Christus in psycho-pathologischer Beleuchtung (1898)

von

Oskar Panizza


Herausgegeben von Alois Payer (payer@payer.de)


Zitierweise / cite as:

Panizza, Oskar <1853 - 1921 >: Christus in psycho-pathologischer Beleuchtung.  -- 1898. -- Fassung vom 2005-01-16. -- URL:  http://www.payer.de/religionskritik/panizza09.htm 

Erstmals publiziert: 2005-01-14

Überarbeitungen: 2005-01-16 [Ergänzungen]

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Dieser Text ist Teil der Abteilung Religionskritik  von Tüpfli's Global Village Library


Erstmals erschienen in:

 Zürcher Diskußionen / hrsg. von Oskar Panizza. -- Zürich : Verlag der Zürcher Diskußionen. -- 1. Jhrg. (1898/1898). -- Nr. 5.

Da Panizzas eigenwillige Orthographie in keinerlei Erkenntnisfortschritt bringt, habe ich sie — unter Wahrung des Lautbestandes — durch die moderne Orthographie ersetzt.


Zu Oskar Panizza siehe die Einleitung zu:

Panizza, Oskar <1853 - 1921 >: Die Wallfahrt nach Andechs.  -- 1894. -- Fassung vom 2005-01-07. -- URL:  http://www.payer.de/religionskritik/panizza01.htm 


Christus in psycho-pathologischer Beleuchtung

Welcher Leute Kind er gewesen, scheint schwer zu ermitteln. Die Mutter war jedenfalls eine ganz einfache Frau, der das exaltierte Wesen ihres Sohnes, wie das sich gemeiniglich findet, höchst zuwider war, und die Alles tat, ihn einem sog. bürgerlichen Lebensberuf zuzuweisen.

Vom Vater wissen wir gar nichts. Und auch die lächerlichen und obszönen Legenden, wie sie sich, besonders in romanischen Ländern, an den Saint Joseph1 anknüpften, müssen hier, weil nichts zur Sache bringend, übergangen werden. In die gleiche Rubrik gehören natürlich auch die teils rationalistischen, teils spirituellem Bedürfnis entsprungenen Annahme, ein römischer Kriegsknecht, oder der »heilige Geist«2, sei sein Vater gewesen. Den heiligen Geist hatte er im Leib, aber in ganz anderer Weise, als die Drei-Einigkeits-Konstrukteure im 4ten und 5ten Jahrh. meinten, die sich den heiligen Geist als eine Person, als Taube, oder wie später der Steinmetz an der Würzburger Marienkirche, der ihn sich als Klistier-Spritze dachte.

Der psychiatrische Terminus, unter dem sich Christus uns darbietet, ist die paranoia a; die »primäre Verrücktheit«3, oder, wie es Magnan4 nennt, dégénération héréditaire ["erbliche Entartung"]. Langsam steigt das Krankheitsbild an. Früh zeigen sich exzentrische, nervöse, originäre Züge und Perversitäten. Eine starke Innerlichkeit lässt die eigene Persönlichkeit als über die Maßen wichtig, die Welt als voller Beziehungen auf das eigene Ich, erscheinen. Bald kommen Halluzinationen, doch mehr innerlicher Art, als sog. »innere Stimmen«, die das längst gehegte und gepflegte innere Stimmungsbild auch äußerlich manifestieren; so die unumgänglich notwendige äußerliche Gewissheit von der Realität der inzwischen übermäßig angewachsenen Persönlichkeit und ihrer Annexa in der Außenwelt feststellend. Inhaltlich füllen sich diese »Stimmen«, die bald als Thesen und Sentenzen sich an das Publikum wenden werden, mit dem jeweiligen povren5 Bildungsgehalt, den die Zeit an die Hand gibt. Je weniger solche Leute, solche Genies, wie Richard Wagner einmal treffend bemerkt, an Schulweisheit aufgenommen haben, je besser ist es, um so prachtvoller entwickelt sich der pathologische Keim, der bestimmt ist, ganze Völkermaßen zu vergiften und geistig umzugestalten. Gegenüber der Originärität der Anlage ist ja das bisschen orthodoxes Wesen oder transzendentales Hoffen, welches ein Volk gerade zu solcher Zeit bewegt, so unendlich unwichtig. Es ist wie bei der Seidenraupe, die ihren Faden am nächsten Weißdorn oder tiefer liegenden Gestrüpp anheftet, um das eigene glitzernde Gespinst zu beginnen. Dieses Gespinst ist die Hauptsache, das Gestrüpp nebensächlich.

a Wäre es uns möglich, Christus mit rein-psychiatrischen Augen zu beobachten, und könnten wir von der jammervollen Verzuckerungs- und Versüßungs-Arbeit absehen, die die Evangelisten in Anwendung des damals üblichen griechischen Biografen-Stils - etwa von der Gattung des Apollonius von Tyana6 - über ihn gebracht haben, wir würden ihn wahrscheinlich als »Mattoïden«7 erkennen, mit welch' nicht ganz glücklichem Ausdruck Lombroso8 jene Unterabteilung der Paranoïa (Verrücktheit) bezeichnet hat, aus der uns Menschen mit intakter, ja geschärfter Logik und Intellekt, ebenso intaktem Sensorium, tiefem, oft eigenartig entwickeltem Gemütsleben, daneben nun aber mit einer geradezu kolossal entwickelten Persönlichkeits- Empfindung entgegentreten, also Leute, wie wir sie heute etwa in Guttzeit9, in Pudor10, besonders aber in dem bekanten Maler Diefenbach11 wiedererkennen, und denen, da sie die Grenze von normaler Nüchternheit und gänzlichem Irrsinn innehalten, also sozusagen das denkbar größte Maß geistiger Originalität und genialer Umbiegung des Lebens in Freiheit vorführen, meist ein tiefgehender Einfluss auf ihre Zeitgenossen gesichert bleibt.

Es ist sonach ziemlich unwichtig, dass Jesus gerade an den Messiasglauben12 seiner Zeit anknüpfte und sich mit den alten, vertrackten Puppen eines unsäglich harten und egoistisch gestalteten, judaischen Glaubenssystems herumschlagen musste. Mit der Sicherheit des Ingeniums und dem unfehlbaren Instinkt des Paranoïkers substituierte er sich selbst als der Kommende, als der Messias, ahnungslos der Krassheit dieser Anmaßung für ein in seinen orthodoxen Anschauungen hart und steril gewordenes Volk wie die damaligen Juden. Und was er für alte Götterbilder damals zerschlug und von den Postamenten stürzte, kam ja noch viel weniger in Betracht.

Denn seine neuen Versinnbildlichungen und Figuren waren ja unendlich viel schöner und zivilisierter. Und »sein Vater im Himmel« unterschied sich von dem alten, cholerischen, jüdischen »Jehova«, wie ein Tedeum13 von der bluttriefenden Stätte eines Menschenopfers.

Wir haben hier eines jener psychischen Ur-Phänomene vor uns, wie sie zwar nicht selten sind, aber doch selten in so befruchtender Weise in die Geistesgeschichte von Völkern eingreifen und deren Gemütslage bestimmen. Dieses Identifizieren der eignen, heftigen und nicht zu bewältigenden Gefühle mit »Gott«, oder irgend einem hochklingenden Symbol hier, wenn den Evangelien zu glauben, »der liebe Vater im Himmel« — ist das Urbild eines geistigen Prozesses, die psychische Zwangslage eines nach Gründe suchenden, innerlich heftig bewegten Menschen, der Satz des zureichenden Grundes14 nach Innen gekehrt und antropomorphisiert, wie wir ihn heute fast mit experimenteller Sicherheit erweisen können. Wir finden das Phänomen bei allen Religionsstiftern, bei Muhammed, bei Buddha, bei Swedenborg15, bei Fox16, — wir finden es bei Allen, die plötzlich in überzeugender Weise ganze Völkerscharen an ihre Befehle geheftet: beim heil. Franziskus, bei der Jungfrau von Orleans, bei Louise Lateau17; wir finden es in den Kreuzzügen, bei den sektiererischen, kommunistischen Auswanderern nach Amerika im vorigen Jahrhundert, — wir finden es bei den ketzerischen Begharden18 im 14. und 15. Jhrh., und bei der ganzen Gruppe, die die religiösen Umwälzungen im 16. Jhrh. hervorgebracht haben, bei Nikolaus Storch19, bei Thomas Münzer20, bei Hans Böhm21, bei Luther, bei den Wiedertäufern u. a. — und wir finden es schließlich bei den visionären Epileptikern22 in den Irrenanstalten, deren »Himmels-Erscheinungen« und »Offenbarungen« an Kraft und Schönheit in Nichts den gleichen psychischen Leistungen der christlichen Heiligen und Büßer in den Klöstern nachstehen. Dass also Christus sich auf »seinen lieben Vater im Himmel« beruft, ist bei aller prächtigen, künstlerischen und poetischen Wirkung nur ein klinischer Spezialfall in der Weltgeschichte für ein psychologisch feststehendes und gesetzmäßig eintretendes Ereignis in unserer Psyche. —

Wie er aber dann das Resultat seines jünglinghaften Empfindens und Denkens, die Frucht Jahre-langer Isoliertheit und melancholischer Anwandlungen, die Stimmung einer ganz reinen, von sinnlichen Regungen freien, fast homosexual gearteten, dabei glücklich und heiterveranlagten Seele in seinen lehrhaften Gesängen und Preisungen einer menschenumfassenden, selbstlosen Nächstenliebe aushauchte und ausströmte, das war von einer Innigkeit, Süßigkeit und von einer Neuheit, dass man glaubte, die Nachtigall schlagen zu hören; hier lag der Punkt in seiner Psyche, wo er nicht zu überwältigen war; hier war die Note angegeben, mit der er prädestinierter Sieger war; jedem Feind gegenüber; hieße er Staat oder kirchliche Orthodoxie; denn Selbstlosigkeit einer Sache ist die unbedingteste Garantie für den Sieg der Sache selbst; und der Versuch, den Träger der Sache noch zum Märtyrer zu machen, beschleunigt und verstärkt nur noch den Sieg. Hier zeigt sich aber auch die gänzliche Unabhängigkeit und Intaktheit des Gefühlslebens von allen logischen Fehlern und funktionellen Verkehrtheiten des Verstandes, eines Verstandes, der längst bei Jesus, wie sein schroffes Sich-Gegenüberstellen gegen die Staatsraison zeigt, dem Bereiche dessen, was wir heute empirisch »Geisteskrankheit« nennen, verfallen war: die Primordialität des Gefühlslebens vor dem Verstandesleben. Und ähnlich, wie wir oft bei sog. moral insanity das Anwachsen des Verstandes zu einer glänzenden Höhe beobachten können, sehen wir hier bei ausgesprochener Eingeengtheit des Verstandes die Brunnen und Schleusen eines überwältigenden Gefühlslebens sich öffnen.

Nur ein einzigesmal hat sich später in der Weltgeschichte die Ansteckung der Maßen von dem Gefühlsinhalt eines Einzelnen nocheinmal in dieser Weise gezeigt: bei Franz von Assisi23; freilich in Form einer Wiederholung, und in flacherer Weise, und ohne die verstärkende Hülfe des Märtyrertums. Doch der Kampf stand noch bevor.

Nachdem er Jahrelang in der Einsamkeit verharrt und dort — wie Luther, wie Mahomed, wie Savonarola24 — wie alle diese paranoïschen Geister, von einer fabelhaften geistigen Selbstsucht geplagten jungen Menschen — mit dem Teufel gerungen und alle Versuchungen abgeschlagen, und das System des Selbst-Wahns gegen alle Feinde der Logik und der raison sieghaft ausgebaut, und den Prozess der süßen Selbst-Vergottung glücklich zu Ende gebracht, tritt er hinaus, gegen alle Lappalien alltäglicher Zänkerei und Schelsucht gewappnet und im Besitz einer schneidig-satirischen Dialektier-Kunst, und fängt an, sich seinen Mitmenschen aufzuoktroyieren. Hier tritt er harmlos in den Tempel ein und mischt sich unter die Opponenten. Dort haranguiert25 er, als ein echter Agitator, wie ein zweiter Lassalle, wie ein zweiter Richard Wagner, die Menge, die diesem süßen, blutleeren Jüngling nicht widerstehen kann. Überall, wo gerade Gelegenheit ist, beim Fischfang, auf der Hochzeit, bei Leichenbegängnissen, an der Zöllner-Schranke, während der Sabbat-Ruhe greift er ein, knüpft an die kleinen Tages-Ereignisse an und wirft, wie Sokrates, den Harmlos-Dahin-wandelnden seine scharfen Antithesen in den Weg. Auch die tricks damaliger Wundertäter — die unvermeidliche Zugabe, um sich das air eines Übermenschen, eines Geistesgewaltigen, eines Zauberers zu geben — hat er sich alle zu eigen gemacht und beherrscht sie mit großer Bravur und Eleganz. Gar aber, wenn er eine glückliche corona26 junger Landmädchen, erschöpfter Arbeitsfrauen, gutmütiger Prostituierten und naiver Taglöhner um sich versammelt hat, und darf sie die ganze zauberische Wirkung seiner innersten Herzensregungen mit einem »Selig sind die Friedfertigen! Selig sind die Armen! Selig sind die reines Herzens sind!«27 spüren lassen, und nimmt von diesen geplagten Proletarier-Naturen die Angst und den Schimpf ihres Daseins, und öffnet ihnen den Himmel, der eigens für sie, mit Ausschluss der Reichen, bereitet ist — dann hat er sie Alle. Welcher Unterschied muss zwischen diesen rührenden Lauten eines Galiläischen Naturgefühls und dem harten, silbenmessenden Gezänk orthodoxer Tempelgelehrten für diese Zuhörer bestanden haben! Wie mussten sie sich beglückt, von diesem ätherischen jungen Menschen entzückt und begeistert fühlen! Haufenweise liefen sie ihm nach, wie später dem Pfeifer von Niklashausen21 am Ende des 15. Jhrh., wo immer er die süße Flöte seines Herzens ertönen ließ, schwuren hoch und heilig auf ihn, glaubten ihm alles, was er verlangte, seine Davidische Abkunft wie seine Gottes-Sohnschaft und sein zukünftiges kommunistisches Himmel-Reich, welches er auf Erden eröffnen werde — auf ein bisschen Mehr oder Weniger kam es da nicht mehr an — und bald konnte er die Provinz und das organisierte Landvolk gegen die protzige, schwelgende Hauptstadt im Sturm heranführen.

Dort war man allerdings aufmerksam geworden. Dies schien eine gefährliche Nummer. Ähnliche Geschichten kamen ja alle Tage vor. Bei der allgemeinen Unzufriedenheit, den wirklich niederträchtigen politischen Verhältnissen und der stumpfen Gleichgültigkeit gegen Alles, auch das Tollste, bei einem geknechteten, geistig unterdrückten Volk, kam es alle Augenblick vor, dass ein Verwegener oder Exaltierter den Straßenpöbel an sich zog, ihn hinausführte auf das steinige, sterile flache Land, dort haranguierte25 und durch Hunger schwächte, um dann die solchermaßen zur Aufnahme jeder Suggestion Bereiten und Halb-Wahnwitzig-Gewordenen im Sturm gegen die Stadt zu führen. Wiederholt war es geglückt, und das Proletariat hatte sich dann in den Besitz des Stadtregiments gesetzt. Meist aber avertierten die orthodoxen Theokraten, die hier ein politisches Scheinregiment führten, den römischen Landpfleger und baten um den »weltlichen Arm«. Römische Reiterei ward dann hinausgeschickt und die Entkräfteten und schlecht Bewaffneten einfach zusammengehauen.

Dass es sich hier bei Jesus vom Standpunkt der Staatsräson — und welchen anderen sollte es denn geben? — um einen Aufrührer ganz ähnlicher Art handelte, das war außer allem Zweifel. Aber die große Menge, um die es sich hier handelte, die zahlreichen Agitationsreisen, die er gemacht hatte, das Aufflackern der Empörung auf allen Seiten, in verschiedenen Provinzen, die lange Vorbereitungszeit — zwei Jahre —, die die Bewegung genommen hatte, gab der Regierung doch zu denken.
Man probierte zuerst, ihn von der schwachen Seite zu nehmen und ihn sanft zu entwaffnen, indem man sein — Gott wie ärmliches und offenbar verrücktes! — Lehrsystem widerlegte; und schickte ihm Pharisäer auf den Weg. Aber siehe da, die waren dem Jungen nicht gewachsen. Sein Lehrsystem und seine Dialektier- Kunst, das waren seine starke Seite, nicht seiner schwachen Seite. Und wie gab er ihnen hinaus! Ein echter Paranoïker, der, trotz der in seiner Psyche wuchernden grandiosen und krassen Wahnideen, seinen Intellekt zu einer scharfen, ja glänzenden Verteidigungswaffe umgeschmiedet hatte. Belzebub? Wie hat er ihnen den Vorwurf des Teufelsbündnisses hinausbezahlt und seine rührendreine Seele diesen geistigen Schmutzfinken entgegengehalten!

Was sollte man nun tun? Irrenhäuser gab es nicht. Die »kranke« Psyche wurde zudem theologisch konstruiert. Psychiater gab es noch weniger. Aber Staatsanwälte gab's. Die gibt es immer. So griff man denn zum Gotteslästerungsparagrafen. Das ist ja in solchen Fällen immer das Einfachste. Das Gouvernement sucht sich einen Paragrafen heraus, unter dem man den unangenehmen Menschen definitiv losbekommt. Ist zufällig die Todesstrafe nicht eingeführt, dann wendet man juristisch die Sache so, dass wenigstens 15 Jahre Zuchthaus herauskommen. Inzwischen wird er geisteskrank oder die Disziplin bringt ihn um. So oder so! Auf dem Gericht ist man ja seiner Sache sicher. — Hier lag die Sache noch günstiger, weil auf Gotteslästerung — und hier war er zu überführen — die Todesstrafe stand. Dann war auch diese Bewegung niedergeschlagen, und der bürokratische Apparat hatte wie in so vielen früheren Fällen zur vollständigen Zufriedenheit funktioniert.

Aber der Wahnsinn machte in dem Kopfe unseres heldenmäßigen Jünglings reißendere Fortschritte, als die Herrn sich in Jerusalem träumen ließen. Als er sah, dass die psychische Ansteckung seines Gottes-Reiches auf Erden zu langsam vorwärts schreite und sich vertrödle, dass er aber die Volksmaße noch hinter sich habe, wagte er den coup und führte, wie Masaniello28, seine Anhänger zum Sturm. — Die Evangelisten haben in ihrer Jahrhunderte-langen Verzuckerungs-Arbeit diese Tat zu einem süßen Frühlings-Einzug mit Palmwedeln und weißgekleideten Mädchen gewandelt; als ob eine politische Herrschaft und eine römische Besatzungstruppe mit Palmwedeln fortgeweht werden könne! — Im ersten Ansturm warf er Alles nieder. Und faktisch bestand für einige Tage, für einige Wochen, seine Theokratie, wie später die Savonarola's in Florenz, zu Recht. — Dass er das prästierte, mit seinem kranken Hirn, muss die Bewunderung jedes Kenners, jedes Psychiaters hervorrufen. — Aber wie ist denn bei diesen halb intelligenten, halb impulsiven Naturen Alles oft wunderbar gemischt! Man denke doch an Knipperdollinck und seine Leute, die ein halb politisch-, halb religiös-erotisch-fantastisches Reich s. Z. in Münster29 mit der größten Ehrlichkeit und zugleich mit der durchtriebensten Schlauheit über Jahresfrist hinaus führten und prästierten! Oder an jenen Zwickauer Tuchmacher Nikolaus Storch19, der mit Halluzinationen beladen Jahrelang in Mitteldeutschland umherzog und überall die Geister auffegte! Es gibt eben Zeiten, da sind Halluzinanten nicht mit Gold aufzuwiegen, und sie, ihre weichen mit wunderbarer Gestaltungskraft begabten Naturen, die einzige Möglichkeit, die in ihres Herzens Härte und Schädels Dicke vollständig steril gewordenen Maßen mit neuem Geist zu erfüllen. Juristen möchten in solchen Fällen, wenn dieselben vor ihr Forum kommen, immer unterscheiden, was noch dem »freien Willen«, der Zurechnungsfähigkeit mit den normalen Hemmungen, und was der unwiderstehlichen Impulsivität — was sie »Krankheit« nennen — zukommt. Als ob man das scheiden könne! Einem Psychologen graut es vor solchem Verfahren. Was sind Halluzinationen30? Es sind autochthone Äußerungen der menschlichen Psyche, die uns mit den verborgensten Tiefen der menschlichen Seele bekant machen, der letzten Instanz, die wir als bewusste Wesen besitzen. Sind sie religiös gefärbt, dann sind sie unbesiegbar. Weil sie auf gleiche Tiefen und Urgründe bei den zuhörenden Maßen stoßen. Werden sie aufgenommen, dann sind sie »die Wahrheit«. Wie M. Jacobi31 schon richtig sagte: »Der Wahnsinn, wenn er epidemisch wird, heißt Vernunft.« — Die Halluzinationen und Visionen Mahomed's bilden die reale Grundlage für das islamitische Glaubenssystem. — Solche Leute nach der Regulatur juristischer Nominalismen behandeln wollen, heißt einen Riesen mit dem Lineal messen, heißt ein Kunstwerk nach dem Material abschätzen, aus dem es hergestellt ist, heißt etwa: dem Vorspiel zu »Lohengrin« mit einem physikalischen Lehrbuch über Akustik zu Leibe gehen wollen. — Verfasser erinnert sich noch lebhaft einer prächtigen Figur in der Münchener Kreis-Irrenanstalt, eines armen Feilenhauers B., dessen Schulranzen, wie begreiflich, mit den poversten5 Bildungsmitteln ausgestattet war. Er war, abgesehen von seinen paar Wahnideen, nach der intellektuellen Seite vollständig intakt. Seine räsonierende Kraft war frisch und klar. Nach der Gefühlsseite, nach der sensoriellen Seite, nach der Seite der Eingebungen und Ahnungen hatte er sich vollständig zur Christus-ähnlichen Figur mit jenen wunderbaren Allüren der Milde und der bestrickenden Sanftmut herangebildet. Jahre lang war er Landauf Landab gezogen, um sein ungeheures Gefühl seiner meskinen32 Umgebung, seiner eigenen Armut anzupassen. Und endlich ging's nicht mehr. Und jetzt stand er dort mit brennendem Blick, mit der ganzen Glut seiner Seele den Arzt umklammernd, bereit, Alles für die Heiligkeit seines Inneren zu opfern, eines Inneren, welches er mit ein paar Jugenderinnerungen, mit einigen Schulkenntnissen vollständig in der rührendsten Einfalt durch einige heiligmäßige Sentenzen zu gestalten im Stande war. — Das ist das Menschenmaterial, aus dem Religionsstifter geschnitzt werden. Religionen sind relative Geisteswerte und —Wahrheiten, die einen günstigen Boden zum Fortwuchern finden. Es gibt keine absolute Wahrheiten. Es gibt nur das relative Maas von Selbst-Offenbarung im Menschen, und die Ansteckung durch die Maßen. Dieser junge Mann in Zeiten der Not, der Trübsal, der Angst, der allgemeinen Misere hinausgelassen, unterwirft sich mit seiner keuschen Geste, mit einer der allgemeinen Trübsal angepassten, überirdischen Sentenz, Dorf auf Dorf und Flecken auf Flecken. Dieser Feilenhauer hatte eine feinere Figur gemacht als der hämische Tuchmacher Nikolaus Storch19 im 16ten Jhrh., der sich Landstrich um Landstrich unterwarf, und sogar einen Mann wie Melanchthon tief erschütterte. —

Aber in Jerusalem stand die Reaktion bevor, und die Behörden hatten nach der ersten Überraschung sich rasch ralliiert33. Wie hier Verstärkung der Energie, so war auf der andern Seite, bei Jesus, Erschlaffung nach einer furchtbaren geistigen Leistung eingetreten. Und wenn eine Sache nicht vorwärts geht, dann geht sie immer zurück. Was konnte der unvergleichliche Jüngling, der mit dem Frühlingssturm seines Gefühles Alles vor sich her niedergeworfen und begeistert hatte, in dieser weitausgedehnten Stadt an Staatseinrichtungen schaffen, an praktischer Theokratie leisten? Mit was wollte er den trocknen bürokratischen Apparat, der hier das tägliche Leben in Ordnung hielt, und der doch nicht in seinen Händen war, ersetzen, er, der nur Seligpreisungen hauchen, oder, im günstigsten Fall, harangieren25 und fanatisieren konnte. Bei der französischen Kommune34 handelte es sich um Leute, die an Ort und Stelle gelebt hatten, den Gang der Geschäfte kanten und ihn, tant bien que mal35, wenigstens aufrecht erhalten konnten. Aber hier handelte es sich um Fischer — wie in Portici bei Masaniello28 —, um Fischer, um Handwerker, um einen Haufen zusammengelaufenen, gutmütigen, aber gänzlich unfähigen Volks. In solchen Fällen ist die Niederschlagung des Putsches immer mit Sicherheit zu erwarten. Und hier speziell handelte es sich zunächst nur darum, den Anstifter der ganzen Bewegung, den actor rerum36, den fanatischen und kranken Kopf in seine Hände zu bekommen. Das Übrige wollte nicht viel heißen. Auch hatte die Bewegung, wie es scheint, sehr bald darauf verzichtet, das Innere Jerusalems als sein Eigentum zu betrachten, und sich in die Umgebung geflüchtet. Die Verhaftung Jesu gelang anscheinend ohne Schwierigkeit. Eine Patrouille wurde, sobald man seinen Aufenthaltsort erfahren, hinausgeschickt und nahm ihn in Empfang. Im Nu war, als die Realität der Tatsachen hereinbrach, der ganze Haufe der Anhänger zerstoben.
Nun wäre die Sache einfach gegangen und bei der Unkompliziertheit des Falles — die einfache Überführung des geständigen Gotteslästerers — die Angelegenheit in wenigen Tagen erledigt gewesen, wenn nicht endlose Kompetenzschwierigkeiten zwischen dem Synedrium, der jüdischen Religionsbehörde, und der römischen Exekution bestanden hätten, und, wie das immer so geht, eine Menge kleinlicher Interessen sich bei dieser Gelegenheit auf fremde Kosten zu regeln unternommen hätten. Die römische Behörde mit ihrer alten kolonisatorischen Schulung und ihrem großartigen Blick für Parität vermied es ängstlich, sich in die religiösen Streitigkeiten dieser Duodez-Völkchen zu mischen, auch wenn ihr der örtliche Kult — der nicht einmal eine Ausbeute nach der sinnlichen Seite für Rom erlaubte — weniger widerwärtig gewesen wäre. Und die jüdische Kult-Behörde andererseits hielt streng auf die Selbständigkeit und die Unverletzlichkeit ihrer Anordnungen im Hinblick auf die Pastorisierung37 des Volkes, die einzige Freiheit, die ihr geblieben war. Zwischen diesen beiden Gewalten war also die Möglichkeit einer Kollision, eines Kompetenzstreits, sozusagen ausgeschlossen. Und nur in einem Punkt verbat sich die römische Exekutive ernstlich jede Inanspruchnahme des weltlichen Arms: im Fällen von Todesurteilen und deren Vollziehung wegen angeblicher religiöser Vergehen. Einem Staat, wie dem römischen, dem längst die eigene Landes-Religion augurenhafter Mumpitz geworden war, und der aus dem großen Reservoir seiner asiatischen Provinzen Alles das zusammengetragen hatte, was an erotisch gefärbten Kulten und religiösem Sinneskitzel sich für Rom exportfähig erwiesen hatte, musste es abstrus und unanständig vorkommen, Jemanden wegen religiöser Meinungen hinzurichten. Nun war Jesus nach dem jüdischen Gesetz zweifellos überführter Gotteslästerer. Und auf Gotteslästerung stand nach dem jüdischen Gesetz Todesstrafe. Wie aber diese Todesstrafe vollziehen, da der weltliche Arm religiöse Hinrichtungen auszuführen sich weigerte? Jetzt entstand die große Frage: unter welchem Paragrafen bringen wir den Menschen unter? Ein Gelaufe und Gefrage nach einem Paragrafen. Ein Paragraf, ein Paragraf! Irgend ein Paragraf, der die Anwendung der Todesstrafe gestattet. Glücklicherweise hatte Jesus in einem unbewachten Moment auch Etwas von einem »König« gesprochen, »König der Juden«. Dies schien politischen Beigeschmack zu haben. — »Bist du der König der Juden?« fragt ihn Pilatus. — »Du sagst es!«38 — Nun schien's gewonnen. Und nun entstand jenes widerwärtige Gezeter und Gelaufe von Behörden und Gerichtsdienern, jenes verlogene Plädieren gekaufter Advokaten, jenes Augenzwinkern und Akten-Umregistrieren, jenes Aussuchen von Strafkammern, jene scheußliche Wühlarbeit von agents provocateurs, die die Maße zu einem »Kreuzige!« aufstachelten, und Taggeldsüchtiger Kronzeugen, die zu jeder Wortverdrehung bereit waren, jenes Telegrafieren nach neuen Zeugen und Instanzengeschiebe, bei dem dem Staatsanwalt der Kopf brummt — denn wenn er den Prozess verliert (es ist ein politischer Prozess und die Verurteilung von der Behörde befohlen), dann ist es mit dem Avancement vorbei. Jeder Tag bringt eine neue Konstellation, jede Stunde einen Paragrafenwechsel. Der »Messias«-Paragraf, und der »Gottes-Sohn-Paragraph«, und der Paragraf, unter den fällt, dass er gesagt habe: »er wolle den Tempel in drei Tagen abbrechen«, sind alle fallen gelassen worden. Es geht mit dem »Gotteslästerungs«-Paragraf nicht. Jetzt kommt der »Majestätsbeleidigungs«-Paragraf. »König der Juden.« So geht's, wenn's geht.........

Und es ging. Zwar Pilatus, ein ruhiger, trockner Beamter, dem dieses ekelhafte Gezeter bis in der Seele zuwider war, merkte genau, wo man hinaus wolle. Er erkante sofort, dass das Alles juristischer Schwindel und Humbug war, dieses Hinüber-Spielen auf's Politische, erbärmlicher Paragrafen-Wechsel und Rechtsbiegung. »Was hat er denn Übels getan? Ich finde keine Ursach an diesem Menschen!« — Aber die Maße war doch zu drohend. Die Agenten des Synedriums hatten furchtbar gearbeitet. Jetzt fing die Sache wirklich an, politisch zu werden. Und dann: das Bisschen Jesus. Noch dazu aus Galiläa. Ein Provinzler. Ein Handwerker.

Ein Proletarier. Und offenbar krank. Das war das Leben dieses Mannes nicht wert, dass auch noch ein politischer Aufruhr entstehe. — Am Ende die Aufforderung zu einem Immediat-Bericht nach Rom? — Eine krumme Miene des Kaisers? — o Gott!......

Und so starb Jesus. Starb den Tod durch Henkershand. Ein Paranoïker. Aber ein Geistesheld, der mit der ganzen zähen, nie wankenden Kraft des paranoïschen Wahns seine Ideen bis zum letzten Blutstropfen verteidigt; indem er als Märtyrer fällt, die Maßen mit dem Inhalte seines Wahns ansteckt, und so der »Geisteskrankheit« eine fast 2000jährige Dauer von »Wahrheit« verschafft.

Er starb wie Sokrates, wie Savonarola24, wie Hus39, wie Servet40, wie Sand41, wie die Perowskaja42, wie Angiolillo43, in dem als psychisches Phänomen einzigen und unvergleichlichen Bewusstsein, nur durch den Tod einer idealistischen Idee zum Siege zu verhelfen.

Die Evangelienschreiber haben den Prozess der Legendisierung an diesem wunderbaren Anarchisten bis zur Übersüßung und Rührseligkeit vollzogen. Und das Meiste an diesem herrlichen Charakterbild ist verschwommen und unsicher. Aber Eines scheint sicher zu sein: Das allmähliche und ruhige Aufwachsen und Keimen des eigentümlichen Ideengehalts bei ihm, das echt paranoïsche, primär durch die Vererbung gegebene und dann mit konsequenter Sicherheit bis zur Felsenhärte fortschreitende Anwachsen jener Ideen, jenes Wahns, jenes geistigen Fixums, das sich die Welt unterwerfen wird, — und dann das nunquam retrorsum! das Niemals zurück! auf dem einmal eingeschlagenen Pfade geistiger Entwicklung, das Aushalten bis zum letzten Moment:..... »Du sagst es!« —

Und dies muss ihm selbst der Atheist, der Psychologe lassen. Dass er in Jerusalem vor dieser erbärmlichen Sorte von Advokaten, Winkelschreibern, Polizisten, Staatsbeamten, Doktoren, Geheim-Spitzeln und Bürokraten, von denen jeder auf einen Wink des Kaisers für eine Gunstbezeugung, einen Orden, eine Gehaltserhöhung Alles, aber auch Alles getan hätte, nicht zurückhufte, keine Konzession machte, nie um Gnade bat, sondern als einzige Verteidigung diesen Kasuisten44 das blanke Ehrenschild seiner reinen Absicht und seiner rührenden Herzens-Güte entgegenhielt, das wird ihm zum unauslöschlichen Ruhmestitel gereichen, wenn längst der letzte Leipziger Orthodoxen-Schädel im Grabe vermodert sein wird.


Abb.: Mathis Neithardt  gen. Grünewald (1480 - 1529): Tauberbischofsheimer Altar, Szene: Die Kreuzigung Christi <Ausschnitt>. -- 1523-1524


Erläuterungen:

1 Joseph

"Joseph war der Vater - oder Ziehvater - Jesu, da nach altchristlicher Überzeugung Jesus der Sohn Gottes ist und durch den Heiligen Geist im Schoß der Jungfrau Maria gezeugt wurde.

Joseph stammte aus dem Geschlecht des Königs Davids, aus dem nach dem Zeugnis des Alten Testaments der Messias hervorgehen werde. Er lebte als Zimmermann in Nazareth und war der Verlobte von Maria, der Mutter Jesus - nach späterer Überlieferung als alter, 80-jähriger Mann. Als er erfuhr, dass Maria schwanger war, zweifelte er an deren Treue und wollte sich von ihr trennen; doch ein Engel erklärte ihn in einem Traumgesicht, dass Maria "vom heiligen Geist" schwanger sei, und Joseph blieb bei ihr (Matthäusevangelium 1, 18 - 21). Wegen einer von den Römern angeordneten Volkszählung musste er mit der schwangeren Maria nach Bethlehem reisen, wo Jesus geboren wurde (Lukasevangelium 2, 1 - 7). Anschließend flohen sie nach Ägypten, um dem Kindermord des um seine Herrschaft fürchtenden Herodes zu entgehen (Matthäusevangelium 2, 13 - 15), nach dessen Tod im Jahr 4 n. Chr. konnten sie nach Nazareth zurückkehren (Matthäusevangelium 2, 19 - 23). Zum letzten Mal wird Joseph in den Evangelien erwähnt, als er und Maria den zwölfjährigen Jesus im Tempel diskutierend mit den Schriftgelehrten vorfanden (Lukasevangelium 2, 41 - 51).

Das Matthäusevangelium (13,55) nennt namentlich vier Brüder Jesu: Jakobus, Joseph, Simon und Judas, dazu mehrere Schwestern. Bei den frühen Kirchenvätern des Ostens gelten diese als Söhne Josephs aus einer ersten Ehe. Die Westkirche lehrte zunächst, die Geschwister Jesu seien nach dessen jungfräulicher Geburt von Maria und Joseph gezeugt worden. Das spätere Dogma der immerwährenden Jungfernschaft Mariens ließ sie zu Vettern von Jesus werden, Joseph wäre also ihr Onkel gewesen.

Spätere Quellen wie das Jakobusevangelium aus dem 2. Jahrhundert berichten von der Brautwerbung Josephs. Demnach war Maria Tempeljungfrau in Jerusalem und sollte einem Mann verheiratet werden, der sie unberührt lassen würde ("Josephs-Ehe"). Jeder Bewerber - allesamt waren Witwer - sollte einen Stab auf dem Altar des Tempels niederlegen; Josephs Stab grünte und blühte, zudem ließ sich eine Taube als Zeichen der göttlichen Bestätigung auf seinem Kopf nieder. Als Maria trotz des Keuschheitsgebotes schwanger wurde, bezweifelten die Hohen Priester die Enthaltsamkeit der Eheleute. Um ihre Unschuld zu beweisen, mussten beide das giftige Fruchtwasser trinken, blieben aber gesund: dieses Gottesurteil sprach sie von allen Vorwürfen frei.

Der 19. März war seit dem 10. Jahrhundert Gedenktag - festgelegt wohl in der Absicht, das Fest der Minerva, der römischen Göttin der Handwerker, zu ersetzen. Seit 1621 ist der Tag ein Fest im römischen Kalender, nachdem der Josefskult seit dem 14. Jahrhundert besonders von Bettelorden gefördert wurde. 1729 schrieb Papst Clemens XI. den Festtag für die ganze katholische Kirche fest. Die Habsburger erkoren Josef zu ihrem Hausheiligen. Nachdem Kaiser Ferdinand II. 1620 mit einem Bild des Heiligen in die Schlacht gegen die pfälzisch-böhmische Armee am Weißen Berg bei Prag gezogen war und den Sieg errang, wurde der Josefstag im Habsburger Reich zum Feiertag. Papst Pius IX. ernannte Joseph 1870 zum Patron der ganzen katholischen Kirche, Papst Pius XI. ernannte ihn 1937 zum Patron all derer, die den Kommunismus bekämpfen. Das Fest "Heiliger Joseph, der Arbeiter", hat Papst Pius XII. 1955 eingeführt als Gedenktag, der Joseph mit dem Tag der Arbeit am 1. Mai in Verbindung bringen soll. In Spanien ist, wie in den meisten Ländern, der Josephstag auch der Vatertag; man gibt den Vätern Geschenke, zum Beispiel malen die Kinder Bilder in der Schule für ihn.

Kanonisation: Sowohl die orthodoxe als auch die katholische Kirche verehren Joseph als Heiligen. In der Ostkirche begann der Kult um Joseph schon früh, die erste Erwähnung in einem Martyrologium des Westens stammt dagegen erst aus der Zeit um 850. Papst Pius IX. ernannte Joseph 1870 zum "Patron der ganzen katholischen Kirche".

Attribute: Jesuskind auf dem Arm; Stab; Lilie

Patron der ganzen katholischen Kirche, von Mexiko, Philippinen, Kanada, China, Böhmen, Bayern, Peru, Russland, Vietnam und Österreich, Tirol, Steiermark, Kärnten; der Ehepaare und Familien, Kinder, Jugendlichen und Waisen, der Jungfräulichkeit, der Kämpfer gegen den Kommunismus; der Arbeiter, Handwerker, Zimmerleute, Holzhauer, Schreiner, Wagner, Totengräber, Ingenieure, Erzieher, Pioniere, Reisenden und Verbannten, der Sterbenden; bei Augenleiden; in Versuchungen und Verzweiflung; bei Wohnungsnot; für einen guten Tod

Bauernregel: "Ist's am Josefstage klar / folget ein fruchtbares Jahr."

[Quelle: http://www.heiligenlexikon.de/index.htm?BiographienJ/Joseph_von_Nazareth.htm. -- Zugriff am 2005-01-14]

2 Heiliger Geist

"Heiliger Geist (lat. Spiritus sanctus), ein wesentlicher Lehrartikel des Christentums. Im Alten Testament heißt »Geist Gottes« oder »Geist des Herrn« zunächst der den an sich toten Stoff bildende und beseelende, der lebendig machende Hauch Gottes. Als sich der Gottesbegriff im sittlichen Sinne vertiefte und verinnerlichte, wurde auch der Geist Gottes als Quelle der prophetischen Erkenntnis und Begeisterung aufgefasst. In der rabbinischen Theologie des nachexilischen Zeitalters erscheint der »Heilige Geist« geradezu als Offenbarungsprinzip, parallel dem von der alexandrinisch-jüdischen Philosophie ausgebildeten Begriff der »Weisheit« (sophia) oder des »Wortes« (logos). Nachdem die christliche Gemeinde in Jesus von Nazareth den Messias gefunden, führte sie zunächst seine prophetisch-messianische Begabung und Wunderkraft auf eine im Moment der Taufe stattgehabte Ausrüstung mit dem Geist Gottes zurück. Bald wurde dessen Einwirkung auf den Messias vom Moment der Taufe auf den Moment der Geburt zurückdatiert, und es entstand so die in unserm ersten und dritten Evangelium mythisch dargestellte, dann im apostolischen Symbol dogmatisch fixierte Vorstellung von der Erzeugung Jesu durch den Heiligen Geist. In andrer Weise wieder fasste Paulus den Heiligen Geist als das den Gläubigen in ihrer mystischen Verbindung mit Christus innewohnende übernatürliche Prinzip. Die ursprünglich mit dem Begriff des Heiligen Geistes verwandte Vorstellung vom Wort (s. Logos) wurde endlich im vierten Evangelium benutzt, um eine höhere Christologie (s. d.) durchzuführen, in welcher der Heilige Geist die Rolle eines unsichtbaren Fortsetzers des Lebenswerkes Jesu, eines Ersatzes für die seit der Erhöhung des Mensch gewordenen Wortes von der Erde eingetretene Entbehrung spielt und »Paraklet«, d. h. Beistand, heißt. Dies alles trug dazu bei, die Auffassung des Heiligen Geistes als einer göttlichen Person zu befestigen und ihm das Werk der Erzeugung, Erhaltung und Vollendung des spezifisch christlichen Lebens in den Gläubigen zuzuschreiben, wenn auch die ältesten kirchlichen Schriftsteller noch hier und da ein Bewusstsein davon verraten, dass das im Sohn Gottes Fleisch werdende Wort und der den Menschen zum Messias und Sohn Gottes weihende Geist ursprünglich ein und derselben Idee zum Ausdruck verhelfen wollten, nämlich der des Offenbarungsgottes im Gegensatz zu dem verborgenen und unbegreiflichen Gott. So dauerte es fast vier Jahrhunderte, bis die beiden Vorstellungen des Geistes und des Wortes Gottes nach mannigfachen Experimenten der Dogmatiker endlich untereinander ausgeglichen und durch Anwendung eines trinitarischen Schemas auf die ganze Gotteslehre mit dem Begriff Gottes des Vaters gleichgestellt waren. Die letzten Anhänger der früher fast allgemein herrschenden Lehre von einer untergeordneten Stellung des Geistes wurden auf der ökumenischen Synode von 381 zu Konstantinopel als Mazedonianer (ihr Haupt war Macedonius, 341-360 Bischof von Konstantinopel, gewesen) und »Pneumatomachen« (Geistbekämpfer) verurteilt. Bald aber erhob sich bezüglich des Verhältnisses dieser dritten Person der Trinität zu den beiden andern ein erbitterter Streit zwischen der abendländisch-lateinischen und der morgenländisch-griechischen Kirche. Denn jene machte zu dem konstantinopolitanischen Bekenntnis, wonach »der Geist vom Vater ausgeht«, im Interesse symmetrischer Abrundung der Trinitätslehre den Zusatz: »und vom Sohn« (filioque), so in Spanien auf der Synode zu Toledo 589, während die griechische Kirche darin eine Verletzung des Monotheismus sah. Die Reformatoren nahmen die ganze Lehre vom Heiligen Geist unbesehen aus den Händen der mittelalterlichen Kirche entgegen, und in diesem Sinne hat sie Kahnis (»Die Lehre vom Heiligen Geist«, Leipz. 1847) dargestellt. Die liberale Theologie wandelt dagegen in der Regel auf den Bahnen Schleiermachers, der im Hinblick auf die in der Apostelgeschichte berichtete Ausgießung des Geistes über die erste Gemeinde der Gläubigen denselben als den christlichen Gemeingeist auffasste (s. Inspiration).

In der bildenden Kunst wurde der Heilige Geist auf Grund der Stellen im Evangelium Matthäi 3,16 (»Und er [Jesus] sah den Geist Gottes als eine Taube herabfahren«) und Evangelium Lucas 3, 22 schon frühzeitig in Gestalt einer Taube dargestellt, zuerst bei der Taufe Christi. Die älteste Darstellung befindet sich in der aus dem 2. Jahrh stammenden Krypta der heil. Lucina bei Rom. Seitdem kommt die Taube fast ausnahmslos bei allen Darstellungen der Taufe Christi, auch in der klassischen Kunst, vor. (Beispiele: Gemälde von Verrocchio und Leonardo da Vinci in der Akademie zu Florenz, von Francesco Francia in der Dresdener Galerie, von G. Reni im Hofmuseum zu Wien, von Paris Bordone in der Brera zu Mailand.) Nach dieser Analogie wurde auf Grund der Worte des Engels der Verkündigung im Evang. Luc. 1,35: »Der Heilige Geist wird über dich kommen« der Heilige Geist in Gestalt einer Taube auch bei den Darstellungen der Verkündigung Mariä eingeführt; das älteste Beispiel ist ein Mosaik aus dem 5. Jahrh. in Santa Maria Maggiore zu Rom. Seitdem ist der Vorgang unzählige Male in Gemälden, Miniaturen, Holzschnitten, Kupferstichen und Bildwerken (ein Hauptwerk: der Englische Gruß von Veit Stoß, s. Tafel »Bildhauerkunst VIII«, Fig. 6) dargestellt worden. Ferner erscheint der Heilige Geist in Gestalt einer Taube bei allen Darstellungen der Dreifaltigkeit (Gemälde von Dürer im Hofmuseum zu Wien, von Tizian in Madrid, von Rubens in Mantua, München und Antwerpen, Holzschnitt von Dürer) und bei der Darstellung der Ausgießung des Heiligen Geistes (Gemälde von Tizian in Santa Maria della Salute zu Venedig, Rubens in der Münchener Pinakothek und Karl Begas in Berlin)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

3 primäre Verrücktheit

"Verrücktheit (Paranoia), eine Geisteskrankheit, über deren Abgrenzung in wissenschaftlicher Beziehung noch keine Einmütigkeit herrscht. Als primäre Verrücktheit fasst man eine eigenartige sehr große und äußerst mannigfache Symptomengruppe zusammen, die für sich allein vorkommen, sich aber auch sekundär an andre Geisteskrankheiten (Manie, Melancholie, Epilepsie) anschließen kann. Die primäre Verrücktheit befällt zumeist Personen, in deren Familie Geistes- oder sonstige belastende Krankheiten erblich sind. Die hervorstechendsten Symptome sind Halluzinationen und Wahnideen, die, mit den allerverschiedensten, scheinbar logischen Gedankenkombinationen verbunden, zu ganzen Komplexen irriger Vorstellungen verarbeitet werden. Beide Symptome können auch getrennt vorkommen, oder die Wahnideen entwickeln sich erst infolge der Sinnestäuschungen. Die Entwickelung der einfachen chronischen Verrücktheit erfolgt sehr langsam. Ganz allmählich »verrückt« sich das Verhältnis des Ich zu dem der Außenwelt, falsche Beziehungsbegriffe werden gebildet und die Wahnidee im Sinne des Größenwahns oder der Verfolgung stellt sich ein. In andern Fällen ist der Größenwahn, Glaube an hohe Abkunft, an den Besitz unermesslicher Reichtümer, an ungewöhnliche Fähigkeiten mit Sinnestäuschungen, Visionen, Hören von Stimmen der Gottheit, die sich in leuchtenden Sternen offenbart und Begnadigung verkündet, oft aber auch mit peinlichen Vorstellungen (Verkündigung des Todesurteils, Androhung ewiger Strafen) verknüpft, so dass die Kranken nicht selten gegen ihre Umgebung aggressiv werden oder auch Hand an ihr eignes Leben legen. Die Verrücktheit befällt meist junge Individuen von 17-25 Jahren oder ältere, namentlich Frauen, im 40.-50. Lebensjahr, geht manchmal in Genesung über, ist aber in den meisten Fällen unheilbar. In Gefängnissen wird die Entwickelung der Verrücktheit bei dazu disponierten Individuen durch die Isolierhaft stark begünstigt. Die Behandlung muss der Leitung eines Irrenarztes und einer Irrenanstalt anvertraut werden, da in der Privatbehandlung die größten Gefahren für den Kranken und die Umgebung entstehen können."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

4 Valentin Magnan (1835--1916): Pariser Psychiater. deutsch erschienen ab 1891 seine Vorlesungen:

Magnan, Valentin <1835 - 1916>: Psychiatrische Vorlesungen / deutsch von P.J. Möbius.  -- Thieme, 1891ff. -- Bd. 1: Über das Delire chronique.--Bd. 2-3: Über die Geistesstörungen der Entarteten.

5 pover: ärmlich, dürftig, armselig

6 Apollonius von Tyana

"Apollonius von Tyana (in Kappadokien), neupythagoreischer Philosoph, Theurg und Magier, der, ungefähr gleichalterig mit Christus, durch seine Reisen, Abenteuer, Prophezeiungen, sogenannten Wunder, großes Aufsehen bei seinen Zeitgenossen erregt zu haben scheint und ungefähr 100jährig in Ephesos starb. Von dem höchsten Gott hatte er eine gereinigte Vorstellung: ihm sollen keine Opfer gebracht, er soll nicht einmal mit Worten genannt, vielmehr nur mit dem Verstand erfasst werden. Tempel, Altäre und Bildsäulen wurden dem Apollonius in vielen Städten, besonders Kleinasiens und Griechenlands, errichtet sowie Münzen auf sein noch den Kaisern Caracalla, Aurelian und Alexander Severus heiliges Andenken geschlagen. Gegner des Christentums in alter und neuer Zeit stellten ihn neben Christus oder sogar über ihn, so Hierokles unter Diokletian, Voltaire, Wieland u.a. Eine ausführliche, romanhaft tendenziöse, historisch wertlose Biographie des Apollonius besitzen wir noch von Flavius Philostratos (s. d.), der sie auf Veranlassung der Julia Domna, Gemahlin des Septimius Severus, in acht Büchern niederschrieb. Die Schriften des Apollonius sind verloren bis auf 85 Briefe, die, wahrscheinlich unecht, mit jener Lebensbeschreibung in den Ausgaben der Werke des Philostratos von Westermann (Par. 1849) und Kayser (Bd. 1, Leipz. 1870) abgedruckt worden sind. "

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

7 mattoide (italienisch): Halbverrückter

8 Lombroso

"Lombroso. Cesare, Mediziner, geb. im Novemver 1835 in Verona, studierte in Turin, machte den Feldzug von 1859 als Militärarzt mit, wurde 1862 Professor der Psychiatrie in Pavia, darauf Direktor der Irrenanstalt in Pesaro und später Professor der gerichtlichen Medizin und Psychiatrie in Turin. Lombroso lieferte Untersuchungen über den Kretinismus; größtes Aufsehen erregte er aber mit seinen Schriften über Kriminalpsychologie, in denen er die Ursachen der Verbrechen in der körperlichen Beschaffenheit der Verbrecher, erworben durch Vererbung und Atavismus, nachzuweisen sucht. Seine Darlegungen fanden vielfach Widerspruch, eröffneten der Forschung aber ein ganz neues Gebiet und führten zur Begründung der Kriminalanthropologie."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

9 Johannes Guttzeit (1855 - 1935),  ehemaliger preußischen Leutnant, »Naturapostel«, Kleidungsreformator

"Johannes Friedrich Guttzeit, geb. 1855 in Königsberg i. Pr., wandelt sich unter dem Einfluss einer Krankheit vom preußischen Leutnant zum Naturprediger, Vegetarier und Kämpfer gegen die »Schlachthaus-Zivilisation«. Seine lebensreformerische Gesinnung drückt er ähnlich Diefenbach durch die Abkehr von den bürgerlichen Kleidungssitten aus und geht fortan in schlichtem Gewande. 1884 gründet er den »Pythagoräer-Bund«, aus dem 1885 der »Internationale Bund für konsequente Humanität« mit dem Vereinsblatt »Zentralblatt für humane Bestrebungen« hervorgeht. 1901-03 gibt Guttzeit die Zeitschrift »Der neue Mensch« heraus. Nach langen Wanderjahren, die ihn durch alle lebensreformerischen Kreise und Siedlungen führen, lässt er sich 1908 in der Nähe Münchens nieder. Er stirbt 1935 im Alter von 82 Jahren. Das Symbol des durch einen Apfel zerbrochenen Schwertes schmückt die Titelblätter seiner Bücher. Er schrieb u. a. »Unsinn und Unmoral im Alten Testament oder Die Blut- und Eisenreligion« (ca. 1890), »Verbildungsspiegel« mit den Bänden »Scheinsucht« und »Verlehrten turn« (1893) sowie »Zukunfts-Menschlichkeit und Gegenwarts-Philosophistik« (1893)."

[Quelle: Frecot, Janos <1937 - > ; Geist, Johann Friedrich <1936 - > ; Kerbs, Diethart <1937 - >: Fidus : 1868 - 1948 ; zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen. -- Erw. Neuaufl. -- München : Rogner und Bernhard bei Zweitausendeins, 1997. -- XXVIII, 493 S., S XXXIII - LV : zahlr. Ill. ; 25 cm. -- ISBN: 3-8077-0359-4. -- S.  84]

10 Heinrich Pudor (1865-1943): Propagandist lebensreformerischer Nacktkultur.

"Heinrich Pudor, 1865 in Dresden-Loschwitz geboren, von Haus aus vermögend, studiert am väterlichen Konservatorium Musik und an der Leipziger Universität Psychologie, Philosophie und Kunstgeschichte. Er erbt das Konservatorium in Dresden und säubert es Anfang der 90er Jahre, beeindruckt von Wagners Schrift »Das Judentum in der Musik«, von jüdischen Lehrern. Er liest begeistert Lagard es »Deutsche Schriften« und schreibt sofort ein Buch »Deutsche Ideale«, das keinen Verleger findet. Nach der Lektüre von Nietzsche und Langbehn beschließt er, Schriftsteller zu werden. Nach seiner Verheiratung kauft er sich in Loschwitz eine Villa, die er »Lug in's Land« nennt.

»Und nun kam sehr rasch meine Abkehr von aller Kultur. Auf diese Bahn kam ich durch die Lektüre von vegetarischen Schriften; auch meine Impfgegnerschaft, die mich mit Liebermann von Sonnenberg in Verbindung brachte, spielte dabei mit. Natürlich aber auch die enge Verbindung, die ich in »Lug in's Land« mit der Natur hatte: zum Garten der Villa gehörte eine große Pfirsichplantage, die eine sehr große Ernte gab. Schritt für Schritt kamen wir nun zuerst zum Vegetarismus und dann zur Rohkost, bzw. Fruchtkost. Ich schickte mein Doktordiplom an die Universität Heidelberg zurück und erhielt, nachdem die Zeitungen darüber berichtet hatten, eine große Reihe brieflicher Zustimmungen aus dem Reiche. Dann legte ich die Kulturkleidung ab und kleidete mich folgendermaßen: Sandalen, weiße Kniestrümpfe, ein kurzes leinenes Höschen, Hemd und ein weißflanellener Kittel, von einem Lederriemen zusammengehalten; keine Kopfbedeckung. Das war die Lichtgestalt Heinrich Scham. Denn auch meinen fremdländisch klingenden Namen legte ich ab und nannte mich verdeutscht 'Scham'. Auch meine Frau musste die Kulturkleidung ablegen und trug ein von mir entworfenes, ganz einfaches Reformkleid... Hierbei war ich natürlich von Meister Diefenbach beeinflusst, der vor mir zur Reformkleidung übergegangen war. Bezüglich der Nacktkultur war ich von diesem und Johannes Guttzeit, sowie von Arnold Rikli in Veldes (Krain) beeinflusst... Ich geriet nun immer mehr in die 'Nacktkultur' hinein. Es war mir klar, dass in hygienischer Beziehung die Kleider, namentlich die wollenen Kleider, ein großes Übel seien. Rückkehr zur Natur, dem Rufe J. J. Rousseaus folgend, wurde die Parole...« (Heinrich Pudor: Mein Leben. Kampf gegen Juda und für die arische Rasse. Leipzig, Selbstverl. 1939-41 in 14 Lieferungen.)

In einer Rezension der lebens-reformerischen Schrift »Muttermilch. Offenbarungen der Natur« (Dresden 1893) wirft ihm in der »Sphinx« (Bd 17, 1893, S. 240) Peter Hille »unangemessenen geistigen Hochmut, eine oft wahnwitzig sich äußernde Überschätzung des eigenen Wertes« vor.

Pudor geht zeitweilig nach England, um Malerei zu studieren, schreibt ein unveröffentlichtes Buch »Die neue Makrobiotik« und gerät immer mehr in lebensreformerische Bahnen. In München veranstaltet er die erste »Einer-Ausstellung« seiner Malereien, über die ein Rezensent (wiederum in der »Sphinx«, Bd 19, 1894, S. 64 f.) urteilt: »... sie erschütterte mich wie eine Tragödie der Selbstvernichtung.« Er wird Mitarbeiter an der Zeitschrift »Unverfälschte deutsche Worte« des österreichischen Antisemiten Georg Ritter von Schönerer, schreibt unzählige Artikel über Kultur-, Sozial- und Familienpolitik in vielen Zeitschriften und gibt seit 1906 — er wohnt jetzt in Berlin-Steglitz — die Zeitschrift »Kultur der Familie« mit dem Untertitel »Illustrierte Monatsschrift für die wirtschaftlichen, sozialen, geistigen und künstlerischen Interessen der Familie« heraus. Daneben nehmen Deutschtümelei und Antisemitismus einen immer breiteren Raum in seinen Schriften ein.

So jedenfalls stellt er es in seinen bereits genannten, unvollendet gebliebenen Lebenserinnerungen dar, denn auch er wird vom Dritten Reich nicht wie erhofft anerkannt. Bereits 1934 veröffentlichte er eine Werbeschrift

Pudor, Heinrich <1865 - 1941>: Dr. Heinrich Pudor, ein Vorkämpfer des Deutschtums und des Antisemitismus. -- Leipzig S 3, Dölitzer Str. 12 : Dr. H. Pudor, 1934. -- 24 S. ; kl. 8°

Er stirbt 1941."

[Quelle: Frecot, Janos <1937 - > ; Geist, Johann Friedrich <1936 - > ; Kerbs, Diethart <1937 - >: Fidus : 1868 - 1948 ; zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen. -- Erw. Neuaufl. -- München : Rogner und Bernhard bei Zweitausendeins, 1997. -- XXVIII, 493 S., S XXXIII - LV : zahlr. Ill. ; 25 cm. -- ISBN: 3-8077-0359-4. -- S.  48ff.]

11 Karl Wilhelm Diefenbach (1851-1913), symbolistischer Maler, auch «Kohlrabi-Apostel» genannt, Propagandist der Freikörperkultur


Abb.: K. W. Diefenbach und Fidus [Bildquelle: Frecot, Janos <1937 - > ; Geist, Johann Friedrich <1936 - > ; Kerbs, Diethart <1937 - >: Fidus : 1868 - 1948 ; zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen. -- Erw. Neuaufl. -- München : Rogner und Bernhard bei Zweitausendeins, 1997. -- XXVIII, 493 S., S XXXIII - LV : zahlr. Ill. ; 25 cm. -- ISBN: 3-8077-0359-4. -- Vortitelblatt]

"Karl Wilhelm Diefenbach, geb. 1851 in Hadamar in Nassau, gilt als einer der bedeutendsten Vorkämpfer der Lebensreform, insbesondere der Ernährungsreform, der Kleiderreform und der Freikörperkultur. Nach dem Besuch des Gymnasiums seiner Vaterstadt erhält er den ersten künstlerischen Unterricht von seinem Vater, dem Maler Leonhard Diefenbach. Das Studium an der Münchener Akademie muss er wegen einer langwierigen Typhus-Erkrankung unterbrechen. Die Nach-Wirkungen dieser Krankheit machen ihn zum fanatischen Anhänger der naturgemäßen Lebensweise, was ihm viel Spott und Hohn einträgt und das Publikum von der Beurteilung seines Künstlertums zur Parteinahme allein für oder gegen seine Reformideen abdrängt. Bis 1892 lebt er in München und an wechselnden Orten im Isartal. In diese Zeit fällt auch sein Wirken im Steinbruch bei Höllriegelskreuth, wo Hugo Höppener von 1887-89 sein Schüler ist, dem er den Namen Fidus verleiht. In der folgenden Wiener Zeit, wohin er durch ein Ausstellungsangebot gelockt wird, kämpft er einen aussichtslosen Kampf gegen die Wiener Presse und die Wiener Kunstwelt, den er in dem zweibändigen Werk »Ein Beitrag zur Geschichte der zeitgenössischen Kunstpflege« (Wien 1895) ausführlich dokumentiert und kommentiert. Er lebt danach in Triest und in Kairo, wo er monumentale Tempelpläne vor der Verwirklichung sieht. Eine Reise nach Indien unterbricht er 1900 in Capri, wo er bis zu seinem Tode 1913 lebt. Am bekanntesten wurde sein Schattenriss-Zyklus »Göttliche Jugend« sowie der im Original 68 Meter lange Fries »Per aspera ad astra«, dessen Entwurf bereits 1875 entstand und an dessen Vollendung Fidus beteiligt ist, da der Meister durch dauernde Krankheit weitgehend arbeitsunfähig ist. (Nach dem Artikel Diefenbach in Thieme-Beckers Künstlerlexikon, Bd 9, 1913.)"

[Quelle: Frecot, Janos <1937 - > ; Geist, Johann Friedrich <1936 - > ; Kerbs, Diethart <1937 - >: Fidus : 1868 - 1948 ; zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen. -- Erw. Neuaufl. -- München : Rogner und Bernhard bei Zweitausendeins, 1997. -- XXVIII, 493 S., S XXXIII - LV : zahlr. Ill. ; 25 cm. -- ISBN: 3-8077-0359-4. -- S.  66f.]


Abb.: Karl Wilhelm Diefenbach (1851-1913): Fries Per aspera ad astra <Ausschnitt> [Bildquelle: http://www.societyofcontrol.com/reform/propheten/pages/diefenbachaspera2.htm. -- Zugriff am 2005-01-16]

"Wie gefährlich es war, damals konsequent lebensreformerisch zu leben wie Diefenbach, Fidus und ihre anderen Mitstreiter, beweist folgender Bericht aus der Münchner Post vom 2. 8. 1888:

»Lass' sie gehen, 's sind Diefenbacher« von diesem klassischen Rat will die Obrigkeit, die Gewalt über die Völker in und um Höllriegelsgereute hat, absolut nichts wissen. Im Gegenteil, sie lässt die Familie Diefenbach, welche in der Steinwüste »Humanitas« unweit dem akademischen Schlacht- pardon Paukhaus in Gestalt von drei Mannspersonen, nämlich dem Meister, seinem Schüler und seinem ersten Sprossen, genannt Helios, ein ödes Einsiedlerleben fristet, durchaus nicht in Frieden, sondern beunruhigt sie fortgesetzt. Schon einmal unter Anklage gestellt, weil er sein jüngstes Söhnchen im Alter von 9 Monaten nackt im Sonnenschein hin- und hertragen ließ, aber freigesprochen, weil das Gericht in dieser Aktion kein Verbrechen erblickte, erhielt der Meister Diefenbach vor 14 Tagen wiederum eine Anklage übermittelt, welche ihn beschuldigte, dadurch groben Unfug verübt zu haben, dass er an drei näher bezeichneten Tagen seinen Helios unbekleidet auf seiner Terrasse liegen ließ. Sein Schüler, der »Konditorssohn« Hugo Höppener aus Lübeck, eine prächtige Jünglingsfigur mit Purpurwangen und wallendem Lockenhaar von schwarzer Couleur, offenem, aufrichtigem Blicke und unbeugsamer Entschlossenheit, wurde gleichfalls mit angeklagt. Er soll den noch größeren Frevel verbrochen haben, sich selbst in adamitischem Kostüm ins sonnenbestrahlte Gras gelegt zu haben, seinen Allerwertesten unehrerbietig gen Himmel gerichtet. Vor ein paar Tagen war die Verhandlung vor dem Wolfratshausener Schöffengericht. Hier erschien der Schüler Höppener zugleich in Vertretung seines Meisters, der infolge seines Leidenszustandes verhindert war, selber nach dem vier Stunden entfernt gelegenen Wolfratshausen zu pilgern. Höppener bestritt die Tatsache der nackten Uniform der »Familie Diefenbach« nicht, allein er erklärte, ihre Kleiderordnung sei sanitär und ethisch, das non plus ultra moderner Erkenntnis und »Gott wohlgefällig«. Was die Anklage groben Unfug nenne, sei in Wirklichkeit die in die Tat umgesetzte bessere Einsicht, die unmöglich bestraft werden könne, weil nirgends geschrieben stehe, dass die Befolgung des Besseren und dem Menschen sittlich und physisch Zuträglicheren eine »Sünde vor Gott« sei. Was aber Gott nicht geniere, könne auch von den Menschen nicht als »grober Unfug« bezeichnet werden. So sei seine und seines Meisters Meinung. Im übrigen verlasse von ihnen, so lange ihr Körper die Wonnen der Luft- und Sonnenbäder genieße, keiner das durch üppiges Busch- und Strauchwerk eingefriedete, vom Wege abgelegene Territorium und wenn ein Mensch, der aber in diesem Falle schon eine recht sündengeile Kreatur sein müsse, Ärgernis nehmen wolle, sei er genötigt, erst den Weg zu verlassen, auf die Terrasse ihrer Einöde zu klettern und dann aus dem Gebüsch heraus oder gedeckt durch das Haus sie heimlich abzulauern, bis sie in sich die Lust verspüren, nach ihrer Art im Sonnenschein ein luftiges Bad zu nehmen. Der als einziger Zeuge erschienene Gendarm bestätigte, dass er sich nicht hätte »ärgern« können, wenn er sich nicht insgeheim an die »Grobe Unfugsstätte« herangeschlichen hätte, allein der Gendarm musste Ärgernis nehmen, er hatte den Befehl dazu. Der Amtsanwalt und mit ihm das hohe Schöffengericht nahmen aber hievon keine Notiz; sie erklärten die Kleiderordnung Meister Diefenbachs für eine »Schweinerei« und horribile dictu!   für eine fortgesetzte Verhöhnung der Obrigkeit und hielten eine empfindliche Freiheitsstrafe für durchaus angemessen. Das Urteil lautete beim Meister auf 3 mal 14 Tage, also 6 Wochen Haft, beim Schüler auf 5 Wochen und 2 Tage Haft extra wegen Achtungsverletzung, die er dadurch begangen habe, dass er die heiligen Hallen vom Wolfratshausener Amtsgericht barfuss betrat. Befragt, ob er sich dem Urteilsspruche unterwerfen wolle, antwortete der junge Mann mit klassischer Kühe, die sehr erheblich von der Heftigkeit und Leidenschaftlichkeit des Amtsanwaltes und amtierenden Amtsrichters abstach, er und sein Meister - beide seien entschlossen, das Rechtsmittel der Berufung zu ergreifen. Der zweite Akt spielt sich nunmehr vor dem Landgericht München II ab.«"

[Quelle: Frecot, Janos <1937 - > ; Geist, Johann Friedrich <1936 - > ; Kerbs, Diethart <1937 - >: Fidus : 1868 - 1948 ; zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen. -- Erw. Neuaufl. -- München : Rogner und Bernhard bei Zweitausendeins, 1997. -- XXVIII, 493 S., S XXXIII - LV : zahlr. Ill. ; 25 cm. -- ISBN: 3-8077-0359-4. -- S.  71ff.]

"Nach 20 Jahren, 1910 nimmt Fidus noch einmal brieflich Verbindung zu Diefenbach auf, dem er immer ein ehrendes Andenken bewahrte. Der Brief, mit dem ihm Diefenbach antwortet, bestätigt, was Wilhelm Schölermann bereits 1899 schreibt:

»Ich habe selten lieblosere, um nicht zu sagen gehässigere Ausdrücke vernommen, als der Meister über seinen Fidus - nun 'Infidus' - wie überhaupt über alle diejenigen, welche einst seine Anhänger waren, ausspricht. Was mir vor allem psychologisch auffällt, ist, dass erstens die hohe wirkliche Vornehmheit der Gesinnung und zweitens die milde, reine, vergebende Menschlichkeit nicht zu ihrem Rechte kommt bei einem Manne, der sich mir gegenüber wiederholt mit Jesus Christus verliehen hat, nur mit dem Unterschiede, dass Christus nicht im Entferntesten die Leiden zu erdulden gehabt habe, wie er, Diefenbach«.

Diefenbach beschimpft in diesem endlosen Brief Fidus als Vollender der Vernichtung, die die bürgerliche Welt ihm zugedacht habe. Dabei sieht er in Hübbe-Schleiden den satanischen Verführer, dem der junge Fidus damals willig folgte, statt ihm sein »Hebe dich weg, von mir, Satan!« zuzurufen.

»Die Form und die unerhörte Brutalität, in welchen Du unter den während der Ausstellung in der Heilmann-Galerie in München von allen Seiten über Dich gekommenen Einflüssen gegen mich auftratest, machte jedes Wort einer Belehrung, Aufklärung über den Wahnsinn, den man Dir beigebracht, jedes Wort meiner Verteidigung gegen solche satanische Beschuldigung, sowie jedes Wort über Lage, in welche ich durch Dein Michverlassen gestürzt wurde, unmöglich. Ich musste das Grässliche mich der Vernichtung zutreibende schweigend über mich ergehen lassen in völliger Wehrlosigkeit. Mir schwanden die Sinne«. — — — —

Neben der Eifersucht gegenüber Hübbe-Schleiden, die aus jeder Zeile dieses Briefes spricht, ist es die monomanische Verfolgungsphantasie, die Diefenbach als schwer erträglichen Freund und Mentor charakterisiert. So ist auch eine Erinnerung eines gewiss unverdächtigen Zeugen als Hinweis zu bewerten, wie es sich mit den Gründen für die Trennung wirklich verhalten haben mag:

»Das unerschrockene Auftreten von Fidus machte mir großen Eindruck, besonders als ich ihn nun kennenlernte und sah, wie er unter den größten Entbehrungen, immer fleißig schaffend, mit dem Alten und seinen reizenden Kindern urmenschartig hauste und wirtschaftete. Durch ihn wurde ich auch dem kranken Meister nähergebracht. Man brauchte noch nicht viel mit Diefenbach gesprochen zu haben, um zu merken, dass er sich nicht nur in Haar und Kleidung christusartig trug, sondern sich auch wirklich für einen verkannten Messias hielt, und als ich nun, meiner stets geübten Gewohnheit getreu, anfing, mit ihm über die lapidaren Sätze zu debattieren, die er mir als Brocken des Heils zuwarf, erlebte ich eine titanische Katastrophe: der edle Erlöser wurde so hanebüchen grob, dass ich die Nutzlosigkeit jedes auf Gegenseitigkeit beruhenden geistigen Umganges mit einem »Messias« gründlich kennenlernte und mich nur noch an den liebenswürdigen Jünger hielt. Hier war ein wirklicher Idealist, und ich habe mich später immer gefreut, dass er nicht zugrunde ging, wie so vieles in München, sondern sich doch in seiner Art durchsetzte - wenn diese Art mir auch später da, wo sie tiefsinnig sein wollte, nicht mehr viel zu sagen hatte.« ( Schumacher, Fritz: Stufen des Lebens : Erinnerungen eines Baumeisters. -- Stuttgart ; Berlin : Deutsche Verl. Anst., 1935. -- 425 S. : 8 Bl. Abb. ; gr. 8° )"

[Quelle: Frecot, Janos <1937 - > ; Geist, Johann Friedrich <1936 - > ; Kerbs, Diethart <1937 - >: Fidus : 1868 - 1948 ; zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen. -- Erw. Neuaufl. -- München : Rogner und Bernhard bei Zweitausendeins, 1997. -- XXVIII, 493 S., S XXXIII - LV : zahlr. Ill. ; 25 cm. -- ISBN: 3-8077-0359-4. -- S.  79f.]

12 Messiasglauben

"Messias (aramäisch, v. hebr. Maschiach, entsprechend dem griech. Christus, »der Gesalbte«; s. Salbung), im Alten Testament der von den Israeliten der spätern Königszeit erwartete gottgesandte Retter, der ein theokratisches Weltreich gründen sollte, wobei den Propheten die einst unter David eingenommene Weltstellung, Israels Zukunftstypus, vorschwebte (messianische Weissagungen). Anfangs waren diese Hoffnungen rein politischer Natur und vielfach geradezu dem partikularistischen Egoismus des Volksgeistes dienstbar. Ein religiöser Kern lag insofern darin beschlossen, als die Hoffnung auf dereinstige Weltherrschaft des Volkes Israel zugleich auch die Hoffnung auf Vollendung des Dienstes und der Verehrung Gottes umfasste. Der Gründer dieses irdischen Gottesreichs wird als ein zweiter David, also zwar als ein wirklicher Mensch, dabei aber freilich auch als Repräsentant und Stellvertreter, d. h. als »Sohn«, Gottes gedacht (Psalm 2,7). In den spätern Zeiten des jüdischen Staates trat das persönliche Messiasbild vielfach auffallend zurück hinter dem allgemeinen Gedanken des Gottesreichs und der jüdischen Weltherrschaft; fast nur in der apokalyptischen Geheimliteratur erfuhr es noch eine Weiterbildung (s. Menschensohn). Über sein Wiederaufleben im Christentum s. Jesus Christus und Christologie. Die Lehre der rabbinischen Theologie vom Messias ist nie einheitlich ausgestaltet gewesen. Ziemlich allgemein kehrt aber der Gedanke wieder, dass in den letzten Zeiten vor der Erscheinung des Messias sich alle Übel und Schrecken der Natur und des Menschenlebens bis zum allerhöchsten Maße steigern und damit auch erschöpfen; sie heißen die Messiaswehen."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

13 Tedeum: Hymnus in der katholischen Kirche, der sogen. Ambrosianische Lobgesang nach den Anfangsworten: »Te deum laudamus« (»Dich, o Gott, loben wir«); hauptsächlich im Gebrauch bei Dankgottesdiensten und beim Brevier als Schluss der Matutin.

14 Satz vom zureichenden Grund (»principium rationis sufficientis«): eine Denknorm, welche für jeden Gedanken eine Begründung fordert, auf die Wirklichkeit übertragen fordert diese Norm, für jeden Sachverhalt einen erklärenden Realgrund zu suchen

15 Swedenborg

"Swedenborg (eigentlich Swedberg), Emanuel von, schwed. Gelehrter und Theosoph, geb. 29. Jan. 1688 in Stockholm, gest. 29. März 1772 in London, Sohn Jesper Swedbergs, Bischofs von Westgotland, studierte in Upsala Philologie und Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaften, daneben auch Theologie, bereiste 1710-14 England, Holland, Frankreich und Deutschland und ward 1716 Assessor des Bergwerkskollegiums in Stockholm, in welcher Stellung er sich durch mechanische Erfindungen hervortat. Zur Belagerung von Frederikshall schaffte er 1718 sieben Schiffe mittels Rollen fünf Stunden weit über Berg und Tal. Dies sowie seine Schriften über Algebra, Wert der Münzen, Planetenlauf, Ebbe und Flut etc. hatten zur Folge, dass die Königin Ulrike ihn 1719 unter dem Namen Swedenborg adelte. In den folgenden Jahren bereiste er die schwedischen, sächsischen sowie später auch die böhmischen und österreichischen Bergwerke. Seine »Opera philosophica et mineralogica« (1734, 3 Bde. mit 155 Kupferstichen) gaben auf der Grundlage ausgedehnter Studien über Gegenstände der Naturwissenschaft und der angewandten Mathematik ein System der Natur, dessen Mittelpunkt die Idee eines notwendigen mechanischen und organischen Zusammenhanges aller Dinge ist. Nach neuen Reisen (1736-40) durch Deutschland, Holland, Frankreich, Italien und England wendete er sein Natursystem in den Schriften: »Oeconomia regni animalis« (Lond. 1740-41), »Regnum animale« (Bd. 1 u. 2, Haag 1744; Bd. 3, Lond. 1745) und »De cultu et amore Dei« (Lond. 1740, 2 Bde.) auch auf die belebte Schöpfung, namentlich den Menschen, an. Aber schon das letztgenannte Werk war nicht mehr streng wissenschaftlich gehalten, wie sich denn Swedenborg von jetzt an ausschließlich theosophischen Studien hingab, um sich für seinen, wie er behauptete, von Gott selbst ihm eingegebenen Beruf vorzubereiten, der in der Gründung der Neuen Kirche, wie sie in der Offenbarung St. Johannis verheißen ist, bestand. Swedenborg glaubte diese Mission zu erfüllen, indem er das Wort Gottes in der. nach seinem Sinne wahren Bedeutung auslegte, ein vollständiges System einer neuen Religionslehre aufstellte und die Natur des Geisterreichs und dessen Zusammenhang mit der Menschenwelt in seltsamen Visionen enthüllte, welche die Aufmerksamkeit Kants erregten und diesen veranlassten, Swedenborg in seinen »Träumen eines Geistersehers« (1766) für einen Erzphantasten und Schwärmer zu erklären (vgl. Rob. Zimmermann, Kant und der Spiritismus, Wien 1879).

Um seinen religiösen Bestrebungen ungestört leben zu können, hatte er schon 1747 seine amtliche Stellung aufgegeben, bezog jedoch eine königliche Pension. Während einer Reise, die er im Interesse seiner Lehre unternommen hatte, erkrankte er in London und starb daselbst. Die Zahl seiner Anhänger (Swedenborgianer) nahm langsam zu; sie verbreiteten sich sporadisch über Schweden, Polen, England und Deutschland; am meisten fasste die »neue Kirche« oder das »neue Jerusalem« (New Jerusalem church) in England festen Fuß, wo es 1893: 81 Gemeinden gab und die 1810 gegründete Swedenborg-Society für die Verbreitung seiner Schriften wirkt, sowie in der neuern Zeit auch in Nordamerika. Die Richtung Swedenborgs wird hier in verschiedenen Zeitschriften vertreten, so in »The New-Church Review«, »The New Church Messenger« u. a. Vorübergehend war auch Goethe von Swedenborg beeinflusst (im sogen. »Urfaust«)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

16 Fox

"Fox, George, Stifter der Sekte der Quäker (s.d.), geb. im Juli 1624 zu Drayton in der engl. Grafschaft Leicester, gest. 13. Jan. 1690, gab sich als Lehrling eines Schuhmachers und Lederhändlers dem Grübeln über Religionsgegenstände hin, bis er, 19 Jahre alt, angeblich eigner Visionen und Offenbarungen sich zu erfreuen anfing. Seit 1649 redete der »Mann in der ledernen Hofe« öffentlich gegen den Trunk, gegen den Zehnten, gegen Prozesse und gegen den Krieg, verbot, den Hut vor jemand abzunehmen, die Knie vor einem Menschen zu beugen, einen Eid abzulegen. Bald wurde er ins Gefängnis, bald ins Irrenhaus gebracht, zuweilen genötigt, den Schutz des Protektors Cromwell in Anspruch zu nehmen. Unter der Restauration hatte er grausame Verfolgungen zu erdulden. Seit 1670 auf Reisen nach Amerika, Holland und in das nördliche Deutschland, um die Mennoniten, Labadisten und andre Sekten für seine Lehre zu gewinnen, starb er, nachdem er noch die Sicherung des Bestandes seiner Gemeinde unter Wilhelm III. erlebt. Die Reinheit seines Strebens und seines Wandels haben selbst seine Feinde zugestanden. Seine Schriften erschienen gesammelt 1694 bis 1706 in 3 Bänden. "

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

17 Louise Lateau

"Lateau (spr. -to), Louise, Stigmatisierte, geb. 30. Jan. 1850 als Tochter eines Eisenbahnarbeiters zu Bois d'Haine in Belgien, gest. 25. Aug. 1883, wurde seit 24. April 1868 mit den an jedem Freitag blutenden Wundenmalen (s. Stigmatisation) begnadigt, wozu seit Juli 1868 Ekstase und seit März 1871 angeblich gänzliche Speiseenthaltung mit Ausnahme der täglich genossenen Kommunion kam. Die Geistlichkeit, an ihrer Spitze der Bischof Dumont von Tournai, beutete den rätselhaften Zustand jahrelang im Interesse der katholischen Kirche aus, die Gott durch solches Wunder auszeichne, und als Dumont 1880 vom Papst für irrsinnig erklärt und abgesetzt wurde, soll die Lateau für ihn Partei ergriffen haben. Eine von der medizinischen Fakultät in Brüssel mit der Untersuchung des Falles beauftragte Kommission aber kam zu dem Ergebnis, die Lateau leide an »stigmatischer Neuropathie«. Seit 1880 galt sie nur noch als krank."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

18 Beg(h)arden

"Beginen und Begarden (Beguinen, Beghinen), religiöse Genossenschaften, in der zweiten Hälfte des 12. Jahrh. von dem Lütticher Priester Lambert le Beghe (gest. 1177) gestiftet, nicht, wie man lange angenommen hatte, von der heil. Begga, der Mutter Pippins von Heristal. Lambert, dessen Auftreten als Bußprediger an das seiner jüngern Zeitgenossen Petrus Waldes und Franz von Assisi erinnert, wollte seinen Anhängerinnen in der Lütticher Frauenwelt, denen die Gegner bald den Spottnamen Béguines gaben, eine Stätte bieten, wo sie ihr Leben unter seiner Leitung in Weltentsagung und Keuschheit nach dem Beispiel Christi gestalten könnten. Der Rücktritt in das Weltleben war ihnen dabei freigestellt. Wie in den Niederlanden, so haben sich auch in den Nachbarländern, besonders in Deutschland, bis nach Spanien, Italien, Böhmen und Polen hinein die Beginen ungemein rasch und massenhaft verbreitet, so dass man z. B. in Köln zeitweilig gegen 150 Konvente zählte. Eine wesentliche Umgestaltung erfuhren sie schon im 13. Jahrh. dadurch, dass sie zum großen Teil unter die Leitung der Bettelorden kamen und sich dadurch deren dritten Orden (s. Tertiarier) assimilierten. Im Zusammenhang damit stehen auch die Anklagen wegen Hegung mystisch-pantheistischer Ketzereien, die seit dem Anfang des 14. Jahrh. gegen die Beginen, vielfach ganz grundlos, erhoben wurden und zu zeitweiliger Aufhebung der Genossenschaften sowie zu blutigen Verfolgungen führten. Gleichzeitig wurde auch der Zugang von Angehörigen der höhern Stände zu den Beginen spärlicher, so dass ihre Konvente allmählich den Charakter von Versorgungsanstalten und Armenhäusern annahmen. Noch heute gibt es Beginengenossenschaften in den Niederlanden; 1896 bestanden in Belgien, und zwar ausschließlich im Bereich des flämischen Sprachgebietes, noch 15 Beginenhöfe mit 1230 Insassen, von denen 869 den beiden Genter Höfen angehörten; ihre Beschäftigung wechselt zwischen frommer Beschaulichkeit und weiblichen Handarbeiten, namentlich Spitzenklöppelei. Von den Männerkonventen der Begarden, deren ersten wir um 1220 begegnen, und die sich z. T. mit Weberei, Bierbrauerei und andern Gewerben ihren Unterhalt verdienten, später aber durch ihre Bettelei eine Landplage wurden, überdauerten nur die dem Franziskanerorden angegliederten niederländischen die Reformationszeit; die Stürme der Revolution machten ihnen ein Ende."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

19 Nikolaus Storch, einer der sog. Zwickauer Propheten

"Zwickauer Propheten nennt Luther die Tuchmacher Nikolaus Storch und Thomas Drechsel, die Wortführer der verarmten, reformatorisch gesinnten Handwerker in Zwickau. Storch, der sich besonderer Offenbarungen rühmte, hatte Müntzer im spiritualistisch-taboritischen Sinne beeinflusst. Im Dez. 1521 wichen beide mit dem ehem. Wittenberger Studenten Markus Thomae, gen. Stübner, dem dritten der »Propheten«, vor Maßnahmen des Rats nach Wittenberg und beteiligten sich an der Seite Karlstadts und Zwillings an der dortigen Bewegung. Martin Borrhaus und der Kölner Dr. Gerhard Westerburg († 1558 als ref. Pfarrer in Ostfriesland) schlossen sich ihnen an. Melanchthon und Amsdorf standen ihrem Verständnis von Wort und Geist und der Ablehnung der Kindertaufe theologisch ungerüstet gegenüber. Erst Luther entzog ihnen in Privatgesprächen und Zwickauer Gastpredigten den Boden. Storch bereitete 1523/24 in Westthüringen und Hof den Bauernkrieg vor und lebte später (1536) still in seiner Heimat. Die spätere Historiographie leitete fälschlich das Täufertum ( Täufer) von den Zwickauer Propheten her."

[Quelle. Johann Friedrich Gerhard Goeters (1926 - ). -- In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG3). -- Bd. 6. -- 1963. -- Sp. 1951]

20 Thomas Münzer

"Münzer, Thomas, Schwärmer im Reformationszeitalter, geb. vor 1499 in Stolberg am Harz, gest. 30. Mai 1525 in Mühlhausen, studierte Theologie und ward 1519 Kaplan des Nonnenklosters in Beutitz vor Weißenfels. 1520 als evangelischer Prediger nach Zwickau berufen, trat er mit einer schwärmerischen Bruderschaft, deren Haupt der Tuchmacher Niklas Storch war, in Verbindung und ward daher 1521 seiner Stelle entsetzt. Er wandte sich hierauf zuerst nach Prag, sodann nach Nordhausen, bis er 1523 als Prediger zu Allstedt in Thüringen angestellt ward. Hier trat er als fanatischer Gegner alles Kirchentums auf und forderte mit Berufung auf sein »inneres Licht« eine Radikalreform im Kirchlichen wie im Politischen. 1524 genötigt, Allstedt zu verlassen, ging er nach Mühlhausen, von wo er seine »Hochverursachte Schutzrede und Antwort wider das geistlose, sanftlebende Fleisch zu Wittenberg« veröffentlichte. Nachdem er einige Zeit in Nürnberg, Basel, im Hegau etc. zugebracht, kehrte Münzer im Dezember 1524 nach Mühlhausen zurück und ward 1525 von den Wiedertäufern zum Pfarrer daselbst berufen. Er gewann sofort die Volksmenge, ernannte sich zum Vorsitzenden des aus seinen Anhängern neuerwählten Rates und drang auf Gütergemeinschaft, Beseitigung der Kindertaufe etc. Umsonst eiferte Luther gegen den »Mordpropheten« und seine Sendboten; bald stand alles Land rings um Mühlhausen in hellen Flammen des Aufruhrs. Als der Landgraf Philipp von Hessen kriegsgerüstet den Bauern entgegentrat, eilte Münzer nach Frankenhausen, ward aber hier 15. Mai 1525 völlig geschlagen. Auf der Flucht ergriffen, wurde er gefoltert und zu Mühlhausen nebst 25 andern Aufrührern 30. Mai enthauptet. Sein Leben beschrieben unter andern: Melanchthon (»Die Historie von Thome Müntzer des anfengers der döringischen Uffrur«, 1525), Strobel (Nürnb. 1795), in neuerer Zeit Seidemann (»Thomas Münzer, eine Biographie«, Leipz. 1842) und A. Stein (H. Nietschmann, Halle 1900)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

21 Hans Böhm

"Böhm, Hans, der Pfeifer von Niklashausen, Hirte und Dorfmusikant in Helmstadt im Taubertal, begann in dem nahen Wallfahrtsort Niklashausen seit Mitfasten 1476 über eine Marienerscheinung zu predigen. Mit schwärmerischer Marienverehrung verbanden sich pfaffenfeindliche und kommunistische Gedanken, die in dem durch Hussitentum und Sekten erregten Mittel- und Süddeutschland breiten Widerhall fanden. Wenngleich Böhm mit Billigung des Ortspfarrers predigte, scheinen seine Predigten doch eigene Gedanken wiederzugeben. Er war nicht nur Werkzeug. Als die Wallfahrt die kirchliche Ordnung zu zerstören drohte, verbot sie der Erzbischof von Mainz. Am 12.7.1476 ließ der Bischof von Würzburg Böhm verhaften und nach einem vergeblichen Befreiungsversuch seiner Anhänger am 19.7. verbrennen. Predigt und Wallfahrt sind Symptom der im Bauernstand des Spätmittelalters herrschenden religiösen und sozialen Erregung."

[Quelle: G. Franz (1902 - 1992). -- In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG3). -- Bd. 1. -- 1956. -- Sp. 1340]

22 Epileptiker

"Der [epileptische] Anfall wird in seltenen Fällen regelmäßig oder doch gewöhnlich durch eine sogen. Aura eingeleitet, d.h. der Kranke hat die Empfindung, als ob er an gehaucht würde, und diese Empfindung steigt von den Händen oder Füßen nach dem Kopf zu auf und geht sofort in den Anfall selbst über. Häufiger leitet ein Gefühl des Kribbelns, der Wärme, der Erstarrung oder eines eigentümlichen Schmerzes an den verschiedensten Körperstellen, der von da bis zum Gehirn fortschreitet, den Anfall ein. In andern Fällen gehen Zuckungen oder Lähmungen einzelner Glieder (motorische Aura), Halluzinationen, Funken- und Farbensehen. Ohrensausen, Wahrnehmung gewisser Geräusche, Schwindel u. dgl. dem Anfall voraus.

Den Ausbruch des Anfalles bezeichnet gewöhnlich ein greller Schrei, mit dem der Kranke plötzlich besinnungslos zu Boden stürzt. Er hat fast nie Zeit, sich auf den Fall vorzubereiten, sondern er fällt rücksichtslos, oft an den gefährlichsten, todbringenden Stellen. Daher tragen die Epileptiker nach längerm Bestand der Krankheit fast regelmäßig die Spuren von Verletzungen an sich.

Beim großen, typischen epileptischen Anfall (Hautmal, grand-mal) treten nach dem Hinstürzen gewöhnlich zunächst mehr tonische Muskelkontraktionen, eine Art starrkrampfähnlichen Zustandes, ein, wobei der Kopf rückwärts und seitwärts gezogen, der Mund fest geschlossen, die Augen nach oben und innen gerollt, der Brustkorb festgestellt und die Atmungsbewegungen zum Stillstand gebracht werden. Nach wenigen Momenten stellen sich aber bereits klonische, d.h. Schüttelkrämpfe ein, die sich schnell über den ganzen Körper verbreiten. Das Antlitz gerät in lebhafte Bewegung, die Kiefer werden unter Zähneknirschen gewaltsam auseinander gepreßt, wobei nicht selten die Zunge verletzt (daher bestehen bei Epileptikern der schweren Form immer Narben an der Zungenspitze und an den Zungenrändern) und Schaum vor dem Munde gebildet wird. Kopf und Rumpf werden durch die Schüttelkrämpfe hin und. her geworfen, Arme und Beine zeigen stoßende, schlagende und zuckende Bewegungen gewaltsamster Art. Die Finger sind gewöhnlich gekrümmt, der Daumen ist fest in die Hand eingeschlagen. Die Atmung ist während des Anfalles schwer gestört, der Herzschlag beschleunigt, der Puls gewöhnlich klein, manchmal unregelmäßig, die Haut mit Schweiß bedeckt, das Gesicht blaurot gefärbt. Oft läßt der Kranke während des Anfalles Stuhlgang und Urin unter sich gehen. Das Bewußtsein ist während der ganzen Dauer des Anfalles vollständig erloschen. Nach 1-10, höchstens 15 Minuten erlischt der Anfall bald allmählich, bald plötzlich, oft mit einem langen seufzenden Ausatmen, seltener mit Erbrechen, Aufstoßen, Abgang von Blähungen u. dgl.

Gewöhnlich verfallen die Kranken unmittelbar nach dem Anfall in einen tiefen Schlaf mit langsamer und geräuschvoller Atmung, weckt man sie, so pflegen sie verstört um sich zu blicken und finden sich schwer in ihrer zufälligen Situation zurecht. Am andern Morgen sind sie zwar noch etwas angegriffen und verdrießlich, können aber ihren gewöhnlichen Verrichtungen wieder nachgehen.

Von dem geschilderten Verlauf eines Anfalles kommen zahlreiche Abweichungen vor. Zuweilen sind die Anfälle so leicht, daß die Kranken selbst sie nicht merken und auch die Umgebung nur aufmerksam wird, wenn die Befallenen Gegenstände, die sie gerade in der Hand haben, fallen lassen oder plötzlich in der Rede stocken oder aus den Reden andrer gewisse Bruchstücke nicht gehört haben. Krampferscheinungen können dabei vollständig fehlen. Man bezeichnet diese übrigens immer mit Bewußtlosigkeit verbundenen Zustände als epileptischen Schwindelanfall (Vertigo epileptica, petit-mal, Absencen).

Auch andre Störungen treten bei Epileptischen zuweilen als Ersatz (Äquivalent) für einen regulären Anfall ein, wie plötzliche Geistesabwesenheit mit Grimassenschneiden, Verdrehen des Kopfes und der Glieder, Stottern oder dieselbe Bewußtseinsstörung mit traumhaften impulsiven Handlungen, die durch die traumartige Verworrenheit, durch das Triebartige, oft tierisch Wilde der Handlungen, zuweilen, wenn es sich um mehrere Anfälle bei ein und demselben Individuum handelt, auch durch den Nachweis des Gleichartigen in den Handlungen als »psychisch- epileptisches Äquivalent« erkannt wird. Man hat derartige, den Krampfanfall ersetzende Zustände auch als Dämmerzustände bezeichnet. Während derselben können die Kranken anscheinend ganz zweckmäßige überlegte Handlungen ausführen, was in strafrechtlicher Beziehung wichtig ist. Ein weitgehender Erinnerungsdefekt ist für die Dämmerzustände typisch.

Die Pausen zwischen den einzelnen Anfällen dauern bei manchen Kranken mehrere Jahre, bei andern wochen- und monatelang, während wieder andre Kranke fast täglich einen oder selbst mehrere Anfälle erleiden. Eine ganz regelmäßige Aufeinanderfolge der Anfälle kommt niemals vor.

Die Anfälle treten bei manchen Individuen während des Tages, bei andern während der Nacht ein. Manchmal folgen die einzelnen Anfälle in Serien von großer Zahl hintereinander, so daß das Bewußtsein zwischen den einzelnen gar nicht wiederkehrt (Status epilepticus).

Manche Fälle von Epilepsie sind verknüpft mit Störungen in dem gesamten Geistesleben, die man als epileptisches Irresein zusammenfaßt. Hierhin gehören zunächst Geistesstörungen, die den eigentlichen Anfällen kurz vorausgehen (präepileptisches Irresein) oder ihnen unmittelbar folgen (postepileptisches Irresein), oder endlich vikariierend für einen Anfall eintreten (psychisch-epileptisches Äquivalent, s. oben). Diese Zustände sind oft durch Angst, durch Verfolgungsideen, massenhafte Sinnestäuschungen, Delirien ausgezeichnet; die Kranken werden nicht selten zu Mord, Selbstmord, Diebstahl oder Brandstiftungen getrieben, und da alle diese Handlungen ohne Bewußtsein ausgeführt werden, so bieten sich bei gerichtlichen Verhandlungen oft außerordentliche Schwierigkeiten dar, ob man es mit einem Verbrecher oder einem Irren zu tun hat. Den Delirien folgt meist eine tiefe geistige Ermattung, die in eine Periode geistiger Klarheit übergeht. In diesem Stadium der Epilepsie müssen die Kranken notwendigerweise in Irrenanstalten oder gleichwertigen, unter ärztlicher Leitung stehenden Spitälern untergebracht werden.

Aber abgesehen von den eigentlichen epileptischen Geistesstörungen, wird bei fast allen Kranken nach und nach der ganze geistige und körperliche Habitus geändert. Schärfe des Urteils, Gedächtnis und Einbildungskraft nehmen ab; die rohern Triebe treten mehr hervor und treiben den Kranken nicht selten zu gewaltsamen und verbrecherischen Handlungen. Oft ziehen sie sich scheu vor den Menschen zurück, werden launenhaft, quälen ihre Umgebung und geraten bei unbedeutenden Veranlassungen in maßlosen Zorn. Hochgradiger Schwachsinn (epileptische Demenz) ist das Endglied in der Kette der geistigen Veränderungen."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

23 Franz von Assisi

"Giovanni Bernardone war der Sohn eines wohlhabenden Kaufmannes und seiner französischen Ehefrau; das Elternhaus kann bis heute besichtigt werden. Als Jüngling bekam er den Rufnamen Francesco wegen seiner von der Mutter geerbten Vorliebe für die französische Sprache und ritterlich-höfisches Leben. Er führte ein fröhliches und sorgloses Leben und wollte Ritter werden. Nach einer Schlacht zwischen Assisi und Perugia wurde er über ein Jahr in Perugia festgehalten und litt während seiner Gefangenschaft an einer schweren Krankheit, die ihn zu seiner Bekehrung führte. 1203 wurde er aus der Gefangenschaft befreit, kehrte nach Assisi zurück, unternahm eine Wallfahrt nach Rom und und pflegte Leprakranke. Schon in jener Zeit galt er als Sonderling und hatte unter Spott zu leiden; er aber ging geduldig wie ein Taubstummer und mit heiterem Gesicht durch die Menschenmenge. Sein Vater machte sich Gedanken, was den Sohn wohl zu solcher Gelassenheit trotz aller Kränkungen und zu solcher Weltverachtung motivierte.

Für die Wiederherstellung der kleinen Kirche S. Damiano verkaufte Franziskus im Jahr 1207 einige Tuchballen aus dem Besitz seines Vaters und wurde von diesem zur Rede gestellt; Franziskus entledigte sich der Überlieferung nach als Antwort vor den Augen des Bischofs und einer großen Menge Zuschauer aller seiner Kleider und entsagte dem Erbe mit den Worten "Weder Geld noch Kleider will ich von dir, von jetzt an nenne ich nur noch einen Vater, den im Himmel!" Er rannte nackt aus der Stadt und verabschiedete sich so von Herkunft und Gesellschaft. 1207 bis 1209 führte er ein Einsiedlerleben, währenddessen wird ihm der Aufbau von zwei anderen zerstörten Kirchen zugeschrieben.

Während einer Messe im Jahr 1208 soll Franziskus eine Stimme vernommen haben, die ihn mit dem Wortlaut des Matthäusevangeliums aufforderte, in die Welt zu gehen, allem Besitz zu entsagen und Gutes zu tun (Matthäusevangelium 10, 5 - 14). Alte Freunde neckten ihn, seine Braut heiße nun "Armut". Die Berufung zur Armut, zu hilfreicher Tat und Predigt legte er seiner Regel mit der Gründung des "Ordens der Minderbrüder", "Minoriten" 1209/10 zugrunde: er versammelte zwölf Apostel um sich, die die ersten Brüder des späteren "Ersten Ordens" der Franziskaner wurden und Franz zu ihrem Oberhaupt wählten.

Zunächst wurde Franziskus für verrückt erklärt, doch faszinierte Franziskus' tiefer Ernst, seine glühende Liebe zu Gott und zur Schöpfung, seine Zuneigung zu den Menschen immer mehr. Er verzauberte die Menschen geradezu. Wenn er in die Stadt kam - so wird berichtet -, ließen die Leute die Glocken läuten, die Geistlichen freuten sich, die Männer frohlockten, die Frauen freuten sich mit, die Kinder klatschten in die Hände und zogen Franziskus mit Blätterwedeln entgegen, so wie damals die Jerusalemer Jesus entgegenzogen; er wurde wie aus einer anderen Welt kommend angesehen und verehrt. Die ersten, einfachen, später verloren gegangenen Ordensregeln wurden 1210 von Papst Innozenz III. mündlich gebilligt, nachdem er die Vision eines zu seinen Füßen aufwachsenden Palmbaums hatte, in der ein armer unbekannter Mönch die berstenden Mauern der Laterankirche stützt.

1212 nahm Franziskus Klara von Assisi, eine junge Nonne adliger Abstammung, in seine Gemeinschaft auf. Durch ihre Bekehrung wurde die Schwesterngemeinschaft der Klarissinen gegründet, der spätere "Zweite Orden" der Franziskaner. Von den Benediktinern bekam er die kleine Kirche S. Maria degli Angeli unterhalb von Assisi geschenkt; Franziskus nannte sie in "Portiuncula", "kleines Fleckchen", und baute daneben zunächst bescheidene Hütten, woraus später ein Haus und das Stammkloster der Franziskaner wurde.

Die Überlieferung berichtet eine für Franziskus typische Geschichte: Ein reißender Wolf versetzte die Umgebung der Stadt Gubbio in Angst und Schrecken. Franziskus wollte ihm entgegentreten; aber die Bürger warnten ihn: "Hüte dich, Bruder Franz! Geh nicht vors Stadttor! Der Wolf hat schon viele gefressen, er wird auch dich jämmerlich töten!" Franziskus ging dennoch ohne jeden Schutz zum Wolf in den Wald, nannte ihn seinen Bruder und versprach ihm, für die tägliche Nahrung zu sorgen. So zähmte er ihn; der Wolf lebte noch zwei Jahre. Von Tür zu Tür ließ er sich in Gubbio versorgen, ohne jemandem Leid anzutun. Nie bellte ein Hund gegen ihn, die Leute fütterten ihn freundlich, bis er schließlich an Altersschwäche starb.

Gegen Ende des Jahres 1212 machte sich Franziskus auf den Weg ins Heilige Land, erlitt jedoch Schiffbruch und sah sich zur Rückreise gezwungen.

Eine Begegnung mit Dominikus und ein Traum, der beide bestätigt, wird von Dominikus erzählt. Als Wanderprediger kam Franz 1212 nach Dalmatien, 1213 - 1215 bis nach Südfrankreich und Spanien. Er wurde als "poverello" weithin bekannt und innig verehrt; durch seine "süße Rede" beeindruckte er die Menschen und wurde "Troubadour Gottes" genannt.

Durch Franziskus' Predigt und seinen vorbildlichen Wandel entstanden schon zu seinen Lebzeiten zahlreiche Klöster auch jenseits der Alpen; sie erlangten in den wachsenden Städten neben denen der Dominikaner entscheidende Bedeutung für Armenpflege, Seelsorge und Predigt. Immer wieder betonen die Zeugnisse Franziskus' sanftmütige Demut allen Menschen und auch der armen Kreatur gegenüber - alle waren ihm Schwester und Bruder, auch Sonne, Mond und Tod, wie es sein "Sonnengesang" ausdrückt und wie es die verschiedenen Legenden von der "Vogelpredigt" zeigen.

Zur Zeit Franziskus' war die Gesellschaft im Umbruch von einer rein bäuerlich strukturierten zu einer Gesellschaft, in der es erste Städte und Anfänge einer echten Geldwirtschaft gab. Das geregelte Leben der Benediktiner fand auf diese Umbrüche zunächst keine Antwort; Franziskus wollte nun keinen neuen Orden gründen und kein Regelwerk vorgeben, sondern in der Zeit der Umbrüche einfach eine Gemeinschaft bilden, die nach dem Vorbild Jesu lebt. Gegen die Gewalt von Machthabern stellte er Jesu Gewaltverzicht, gegen die Geldwirtschaft das Prinzip der Armut; das Heil des Menschen war ihm wichtiger als das Vermögen. Franziskanischer Geist ist der Protest und ein Modell gegen die bürgerlich-kapitalstische Gesellschaft.

Bei weiteren Reisen im Rahmen des 5. Kreuzzuges gelang es ihm zwar 1219, in Ägypten zu predigen, jedoch nicht, den Sultan el Malik el Kamil zu bekehren. Franziskus bot den muslimischen Priestern die Feuerprobe an: er sei bereit, durch ein Feuer zu schreiten um zu beweisen, welcher Glaube der richtige sei. Der Sultan jedoch wagte diese Entscheidung nicht. Von dort aus zog Franziskus weiter ins Heilige Land, wo er bis 1220 blieb. Nach seiner Rückkehr fand er die Ordensbrüder in Uneinigkeit vor und trat von der Leitung des Ordens zurück. Die nächsten Jahre verbrachte er mit der Planung eines neuen Ordens - des späteren "Dritten Ordens", der "Tertiare" der Franziskaner: ein Orden für Menschen, die in der Welt nach Ordensregeln leben wollen. Eigentlich wollte Franziskus für sich und seine Brüder keine Ordensregeln, ihm genügte die Botschaft Jesu: "Willst Du vollkommen sein, so geh hin, verkaufe, was du hast, und gib es Armen" (Matthäusevangelium 19, 21), aber das Leben in der Gemeinschaft brauchte doch eine Ordnung. 1223 bestätigte Papst Honorius III. die endgültigen Regeln des Franziskanerordens.

1222 zog Franziskus sich in die Einsamkeit von Alverna, einem kleinen Kloster, zurück. Auf seine Bitte, am Leiden Jesu Anteil haben zu dürfen, wurde er am Michaelistag - nach anderer Überlieferung am Tag der Kreuzfindung - des Jahres 1224 nach 40 Tage langem Fasten auf dem Berg La Verna stigmatisiert: der Gekreuzigte in Gestalt eines Seraphs, von sechs Seraphenflügeln überhöht und bedeckt, oder von einem solchen getragen, neigte sich ihm; seitdem trug Franziskus, vom Leidenserlebnis Christi durchdrungen, die Wundmale an Händen, Füßen und an der Seite, aber er verheimlichte sie, so dass sie erst bei seinem Tod erkannt wurden; dies war die erste bezeugte Stigmatisierung der Kirchengeschichte.

Die Entbehrungen und die Erschöpfung beeinträchtigten zunehmend seine Gesundheit, schließlich drohte Franziskus auch zu erblinden. Zur Behandlung kam er nach Siena, doch er lehnte weitere medizinische Hilfe ab, diktierte sein Testament und ließ sich unter großem Geleit nach Portiuncula zurücktragen. Dort starb er auf bloßem Boden liegend und nackt, um auch im Sterben Jesus ähnlich zu sein, umgeben von seinen Ordensgenossen, mit denen er gemeinsam und in froher Erwartung von "Bruder Tod" das Abendmahl gefeiert hatte. Seine Brüder bestatten ihn in Assisi.

Über Franziskus' Grab wurde mit dem Bau der Doppelkirche San Francesco - sie besteht aus zwei übereinander gebauten Kirchen - unmittelbar vor der Heiligsprechung mit der Grundsteinlegung durch den Papst 1228 begonnen; 1253 wurde der Bau fertig gestellt . Aus Angst vor Reliquienräubern blieb die Grabstätte zunächst unbekannt und wurde erst 1818 gefunden; nun wurde das Grabmal geschaffen.

Zahlreiche Heilungen und Wunder folgten dem "Pater seraphicus" auch nach seinem Tode. Franziskus' Verehrung breitete sich durch Fülle und Innigkeit der unmittelbar nach seinem Tod aufgezeichneten Legenden rasch aus. Sie sind erhalten in seinem "Testament" und in den 1228 verfassten "Legenden der drei Gefährten", die 1318 mit den Tagebuchnotizen des Bruders Leo, des ständigen Begleiters von Franziskus, als "Speculum perfectionis" zusammengefasst wurden. Der "Vita" des Franziskanerbruders == Thomas von Celano folgte die des späteren Ordensgenerals Bonaventura, als "Legenda maior" 1260 verfasst. Auf diesen Grundlagen beruhen die 60 Taten und Wundererzählungen in der Legenda Aurea. Bis heute wallfahrten hunderttausende Menschen nach Assisi. Reliquien werden auch in Rom, Arezzo, Florenz, Cortona und Kriens in der Schweiz verehrt.

 Kanonisation: Die Heiligsprechung erfolgte schon im Jahr 1228 durch Papst Gregor IX. 1939 wurde Franziskus zum Patron Italiens ernannt, 1980 erklärte ihn Papst Johannes Paul II. zum Schutzpatron der Ökologen.

Attribute: mit den Wundmalen Jesu, mit Tieren wie Wolf, Lamm, Fischen und v. a. Vögeln

 Patron von Italien und Assisi; der Armen, Lahmen, Blinden Strafgefangenen und Schiffbrüchigen; der Weber, Tuchhändler, Schneider, Kaufleute, Flachshändler, Tapetenhändler, Sozialarbeiter; der Sozialarbeit und des Umweltschutzes; gegen Kopfweh und Pest"

[Quelle: http://www.heiligenlexikon.de/index.htm?BiographienF/Franziskus_von_Assisi.htm. -- Zugriff am 2005-01-149 

24 Savonarola

"Savonarola, Girolamo (Hieronymus), berühmter ital. Reformator, geb. 21. Sept. 1452 in Ferrara, gest. 22. Mai 1498 in Florenz, studierte Theologie und Philosophie und trat, von dem weltlichen Treiben in seiner Vaterstadt abgestoßen, 1475 in das Dominikanerkloster in Bologna. Hier wandte er seine Aufmerksamkeit den Schäden der Kirche zu, die er in dem Gedichte »De ruina ecclesiae« behandelte, und predigte seit 1482 in Florenz, Brescia und andern Städten. 1490 als Lektor in das Kloster San Marco in Florenz berufen, wurde er 1491 dessen Prior und entfaltete nunmehr als Schriftsteller, Lehrer und Prediger eine außerordentliche Tätigkeit, die auf Hebung wahrer Religiosität und Sittlichkeit im scharfen Kampfe gegen die Gebrechen in Staat und Kirche abzielte. Mit besonderer Vorliebe weilte er bei den strafenden Gesichten der Offenbarung Johannis, deren nahe bevorstehende Erfüllung ihm das Erscheinen Karls VIII. von Frankreich in Italien und die Vertreibung der Medici aus Florenz (1494) gewährleistete. Nunmehr griff er selbst in die Politik ein. Geistliches und Weltliches verknüpfend, bewirkte er, daß anfangs 1495 in Florenz in schroffem Gegensatz gegen die mediceische Weltfreudigkeit eine Republik auf theokratischer Grundlage entstand, in der er zwar keine amtliche Stellung einnahm, aber durch seine Predigten ausschlaggebenden Einfluß übte, dem Florenz mannigfache Gesetze zur Hebung von Zucht und Sitte, Bestrafung öffentlicher Laster zu danken hatte. Zum Karneval 1495 wurden die Zeichen weltlicher Lust aus der ganzen Stadt zusammengeschleppt und verbrannt. Die Hinrichtung mediceischer Parteigänger hat Savonarola nicht gehindert. In heftigem Streit standen sich die Parteien gegenüber: die Anhänger Savonarolas (Frateschi, d.h. »Mönchische«, oder Piagnoni, d.h. »Wimmerer« oder »Heuler«) und seine Gegner (Arrabbiati, die über das »Narrenregiment« des Mönches »Wütenden«). Diese Gegner, hinter denen die Macht der Medici und des durch Savonarolas schonungslose Angriffe gereizten Papstes Alexander VI. stand, der den Mönch vergeblich nach Rom zu locken suchte, erhielten binnen kurzem die Oberhand. Vor allem regte sich die Opposition der auf Savonarolas moralisches Ansehen eifersüchtigen Franziskaner. Schon 4. Mai 1497 kam es gelegentlich einer Predigt des Dominikaners zu heftigen, mit Lebensgefahr für Savonarola verbundenen Tumulten. Am 12. Mai exkommunizierte ihn der Papst, und der Bann übte auch in Florenz seine Wirkung. Erst gegen Ende 1497 gestatteten die Behörden dem Gebannten wieder einige geistliche Handlungen; seit Februar 1498 predigte er von neuem und schonungsloser als je gegen die Verderbtheit der Kirche und ihres Hauptes. Um seine Lehren als göttlich zu erweisen, erboten sich die Dominikaner von San Marco zur Feuerprobe, und die Franziskaner stellten sich dem Gericht, dessen Abhaltung am 7. April die Behörde genehmigte, das aber nicht zur Ausführung kam, weil die Gegner es durch allerhand Machenschaften zu verhindern wußten. Den Nachteil hatte Savonarola, da die zusammengeströmte Volksmasse nunmehr in seinen Prophetenberuf verstärkte Zweifel setzte. Tags darauf wurde San Marco gestürmt, Savonarola vor die Signoria geführt und einem parteiisch zusammengesetzten Gerichtshof übergeben. Der Papst sandte zur Leitung des Prozesses zwei Delegierte. In langen Verhandlungen, bei denen die Folter nicht gespart wurde, suchte man Savonarola mürbe zu machen. Er blieb fest und starb schweigend den Feuertod. Seine Asche wurde in den Arno geworfen. Fra Bartolommeo aber ging in seine Werkstatt und zog um das Bild des Freundes einen goldenen Reif, und noch heute streben die Dominikaner Savonarolas Heiligsprechung an. 1875 wurde ihm in Ferrara ein Denkmal (von Galotti) errichtet, 1881 eine Kolossalstatue (von Passaglio) im Palazzo pubblico in Florenz. Die Jahrhundertfeier 1898 bewies, daß sein Andenken noch immer Gegenstand leidenschaftlicher Erörterung ist. Eine Sammlung von Werken Savonarolas erschien zu Lyon 1633-40 in 6 Bänden; »Opere inedite«, anonym herausgegeben von N. Tommaseo, 1835. Eine Sammlung der wichtigsten Predigten und andre Schriften gaben Villari und Casanova heraus (»Un saggio delle prediche e degli scritti di G. Savonarola« Flor. 1898). Den reichsten Bestand an Savonarola-Drucken weist die in der Nationalbibliothek zu Florenz aufgestellte Guicciardinische Bibliothek auf. Zahlreiche Neudrucke einzelner Schriften wurden gelegentlich der Jahrhundertfeier veranstaltet."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

25 haranguieren (französisch): eine Ansprache an die Menge halten

26 corona (lateinisch): Kranz

27 Seligpreisungen der Bergpredigt, Matthäusevangelium 5

" 1Da er aber das Volk sah, ging er auf einen Berg und setzte sich; und seine Jünger traten zu ihm,
2Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach:

3Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr.
4Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.
5Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.
6Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.
7Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.
8Selig sind, die reines Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.
9Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen.
10Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn das Himmelreich ist ihr.
11Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei Übles gegen euch, so sie daran lügen.

[Luther-Bibel 1912]

28 Masaniello

"Masaniello, eigentlich Tommaso Aniello, der Hauptanführer beim Aufstand in Neapel 1647, geb. 1623 in Positano bei Amalfi, lebte in Neapel als Fischer und Obsthändler. Veranlassung zu dem Aufstand gab ein 3. Jan. 1647 vom Vizekönig, Herzog von Arcos, erlassenes Edikt, das eine hohe Abgabe auf Getreide und Früchte legte und den ohnehin schweren Steuerdruck, der unter der spanischen Herrschaft auf Neapel lastete, erheblich steigerte. Nachdem schon im Mai in Palermo das Volk sich erhoben hatte, brach 7. Juli auch in Neapel die Unzufriedenheit gewaltsam aus, als auf dem Markt ein Streit zwischen den Fruchthändlern und Steuererhebern entstand. Masaniello, dessen Frau wegen Umgehung der Abgabepflicht bestraft worden, und der daher gegen die Regierung erbittert war, rief die Menge zur Selbsthilfe; die Steuerhäuser wurden geplündert und niedergerissen, die Gefängnisse erbrochen und der Vizekönig, dessen sich die Aufständischen bemächtigten, gezwungen, die Abschaffung der Steuern zu versprechen. Indessen rettete er sich in der Nacht in das Kastell und überließ die Stadt den Rebellen. Masaniello übte nun eine unbeschränkte Herrschaft, hob die Steuern auf Nahrungsmittel auf und schlug, zum Generalkapitän des Volkes erwählt, die heranziehenden Truppen zurück. Täglich saß er auf dem Platz Toledo zu Gericht, und seine Todesurteile wurden auf der Stelle vollzogen. Masaniello war gutmütig und nicht ohne edle Regungen, aber eitel, selbstgefällig und ohne höhere Ziele. Durch die Vermittelung des Erzbischofs Filomarino kam endlich 12. Juli zwischen dem Herzog von Arcos und Masaniello ein Vertrag zustande, der die Abschaffung der neuen Steuern und Amnestie versprach und 13. Juli in der Kirche del Carmine beschworen wurde. Von da an traten bei Masaniello Anzeichen des Irrsinns hervor, und es ward daher dem Vizekönig leicht, das Volk, das schon die Versöhnung mit dem Vizekönig mit Mißtrauen betrachtet hatte, zum Abfall von dem »von Gott Gezeichneten« zu bestimmen. Als Masaniello 16. Juli in der Kirche del Carmine das Volk aufforderte, ihn zu beschützen, ward er nach dem Kloster del Carmine gebracht und hier von vier Banditen, die Arcos gedungen, mit Flintenschüssen getötet. Tags darauf veranstaltete ihm das reuige Volk ein großartiges Totenfest und setzte seine Leiche in der Kirche del Carmine bei. Auber benutzte den Stoff zu der Oper »Die Stumme von Portici«."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

29 Im sog. Täuferreich von Münster:  Holländische Wiedertäufer gründeten seit 1533 in Münster ein Staatswesen mit einem Zionskönig an der Spitze, Gütergemeinschaft, Vielweiberei u. ä.. Erst durch mehrere protestantische Fürsten im Verein mit dem Bischof wurde die Stadt eingenommen und durch die Hinrichtung der Anführer dem neuen Reich 1535/36 3ein Ende bereitet.

30 Halluzination:

"Halluzination (lat. hallucinatio von hallucinari = faseln) heißt die Sinnestäuschung, durch welche der Mensch eine reproduzierte Vorstellung abwesender Gegenstände für eine Empfindung nimmt und diese veräußerlicht, d.h. in die Außenwelt projiziert. Von der einfachen Sinnestäuschung (Nachbilder, Doppeltsehen) unterscheidet sie sich durch die Zusammengesetztheit der Wahrnehmungen, von der Illusion durch Abwesenheit eines veranlassenden Reizes. Doch ist auch bei der Halluzination nicht ausgeschlossen, dass kleine, unmerkbare Reize die Reproduktion veranlassen. Entweder usurpiert eine Vorstellung eine schon vorhandene Empfindung, oder sie begründet selbst eine neue. Solche Täuschungen entstehen aus abnormer Reizung der Sinnesnerven. Es handelt sich dabei entweder um abnorme Empfindungen im Innern des Leibes oder in den peripherischen Sinnesorganen oder um solche, die aus Reaktion gegen äußere Erregungen stattfinden.
  • Zu jenen gehören die Wahngebilde der Säufer von Ratten und Flammen im Unterleib, die Kugel der Hysterischen. Bisweilen bilden sich Seelenkranke, Sterbende, Trunkene ein, sie hätten einen ganz anderen Leib, etwa von Glas, Holz oder dergl.
  • Zur zweiten Art sind die Gesichtebilder Sterbender, das Glockengeläute bei Kongestionen des Gehirns, der Leichengeruch, der manche stets verfolgt, zu rechnen.
  • Bei der dritten Art glaubt der Mensch, wenn er sich selbst im Spiegel sieht, einen Toten, einen Dämon zu sehen, oder fortgesetzt Schimpfworte zu hören. E

Eine Abart der Halluzination. ist die Vision (s. d.). Oft werden Mörder vom Gesicht ihres Opfers verfolgt, Pascal sah, seitdem er in Gefahr gewesen, in die Seine zu stürzen, zeitlebens einen Abgrund neben sich, Shakespeares Macbeth sieht den Geist Bankos.

Wie ansteckend diese Psychose ist, zeigt der Hexenglaube, die Gespensterfurcht, das »zweite Gesicht« (second sight) der Schotten und das »Ragl« der Wüstenreisenden. Vgl Wundt, Grundriß d. Psych. § 18, 3 S. 331. B. A. Mayer, die Sinnestäuschungen, Halluzinationen und Visionen. 1869. Leubuscher, Grundzüge z. Pathol. d. psych. Krankheiten. 1848. Clemens, die Sinnestäuschungen. 1858. Perty, die myst. Erscheinungen d. mschl. Nat. 2. Aufl. 1872. Wundt, Grundz. d. phys. Psych. II 430 ff. Hellpach, Grenzwissenschaften der Psychol. 1902. S. 309 ff."

[Quelle: Kirchner, Friedrich <1848-1900>: Kirchner's Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe. -- 5., neubearb. Aufl. / von Carl Michaëlis. -- Leipzig : Meiner, 1907. -- S. 255f.]

31 M. Jacobi kann ich nicht identifizieren

32 meskin = mesquin (französisch): kleinlich

33 ralliieren = rallier (französisch): wieder sammeln

34 französische Kommune

"Als Pariser Kommune wird der Pariser Stadtrat von 18. März 1871 bis 28. Mai 1871 bezeichnet, der gegen den Willen der Regierung nach sozialistischen Vorstellungen Paris zu verwalten versuchte.

Nach der Niederlage der Franzosen bei Sedan im Deutsch-Französischen Krieg im September 1870 wurde im Innern Frankreichs die Ausrufung der Dritten Französischen Republik erzwungen, der Adolphe Thiers als Premierminister vorstand. Er hatte im Januar 1871 in Versailles mit Deutschland einen Waffenstillstand geschlossen, um revolutionären Unruhen im eigenen Land begegnen zu können. In der Nacht zum 18. März 1871 versuchten von ihm Beauftragte, die verteidigungsbereite Nationalgarde von Paris zu entwaffnen. Dies war der Anlass für den offenen Aufstand. Der gewählte Pariser Gemeinderat (franz. Commune) verkündete die allgemeine Volksbewaffnung und ordnete die Verteidigung von Paris sowohl gegen die vor den Toren der Hauptstadt stehenden deutschen Truppen als auch gegen die französischen konterrevolutionären Truppen an. Der Rat der Kommune begann mit sozialen, politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensbedingungen des Volkes. Ab dem 21. Mai 1871 wurde in der so genannten "Blutwoche" der Aufstand niedergeschlagen. Es wurden in den Kämpfen und den folgenden Massenexekutionen ca. 30.000 Personen getötet."

[Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Pariser_Kommune. -- Zugriff am 2005-01-14]

35  tant bien que mal: schlecht und recht, einigermaßen

36 actor rerum: treibende Kraft

37 Seelsorge

38 Matthäusevangelium 27, 11: "Jesus aber stand vor dem Landpfleger; und der Landpfleger fragte ihn und sprach: Bist du der Juden König? Jesus aber sprach zu ihm: Du sagst es."

39 Johann Hus (1369 - 1415): böhmischer Reformator, auf dem Konzil von Konstanz als Ketzer verbrannt

40 Servet

"Servet, Michael (eigentlich Miguel Serveto), gelehrter Arzt und Antitrinitarier, geb. wahrscheinlich 29. Sept. 1511 zu Tudela in Navarra, gest. 27. Okt. 1553 in Genf, studierte in Toulouse die Rechte, kam im Gefolge Karls V., dessen Kaiserkrönung er beiwohnte, nach Deutschland und stand hier in Diensten des kaiserlichen Beichtvaters Quintana. 1530 wandte er sich nach Straßburg, wo ihm Capito und Butzer bekannt wurden, und veröffentlichte in Hagenau sein Werk »De trinitatis erroribus« (1531) und begründete die darin entwickelten antitrinitarischen Gedanken in den am gleichen Ort erschienenen »Dialogi de trinitate« (1532). Nach Frankreich zurückgekehrt, lebte er meist in Paris oder Lyon, studierte Astrologie, Mathematik und Medizin und erwarb sich durch seine Herausgabe des Ptolemäos einen ebenso geachteten Namen als Geograph, wie er als Arzt und Physiolog sich namentlich durch seine bahnbrechenden Ausführungen über den Blutumlauf hervortat. Seit 1540 zu Vienne lebend, geriet er durch seine im Januar 1553 in Lyon herausgegebene Schrift »Christianismi restitutio«, in die seine frühern antitrinitarischen Schriften, neu bearbeitet, aufgenommen wurden, mit der katholischen und protestantischen Theologie in Zwiespalt. Zwar entkam er aus dem Gefängnis in Lyon im April 1553, ward aber in Genf auf Calvins Anzeige abermals festgenommen, vergebens zum Widerruf ermahnt und, nachdem sich die vier evangelischen Ministerien von Zürich, Bern, Basel und Schaffhausen gutachtlich gegen ihn ausgesprochen hatten, 26. Okt. 1553 vom Rat zu Genf, besonders auf Calvins (s. d.) Andringen, zum Tode und zwar, gegen Calvins und der übrigen Prediger Wunsch, zum Feuertod verurteilt, den er, standhaft bei seiner Lehre beharrend, erlitt. 1903 wurde ihm in Genf ein Sühnedenkmal errichtet. Die »Christianismi restitutio« ist bis auf drei Exemplare in Paris, Wien und Edinburg verschollen. Einen Neudruck veröffentlichte Murr (Nürnb. 1791), eine deutsche Übersetzung Spieß u. d. T.: »Wiederherstellung des Christentums« (Wiesbad. 1892-95, 2 Bde.; ein 3. Bd., das. 1896, enthält einige lateinische Texte)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

41 Sand

"Sand, Karl Ludwig, patriotischer Schwärmer. geb. 5. Okt. 1795 in Wunsiedel, studierte seit 1814 in Tübingen Theologie, trat nach Napoleons I. Rückkehr von Elba als Freiwilliger in die bayrische Armee, konnte aber nicht mehr am Kampfe teilnehmen. S. bezog die Universität Erlangen und gründete hier eine Burschenschaft; 1817 ging er nach Jena. Voll schwärmerischer Begeisterung für Vaterland und Freiheit, dabei nicht ohne Eitelkeit, plante er die Ermordung des damals in Mannheim lebenden A. v. Kotzebue (s. d.), der als Verräter Deutschlands, Spion Russlands und mutmaßlicher Urheber der Verfolgung Ludens, Okens u.a. galt. Er verließ 9. März 1819 Jena und langte 23. März in Mannheim an. Gegen 5 Uhr abends als Heinrich aus Mitau bei Kotzebue vorgelassen, stieß er ihm nach einigem Hin- und Herreden einen Dolch mit den Worten: »Hier, du Verräter des Vaterlands!« in die linke Seite. Kotzebue stürzte sogleich zusammen, während S. sich selbst einen Stich und auf der Straße einen zweiten in die Seite gab. Seine Wunden waren jedoch nach einigen Wochen wieder geheilt. Alle Bemühungen seiner Richter, Mitschuldige und eine Verschwörung zu entdecken, waren vergebens. S. bekannte die Tat offen als eine Folge seiner Grundsätze und war der festen Überzeugung, nichts Unrechtes getan zu haben. Am 17. April 1820 zum Tode durchs Schwert verurteilt, wurde S. 20. Mai, früh 5 Uhr, vor dem Heidelberger Tor hingerichtet. Sands Tat, deren Nachahmung der Anschlag gegen Ibell (s. d.) war, hatte die Karlsbader Beschlüsse (s. d.) zur Folge. Der Theolog De Wette wurde, weil er einen Trostbrief an Sands Mutter schrieb, seiner Stelle in Berlin entsetzt. "

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

42 Sofia Perovskaja, russische Nihilistin, Mitglied der Terrororganisation Narodnaja Wolja, wurde als eine der Beteiligten am Attentat auf Zar Alexander II 1881 hingerichtet.

"Schon im nächsten Jahr [1879] entsteht eine mächtige terroristische Organisation: die Narodnaja Wolja. ...

Narodnaja Wolja hatte Ableger in fünfzig Städten und beim militärischen Kader, einen Stützpunkt in Genf und zählte über tausend Mitglieder. Nun zeigte sich, über welches Potenzial eine gut organisierte, konsequent agierende Terrororganisation verfügt und was sie auszulösen vermag.

Jagd auf den Zaren

Zum wichtigsten Ziel dieser Organisation wurde die Jagd auf den Zaren. Innerhalb dreier Jahre verübte Narodnaja Wolja sieben Attentate auf Alexander II. - jenen Herrscher, der als «Befreier» in die Geschichte einging, weil er die Leibeigenschaft abgeschafft und andere wichtige Liberalisierungen durchgeführt hatte. Für Revolutionäre war dies zu wenig radikal. Heute bewerten Historiker die Reformen Alexanders II. als einen Schritt zum möglichen Rechtsstaat, vor allem weil sich der Zar Ende der siebziger Jahre für die Einführung einer quasi konstitutionellen Ordnung entschied. Der Öffentlichkeit war dies bekannt, Mitte Februar 1881 wurde sogar die baldige Veröffentlichung eines entsprechenden Erlasses offiziell angekündigt. Das passte Narodnaja Woljaüberhaupt nicht ins Konzept: Sie wollte die Eskalation, nicht die Entschärfung des Konflikts. Und so beeilte sie sich mit den Vorbereitungen für einen neuen Anschlag. Die Leitung der Vorbereitungen übernahm im letzten Moment eine Frau: Sofia Perowskaja.

Am 1. März war es so weit. Am Morgen unterschrieb Alexander II. das Dokument und gab die Anordnung, es zu veröffentlichen. Drei Stunden später wurde er bei einer Fahrt durch St. Petersburg von einer Bombe getötet. Die Folgen dieses Terroraktes waren für Russland fatal: Im Grunde wurde der Weg der Reformen, der Demokratisierung, der zu diesem Zeitpunkt durchaus möglich war, zerstört. Noch in derselben Nacht befahl der Sohn des ermordeten Zaren, Alexander III., die Publikation des Gesetzes zu stoppen. Sodann machte er nicht nur das Gesetz rückgängig, sondern rückte auch von der liberalen Linie seines Vaters ab. Er tat damit genau das, was die Terroristen von ihm erwarteten. Sofia Perowskaja und andere Anführer wurden hingerichtet. Hunderte von Mitgliedern landeten in Gefängnissen und in der Verbannung.

Narodnaja Wolja löste sich auf, aber ihr Ziel hatte sie erreicht. Angesichts der Repression und der reaktionären Politik unter Alexander III. erlebte die Revolutionsbewegung den erhofften Aufschwung, die Befürworter eines gewaltsamen Umsturzes des Zarenregimes wurden immer zahlreicher. Die Apologeten der Gewalt hatten in der Revolutionsbewegung von nun an einen festen Platz. Bereits 1887 versuchte die neu entstandene Terroristische Fraktion der Partei Narodnaja Wolja ein Attentat auf Alexander III. Es misslang. Wieder wurden Anführer hingerichtet. Darunter Alexander Uljanow. Am Tag seiner Hinrichtung schwor sein jüngerer Bruder, der damals siebzehnjährige Wladimir Uljanow, den Kampf seines Bruders gegen den Zarismus fortzusetzen - wenn auch mit anderen Mitteln. Später nahm er den Namen Lenin an und - wie es in einem sowjetischen Witz hiess - «rächte ganz toll den Tod seines Bruders». Die bolschewistische Partei, die er führte, entstammte jenem Teil der revolutionären Bewegung, der von der Legitimität terroristischer Gewalt zutiefst überzeugt war. Sie war es denn auch, die im 20. Jahrhundert für den Kampf gegen den Zarismus - aber auch gegen alle anderen revolutionären Parteien - den individuellen Terror zum Massenterror weiterentwickelte."

[Quelle: Marina Rumjanzewa. -- http://www.nzzamsonntag.ch/dossiers/2003/terrorismus/2001.11.26-fe-article7SEVE.html. -- Zuggriff am 2005-01-16]

43 Angiolillo

"Michelle Angiolillo war Italiener, zunächst Redakteur, hatte er wegen radikaler Äußerungen das Land verlassen müssen und kam schließlich nach England, wo er als Komponist arbeitete.

1896 waren in Spanien als Reaktion auf ein Bombenattentat ca. 300 Menschen verhaftet worden. Einige von ihnen waren Anarchisten, die meisten jedoch waren Gewerkschafter und Sozialisten. Sie wurden in das Gefängnis Montjuich gebrachte und dort brutalsten Folterungen unterworfen. Viele von ihnen starben. Die wenigen Überlebenden fanden Asyl in England, als weltweite Proteste ihre Freilassung erzwungen hatte. Dort sah Angiolillo mit eigenen Augen die Spuren der Folterungen am Körper der Opfer.

Verantwortlich für die unmenschliche Behandlung der Gefangenen in Montjuich war der damalige spanische Premierminister Antonio Cánovas del Castillo. Am 8.8.1897 machte dieser Urlaub in Santa Agueda, einem Bad an der spanischen Nordküste, wo ihn Angiolillo als angeblicher Korrespondent einer italienischen Zeitung aufsuchte und erschoss. Angiolillo wurde zum Tod durch die Garrote (Erwürgen) verurteilt."

[Quelle: http://www.wolfgang-rieger.de/OnlineTexte/Panizza/Christus.htm. -- Zugriff am 2005-01-14]

44 Kasuisten

"Kasuistik bezeichnet einen Begriff aus der Moraltheologie und der Rechtswissenschaft und anderen Gebieten. Das Wort ist abgeleitet von lat. casus "Fall" und bezeichnet das Bestreben, allgemeine moralische oder rechtliche Grundsätze auf Einzelfälle zu beziehen in der Form "wenn – dann" und diese immer differenzierter auszulegen.

Durch diese jahrhundertealte Praxis, möglichst komplizierte und unwahrscheinliche Grenzfälle zu konstruieren erhielt der Begriff der Kasuistik den "pejorativen Beigeschmack von spitzfindiger Spielerei mit Eventualitäten" (Peter Kunzmann).

Anwendung in der Rechtswissenschaft

Beispiel:

  • Grundsatz: Du sollst nicht töten.
  • Kasuistik: Wenn aber du selbst oder ein anderer von einem Angreifer lebensgefährlich bedroht wird und du die Möglichkeit hast, den Angriff abzuwehren, musst du das tun und darfst dabei den Tod des Angreifers als äußerste Konsequenz in Kauf nehmen.

Abgelehnt wird jede Kasuistik von den Vertretern einer reinen Gesinnungsethik. Sie berufen sich dabei nicht zuletzt auf die Bergpredigt, haben jedoch Schwierigkeiten, "gut" und "böse" mit konkreten Inhalten zu füllen.

Hermetische Lückenlosigkeit strebten die kasuistischen Systeme katholischer Moraltheologen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts an. Das Ergebnis waren oft angstbesetzte und zwanghafte Charaktere.

Positives Recht kann ohne Kasuistik nicht auskommen. Das Funktionieren der Rechtsordnung hängt jedoch von einer breiten Akzeptanz der zugrundeliegenden Werte ab."

[Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Kasuistik. -- Zugriff am 2005-01-14]


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