganze so schauderhafte Klosteraffäre zu beleuchten, und mit greller Flammenschrift Jedem in's Gewissen und in's Hirn zu schreiben. —

Es war jetzt wieder 7 Uhr Morgens; die Sonne glänzte durch die Scheiben des geistlichen Arbeitszimmer; das Frühstücksgeschirr stand auf dem Arbeitstisch bei Seite gestellt; und Monsieur l'Abbé las wieder eifrig in Liguori16, Theologiae moralis, libri sex. Nichts in seinem Gesicht ließ etwa eine Unruhe oder Abspannung entdecken. Der Vorfall des gestrigen Tages hatte keinen nervösen Rest bei ihm zurückgelassen. Die gleiche sublime Ruhe waltete in seinen Zügen wie gestern. — In diesem Augenblick klopfte es an der Türe; Monsieur rief herein! und die Pförtnerin brachte ein Schreiben großen Formats, welches soeben abgegeben worden sei. Monsieur öffnete es sogleich durch einen Winkelschnitt über der Oblate, faltete das kräftige Handpapier auseinander und las Folgendes:

Beauregard, le 21. Juin 1831. Adolphe Duval, médecin agrégé de la Faculté de Paris, à Monsieur l'Abbé de Rochechouard, à Douay. — Monsieur! Über den körperlichen Befund des sogenannten Alexina Besnard, 18 Jahre alt, habe ich auf Grund der von mir gestern Abend vorgenommenen Untersuchung die Ehre Folgendes zu melden:

Alexina als Mädchen von außerordentlich hoher Statur, muss auch als Mann noch zu den größeren Gestalten gerechnet werden. Das magere Gesicht zeigt den Ausdruck hoher Intelligenz; der Blick entschieden männlich, konvergierend; stark prominente Augenbögen, unter denen ein paar schwarze, kluge, flinke Augen herauslugen; keine Spur von Bart; die Kopfhaare etwas länger, als sie gewöhnlich von Männern getragen werden, aber weit entfernt die Länge von Mädchenhaaren zu erreichen (sie müssten denn absichtlich beschnitten sein) werden in einem Netz getragen, und sind eher spärlich zu nennen. Die Stimme Alexina's ist eine Altstimme. Der ganze Körperbau ist schlank, muskulös, ohne eigentliches Fettpolster, zeigt in seinem oberen Teil femininen Charakter, zarte Haut, schwache mamma63-Bildung mit weiblich gebildeter Warze; die unteren Extremitäten fallen sofort durch ihre reiche, dunkle, männliche Behaarung auf, und zeigen auch in ihrer allgemeinen Konfiguration männliche Anlage. Die Oberschenkel zeigen zum Knie hin nicht die beim Weib bekannte Konvergenz, sondern verlaufen geradlinig. Die Hände sind zwar klein, dagegen die Füße sehr groß und kräftig. Die Hüfte charakterisiert sich schon durch den allgemeinen Anblick, durch das gänzliche Fehlen des seitlich ausladenden, wie durch Messungen, als Beckenanlage von rein männlichem Charakter. Der mons Veneris64 ist stark behaart und bedeckt auf den ersten Anblick die eigentliche Bildung der Genitalien. Dieselben zeigen wenig klaffende labia majora65 von wulstigem, faltigem Charakter, hinter denen die kleinen, wenig ausgebildeten labia minora66 sichtbar werden; keine Spur von hymen67; der introitus vaginae68 ist so eng, und das versuchsweise Eindringen so schmerzhaft, dass es keinem Zweifel unterliegt, dass derselbe als blinder Sack endigt, und entweder keinen, oder höchstens rudimentären uterus69 als Fortsetzung trägt, der für die Ovulation wie Menstruation ohne Belang ist. Dagegen umschließen die labia minora66 in ihrem oberen Teil einen suculenten70 Körper, der vorne perforiert ist, und sich als wohl charakterisiertes membrum Virile71 erweist; dasselbe ist der Erektion fähig; obwohl es an seiner vollen Entfaltung durch ein von den genannten kleinen Labien66 ausgehendes straffes ligamentum72 gehindert ist. Die Perforation ist der Ausführungsgang der urethra73, die ihrerseits in die Vesica urinalis74 endet. Testikel75 sind nirgends zu entdecken, und scheinen im Abdomen76 zurückgeblieben zu sein. — Somit ist Alexina Besnard ein Zwitter; und, da derselbe während der Untersuchung, offenbar durch die augenblickliche psychische Erregung hervorgerufen, auch eine unwillkürliche ejaculatio seminalis77 hatte, deren Bestand unter dem Mikroskop das deutliche Vorhandensein normaler, beweglicher Spermatozoen ergab, so muss Alexina als männlicher Zwitter angesprochen werden; somit ist Alexina ein Mann und zwar ein zeugungsfähiger Mann. — Auf Grund der mir obliegenden Pflicht habe ich bereits Anzeige an die betreffende Zivil-Behörde behufs Änderung der Stammrolle in der Heimat Alexina's gemacht, Eurer Hochwürden die weiteren Schritte bis zur definitiven staatlicherseits vorzunehmenden Änderung der zivilen Verhältnisse Alexina's überlassend. Mit hochachtungsvoller Ergebenheit etc. Adolf Duval.« —

Noch am gleichen Tag wurde Alexina in ihre Heimat zu ihren Eltern gebracht.

Mademoiselle Henriette Bujac, die in's Kloster zurückkehrte, sah sich genötigt, nach etwa sechs Monaten aus dem Institut auszutreten, und wurde zu einer entfernt wohnenden Tante auf's Land geschickt.

Mit ihr verließ Madame la Supérieure definitiv das Kloster. — Und la Soeur Première wurde Superiorin. —


Erläuterungen:

1 Abbé

" Abbé (franz.), ursprünglich soviel wie Abt. Auf Grund eines zwischen Papst Leo X. und dem König Franz I. von Frankreich abgeschlossenen Kontrakts stand den Königen von Frankreich das Recht zu, 225 Abbés commendataires für fast alle französischen Abteien zu ernennen. Seit Mitte des 16. Jahrh. führten den Titel Abbé überhaupt junge Geistliche mit oder ohne geistliche Weihen. Ihre Kleidung bestand in einem schwarzen oder dunkelvioletten Gewand mit kleinem Kragen, und ihr Haar war in eine runde Haarlocke geordnet. Da von diesen nur wenige zum Besitz einer Abtei gelangen konnten, so fungierten einige als Hauslehrer, Gewissensräte etc. in angesehenen Familien, andre widmeten sich der Schriftstellerei. Erst mit der Revolution verschwanden sie aus der Gesellschaft. Vielfach wendet man den Titel Abbé (ital. Abate) noch in der Anrede an junge Geistliche an."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

2 Dominikanerinnen

"Die schon 1206 von Dominikus in Prouille (Pyrenäen) gestifteten Domikanerinnen der zweiten Regel tragen weiße Kleidung mit schwarzem Mantel und Schleier. Sie zählen jetzt noch ca. 1500 Mitglieder in ca. 100 Klöstern, davon 12 in Deutschland. Dieser Zweig des Ordens führt ein streng beschauliches Leben, doch haben im letzten Jahrhundert einige Klöster den Unterricht und die Erziehung junger Mädchen übernommen."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

3 Protectricen (französisch): Gönnerinnen

4 Gelübde

"Ordensgelübde (Votum solemne, lat.), das heilige Versprechen
  • der steten Keuschheit,
  • der freiwilligen Armut und
  • des vollkommenen Gehorsams,

welche die in einen geistlichen Orden (s. d.) Eintretenden in die Hände ihres Oberen ablegen; auch evangelische Räte (s. Consilia evangelica) genannt. Die Ordensgelübde verpflichten nach ihrer Ablegung unter schwerer Sünde, ausgenommen bei Befehlen gegen göttliche oder kirchliche Gebote."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

5 Sinekure (v. lat. sine cura, ohne [Seel-] Sorge); Pfründe mit Einkünften, aber ohne Amtsgeschäfte; dann überhaupt ein Amt, mit dem großes Einkommen ohne viel Arbeit verbunden ist.

6 Thomas von Aquino (1225 - 1274): einflussreichster scholastischer Theologe, seit 1567 "Kirchenlehrer", seit 1879 päpstlich verordnete Norm für das katholische philosophische Denken

7 Geistliche Exerzitien (geistlichen Übungen): Zeiten, in denen sich Einzelne oder Gruppen intensiv und mehr als für sie selbst üblich dem Gebet und der Besinnung widmen. Vorbild und Grundlage sind die »Ejercicios espirituales« (spanisch, wörtlich: geistliche Übungen) des Heiligen Ignatius von Loyola, des Gründers des Jesuitenordens.

8 vermutlich mein Panizza Joel Cherbuliez

"Cherbuliez, Joel, Schriftsteller, geb. 1806, gest. 31. Okt. 1870 in Genf, übernahm das väterliche Geschäft und wurde namentlich als Herausgeber der »Revue critique des livres nouveaux« (Paris, später in Genf erschienen, 1833ff.) bekannt. In einer Art von Roman: »Le lendemain du dernier jour d'un condamné« (Par. 1829), versuchte er eine Parodie und Kritik von Victor Hugos Buch gegen die Todesstrafe. Außerdem redigierte er mehrere Jahre hindurch die konservativen Btätter: »Le Fédéral« und »Le Journal de Genève« und schrieb in derselben Richtung für die »Revue des Deux Mondes«. Als Geschichtsforscher hat sich Cherbuliez legitimiert durch sein Werk »Genève, ses institutions, ses moeurs, etc.« (1867)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

9 Madame la Superieure: Frau Oberin, Superiorin

10 quietiv: ruhig

11 Tituskopf (Frisur à la Titus): die in Frankreich zur Zeit der Revolution aufgekommene Mode, die Haare kurz und in Löckchen zu tragen.

12 Soeur première: die erste Schwester, Oberschwester

13 aphroditisch: wie die Liebesgöttin

14 Rattenkönig

"Rattenkönig: unentwirrbare Mengen von Irrtümern o.ä. Zoologen nennen so eine Anzahl jüngerer Ratten, deren Schwänze während des Zusammenlebens im Nest durch Schorfbildung oder Schmutz miteinander verklebt sind. Von der fettesten Ratte, die als Rattenkönig gilt, ist die Bezeichnung auf das ganze Gewirr übertragen worden. In der übertragenen Bedeutung ist die Vokabel im späten 18. Jh. aufgekommen."

[Quelle: Küpper, Heinz: Wörterbuch der deutschen Umgangssprache. - Berlin : Directmedia, 2000. - 1 CD-ROM  -- (Digitale Bibliothek ; 36). -- ISBN 3898531368. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie diese CD-ROM  bei amazon.de bestellen}] 

15 Skapulier

"Skapulier (neulat. Scapulare, v. lat. scapula, Schulterblatt), ein Teil der Mönchstracht, anfangs ein ärmelloser Überrock, dessen sich die Mönche bei körperlicher Arbeit im Freien bedienten, oft an beiden Seiten ganz aufgeschlitzt u. dann wieder durch mehrere Knöpfe mit Belassung vieler Armlöcher verbunden, jetzt ein körperbreiter Tuchstreifen gewöhnlich von Stoff und Farbe des eigentlichen Ordenskleides, der durch den inmitten befindlichen Kopfschlitz auf Hals und Schultern gelegt, vorn und hinten über die Kutte bis fast zur Länge derselben herabhängt. S. heißt in der katholischen Kirche auch ein Sakramentale (s. Sakramentalien), das aus zwei mit dem Bilde Mariens oder der Leidenswerkzeuge Christi versehenen Tuchflecken besteht und an zwei Bändchen unter den Kleidern auf Brust und Rücken getragen wird. Die Inhaber solcher Skapuliere gehören einer Skapulierbruderschaft (s. Bruderschaften, religiöse) an, deren vorzüglichste die »Unserer Lieben Frau vom Berge Karmel« (daher Karmelitenskapulier, eingeführt 1587) ist mit dem Skapulierfest am dritten Sonntag im Juli."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

16 Liguori: Theologiae moralis libri sex (sechs Bücher der Moraltheologie)

" Liguori, Alfonso Maria de, Stifter der Liguorianer oder Redemptoristen (s. d.), geb. 27. Sept. 1696 in Marianella bei Neapel, gest. 1. Aug. 1787, studierte anfangs die Rechte, dann Theologie, erhielt 1726 die Priesterweihe und gründete 1732 in Villa Scala mit päpstlicher Erlaubnis einen klösterlichen Verein des allerheiligsten Erlösers (Congregazione del San Redentore), dessen Glieder sich dem Dienste der Ärmsten und Verlassenen im Volke widmen sollten. Seit 1762 Bischof von Sant' Agata de' Goti bei Capua, zog sich Liguori 1775 in die von ihm gestiftete Kongregation zu Nocera, San Michele dei Pagani, zurück. Er ward 1816 selig, 1839 heilig gesprochen und der 2. August ihm geweiht; 1871 wurde er zum Doctor Ecclesiae proklamiert. Abgesehen von der Stiftung der Redemptoristen-Kongregation ist Liguori für die Kirche besonders durch seine vielumstrittene Moraltheologie (»Theologia moralis«, hrsg. von Haringer, 2. Aufl., Regensb. 1881, 8 Bde.) von Bedeutung geworden. Seine Schriften wurden oft herausgegeben, deutsch in 42 Bänden (Regensb. 1842-47); »Opera dogmatica«, hrsg. von Walter (Rom 1903, 2 Bde.). Seine »Briefe« erschienen in 3 Bänden (Regensb. 1893-94)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

17 Busenbaum

"BUSEMBAUM (Busenbaum), Hermann, Jesuit, Moraltheologe, * 19.9. 1600 in Nottuln (Westfalen), † 31.1. 1668 in Münster (Westfalen). - Busembaum trat 1619 in Trier in die Gesellschaft Jesu ein. Er lehrte seit 1634 Philosophie, Dogmatik und Moral in Münster und Köln und war 1644-47 Rektor des Jesuitenkollegiums in Hildesheim und 1653-57 in Münster und 1660-62 in Coesfeld Beichtvater des Fürstbischofs von Münster, Christoph Bernhard von Galen. Bekannt ist Busembaum durch seine »Medulla theologiae moralis«, die weiteste Verbreitung fand. Hervorragende Moralisten, Claudius Lacroix, Alfons Maria de Liguori, Antonio Ballerini und Domenico Palmieri, schrieben ausführliche Kommentare zu diesem Werk, und der italienische Jesuit Franz Anton Zaccaria u. a. verteidigten es. 100 Jahre vergingen, ohne dass einer an den in Busembaums Abriss der Moraltheologie behandelten jesuitischen Grundsätzen Anstoß nahm. Als aber Damiens 1757 ein Attentat auf Ludwig XV. machte, gab man dem Jesuitenorden die Schuld, da er wie Busembaum den Königsmord als erlaubt verteidige. Das Pariser Parlament verurteilte 1757 Busembaums »Medulla theologiae moralis«, und das Parlament von Toulouse ließ das Buch öffentlich verbrennen. Zum Beweis der Behauptung, die jesuitische Kasuistik empfehle und erlaube den Tyrannenmord, berief man sich zu Unrecht auf eine Stelle der obengenannten Schrift, die vom Notwehrrecht handelt, das aber noch durch die Rücksicht auf das Gemeinwohl eingeschränkt wird: »Zur Verteidigung seines Lebens und der Unversehrtheit seiner Glieder ist es auch dem Sohn, dem Ordensmann und dem Untertanen erlaubt, sich zur Wehr zu setzen, im Fall der Not selbst bis zur Tötung des Angreifers, gegen den eigenen Vater, Prälaten und Fürsten, wenn nicht wegen des letzteren unverhältnismäßig große Übel, wie z. B. Kriege, erfolgten« (Medulla III, pars I, tract. 4, cap. 1, dub. 3 de homicidio). Man wirft Busembaum auch vor, er vertrete den Grundsatz: »Der Zweck heiligt die Mittel.« Nach Busembaums Ansicht darf der Gefangene fliehen: »Es ist erlaubt, wenigstens vor dem Forum des Gewissens, mit Ausschluss von Gewalt und Unrecht die Wächter zu täuschen, indem man ihnen z. B. Speise und Trank gibt, damit sie einschlafen, oder sorgt, dass sie fern sind; ferner den Kerker zu erbrechen, weil, wenn der Zweck erlaubt ist, auch die Mittel erlaubt sind« (Medulla IV, cap. 3, dub. 7, art. 2). Übersehen darf man nicht, dass »Gewalt und Unrecht« auch für Busembaum unerlaubte Mittel sind. Es fragt sich nur, wo die Grenze für Gewalt und Unrecht beginnt. "

[Quelle: Friedrich Wilhelm Bautz. -- http://www.bautz.de/bbkl/b/busembaum_h.shtml. -- Zugriff am 2005-01-14] 

18 Ribadenaira

"RIBADENEIRA, Pedro de S.J., Ordenspolitiker und -historiker, theologischer Schriftsteller, Staatstheoretiker, * 1.11. 1526 in Toledo, + 22.9. 1611 in Madrid. - Ribadenaira, der sich in jugendlichem Alter bereits - 1540 in Rom - dem neuen Orden des Ignatius von Loyola anschließt, vertritt jene zweite Generation von Jesuiten, deren geschicktes und aufopferungsvolles Wirken die Konsolidierung und Ausbreitung der Gesellschaft Jesu im Anschluss an die Anerkennung durch Papst Paul III. entscheidend vorantreibt.

Nach Studien in Paris, Loewen und Padua begegnet er 1549 als Lehrer der Rhetorik zu Palermo sowie 1552 als erster Leiter des Collegium Germanicum zu Rom, wo er 1553 die Priesterweihe empfängt. Unter Verzicht auf eine weitere gelehrte Karriere wendet er sich der aktiven Ordenspolitik zu, trägt in verschiedenen Funktionen bei zur Einführung der Gesellschaft in den Niederlanden (1556-1560), schließlich aber vor allem zu deren Etablierung und strafferen Organisation in Italien: Als Provinzial der toskanischen Provinz steht Ribadenaira gleichzeitig allen Jesuitenhäusern in Rom vor, erscheint in den folgenden Jahren als Visitator der lombardischen Provinz, als Kommissar für Sizilien, als Assistent des Ordensgenerals in spanischen und portugiesischen Angelegenheiten. Körperlich angeschlagen kehrt Ribadenaira 1574 in seine spanische Heimat zurück, lebt zunächst in Toledo, dann, von 1583 bis zu seinem Tode, in Madrid. Von Divergenzen innerhalb des Ordens zwar nicht unberührt, grundsätzlich Partei ergreifend gegen separatistische Tendenzen, für die Einheit der Gesellschaft, verlässt er doch zunehmend die ordenspolitische Bühne, widmet die zweite Hälfte seines Lebens schriftlicher Traditionssicherung. Seine Reihe von Biographien der ersten Ordensgeneräle, die er 1572, noch in Italien, mit derjenigen des Gründers eröffnete, setzt er fort mit Lebensbildern des Jacob Laínez und Franz von Borgia; Schriften und Schriftsteller des Ordens dokumentiert er im »Catalogus Scriptorum religionis Societatis Jesu« (zuerst 1602). Gelehrten Übersetzungen des Augustinus und Albertus Magnus stellt Ribadenaira religionshistorische Traktate (Historia ecclesiastica del scisma de Inglaterra) sowie volkstümliche theologisch-erbauliche Schriften in kastilianischer Sprache zur Seite, welche - wie etwa das »Libro de las vidas de los santos« - breite Rezeption finden. Mit Arbeiten dieser Art wirkt er nicht allein als Multiplikator katholischer Glaubensinhalte, sondern trägt durch seine geschliffene volkssprachliche Prosa viel bei zur Entwicklung des Spanischen als Literatursprache.

Besondere Aufmerksamkeit verdient Ribadenairas Stellungnahme zur zeitgenössischen Diskussion um den besten Staat, den besten Herrscher. In Form eines Fürstenspiegels weist sein »Tratado de la religión y virtudes que debe tener el príncipe cristiano« ( 1595) jegliche Art von Staatstheorie zurück, die den Ursprung weltlicher Gewalt aus deren Rückbindung an göttliches Gesetz leugne, erhöbe diese nun, wie bei Machiavelli, die Macht zum obersten Prinzip des Handelns oder lieferte sie, wie bei Bodin, säkular-naturrechtliche, wie bei Justus Lipsius, neostoizistisch-ethische Begründungen von Politik. Gleichwohl zieht Ribadenaira die Sinnfälligkeit einer Raison d'État nicht in Zweifel, ja zeigt sich bestrebt, diesen Schlüsselbegriff modernen Staatsdenkens in Einklang zu bringen mit der Vorstellung eines christlich fundierten Gemeinwesens. Durch den Rückgriff auf eine Unterscheidung Giovanni Boteros in »falsche« und »wahre« Staatsraison versucht er, jenen Spagat zu vollbringen zwischen der alten Idee des Rex christianus bzw. catholicus und den neuen hervordrängenden Varianten des Rex legibus solutus. Mit seinem »Tratado de la religión« reiht sich Ribadenaira als gewichtige Stimme ein in den Kreis von Theoretikern, die um eine neue Begründung staatlicher Macht an der Schwelle zur Moderne ringen."

[Quelle: Thomas Brechenmacher. -- http://www.bautz.de/bbkl/r/ribadeneira_p.shtml. -- Zugriff am 2005-01-14] 

19 Sanchez

"Sanchez (spr. ßantsches), Thomas, Jesuit, geb. 1550 in Cordova, gest. 19. Mai 1610 in Granada, war einer der gelehrtesten und eifrigsten Moraltheologen und Kanonisten der Jesuiten. Seine Schriften, unter denen die Schrift »De sancto matrimonii sacramento disputationum libri tres« (Genua u. Madrid 1602, 3 Bde.) noch heute als klassisch gilt, erschienen gesammelt Venedig 1740."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

20 Kardinaltugenden

"Kardinaltugenden (lat.), soviel wie Haupttugenden, deren von Sokrates, Platon und den Stoikern vier aufgezählt wurden, nämlich von dem ersten Gottesfurcht, Enthaltsamkeit, Tapferkeit und Gerechtigkeit; von dem zweiten Weisheit, Mäßigung, Tapferkeit und Gerechtigkeit; von den letztern Geschicklichkeit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Bescheidenheit. Die christliche Ethik fügte zu diesen »natürlichen« K. noch Glaube, Liebe, Hoffnung als »übernatürliche« hinzu."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

21 Phiole (v. griech. phiale): birnförmiges gläsernes Gefäß mit langem, engem Hals

22 de Verecundia: über die Schamhaftigkeit

23 Portière: Türvorhang

24 Paravent: Bettschirm, Wandschirm, spanische Wand

25 Volumina: Plural zu volumen: Band (Buch)

26 Zibeben: große Rosinen

27 Oktav: Buchformat, bei dem der Bagen 8 Blätter oder 16 Seiten zählt.

28 Memorieren: Auswendiglernen

29 gilfen (gelfen): gellend schreien

30 Hitzvakanz: Hitzefrei

31 Gestumpe: zu stumpfen = stoßen: Gestoße

32 maitresse (frenzösisch): Herrin, Gebieterin, Lehrerin, Mätresse

33  Soutane: = Talar: von den katholischen Geistlichen  getragenes langes, eng anliegendes Kleid mit stehendem Kragen und engen Ärmeln, vorn von oben bis unten durch dicht gesetzte Knöpfe verschlossen

34 In Frage kommt folgendes Kirchenlexikon:

Brézillac, Jean-François: Dictionnaire ecclésiastique et canonique portatif, ou Abrégé méthodique de toutes les connoissances nécessaires aux ministres de l'église... par une société de religieux et de jurisconsultes. -- Paris : Dehansy, 1765 -- 2 vol. in-8 ̊

35 Sappho

"Sappho, altgriechische Dichterin (627 bis 570 v. Chr.), gebürtig aus Eresus an der Westküste von Lesbos, soll aber später, von Neidern wegen ihres Dichterruhmes angefochten, in Sizilien gelebt haben. Die Sage weiß von ihr zu berichten, dass sie in unerwiderter Liebe zu Phaon sich von dem leukadischen Felsen herabgestürzt und so ihr Leben beendet hatte. Sicher ist, dass Alcäus mit ihr in einem Liebesverhältnis gestanden ist. Ihr inniges Verhältnis zu ihren Freundinnen und Schülerinnen wurde wohl aus Neid dazu missbraucht, ihr unnatürliche Ausschweifungen in der Liebe vorzuwerfen. Sie ist daher als das Prototyp der weiblichen homosexuellen Liebe angesehen, die nach ihr auch sapphische oder lesbische Liebe genannt wird. Ihre Gedichte sind in neun Büchern gesammelt. Das berühmteste ist der Hymnus auf Aphrodite. Auch der Stoff der übrigen Gedichte ist ausschließlich die Liebe, doch sind sie von einer gewissen sinnlichen Frische umweht und von einer Glut des Gefühles durchdrungen, die beides nur dem lesbischen Weib, das die engen Schranken hellenisch-häuslicher Weiblichkeit überschritten hat, zukommt "

[Quelle: Bilderlexikon der Erotik : Universallexikon der Sittengeschichte und Sexualwissenschaft / Institut für Sexualforschung. -- 
Wien, 1928-1932. -- CD- ROM-Ausgabe: Berlin : Directmedia, 1999. -- (Digitale Bibliothek ; 19). -- ISBN 3932544242. -- S. 3836. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie diese CD-ROM  bei amazon.de bestellen}]

36 Lesbos

"Lesbos, griechische Insel, die als ältester Sitz der weibweiblichen Liebe galt, die danach lesbische Liebe benannt wurde. Lukianos schreibt im 5. Hetärengespräch: »Man sagt, dass die Weiber auf Lesbos solche Tribaden sind, die es verschmähen, von Männern umarmt zu werden, dagegen selber die Weiber genießen wie Männer.« Mytilene auf Lesbos war übrigens eine wegen ihrer schwelgerischen Lebensweise und eleganten Kurtisanen sehr gerne aufgesuchte Fremdenstadt. Lesbos ist wegen dieser Beziehung zur Erotik daher auch vielfach als apokrypher Druckort von erotischen Werken sehr beliebt."

[Quelle: Bilderlexikon der Erotik : Universallexikon der Sittengeschichte und Sexualwissenschaft / Institut für Sexualforschung. -- 
Wien, 1928-1932. -- CD- ROM-Ausgabe: Berlin : Directmedia, 1999. -- (Digitale Bibliothek ; 19). -- ISBN 3932544242. -- S. 1575. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie diese CD-ROM  bei amazon.de bestellen}]

37 Tribade

Truibade, Tribadie (griech., von tribein reiben): schon im antiken Griechenland hauptsächlich gebrauchte Bezeichnung für gleichgeschlechtlichen Umgang zwischen zwei Frauen

38 die Bezeichnung Hexen-Breughel ist nicht üblich, wohl aber Höllen-Breughel für Pieter Brueghel den Jüngeren (ca. 1564 - 1637)

39 lieu d'aisance: Toilette

40 exkludiert: ausgeschlossen

41 Nonchalance: Unbekümmertheit

42 Malfikanten: Übeltäter

43 Interstitium (lateinisch): Zwischenzeit

44 Erbsünde

"Erbsünde (Peccatum s. Vitium originis, Peccatum originale), ein wesentliches Stück sowohl der katholischen als auch besonders der protestantischen Dogmatik. In der alten Kirche liefen über 300 Jahre lang bezüglich des zu erklärenden Tatbestandes der allgemeinen Sündhaftigkeit zwei im Prinzip entgegengesetzte Auffassungsweisen friedlich nebeneinander her. Die morgenländischen und griechischen Kirchenväter betonten, unter dem Einfluss einer philosophischen Ethik stehend, durchaus das Moment der Freiwilligkeit, Selbsttätigkeit u. Selbstverantwortlichkeit: der Mensch erzeugt vermöge seiner sinnlichen Neigungen die Sünde selbst, jeder eigentlich wieder neu, und jeder sündigt lediglich auf seine Rechnung. Zugeständnisse an den Begriff der Erbsünde werden hier und da nur zugunsten der biblischen Sage vom Sündenfall gemacht. Dagegen nahm das dogmatische Denken des Abendlandes von letzterer seinen Ausgangspunkt, und Augustinus (s. d. 1) schritt endlich dazu vor, das Sündigen in erster Linie als Naturnotwendigkeit zu fassen, verschuldet und vererbt von Adam her. Im pelagianischen Streit siegte die letztere Anschauung und wurde namentlich die geschlechtliche Lust als das Fortpflanzungsmittel der Erbsünde dargestellt. Gleichwohl hat sich nicht nur in der griechischen Kirche eine mildere Ansicht in Geltung erhalten, wonach bloß eine gewisse Schwäche des menschlichen Willens und das Todeslos des Leibes im naturnotwendigen Gefolge des Sündenfalls liegen, sondern auch die katholische Kirche selbst huldigte schon in der scholastischen Theorie, noch mehr aber in der Praxis einer dem Pelagius näher als dem Augustinus kommenden Auffassungsweise (Semipelagianismus), und vollends die moderne jesuitische Dogmatik hat die Erbsünde so gut wie ganz auf den bloß negativen Begriff der Entziehung eines übernatürlichen Gnadengeschenks, in dessen Besitz Adam gewesen sei, reduziert. Dagegen haben Luther und Calvin aus demselben Grunde, dem die katholische Kirche Raum gab, indem sie den Begriff der Erbsünde abschwächte, ihn in seiner ganzen augustinischen Strenge festgehalten: weil unter Voraussetzung totaler Verderbnis des natürlichen Menschen eine verdienstliche Mitwirkung desselben bei seiner Bekehrung ausgeschlossen erscheint. Nur Zwingli machte aus der Erbsünde, die nach den reformatorischen Bekenntnissen volle Schuld und Verdammnis aller Ungetauften begründet, eine bloße Erbkrankheit, wie auch die Sozinianer, Arminianer und die neuern Dogmatiker den Begriff der Erbsünde meist in den des Erbübels umsetzten. Doch hat selbst die orthodox-lutherische Dogmatik den Satz des Flacius, dass durch den Sündenfall die Erbsünde zur Substanz des Menschen geworden sei, als manichäische Übertreibung verworfen."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

45 Barchent: grobfadiger und linksseitig gerauhter Baumwollenstoff, einfarbig und gestreift, auch bedruckt vorkommend.

46 Schirting (engl. shirting, von shirt, »Hemd«): Hemdenkattun aus Baumwollengarn der Feinheitsnummern 12-40, mäßig dicht gewebt

47  Musselin (benannt nach der Stadt Mosul am Tigris, die im Mittelalter durch Fabrikation seidener Tücher berühmt war, auch Nesseltuch): ostindisches, jetzt in Europa dargestelltes, seines, locker gewebtes, halbdurchsichtiges baumwollenes Gewebe, kommt glatt, gestreift, durchbrochen, geblümt und bedruckt vor und zeichnet sich durch einen zarten Flaum aus, den der wenig gedrehte Faden erzeugt.

48  Tüll: Stoff, bei dem seine, untereinander gut gebundene Fäden regelmäßige Zellen bilden, kommt glatt und einfach, auch gestreift, gemustert, in Seide broschiert, auch mit bunten Blumen gestickt vor.

49 Repriment: Tadel, Strafpredigt

50 inhibieren: Einhalt tun

51 pikiert: gereizt, empfindlich

52 impetuose: ungestüme

53 actor rerum: treibende Person

54 Inkubus

"Incubus (Obenauflieger, Ephialtes, Hyphialtes, Cauchemar, Aufhucker), Bezeichnung für einen Dämon oder Teufel, der einer Hexe als Beischläfer dient. Das Gegenstück dazu ist der Succubus (Druntenlieger), der in Gestalt und Art eines Weibes mit einem Manne koitiert. An sich hat ein Dämon nach der kirchlichen Lehre die Möglichkeit, beides zu sein, aber gemeinhin bevorzugt er die Spezialisierung. Thomas von Aquino hat sich als erster christlicher Gelehrter genauer mit dem flüchtig schon in der Antike angeschlagenen Incuben-Thema beschäftigt und dabei den Satz aufgestellt, dass ein Teufel zwar zeugen könne, aber nicht über eigenen Samen verfüge, sondern einem Manne bei Ausübung des Geschlechtsaktes den Samen entwenden müsse. Der Hexenhammer bestätigt diese Weisheit und erläutert den Vorgang der Hexenbefruchtung dahin, dass sich zunächst ein Succubus den Samen durch Vollzug des Coitus mit einem Manne verschaffen und ihn einem Incubus-Kollegen übergeben müsse, der nun vermittelst desselben den Akt mit der Hexe ausübt."

[Quelle: Bilderlexikon der Erotik : Universallexikon der Sittengeschichte und Sexualwissenschaft / Institut für Sexualforschung. -- 
Wien, 1928-1932. -- CD- ROM-Ausgabe: Berlin : Directmedia, 1999. -- (Digitale Bibliothek ; 19). -- ISBN 3932544242. -- S. 2396. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie diese CD-ROM  bei amazon.de bestellen}]

55 Zum ganzen Besessenheitswahn -- auch heute noch gibt es in der katholischen Kirche Exorzismen! -- grundlegend ist die Bulle von Papst Innozenz VIII. (1432-1492, Papst 1484-1492) vom 5. Dez. 1484

" Die Bulle »Summis desiderantes affectibus« vom 5. Dez. 14841

Inhalt der apostolischen Bulle gegen die Ketzerei der Hexen, mit der Approbation und Unterschrift der Doktoren der hohen Universität zu Köln für den nachstehenden Traktat. Sie beginnt in Gottes Namen

»Bischof Innocentius Knecht der Knechte Gottes, zur künftigen Beherzigung dieser Sache. In unserem sehnlichsten Wunsche - wie es ja die zur Ausübung des Hirtenamtes gehörende Sorgfalt erfordert , dass der christliche Glaube vor allem in unseren Zeiten überall vermehrt werden und blühen und jegliche ketzerische Verworfenheit aus dem Lande der Gläubigen weit [über die Grenzen] hinaus verjagt werde möge, verkünden wir gerne und gestatten wir von neuem die Maßnahmen, dank welcher dieser unser frommer Wunsch den ersehnten Erfolg zeitigen möge. Nachdem alle Irrtümer dank der Ausübung unseres Amtes wie durch die Hacke eines umsichtigen Arbeiters gänzlich ausgerottet worden sind, soll der Eifer und die Ehrerbietung diesem Glauben gegenüber sich den Herzen der Gläubigen noch tiefer einprägen.

Jüngst ist uns nicht ohne außerordentliche Betrübnis zu Gehör gelangt, dass in vielen Gegenden Oberdeutschlands8 und ebenfalls in den Kirchenprovinzen, Städten, Ländern, Orten und Diözesen von Mainz, Köln, Trier, Salzburg und Bremen ziemlich viele Personen beiderlei Geschlechts, ihr eigenes [Seelen]heil missachtend und vom christlichen Glauben abweichend, mit Inkubus- und Sukkubus-Dämonen Unzucht treiben und durch ihre Zaubersprüche, [Zauber]gesänge und Beschwörungen und durch andere gottlose, abergläubische und wahrsagerische Frevel, Verbrechen und Vergehen die Geburten der Frauen und die Brut der Tiere, die Feldfrüchte, Weintrauben, Baumfrüchte, und noch dazu Männer, Frauen, Lasttiere, Kleinvieh, Haustiere sowie verschiedene andere Tiere, auch die Weinberge, Obstgärten, Wiesen, Weiden, Getreide und andere Früchte der Erde verderben, ersticken und zugrunde richten. Auch bringen sie es fertig, Männer, Frauen, Zugtiere, Lasttiere, Kleinvieh, Haustiere und [sonstige] Tiere mit furchtbaren sowohl innerlichen wie äußerlichen Schmerzen und Plagen heimzusuchen und zu quälen, ferner Männer an der Zeugung, Frauen an der Empfängnis, Männer bei den Ehefrauen und Frauen bei den Männern an den ehelichen Pflichten zu hindern. Überdies scheuen sie sich nicht, den Glauben, den sie durch den Empfang der heiligen Taufe angenommen haben, mit gotteslästerlichem Reden zu verleugnen und zahlreiche andere Ruchlosigkeiten, Ausschreitungen und Verbrechen, auf Anstiftung des Feindes des Menschengeschlechtes [des Teufels], zu begehen und zum Verderben ihrer Seele, zur Beleidigung der göttlichen Majestät wie auch zum schädlichen Beispiel und Ärgernis vieler Menschen zu vollbringen.

Und das, obwohl die geliebten Söhne Henrici Institoris in den zuvor genannten Teilen Oberdeutschlands, in welche auch Kirchenprovinzen, Städte, Länder, Diözesen und andere solche Örtlichkeiten einbezogen sind, wie auch Jacobus Sprenger aus dem Orden der Predigerbrüder für gewisse Landstriche längs des Rheins, die als Professoren der Theologie durch apostolische Briefe zu Inquisitoren der ketzerischen Verworfenheit berufen worden waren und [dies] immer noch sind. Jedoch scheuen in jenen Gegenden etliche Kleriker und Laien, die mehr verstehen wollen als nötig ist, nicht davor zurück, hartnäckig zu versichern, dass in diesen Bestallungsbriefen die genannten Kirchenprovinzen, Städte, Diözesen, Länder und andere Orte und die dortigen Personen wie auch Ausschreitungen nicht namentlich und speziell bestimmt worden sind, dass jene ganz und gar nicht in diesen Landstrichen vorkommen und dass es einmal deswegen den genannten Inquisitoren nicht erlaubt sei, in den erwähnten Provinzen, Städten, Diözesen, Ländern und Gegenden ihr Amt auszuüben, und dann, dass sie zur Bestrafung, Inhaftierung und Zurechtweisung dieser Personen wegen der vorgenannten Ausschreitungen und Verbrechen nicht zugelassen werden müssen. Deswegen bleiben in den oben genannten Kirchenprovinzen, Städten, Ländern und Orten derartige Ausschreitungen und Verbrechen, nicht ohne den offenkundigen Verlust solcher Seelen und zum Schaden für deren ewiges Heil, unbestraft.

Daher wollen wir jegliche Hindernisse, durch welche die Amtshandlungen dieser Inquisitoren irgendwie behindert werden könnten, aus dem Weg räumen. Und damit nicht die Pest der ketzerischen Verworfenheit und anderer derartiger Ausschreitungen ihr Gift zum Verderben Unschuldiger verbreitet, [wollen wir] durch die geeigneten Mittel, wie es unserem Amte zukommt, Vorkehrung treffen wobei uns vor allem der Glaubenseifer antreibt , damit es nicht dazu kommt, dass den vorgenannten Kirchenprovinzen, Städten, Diözesen, Ländern und Orten in diesen Teilen Oberdeutschlands das nötige Inquisitorenamt fehlt. Und wir bestimmen, dass die Ausübung des Inquisitorenamtes jenen Inquisitoren dort erlaubt sei. Auch setzen wir hierdurch kraft apostolischer Vollmacht fest, dass sie zur Zurechtweisung, Inhaftierung und Bestrafung derselben Personen wegen der genannten Ausschreitungen und Verbrechen allemal und unter allen Umständen Zugang erhalten müssen, wie wenn in den zuvor erwähnten Briefen die Kirchenprovinzen, Städte, Bistümer, Länder und Orte wie auch Personen und Ausschreitungen namentlich und eigens ausgesprochen worden wären. Und indem wir um größerer Sorgfalt willen die zuvor erwähnten Briefe und die Bestallung auf diese Kirchenprovinzen, Städte, Diözesen, Länder und Orte wie auch auf derlei Personen und Verbrechen erstrecken, erlauben wir den genannten Inquisitoren, dass sie gemeinsam oder ein jeder für sich unter Zuziehung des geliebten Sohnes Johann Gremper, eines Klerikers in der Diözese Konstanz und jetzt Magister artium, oder eines anderen beliebigen öffentlichen Notars, der von ihnen beiden oder einem von ihnen auf Zeit beauftragt worden ist, in den genannten Kirchenprovinzen, Städten, Diözesen, Ländern und Orten gegen alle Personen, welchen Standes und Ranges auch immer, das Inquisitorenamt in dieser Weise auszuüben und die Personen, die sie der erwähnten Vergehen schuldig finden, zurechtzuweisen, zu inhaftieren [und] an Leib und Vermögen zu bestrafen, wie sie es verdienen.

Auch gewähren wir ihnen von neuem mit derselben Autorität die volle und freie Erlaubnis, in den einzelnen Pfarrkirchen dieser Provinzen dem gläubigen Volk das Wort Gottes, so oft es ihnen dienlich ist und gut dünkt, zu verkünden und zu predigen und alles und jedes, was dazu nützlich und geboten ist, zu tun.

Nichtsdestoweniger tragen wir unserem ehrwürdigen Bruder, dem Bischof von Straßburg, durch ein apostolisches Schreiben auf, persönlich oder durch einen anderen oder etliche andere, wo, wann und wie oft er es für günstig erachtet und wann immer er seitens der [beiden] Inquisitoren oder eines von ihnen in [kirchen]rechtlich gültiger Form dazu aufgefordert wird, öffentlich zu verkünden und zu verbieten, dass sie von irgend jemandem hierüber entgegen dem Inhalt der vorher erwähnten Briefe und des jetzigen, mit welcher Autorität auch immer, beeinträchtigt und sonst irgendwie behindert werden. Diejenigen aber, die belästigen, behindern, irgendwie Einspruch erheben und sich auflehnen, soll er, welcher Würde, welchen Standes, Ranges, welcher Vornehmheit, adligen Geburt und welcher hohen Stellung oder Herkunft sie auch sein mögen und mit welchen Privilegien der Exemtion sie auch versehen sein mögen, durch Urteile, Ahndungen und Strafen der Exkommunikation, der Suspension und des Interdikts, wie auch durch andere furchterregende Mittel, über die er selbst befinden mag, unter Hintanstellung jeder Appellation unterdrücken. Er soll auch mit unserer Autorität durch von ihm zu leitende Prozessverfahren, so oft es nötig ist, die Strafen und Bußen wieder und wieder verschärfen, indem er nötigenfalls die Hilfe des weltlichen Armes anruft.

[Die Bulle soll Gültigkeit besitzen] Ungeachtet alles Früheren und aller entgegengesetzten apostolischen Rechtsbestimmungen und Verordnungen. Oder [ungeachtet,] wenn einigen zusammen oder einzelnen vom apostolischen Stuhl zugestanden worden ist, dass gegen sie kein Interdikt, keine Suspension oder Exkommunikation verhängt werden kann, sofern über die Befreiung nicht ausführliche und ausdrückliche Angabe gemacht wird. Desgleichen wenn eine andere allgemeine oder spezielle Befreiung durch den genannten Stuhl, welchen Inhalts auch immer, besteht, wodurch den jetzigen Bestimmungen nicht ausdrücklich und in Gänze etwas entgegengesetzt wird, was die Vollziehung dieser [hier vorliegenden] Gunstbezeugung verhindert oder wie auch immer verzögert. Und was von dem ganzen Inhalt dieser Nachlassung zu halten sei, findet Erwähnung in einem gesonderten apostolischen Schreiben.

Es soll also überhaupt keinem Menschen erlaubt sein, diese Urkunde unserer Bekanntgabe, Erweiterung, Bewilligung und [unseres] Mandates zu entkräften oder sich ihm leichtfertig entgegenzustellen. Wenn jemand dies zu unternehmen sich anmaßen würde, soll er wissen, dass er den Unwillen des allmächtigen Gottes und seiner seligen Apostel Petrus und Paulus auf sich ziehen wird.

Gegeben zu Rom zu St. Peter, im Jahr der Menschwerdung des Herrn 1484, am 5. Dezember, im ersten Jahr unseres Pontifikats.«

[Quelle: Hexen : Analysen, Quellen, Dokumente. -- Berlin : Directmedia, 2003. -- 1 CD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 93). -- ISBN 3-89853-193-7. -- Dort zahlreiche weitere Quellen!]

56 Exorzismus: Teufelsaustreibung.

"Exorzismus (griech.), »Beschwörung«, besonders Beschwörung und Austreibung böser Geister, Teufelsbannung. Aus Tertullian und Origenes erhellt, dass in der christlichen Kirche jahrhundertelang die Gabe, Teufel austreiben zu können, zu den Privilegien jedes Christen gerechnet wurde. Ja, es gab hierfür seit Mitte des 3. Jahrh. auch ein eignes Kirchenamt, das zu den vier ordines minores gerechnet ward und in der Fiktion der katholischen Kirche noch heute steht (s. Exorzist). Am bekanntesten wurde der Exorzismus bei der Taufe, wo er seinen Ursprung der Voraussetzung verdankt, dass der bisher von den Täuflingen geübte Götzendienst Teufelswerk sei. Zunächst entstand hieraus nur die Renuntiatio oder Abrenuntiatio diaboli, d. h. die Teufelsentsagung oder die feierliche Verzichtleistung des Täuflings auf alles Heidnische; bald aber kam als Ergänzung derselben die Beschwörung des Teufels durch den Tausenden hinzu, welch letztere man mit den Dämonenaustreibungen im Neuen Testament rechtfertigte. Mit dem 4. Jahrh. kam der Exorzismus auch bei der Kindertaufe in Gebrauch, indem der Priester oder der ihm assistierende Exorzist den unsaubern Geist erst aus dem Täufling aushauchte (exsufflatio) und ihm alsdann den Heiligen Geist symbolisch einhauchte (insufflatio), wie dies noch jetzt die Praxis der katholischen Kirche ist. Die dabei gebräuchlichen Formeln waren und sind teilweise noch jetzt: »Fahre aus, du unreiner Geist, und gib Raum dem Heiligen Geist!« oder: »Ich beschwöre dich bei dem Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, dass du ausfahrest und weichest von diesem Diener Jesu Christi!« Die schweizerischen Reformatoren verwarfen den Exorzismus; die Lutheraner dagegen verteidigten ihn mit großer Hartnäckigkeit, obwohl Luther ihn nicht gerade für unerlässlich erklärt hatte, und selbst streng orthodoxe Theologen in ihm lediglich eine nützliche Mahnung an die geistige Herrschaft des Satans und an die heilbringende Wirksamkeit der Taufe sahen. Nachdem der Exorzismus im 18. Jahrh. fast ganz außer Gebrauch gekommen war, wurde die Erinnerung an ihn durch die Berliner Hof- und Domagende (1822) wieder geweckt, und neuerdings gehört er wieder besonders im Norden und Osten Deutschlands zur offiziellen Religion und kirchlichen Korrektheit, während Privatexorzismen zum öffentlichen Unfug gerechnet werden."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

Für den Exorzismus gelten die Riten des Rituale Romanum:

57 haranguieren (französisch): eine Ansprache an die Menge halten

58 Refektorium: Speisesaal

59 Ciborium: Gefäß das die konsekrierten Hostien enthält, die man z.B. für Hausbesuche bei Kranken benötigt

60 Koperator: Hilfsgeistlicher (anderswo: Vikar, Unterpfarrer)

61 avertieren: benachrichtigen

61 Bodinus

Bodin, Jean <1530-1596>: Jo. Bodini,... de Magorum daemonomania seu detestando lamiarum ac magorum cum Satana commercio, libri IV... Accessit ejusdem opinionum Joan. Vieri confutatio, non minus docta quam pia. -- Francofurti : ex officina typographica N. Bassaei, 1590. -- In-8 ̊ , 798 p.

"Bodin (spr. -däng), Jean, franz. Publizist, geb. um 1530 in Angers, gest. 1596 an der Pest in Laon, debütierte in Toulouse als Rechtslehrer mit glänzendem Erfolg, ging 1551 nach Paris und zeichnete sich hier als Schriftsteller (weniger als Advokat am Parlament) so sehr aus, dass er sich das Vertrauen des Königs Karl IX. in hohem Grad erwarb. Trotzdem entging er 1572 nur mit Mühe dem Gemetzel der Bartholomäusnacht, weil er sich sowohl in Schriften als in mündlichen Äußerungen den Reformierten günstig gezeigt und die fanatische Wut der Katholiken gegen dieselben getadelt hatte. Bei Heinrich III. stand B. bald nachher wieder in höchstem Ansehen und spielte in den Angelegenheiten der gegen den französischen Hof ausgestandenen Ligue als Rat des Gerichtshofs zu Laon besonders auf der allgemeinen Ständeversammlung zu Blois eine wichtige Rolle. B. bewirkte, dass 1577 den Reformierten durch einen Waffenstillstand Friede und Gewissensfreiheit gewährt wurden, zog sich aber dadurch den Hass der Fanatiker zu. In dieser Zeit schrieb er das Aufsehen erregende Werk: »De la république« (Par. 1577; lat. von ihm selbst, das. 1586), worin er eine Kritik der verschiedenen Staatsverfassungen aufstellte. Merkwürdig genug legte aber dieser klare und tiefe Denker in demselben Werk und mehr noch in seiner »Démonomanie« (Par. 1581) eine auffallende Hinneigung zur Annahme einer allgebietenden Gewalt des Teufels und der Dämonen, zum Glauben an Hexerei und an den Einfluss der Gestirne auf die menschlichen Schicksale an den Tag. Der nach dem Tode des Herzogs von Ateneon 1584 wieder ausgebrochene Bürgerkrieg trieb B. infolge der meuchlerischen Hinrichtung des Herzogs von Guise durch Heinrich III. zur Partei der Ligue. Da er aber auf die Absichten derselben nicht unbedingt eingehen wollte, wurde er bald von ihr ausgestoßen und als Ketzer angeklagt. Später unterwarf er sich Heinrich IV. Bemerkenswert ist seine erst in neuerer Zeit vollständig im Druck erschienene Schrift: »Heptaplomeres (oder Colloquium Heptaplomeres) de rerum sublimium arcanis abditis« (hrsg. von L. Noack, Schwerin 1857; vorher nur im Auszug von Guhrauer, Berl. 1841), ein unter sieben Disputanten verteilter Dialog über die bestehenden Religionsparteien, worin er seinen Standpunkt über allen Religionsparteien nahm und zeigte, dass jede auf Anerkennung ein Recht habe, sofern sie nicht gegen Staat, Sittlichkeit und Gottesfurcht streite. Von geringerer Bedeutung sind die übrigen Schriften Bodins: »Methodus ad facilem historiarum cognitionem« (Par. 1566); »Universae naturae theatrum« (Lyon 1596; franz., das. 1597); »Paradoxes, doctes et excellents discours de la vertu« (Par. 1604)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

62 Stigmata: Male

63 mamma (lateinisch): Brust

64 mons Veneris: Venushügel, Schamhügel

65 labia majora: große (äußere) Schamlippen

66 labia minora: kleine (innere) Schamlippen

67 hymen: Jungfernhäutchen

68 introitus vaginae: Scheideneingang

69 uterus. gebärmutter

70 suculent: saftvoll, saftreich, kräftig

71 membrum virile: männliches Glied

72 ligamentum: Band

73 urethra: Harnröhre

74 vesica urinalis: Harnblase

75 Testikel: Hoden

76 Abdomen: Unterbauch

77 ejaculatio seminalis: Samenerguss


Zurück zu Religionskritik