Herausgegeben von Alois Payer (payer@payer.de)
Zitierweise / cite as:
Widmann, Josef Victor <1842 - 1911>: Zum Lebensbilde Salomon Vögelins. -- 1888. -- Fassung vom 2005-02-22. -- URL: http://www.payer.de/religionskritik/widmann05.htm
Erstmals publiziert: 2005-02-22
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Dieser Text ist Teil der Abteilung Religionskritik von Tüpfli's Global Village Library
Erstmals veröffentlicht in:
Der Bund : unabhängige liberale Tageszeitung Verlag. -- Bern : Der Bund. -- 1888. -- Nr. 290.
Wieder abgedruckt in:
Widmann, Josef Victor <1842 - 1911>: Josef Viktor Widmann : "ein Journalist aus Temperament" : ausgewählte Feuilletons / hrsg. von Elsbeth Pulver und Rudolf Käser. -- Gümligen : Zytglogge-Verlag Bern, ©1992. -- 304 S. : Ill. ; 21 cm. -- ISBN 3-7296-0426-0. -- S. 110 - 115 [Hier nach dieser Ausgabe wiedergegeben]
Zu Josef Victor Widmann siehe:
Widmann, Josef Victor <1842 - 1911>: "Die Sünden Gottes". -- 1882. -- URL: http://www.payer.de/religionskritik/widmann01.htm
Payer, Alois <1944 - >: Materialien zum Neobuddhismus. -- Kapitel 14: Buddhismus in anderen Ländern. -- 1. Buddhismus in der Schweiz. -- URL: http://www.payer.de/neobuddhismus/neobud141.htm. -- Zugriff am 2005-02-03
Zum Lebensbilde Salomon Vögelins1.
Abb.: Salomon Vögelin (1837 - 1888)
[Bildquelle: Historisch-biographisches Lexikon der Schweiz / hrsg. mit der Empfehlung der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz ; unter der Leitung von Heinrich Türler, Marcel Godet, Victor Attinger ; in Verbindung mit zahlreichen Mitarb. aus allen Kantonen ; mit vielen Karten, Bildnissen und Wiedergaben alter Dokumente in und ausser dem Text. -- Deutsche Ausgabe. -- Neuenburg : Administration des Historisch-biographischen Lexikons der Schweiz, 1921-1934. -- Bd. 7. -- 1934. -- S. 283]
Salomon Vögelin ist nie ein Kind gewesen. Schon dem dreijährigen
Knaben war als Aufenthalt die Studierstube des gelehrten Vaters2, des
bedeutenden Philologen angewiesen. Hier saß er neben dem still arbeitenden
Professor, selbst still beschäftigt mit dem Besehen nicht etwa gewöhnlicher
Kinderbücher, sondern der Kupfertafeln ernster Werke, so dass bereits früh unter
der sorgfältigen Förderung des Vaters sein Sinn für Kunstschönheit, für
historische Denkmäler u. dgl. geweckt wurde. Die Vorteile und die Nachteile
einer derartigen Erziehung liegen auf der Hand. Salomon Vögelin lernte mehr und
gründlicher, als andere lernen, und im fast ausschließlichen Umgange mit
Erwachsenen reifte sein Geist frühe und bekam die Richtung nach großen, ernsten
Zielen. Aber es fehlte der Sonnenschein harmloser Kinderfreuden und in
physischer Beziehung die harmonische Ausbildung der natürlichen Körperkräfte.
Für letztere hat Vögelin auch später so viel wie nichts getan. Sein Leben ging
gänzlich auf in seinen geistigen Interessen; diesen opferte er ohne Besinnen den
Nachtschlaf, die Stunden nach Tisch, wo andere gern ruhen, ja die Essenszeit
selbst, indem häufig neben dem Teller das aufgeschlagene Buch lag und er wohl
gar zwischen den Gängen der Mahlzeit aufsprang und an den Schreibtisch eilte.
Die außerordentliche Frühreife und gediegene Bildung Vögelins brachte es sodann
mit sich, dass er alle seine Altersgenossen in dieser Beziehung weit überragte
und folglich im Falle war, auf dieselben hie und da herabzusehen und bald ihr
nur oberflächliches Wissen, bald ihre noch unentwickelte Geistesbeschaffenheit
zu bemerken und wohl auch zu tadeln. Solcher Tadel, oft mit ätzendem Spott
vermischt, entsprang hauptsächlich dem Wunsche, die Genossen anzuspornen, ihr
bestes zu tun. Vögelin unterschätzte nicht leicht wirkliche Begabung, wo ihm
dieselbe entgegentrat. Aber er fand zuweilen, dass solche begabte Naturen sich
bequem auf ihr Talent verließen und sich nicht so zusammennahmen und aufrafften,
wie er selbst, der von jeher fleißige Arbeiter, es zu tun gewohnt war. Die Art,
wie er dann anspornte und stachelte, mag an die Art erinnern, wie seiner Zeit
Herder den jungen Goethe behandelte, auch an die scharfe Kritik, welche Merck3,
ein anderer Freund Goethe's übte. Man weiß, dass Herder von Goethe und von
andern Zeitgenossen deshalb für hochmütig und selbst herzlos gehalten wurde.
Auch gegen Vögelin ist dieser Vorwurf oft erhoben worden, während, wer Vögelin
näher kannte, sich einfach gestehen musste, dass er gegen andere nur eben so
unerbittlich streng verfahre wie gegen sich selbst. Es mag hier — da wir
soeben Herder erwähnt haben — eingeschaltet werden, dass Vögelin vor etwa
zwanzig Jahren mit großer Freudigkeit an einer Biographie Herders arbeitete, die
unseres Wissens niemals an die Öffentlichkeit gelangt und wohl auch nicht
vollendet ist; Schreiber dieser Zeilen hat das Manuskript, das die
Jugendgeschichte Herders behandelte, in Händen gehabt. Es muss sich in dem
gewiss überhaupt sehr reichen handschriftlichen Nachlass Vögelins finden. Je
mehr man nun über das Leben Vögelins nachdenkt, desto mehr muss man finden, dass
es ein tragischer Lebensfaden war, den hier die Parzen4 spannen. Die
Tragik beruht in dem doppelten Gegensatze, in den Vögelin von den
Jünglingsjahren an zu seinen vortrefflichen Eltern geriet. Selbst streng
religiös, hatten sie versucht, den Sohn auch, den sie frühzeitig zum Pfarramte
bestimmten, in eben solcher strenger Religiosität zu erhalten. Und eine Zeit
lang schien es, als ob der Versuch gelingen dürfte. Gleichsam in instinktiver
Furcht vor dem Abgrunde, der ihn vom Herzen seiner Eltern scheiden könnte, wenn
er sich dem philosophisch-skeptischen Denken überließe, warf sich der Jüngling
in das demselben entgegengesetzte Extrem, in eigentlichen Pietismus. Es war dies
ein dem Herzen dargebrachtes Opfer des Intellekts, das jedoch bei einem so
scharfen Denker auf die Dauer nicht fortgesetzt werden konnte. Während seiner
Hochschulstudien — wir wissen nicht mehr, ob
in Heidelberg oder in Berlin — brach er auf einmal mit der ihm anerzogenen
Auffassung des Christentums und die Revolution seines inneren Menschen trat so
jäh und gewaltsam ein, dass man an das Wunder des Saulus, der zu Paulus5
wurde, denken könnte; nur werden die Strenggläubigen sagen, dass aus dem Paulus
ein Saulus geworden ist.
Abb.: Salomon Vögelin als Student
[Bildquelle: Josef Viktor Widmann : ein Lebensbild. -- Frauenfeld ; Leipzig : Huber & Co., 1922-1924. -- 2 Bde. -- Erste Lebenshälfte / verfasst von Elisabeth Widmann. -- 1922. -- 412 S. -- Nach S. 112]
Nun war es ein rechtes Herzeleid für die Eltern, dass Vögelin Theologe studiert hatte und Pfarrer wurde, indem nach ihrer Sinnesart es nichts Schlimmeres auf der Welt geben konnte, als einen „ungläubigen Pfarrer". Und wie sehr wurde er letzteres! Mit der vollen Rücksichtslosigkeit des Wahrheitsfanatikers warf er das ganze dogmatische Erbteil des Christentums über Bord, und da die hieraus entstehenden Kämpfe mit den Ansichten des Elternhauses und der Freunde desselben den jungen Mann erbitterten, wurde er allerdings bis an die äußerste Grenze einer geradezu zynischen Verachtung der Lehre gedrängt, als deren Prediger (in Uster6) er doch amten musste. Es war dies die dunkelste Zeit im Leben Vögelins, der den schwarzen Rock ungefähr so trug, wie dies sonst nur in der römisch-katholischen Kirche von Seite der heimlich voltaireanischen Kardinale des vorigen Jahrhunderts geschehen ist. Nur Eines war ihm heilig in seinem Pfarramte — die Armut. Die Armen von Uster können es auch nach bald einem vollen Menschenalter nicht vergessen haben, welchen treu um sie sorgenden Pfarrer sie damals hatten. Aber in dieser seiner ebenso verständnisvollen als aufopfernden Tätigkeit eines Dieners an den Ärmsten und Niedrigsten im Volke bildete sich der zweite Gegensatz heraus, in den er mit seiner Familie und deren Freunden geriet. Vögelin, der aus eigener Anschauung jetzt erst recht die sozialen Schäden im Volke kennen lernte, wurde Sozialdemokrat. Dies war wiederum eine vollständige Verleugnung seiner Herkunft und Abstammung aus einer wohlangesehenen Altbürgerfamilie Zürichs. Es war auch in gewissem Sinne eine Verleugnung seiner eigenen ererbten und anerzogenen ästhetischen Neigungen, indem solche immer mehr oder weniger aristokratischer Art sind, auf den Luxus und das feinere geistige Genussleben des Menschen sich beziehen, zu dem der Zutritt und das volle Verständnis auch noch heutzutage mehr nur den bevorzugten Klassen offen steht.
Abb.: Venus von Milo. -- Paris, Louvre
Der soziale Revolutionär wirft ohne Bedauern die Brandfackel in
die Schatzkammer des Louvre; ihm gilt das Leiden eines einzigen armen
Proletarierkindes mehr als alle Schönheit der Venus von Milo und der Madonna
Murillos. Dem Ästhetiker, umgekehrt, gilt ein totes griechisches Marmorbild mehr
als ein Haufe frierender und hungriger Menschen. Es besteht da ein Konflikt, der
nur, glücklicher Weise, im praktischen Leben nicht immer so mit seinen auf die
schärfste Spitze getriebenen Konsequenzen uns fühlbar wird; aber dass er
bestehe, ist wohl nicht zu leugnen. Vögelin nun hat wahrhaft herkulische
Anstrengungen gemacht, den Gegensatz dieser beiden einander so fremden Elemente
geistigen Epikuräertums7 in der Kunst und herzlicher Teilnahme für
die Leiden des Volkes in seinem Innern und in seiner Wirksamkeit nach außen zu
überwinden. Es geschah dadurch, dass er versuchte, die Kunst und Wissenschaft,
ohne diesen hehren Gewalten wehe zu tun, zu demokratisieren, ihre besten Früchte
dem Volke nahe zu bringen. Schon als Pfarrer in Uster versammelte er seine
Gemeindegenossen und legte ihnen schöne Bilder vor, über die er zu ihnen sprach
gemäß der ihm zu Gebot stehenden fesselnden mündlichen Darstellung. Und so hat
er es später auch immer gehalten. Er dünkte sich nicht zu vornehm in seiner
Gelehrsamkeit, das beste seiner Studien dem einfachsten Hörerkreise vorzulegen.
Er hatte Glauben an die natürliche Fassungsgabe auch des wenig gebildeten Mannes
aus dem Volke. Und so streute er reichlich Keime aus der Belehrung auf dem
Gebiete der Geschichte und der Kunstgeschichte, war auch mit Erfolg bemüht, in
den Büchern, die er veröffentlichte, z. B. im Text zu dem großen illustrierten
Werke: „Denkmäler der Weltgeschichte"8 eine allgemein verständliche
Sprache zu reden, die sich gar sehr von dem Kunstjargon der gewöhnlichen
gelehrten Handwerker unterscheidet.
Doch das wird man uns glauben, dass ein solches, wenn auch noch so fruchtbares
Leben, das sich aber durchaus im Widerspruch und Gegensatz gegen Jugend und
Vaterhaus entwickelte, von den vielen stillen Seelenkämpfen und auch von manchen
öffentlichen Fehden her einen Bodensatz von Bitterkeit empfing, der alles das
Herbe erklärt, was in Vögelins Natur zu Tage trat und so viele Personen, die ihm
nahe stunden, manchmal verletzte. Wohl hat seine spätere Lebensstellung, die
seine wissenschaftlichen Neigungen voll befriedigte und die — vor allem! —
ihn vom lästigen Pfarramte frei machte, viel zu einer mit zunehmenden Jahren
immer mehr hervortretenden Milderung seines Wesens beigetragen, und auch die
Erfolge, die er als Redner im Nationalrate und in Volksversammlungen erlangte,
machten ihn ruhiger und maßvoller. Aber etwas Gereiztes, Hastiges blieb an ihm
haften aus jener frühern Periode innerer und äußerer Kämpfe, und wie schon als
Jüngling, führte er auch als Mann mit Vorliebe im Gespräch die Waffen des
Spottes, der Ironie, und hatte besonders der sich spreizenden Dummheit und dem
Dünkel gegenüber zuweilen ein mephistophelisches Lächeln, das gar manchen aus
dem Konzept brachte und ihm bei vielen Bekannten den Ruf eines ungemütlichen, ja
unheimlichen Gesellschafters eintrug.
Doch wie groß war anderseits seine Treue gegenüber denen, die er als Freunde
erkannt hatte, eine Treue, die nicht in Phrasen schwelgte, — Phrasen waren
ihm tödlich versaßt und sogar auf der Kanzel hat er sich zu solchen nie
hinreißen lassen, — sondern eine Treue, die er einerseits durch Jahrzehnte
lang fortgesetzte gleichmäßige Pflege der Beziehungen betätigte, anderseits, wo
die Not es forderte, durch aufopfernde Hilfsbereitschaft an den Tag legte.
Letztere dehnte er überhaupt auf Bedürftige aus. Wohl stand an der zu seiner
Studierstube führenden Treppe ein Zettel angeschlagen: „Hier werden keine
Darlehen noch Bürgschaften gegeben". Aber dieser Zettel war nur ein Akt
äußerster Notwehr des um seiner Wohltätigkeit willen in den Kreisen der Armen
wohl bekannten und viel in Anspruch genommenen Mannes, der sich dann eben, damit
doch der Zettel wahr bleibe, dadurch half, dass er statt Darlehen Geschenke
verabreichte.
Getreu seiner demokratischen Überzeugung, allerdings aber auch durch wahrhafte
Neigung geleitet, suchte sich Salomon Vögelin die Lebensgefährtin in einer der
bescheidensten Wohnungen seiner Pfarrgemeinde Uster, statt in den vornehmen
Bürgerhäusern Zürichs anzuklopfen. Seine Wahl war in jeder Beziehung eine gute.
Die ihn überlebende Gattin hat treu zu ihm gehalten, sich als die zu ihm wie
vielleicht keine andere passende Hausfrau bewährt und ihn in dem letzten Jahre,
als nun schwere Krankheit über ihn kam, mit Sorgsamkeit gepflegt. Da die Ehe mit
Kindern nicht gesegnet war, adoptierte Vögelin ein kleines Mädchen von ärmlicher
Herkunft, auch hierin den sozialen Gedanken in lebensvolle Praxis übertragend.
Als ein Sonnenblick der letzten Jahre Vögelins dürfen wir es bezeichnen, dass
sein Verhältnis zu den Eltern sich viel besser und eigentlich herzlich
gestaltete, nachdem er nicht mehr als Geistlicher durch seine hervorragende
Rolle als Vorkämpfer im züricherischen Reformertum ihnen wehe tun musste. Noch
blieb die Differenz in den sozialpolitischen Anschauungen. Aber anderseits
vereinigten den Vater Vögelin mit dem hochbegabten Sohne die gemeinsamen
ästhetischen Neigungen und Studien. Insbesondere mochten im Elternhause jene
vortrefflichen Arbeiten Freude bereiten, in welchen Vögel in pietätvolle
Erinnerungen an Künstler oder sonstige hervorragende Männer des alten Zürich
pflegte und hiebei auch dem eigenen Großvater ein Denkmal setzen durfte. Solche
Aufsätze — unter ihnen der sehr wertvolle über den Maler Ludwig Vogel9
— erschienen als zürcherische Neujahrsblätter und werden immer sehr
gesucht sein. Zusammensuchen, zu sehr nur zusammensuchen muss man leider die
wissenschaftlichen Arbeiten Vögelins, die da und dort herauskamen, meistens als
wenig umfangreiche Flugschriften. Aus der geistlichen Zeit des Verstorbenen
erwähnen wir sein für die Schule bestimmtes „Leben Jesu"10 und seine
Predigten11. Mag man vom pädagogisch-methodischen Standpunkte gegen
das erstgenannte Buch mancherlei einwenden, es enthält doch sehr frappante
Gedanken, die oft in klassischer Kürze ausgesprochen sind und zugleich einen
Begriff geben, wie mutig der zum Freidenker gewordene einstige Pietist die
Ausbreitung der neuen Lehre betreiben wollte. Die Gegner freilich durften diesem
Buche gegenüber von „Fanatismus des Unglaubens" sprechen. Was Vögelins Predigten
betrifft, so sind sie, wie schon bemerkt, frei von Phrase; sie waren auch
niemals stilistisch studiert, bevor sie gehalten wurden. Es kam vor, dass
Vögelin, während er die große, breite Treppe emporstieg, die zur Kirche von
Uster6 hinaufführte, einen ihn begleitenden Freund bat, ihm irgend
einen Text zu bezeichnen, über den er predigen solle. Und er wählte wirklich den
ihm genannten Text und sprach über denselben etwa zwanzig bis dreißig Minuten
mit außerordentlicher Klarheit und Ruhe. Letztere war so groß, dass er nicht aus
der Fassung geriet, wenn er mit einer Gedankenreihe zu Ende war und erst
innehalten und überlegen musste, wie er den Faden nun weiter führen wolle. Das
war kein Steckenbleiben, sondern ein gemächliches Warten, auf das sodann die
Fortsetzung des religiösen Vortrags folgte. Derselbe begeisterte nicht. Vögelin
war keine phantastische und vollsaftige Natur wie Lang12, der
prächtige Kapuziner des Reformertums. Aber wenn er die Frauen besonders kalt
ließ, überzeugte er die Männer. Vögelins Reden, auch später die politischen,
waren eindringlich, weil sachgemäß, und unwiderstehlich durch die festgefügten
logischen Gebilde. «La raison finira par avoir raison»13 — dies
Wort ging meistens in Erfüllung, wo Vögelin sprach. Und wenn daher, wie es
später gar oft bei seinen Reden in Volksversammlungen der Fall war, jubelnder
Zuruf der Hörer den Redner belohnte, so entflammte die Bewunderung nicht bloßem
Ohrenkitzel durch pomphafte Worte, sondern dem Bewusstsein, Bereicherung des
eigenen Geistes erlangt zu haben, und bei vielen wohl auch der formellen Freude
an dem logisch gewaltigen Aufbau solcher Reden. Über die historischen und
kunsthistorischen Schriften Vögelins vermögen wir in diesem Augenblick nicht
einmal eine Übersicht, geschweige ein Urteil zu geben, und hoffen gar sehr, dass
eine kundige Hand sowohl Gedrucktes wie noch Ungedrucktes bald zusammenstellen
und den interessierten Kreisen zugänglich machen werde. Den Text zu „Denkmäler
der Weltgeschichte"8 haben wir erwähnt. Von den historischen Arbeiten
beziehen sich viele auf die Schweizergeschichte und einige speziell auf Zwingli14,
dessen politisches Handeln Vögelin als ein unheilvolles ansah. Gewann Vögelin in
solchen Dingen eine der herkömmlichen diametral entgegengesetzte Ansicht, so
stellte er sie gleichwohl in aller ihrer Schroffheit hin, unbekümmert, wer sich
daran stoße und welcher Klatsch sich daran knüpfe. So verhielt er sich auch in
politischen Fragen und verfocht z. B. die Gleichberechtigung der konservativen
Katholiken in der Bundesversammlung und Bundesverwaltung, worüber das alberne
Gerücht in Umlauf kam, Vögelin sei katholisch geworden!
Der knapp bemessene Raum zwingt hier zum Abbrechen und mancherlei bleibt
unausgesprochen, was dieses in Hast entworfene Lebensbild vervollständigen
könnte. So ist es ein Torso, wie das Wirken des im einundfünfzigsten Jahre
dahingestreckten Mannes ein Torso bleibt. Dass er seinen physischen Leiden
keinen stärkern Widerstand entgegenzusetzen vermochte, ist teilweise eine Folge
seiner über den geistigen Interessen die leiblichen stets vernachlässigenden
Lebensweise. Die Natur lässt sich nichts abtrotzen und rächt unerbittlich, wenn
man ihr, wenn auch aus den idealsten Beweggründen, den Tribut zu lange schuldig
geblieben ist. Nach schwerer Krankheit hat ihn Vögelin in seinem zu frühen Tode
entrichtet. Heute tragen sie in Zürich den müden Leib des geistesgewaltigen
Mannes zu Grabe. Möge dieser unser Beitrag zu Vögelins Lebensbilde als der Kranz
gelten, den wir an der Bahre eines Freundes darbringen, der sein Lebtag
Aufrichtigkeit über alles liebte und an seinem Leichenredner nichts so sehr
hassen würde als charakterlose Phrasen.
Erläuterungen:
1 Salomon Vögelin
"Vögelin, [Friedrich] Salomon, schweizer. Politiker und Kunsthistoriker, geb. 26. Juni 1837 in Zürich, gest. daselbst 17. Okt. 1888, studierte in Zürich, Basel, Heidelberg und Berlin Theologie und Kunstgeschichte, machte 1862 eine Reise nach Italien und nahm hierauf eine Pfarrstelle in Uster im Kanton Zürich an, wo er sich durch seine freireligiösen Überzeugungen zahlreiche Gegner verschaffte. Als 1867 die demokratische Bewegung im Kanton Zürich ausbrach, trat er mit als Führer an die Spitze und half 1868 die neue Verfassung ausarbeiten. 1869-74 gehörte er dem Kantonsrat, 1872-81 dem zürcherischen Erziehungsrat, 1875 bis zu seinem Tode dem Schweizer Nationalrat an, in dem er als glänzender Redner besonders die Arbeiterinteressen sowie die der Kunst vertrat. 1870 wurde Vögelin zum Professor der Kunst- und Kulturgeschichte an der Hochschule Zürich ernannt. Er schrieb: »Die Geschichte Jesu und der Ursprung der christlichen Kirche« (Rapperswil 1867); »Die Madonna von Loretto, eine kunstgeschichtliche Untersuchung« (Zür. 1870); »Denkmäler der Weltgeschichte« (Basel 1870-1878, 2 Bde.); »Die Holzschneidekunst in Zürich im 16. Jahrhundert« (Zür. 1879-82); »Der Holbeintisch auf der Stadtbibliothek in Zürich« (Wien 1878); »Das alte Zürich« (2. Aufl., Zür. 1878-90, 2 Bde.); »Ergänzungen und Nachweisungen zum Holzschnittwerk Hans Holbeins des Jüngern« (im »Repertorium für Kunstwissenschaft«, Bd. 2 u. 5,1879-83), Forschungen, die ihm den Ehrendoktor Basels eintrugen; »Das Leben Ludwig Vogels, Kunstmalers von Zürich« (Zür. 1881-82)." [Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]
2 Vaters:
"Anton Salomon Vögelin (1804 - 1880): Pfarrer, Griechischlehrer am Carolinum in Zürich 1828-1833, daneben Prediger und Privatlehrer, Professor am Gymnasium für Griechisch und Hebräisch 141 - 1875, Privatdozent für Altphilologie an der Universität Zürich 1833, a.o. Professor 1852 - 1868, Übersetzer antiker Schriftwerke, Dr. phil h.c. 1852, Bibliothekar der Stadtbibliothek 1841 - 1880, Verfasser verschiedener Neujahrsblätter." [Quelle: Historisch-biographisches Lexikon der Schweiz / hrsg. mit der Empfehlung der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz ; unter der Leitung von Heinrich Türler, Marcel Godet, Victor Attinger ; in Verbindung mit zahlreichen Mitarb. aus allen Kantonen ; mit vielen Karten, Bildnissen und Wiedergaben alter Dokumente in und ausser dem Text. -- Deutsche Ausgabe. -- Neuenburg : Administration des Historisch-biographischen Lexikons der Schweiz, 1921-1934. -- Bd. 7. -- 1934. -- S. 283]
3 Merck
"Merck, Johann Heinrich, Schriftsteller, geb. 11. April 1741 in Darmstadt, gest. daselbst 27. Juni 1791, bezog 1757 die Universität Gießen, begleitete dann einen Herrn v. Bibra auf Reisen und wurde 1767 in seiner Vaterstadt als Sekretär der Geheimkanzlei, im folgenden Jahr als Kriegskassierer mit dem Titel eines Kriegsrats angestellt. Seine eigne schriftstellerische Tätigkeit, die er schon im 21. Jahr durch anonyme Veröffentlichung von Übersetzungen englischer Werke begann, hatte weniger Bedeutung als der von ihm kritisch geübte Einfluss auf die Produktion hervorragender Zeitgenossen. Goethes Genius ist von keinem Menschen so früh erkannt und in den ersten Schaffensjahren so günstig geleitet worden als von Merck Aber auch zahlreiche andre ausgezeichnete Männer empfingen von ihm unmittelbar und mittelbar geistige Förderung und Beratung. Außer mit Goethe stand Merck mit Herder, G. Schlosser, Boie, Wieland, Nicolai, den Brüdern Jacobi, Claudius, Lavater, G. Forster, Lichtenberg u. a. in eifrigem Briefwechsel. Er war eine Zeitlang die Seele der auf seine Anregung 1772 wesentlich umgestalteten »Frankfurter Gelehrten Anzeigen« und gehörte später zu den wichtigsten Mitarbeitern von Wielands »Merkur« und der »Allgemeinen deutschen Bibliothek« Nicolais. Als literarischer Kritiker hat er die Lichtseiten wie die Schattenseiten der Sturm- und Drangperiode unbefangen gewürdigt. In seinen Aufsätzen zur Kunstkritik betrat er ein Gebiet, das bis dahin in den deutschen Zeitschriften sehr vernachlässigt worden war. Unter seinen dichterischen Versuchen verdient die Romanze »Pätus und Arria« (1775) Erwähnung. Fürstliche Personen suchten den Verkehr mit ihm; die Landgräfin Karoline von Hessen-Darmstadt wählte ihn 1773 zum Begleiter auf ihrer Reise nach Petersburg; der Herzog Karl August von Weimar, der ihn wochenlang auf der Wartburg bei sich hielt, ließ sich von ihm nicht nur in Kunst-, sondern auch in Staatsangelegenheiten gern beraten. Neben so vielfacher Tätigkeit, zu der seit 1782 eifrig betriebene paläontologische Studien kamen, befasste sich Merck auch mit mancherlei industriellen Unternehmungen. Hier schien ihm aber alles zu misslingen. Fehlgeschlagene Versuche auf diesem Gebiet trübten zuletzt die Klarheit seines Geistes. Dazu kam noch häusliches Missgeschick; seine Frau, die er in der französischen Schweiz kennen gelernt hatte, vermochte sich nicht in Deutschland einzuleben, und von sechs Kindern sind ihm vier früh gestorben. Die Verdüsterung seiner Seele, die sich auf einer Reise nach Paris 1790 nur vorübergehend lichtete, äußerte sich zuletzt in der ungegründeten Sorge, Verwirrung in seinen Kassengeschäften werde ihn in Schmach und Armut stürzen. Er endete selbst sein Leben durch einen Pistolenschuss." [Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]
4 Parzen
"Moiren (griech. Moirai, bekannter unter dem lat. Namen Parcae, Parzen), die griechischen Schicksalsgöttinnen, die jedem sein Geschick zuteilen. Bei Homer ist Moira das personifizierte Verhängnis, das dem Menschen von Geburt an nach dem Ratschluss der Götter beschieden ist. Hesiod kennt der Moiren drei: Klotho (Spinnerin), die den Lebensfaden spinnt, Lachesis (Erlosung), die seine Länge bestimmt, Atropos (die Unabwendbare), die ihn abschneidet. Sie heißen bald Töchter der Nacht, bald Töchter des Zeus und der Themis. Als das Schicksal von der Geburt bis zum Tod bestimmend, stehen sie mit der Geburtsgöttin Eileithyia und mit den Keren in Verbindung. Bald erscheinen sie als unparteiische Vertreterinnen der Weltordnung, bald als grausam und neidisch, bald als von Zeus' Willen abhängig, bald über ihm stehend. In der ältern Kunst erscheinen sie mit Zeptern als Zeichen der Herrschaft, später Klotho spinnend, Lachesis mit Lostäfelchen oder auf dem Globus mit einem Griffel schreibend, Atropos mit Schriftrolle, Schrifttäfelchen oder Sonnenuhr." [Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]
5 Apostelgeschichte 9
6 Uster, Marktflecken (heute Stadt) und Bezirkshauptort im schweizerischen Kanton Zürich
7 Epikuräertum: Genusssucht
8 Vögelin, Friedrich Salomon <1837 - 1888>: Denkmaeler der Weltgeschichte : Eine Sammlung der hervorragendsten Monumente. [in Stahlstich], grösstentheils nach Originalansichten / Geschichtlich und kunsthistorisch erläutert von S. Vögelin .... -- Basel : Chr. Krüsi, [1870-1878]. -- 2 Bände : Ill. ; 4°. -- [Die beiden Bände durchpaginiert mit je 1 Vortitel in Stahl-stich, enthalten zusammen über 200 Tafeln; sie sind Lieferungsweise erschienen]
9 Ludwig Vogel
"Vogel, Ludwig, Maler, geb. 10. Juli 1788 in Zürich, gest. daselbst 21. Aug. 1879, war anfangs Zuckerbäcker und trieb die Malerei nur in den Mußestunden. 1808 bezog er die Akademie in Wien und 1810 wanderte er nach Rom, wo er sich an Thorwaldsen, Koch und Cornelius anschloss. Hier entstand sein erstes größeres Bild: die Rückkehr der Schweizer aus der Schlacht bei Morgarten. Nachdem er sich noch eine Zeitlang in Florenz aufgehalten hatte, kehrte er in die Heimat zurück und führte dort bis in die Mitte der 1860er Jahre eine Reihe von Darstellungen aus dem Volksleben und der Geschichte der Schweiz aus. Eine der bekanntesten ist der von Gonzenbach gestochene Schweizerbund von 1307. Vgl. Vögelin, Das Leben Ludwig Vogels (Zürich 1881-82)." [Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]
10 Vögelin, Friedrich Salomon <1837 - 1888>: Titel Die Geschichte Jesu und der Ursprung der christlichen Kirche : Für das Volk und die höheren Volksschulen dargestellt. Verlag Rapperswyl am Zürichsee : [s.n.], 1867. Kollation 8°.
Vögelin, Friedrich Salomon <1837 - 1888>: Jésuz története és a keresztyén egyház eredete... : [Die Geschichte Jesu und der Ursprung der christlichen Kirche...] / [Ins Ungarische übersetzt von] Dömötör Bertalan... -- Kecskeméten : [s.n.], 1871.
11 Bibliographisch konnte ich nachweisen:
Vögelin, Friedrich Salomon <1837 - 1888>: Die Gemeinschaft der Kirche und ihr Grund : Drei Pedigten. Verlag Zürich : [s.n.], 1865.
Vögelin, Friedrich Salomon <1837 - 1888>:Gott ist nicht ein Gott der Todten, sondern der Gott der Lebendigen : Predigten gehalten zu Uster von Weihnachten 1862 bis Pfingsten 1864. -- Zürich : [s.n.], 1864.
12 Lang
"Lang, Heinrich, einer der namhaftesten Führer des theologischen Liberalismus, geb. 14. Nov. 1826 zu Frommern bei Balingen in Württemberg, gest. 13. Jan. 1876 in Zürich, ward 1848 Pfarrer von Wartau im Kanton St. Gallen, 1863 Pfarrer in Meilen am Züricher See, 1871 an St. Peter in Zürich. Die 1859 von ihm begründeten und redigierten »Zeitstimmen für die reformierte Schweiz« haben die wissenschaftlichen Resultate der neuern Theologie in die Gemeinde eingeführt; an ihre Stelle ist seit 1872 die von ihm und Langhans in Bern herausgegebene »Reform« getreten. In den weitesten Kreisen wirkte er durch: »Versuch einer christlichen Dogmatik« (Berl. 1858, 2. Aufl. 1868), »Ein Gang durch die christliche Welt« (das. 1859, 2. Aufl. 1870), »Religiöse Charaktere« (Winterthur 1862, 2. Aufl. 1872), »Stunden der Andacht« (das. 1862-65, 2 Bde.), »Das Leben des Apostels Paulus« (das. 1866), »Martin Luther« (Berl. 1870), ganz besonders aber durch seine geistvollen Predigten, von denen ein Band schon 1853 (St. Gallen), dann eine Reihe als »Religiöse Reden« (Zür. 1873-74, 2 Bde.; 3. Aufl. 1896) erschienen ist. Vgl. Biedermann, Heinrich Lang (Zür. 1876)." [Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]
13 wird d'Alembert zugeschrieben
14 Vögelin, Friedrich Salomon <1837 - 1888>: Ulrich Zwingli : Rede bei der von den Grütlivereinen Zürich und Neumünster den 13. Januar 1884 im Pfauen veranstalteten Zwingli-Gedenkfeier / gehalten von Prof. Salomon Vogelin, Nationalrath ; Nach stenographischer Aufzeichnung ; Hrg. von J. Enderli-Brunner... -- Zürich : [s.n.], 1884.
Vögelin, Friedrich Salomon <1837 - 1888>: Ulrich Zwingli : Vortrag gehalten in der akademischen Aula in Basel, am 10. Februar 1868. -- Winterthur : [s.n.], 1868.
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