Religionskritisches von Josef Victor Widmann

Wieder einmal eine misslungene Theodizee (1899)

von

Josef Victor Widmann


Herausgegeben von Alois Payer (payer@payer.de)


Zitierweise / cite as:

Widmann, Josef Victor <1842 - 1911>: Wieder einmal eine misslungene Theodizee.  -- 1899. -- Fassung vom 2005-03-03. -- URL:  http://www.payer.de/religionskritik/widmann07.htm    

Erstmals publiziert: 2005-03-03

Überarbeitungen:

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Dieser Text ist Teil der Abteilung Religionskritik  von Tüpfli's Global Village Library


Erstmals veröffentlicht in:

Der Bund : unabhängige liberale Tageszeitung Verlag. -- Bern : Der Bund. -- 1899. --  Nr. 47/48.

Wieder abgedruckt in:

Widmann, Josef Victor <1842 - 1911>: Josef Viktor Widmann : "ein Journalist aus Temperament" : ausgewählte Feuilletons / hrsg. von Elsbeth Pulver und Rudolf Käser. -- Gümligen : Zytglogge-Verlag Bern, ©1992.  -- 304 S. : Ill. ; 21 cm. -- ISBN 3-7296-0426-0. -- S. 125 - 129  [Hier nach dieser Ausgabe wiedergegeben]


Zu Josef Victor Widmann siehe:

Widmann, Josef Victor <1842 - 1911>: "Die Sünden Gottes".  -- 1882. -- URL:  http://www.payer.de/religionskritik/widmann01.htm

Payer, Alois <1944 - >: Materialien zum Neobuddhismus.  --   Kapitel 14: Buddhismus in anderen Ländern. -- 1. Buddhismus in der Schweiz. -- URL: http://www.payer.de/neobuddhismus/neobud141.htm. -- Zugriff am 2005-02-03


Wieder einmal eine misslungene Theodizee1.

Im September vorigen Jahres gefiel es dem Herrn, dass über die im schönen Thurgau versammelte Predigergesellschaft eine Rede langen Atems des Theologieprofessors Dr. Adolf Bolliger2 aus Basel niederging, auf dass sich an den pfarrherrlichen Zuhörern ein großes Maß christlicher Geduld im Leiden glänzend offenbare.

Und des zum bleibenden Gedächtnis wurde jene Rede mit ziemlicher Sorgfalt gedruckt und verlegt von J. Huber in Frauenfeld, woselbst sie als Büchlein erschienen ist und zum Preise von Fr. 1.80 verkauft wird. Ihr Titel aber lautet: „Der Weg zu Gott für unser Geschlecht. Ein Stück Erfahrungstheologie von Dr. Adolf Bolliger, Prof. d. Theol. in Basel."2 Der Weg zu Gott? Vielleicht saß unter den Zuhörern der eine oder der andere schlicht einfältige Landpfarrer, der in seinem Herzen sprach: „Warum doch will uns dieser gelehrte Professor auf logischen Kletterstangen des Verstandes, denen der Teufel trauen mag, so dürr sind sie, den Weg zu Gott führen? Weiß er nicht, dass es für uns nur einen Weg gibt, den herzhaften Sprung mit geschlossenen Augen in den Abgrund des Glaubens?" Aber der Herr Professor wollte durchaus klettern. Und zwar auf den Turngerüsten der Kinder dieser Welt. Darf er sich da beklagen, wenn wir ihm nachklettern und ihn herunterholen? Gewiss nicht.

Greifen wir also gleich zu! Auf S. 30 fragt der Herr Professor:

„Aber was fangen wir mit den Leiden an? Muss der Satz: Gott ist die Liebe —  vor denselben nicht ewig zu Schanden werden? Ich antworte: Wenn Gott die Liebe ist, so muss er der Kreatur und speziell der Menschheit (die übrige Kreatur muss ich bei der Kürze der heute mir eingeräumten Zeit aus dem Spiele lassen) das höchste erreichbare Gut geben. Gott will das wirklich. Wenn er es aber will, so muss er auch die entsprechenden Mittel wollen. Die Leiden dieser Zeit sind samt und sonders Mittel, uns zu jenem höchsten Gut zu führen, also Offenbarungen seiner Liebe."

Man bemerke an dem von uns mit kursiver Schrift hervorgehobenen Satze, unter welchem Vorwand der Professor auskneift, um nicht über die lieblose Welteinrichtung, dass ein Tier das andere frisst, Rede stehen zu müssen. Die Tatsache, dass in der ganzen Welt der „übrigen Kreatur" nicht ein armseliges Bröschen Liebe und Barmherzigkeit vorhanden ist, sondern nur wilde Begier und Gewalt und Blutvergießen und Zittern und Angst und Todesnot ohne Vorteil für das gemarterte Geschöpf, das ja nicht, wie man etwa beim moralisch fühlenden Menschen behaupten mag, durch Leiden geläutert und gebessert werden könnte — die Tatsache dieses durchaus grausamen Weltprinzips umgeht der Herr Professor mit der leichthin in Parenthese hingeworfenen Bemerkung:

„Die übrige Kreatur muss ich bei der Kürze der heute mir eingeräumten Zeit aus dem Spiele lassen."

Ei! ist denn diese Kürze der Zeit auch für die Buchausgabe noch nachwirkend? Läge da etwa eine Kürze des verfügbaren Raumes zu Grunde? Hätte die Offizin Huber, die wohl ausgerüstete, nicht genug Papier, nicht genug Typen und Druckerschwärze gehabt? Oder sollte gar eine Kürze der — Gedanken an dieser kavaliersmäßigen Beseitigung eines der wichtigsten Probleme schuld sein? Als der Herr Professor seine leichtfertige Ausflucht im Korrekturbogen las, ist er nicht ein bisschen rot geworden? So viel müsste der Weg zu Gott doch auch für einen Theologieprofessor wert sein, dass er sich Zeit nähme, ihn gewissenhaft zu gehen.

Die Tiere fehlen gleichwohl nicht ganz in der Argumentation des Verfassers dieser neuen und doch altmodischen Theodizee. Einmal sagt er (dort zwar nur bildlich, vom Menschen):

„Die Raubtiernaturen prosperieren nicht."

Wenn Katzen lesen könnten, wie würden sie den Professor auslachen! Ein andermal heißt es:

„Wenn der letzte bengalische Tiger und die letzte Klapperschlange das Zeitliche werden gesegnet haben" (ein reizender Ausdruck, was?), so werde es noch immer Rindvieh und Schafe (o! ja!) geben, woran er die Betrachtung knüpft: „So gilt schon in der Tierwelt, dass die Zahmen, die Sanftmütigen das Erdreich besitzen werden."

Den Teufel werden sie das Erdreich besitzen! Die Schlachtbank besetzen müssen sie, deshalb werden sie aufgespart oder vielmehr gezüchtet. Man pflegt halt Schafkoteletten, nicht Tigerbeefsteaks zu essen!

Doch wenden wir uns zum Menschen. Die Krankheitsmisere der Menschheit wird von Prof. Bolliger dahin interpretiert, Gott brauche sie, um die Menschheit dem höchsten Gut entgegenzuführen.

 „Dass durch die Krankheiten eine fortwährende Selektion, eine Erwählung der Bessern und eine Verwerfung der Untüchtigeren und damit ein Fortschritt der Menschheit erzielt wird, ist handgreiflich."

Mit dieser „Handgreiflichkeit" soll der Herr Professor ans Sterbebett einer jungen, bisher kerngesunden Mutter treten, die infolge einer Schwergeburt ihren drei unerzogenen Kindern und dem soeben von ihr geborenen Säugling wegstirbt. Das Unsinnigste, was in der Natur geschehen kann, ist doch gewiss dies: einem Kinde in dem Augenblick, in dem es ins Leben gesetzt wird, dasjenige holde, einzige Wesen wegnehmen, das des Kindes bester, liebendster Hüter, Beschützer, Freund gewesen wäre, — die Mutter. Aber den hochgemuten Hochschultheologen fechten solche kleinen Druckfehler in der Prachtausgabe des Kosmos nicht an. „D'un coeur leger"3, wie einst der französische Minister Olivier3 es bei der Kriegserklärung an Deutschland hatte, wird er mit allen noch so übel aussehenden Dingen in der Welt leicht fertig. Er weiß z. B. etwas von den grauenvollen Verwüstungen, die der Aussatz im menschlichen Körper anrichtet. Aber auch der Aussatz ist ein besonderer Liebesbeweis des Schöpfers. Denn die Menschheit musste zum Verständnis der Worte Jesu: „Selig sind, die reinen Herzens sind"4 durch vorausgehende körperliche Reinigung erzogen werden, wozu eben der Aussatz gute Dienste geleistet habe.


Abb.: Hans Holbein der Jüngere (1497 - 1543): Bildnis des (sogenannten) Aussätzigen. -- 1523

Wie mich diese Stelle vom Aussatz anheimelte! Gerade so etwas Gescheites hatte ich selbst als Konfirmand einmal in mein Konfirmandenaufsatzheft geschrieben. Unser guter Religionslehrer bemühte sich ja ebenfalls, durch eine Art Theodizee die Zweifel der jungen Herzen zum Schweigen zu bringen, diese Zweifel, die angesichts der Übel der Welt auf die bedenkliche dreifältige Alternative geraten waren, entweder ist Gott nicht so gut, oder nicht so allmächtig, oder nicht so weise, wie man sagt. Nachdem nun der Religionslehrer uns einmal auf den Weg gewiesen hatte, alle Übel der Welt als Zuchtmittel Gottes zu deuten, wollte ich, als Heißsporn auch im Frommsein, gern ein Übriges tun und schrieb in mein Konfirmationsheft:

„Ein vornehmlicher Beweis der Liebe und Güte Gottes liegt auch im gelben Fieber, in der Cholera und ähnlichen Epidemien, welche gerade in denjenigen Ländern der Erde am heftigsten wüten, wo es die herrlichsten Früchte gibt, wie z.B. Orangen, Bananen u. dgl. Ohne den warnenden Finger nämlich, welchen Gott in solchen Epidemien aufhebt, würden die Menschen von derartigen Früchten maßlos essen und in wollüstige Genusssucht versinken. Vielleicht würden sie auch so viel essen, dass für die im Norden lebenden Nationen von Orangen u. dgl. nichts übrig bliebe. Es war also eine weise und gütige Einrichtung Gottes, das gelbe Fieber und die Cholera und die Pest zu erfinden."

Ich muss hinzufügen, dass dieser Glaubenseifer meinem Konfirmationslehrer doch einen etwas unbehaglichen Eindruck machte. Er traute ihm nicht recht. Als er mir den Aufsatz zurückgab, stand bei der Stelle vom gelben Fieber und den Orangen ein langer roter Strich und ein Fragezeichen, das vielleicht bedeutete: Schlingel! treibst du etwa Schindluder mit deinem Religionslehrer? — Aber damit hätte man mir damals unrecht getan. Es war mir mit meiner Beweisführung wirklich ernst. Das heißt so: ich hatte das Bedürfnis, meine aufsteigenden Zweifel durch eine recht freche Argumentation gleichsam zu überschreien, ich wollte mich selbst oder meinen Verstand mit solchen frommen Sophismen5 betäuben.

Nun! Auf dem Standpunkt des fünfzehnjährigen Konfirmanden steht heute noch Professor Dr. Adolf Bolliger2 in Basel. Er schreibt wörtlich:

„Der Liebeszweck Gottes ist, jeden Einzelnen nach Möglichkeit zu einem verständigen, redlich wollenden und wahrhaft sozialen Menschen zu erziehen, und die Leiden sind das Mittel dazu, Hunger und Pestilenz ein Teil der Heilsoffenbarung."

Wie viele Menschen durch Leiden auf den Weg des Verbrechens geraten, wird nicht in Anschlag gebracht. Und nun idiotisch geborene Kinder, die besser gar nicht geboren wären, die ärmer sind als das armseligste Tier, unfähig, zu einem Funken geistigen Lebens sich zu entwickeln, körperlich ebenfalls unbeholfen, andern Menschen ein Grauen, dabei selbst noch von Pein gefoltert, wie jenes unglückliche Kind von Münchenbuchsee, von dessen Leiden vor einigen Monaten alle Schweizer Zeitungen voll waren? Wirklich, der Herr Professor hat sich's sehr leicht gemacht. Auch mit der sozialen Frage ist er bald fertig.

„Es ist wahr, dass in den Städten Tausende bei eintöniger Arbeit und ungenügendem Lohn, in elender Wohnung ohne Luft und Sonnenlicht, an Leib und Seele verkümmern. Aber die Enterbten haben deshalb noch kein Recht, ihr Angesicht anklagend gen Himmel zu erheben. Der Angeklagte würde sie von seinem Thron weisen und sprechen*: „Was klagt ihr? Ich strecke meine Hand aus mit allen meinen Wohltaten und ihr ergreift dieselben nicht. Habe denn ich euch Luft und Sonnenschein entzogen, habe ich euch in den Armenvierteln der Städte zusammengesperrt, habe ich euch Spaten und Pflug weglegen und Fabrikarbeiter werden lassen?"

* So ein Professor der Theologie besinnt sich nicht so lange wie der edle Saladin im „Nathan" an Gottes statt als „weiser Richter" zu sprechen.

Welch ein Hohn gegenüber Millionen, die einer ehernen Notwendigkeit der Verhältnisse erliegen, von der sie sich auch nicht durch die anempfohlene „Verbrüderung" befreien können, wie ein Blick in die Gegenwart genügend lehrt.

67 eng bedruckte Seiten hat Prof. Bolligers Büchlein mit dem viel versprechenden Titel. Da ist es natürlich nicht möglich, in einem notgedrungen kurzen Zeitungsartikel auf alle die zahlreichen andern Schwächen der Beweisführung des Verfassers einzutreten. Sie liegen nicht immer nur in dem, was er sagt, sondern oft noch mehr in dem, was er wohlweislich verschweigt. So stellt er z. B. bei den Krankheiten die mögliche sittliche Einwirkung auf Schlemmer und andere hartgesottene Sünder in den Vordergrund, denen sonst nicht leicht beizukommen wäre, scheint aber ganz zu vergessen, dass auch die bravsten, arbeitswilligsten Menschen oft durch Krankheit mitten in ihrem besten, edelsten Streben gebrochen werden. Überhaupt diese klägliche Vorstellung von der Welt als von einer Besserungsanstalt Gottes nach altbewährten Zuchthausprinzipien! Während doch sogar menschliche Erzieher schon auf den Gedanken gekommen sind, wie sich durch Freude und Glück viel schöner erziehen ließe als durch Pein und Strafen. Es ist schließlich nur merkwürdig, dass der Verfasser nicht von selbst eingesehen hat, wie deplaciert überhaupt heutzutage eine Theodizee1 ist. Und hat denn jemals ein früherer ähnlicher Versuch Erfolg gehabt? Wie ich schon eingangs andeutete, hat der Professor seine pastorale Zuhörerschaft, soweit ihr eigenes praktisches Wirken in Frage kommt, auf einen ziemlich gefährlichen Weg hingewiesen. Der etwas hochmütige Ton, in dem es geschehen ist — ein Stadtbrahmine6 unterweist die einfältigen Landbrahminen — tritt gegen den Schluss der Abhandlung besonders hervor. Dort wird auch den Andersdenkenden gelegentlich eine Unhöflichkeit erwiesen. Nach Prof. Bolligers Ansicht finden sich die Menschen, welche den für den Frieden der Menschheit und des eigenen Herzens doch gewiss ersprießlichen Grundsatz haben, Religion sei Privatsache, „in einer großen skeptischen Pfütze zusammen". Diese Pfütze ist wohl nicht gemeint, wenn der Verfasser im Vorwort mit einer durch die Wortwahl bedingten unwillkürlichen Komik sagt:

„Grund zu der Hoffnung, dass es einen Ort gibt, wo getrennte Brüder in gemeinsamer Verlegenheit sich wieder zusammenfinden können."

Die gemeinsame Verlegenheit, die ihren Ort findet, —  na! Da wird man wieder guter Laune und sogar so liebenswürdig, dass man den Herrn Professor auf den Druckfehler aufmerksam macht, der in dem lateinischen Satze auf Seite 44 stehen geblieben ist. Denn wir sind alle Menschen, die sich gelegentlich in gemeinsamer Verlegenheit an einem Orte zusammenfinden könnten.


Erläuterungen:

1 Theodizee

"Theodizee (franz. théodicée v. gr. theos = Gott und dikaioun = rechtfertigen) heißt die Rechtfertigung Gottes gegen die Anklage, dass er am Übel und der Sünde in der Welt schuld sei. Der bewegende Gedanke der Theodizee ist, den Zweifel an der Existenz Gottes oder an der Gerechtigkeit und Güte Gottes zu beseitigen, den Übel und Sünde im Menschen erwecken. Daher ist der Kern der Theodizee so alt als das Denken der Menschen und kehrt in mythischer, poetischer und philosophischer Form bei allen Völkern wieder. Im Alten Testament gehören dahin das Buch Hiob und die Psalmen (37. 49.), im N. T. d. 9. Kap. des Römerbriefes. Den Gnostikern und Manichäern gegenüber machten Origenes und Augustinus (de civitate dei) theodizeische Versuche.

Auch die Philosophie hat sich mit dieser Frage beschäftigt. Zuerst tat dies Platon (427-347), der die Ideen und vor allem die Idee des Guten, Gott, als das wahrhaft Reale ansah und lehrte, dass um des Guten willen jedes Ding seine Existenz habe. Die Welt sei das Schönste von allem Entstandenen; sie sei von dem besten Werkmeister als Nachbild des höchsten Urbildes geschaffen. Gott sei nicht am Übel Schuld (Tim. 42 D tês epeita - kakias hekastôn anaitios), er sei neidlos. Die Verähnlichung mit ihm, nicht die Lust, erklärte Platon für das höchste Gut (s. d.). Niemand sei freiwillig böse; denn alles Wollen gehe seinem Wesen gemäß auf das Gute. - Dieselbe Ansicht finden wir bei Aristoteles (384-322), dessen Standpunkt durchaus teleologisch ist. Er betrachtet Gott als die stofflose ewige Form, das erste selbst unbewegte Bewegende, die reine Aktualität, die sich selbst denkende Vernunft, die von allen geliebt wird und der sich alles zu verähnlichen strebt. Alle naturgemäße Bewegung ist zweckmäßig, doch stuft sich die Vollkommenheit je nach der näheren oder entfernteren Einwirkung Gottes ab. Die Organismen findet Aristoteles bewundernswert, schön und göttlich. Das Ziel menschlicher Tätigkeit, die Glückseligkeit, beruht auf vernünftigem oder tugendhaftem Verhalten, an das sich als Blüte naturgemäßer Vollendung die Lost knüpft. - Die Stoiker untersuchten zuerst das Verhältnis Gottes zum Bösen. Alles geschieht gemäß der Heimarménê, welche die Vernunft im All, das strenge Kausalgesetz ist. Kleanthes nimmt nur die bösen Taten aus, sie geschehen durch die Unvernunft der Schlechten, werden aber doch auch von Gott zum Guten gelenkt. Chrysippos unterschied zwischen Haupt- und Nebenursachen. Die Vorsehung (d.h. die Notwendigkeit) ordnet alles; ihrer Logik kann man sich getrost anvertrauen. Gott ist der Vater aller, wohltätig und menschenfreundlich. Die Welt muss als im ganzen tadellos und vollkommen bezeichnet werden. Dies gehe aus ihrer Gestalt hervor - sie ist kugelförmig! - und aus der Farbe, Größe und Mannigfaltigkeit der sie umgebenden Gestirne. Sie ist ferner durchaus zweckmäßig eingerichtet, nichts ist umsonst und nutzlos da, sondern jedes Ding ist für ein anderes geschaffen. Ein eigentliches Übel gibt es nicht in der Welt; denn alles rührt von Gott her; was im einzelnen weniger gut erscheint, muss zur Mannigfaltigkeit und folglich zur Vollkommenheit des Ganzen beitragen.

Die klassische Darstellung der Theodizee hat Leibniz (1646 bis 1716) 1710 gegeben; er widmete sie der Königin Sophie Charlotte und führte in ihr folgende Gedanken durch: Mit der moralischen Weltregierung Gottes scheinen die Übel in Widerspruch zu stehn; diese sind dreifacher Art: 1. das metaphysische, welches in der Unvollkommenheit der Kreaturen als solcher besteht; 2. das moralische Übel oder die Sünde; 3. das physische oder das Leiden der Kreaturen. Die Kreaturen sind nach Leibniz' Auffassung idealer Natur und kraft dieser Natur in den ewigen Wahrheiten eingeschlossen. Dennoch ist das Übel nicht nur möglich, sondern, da die beste der Welten es in sich schließt, auch notwendig. Das metaphysische Übel ist unvermeidlich, da es in der Endlichkeit der Schöpfung begründet liegt. Das moralische Übel will Gott zwar nicht, aber es ist vorhanden; das physische will er nur bedingungsweise, nämlich als Strafe oder als Mittel, um größere Übel zu verhindern; auch zur Besserung und zur Vervollkommnung soll das physische Übel dienen. Das moralische Übel kann also nur als Bedingung, ohne welche das Gute nicht erreicht werden könnte, angesehen werden. Gottes Tätigkeit geht nur auf Positives, das Böse aber ist etwas Negatives. Gott ist die Ursache der Vollkommenheit in der Natur und in den Wirkungen der Kreatur; aber ihre Beschränktheit ist die Ursache des Mangels ihrer Handlungen. Denn Gott konnte der Kreatur nicht alles mitteilen, ohne sie selbst zu Gott zu machen. - Ein Zeitgenosse Leibnizens, Will. King, hat 1702 ebenfalls eine Theodizee (de origine mali) versucht. Die Welt, meint er, ist so vollkommen gemacht, als es der höchsten Macht, Weisheit und Güte möglich war. Gut und Übel sind relative Begriffe; gut ist, was sich selbst oder was anderem angemessen ist, übel dagegen, was irgend einen von Gott dem Wesen eingepflanzten Trieb täuscht und es zwingt, zu tun oder zu leiden, was es nicht will. Dieses Übel ist dreifach: Das Übel der Unvollkommenheit, das natürliche und das moralische Übel. Da vollkommene Kreaturen ein Widerspruch in sich sind, so wollte Gott lieber unvollkommene als keine. Über die Unvollkommenheit des Einzelnen können wir nicht urteilen, weil wir das Ganze nicht kennen. Nichts in der Welt ist überflüssig, aber jedes bedarf des ändern. In der Natur kann nichts anders geschehen, als es geschieht; es geschieht auch nichts anders, als es geschehen sollte; denn was nicht anders geschehen konnte, geschieht so, wie es geschehen sollte. Das Böse löst sich also in das Schädliche auf. Übeltäter werden gestraft, nicht weil sie es verdient haben, sondern um andere dadurch zu bessern. Diese Theorie des Determinismus ist zwar hart, aber logischer als der Indeterminismus. Sie zieht einen Begriff der Freiheit vor, wonach diese die Dinge nicht wählt, weil sie gut sind, sondern die Dinge gut sind, weil die Freiheit sie wählt. Diese Freiheit besitzt Gott und hat sie den Menschen mitgeteilt. Wäre es aber nicht vorteilhafter gewesen, wenn Gott den Gebrauch der Freiheit lieber ganz verhindert hätte? Dies hätte er tun können, wenn er entweder kein freies Wesen geschaffen oder den freien Willen an der Wahl des Bösen gehindert oder den Menschen gegen alle Versuchung gesichert hätte. Alle drei Möglichkeiten waren aber Gottes unwürdig.

Vgl. Hegel, Phänomenologie. 1832. Blasche, das Böse im Einklang mit der Weltordnung. 1827. Schopenhauer, die Welt als Wille und Vorstellung. 1819. M. Carriere, die sittl. Weltordnung. 1877. H. Lotze, Mikrokosmus. 4. Aufl. 1884 ff."

[Quelle: Kirchner, Friedrich <1848 - 1900> ; Michaelis, Carl: Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe / Friedrich Kirchner. Neubearb. von Carl Michaelis. -- 5. Aufl. / neubearb. von Carl Michaelis. -- Leipzig : Dürr, 1907. -- V, 708 S. -- (Philosophische Bibliothek ; 67). -- S. 628ff.]

2 Bolliger, Adolf <1854 - 1931>: Der Weg zu Gott für unser Geschlecht : ein Stück Erfahrungstheologie. Frauenfeld : Huber, 1899.  -- 67 S. [1900 erschien eine zweite, neu bearbeitete Auflage]

"Bolliger, Adolf, schweizer. evang. Theologe, Philosoph, geb. 12.4.1854 Holziken (Kt. Aargau), gest. 31.5.1931 Uerikon/Zürichsee
Bolliger studierte Theologie in Basel und Heidelberg, war seit 1875 Lehrer an der Bezirksschule Schöftland und schloss ein philosophisches Studium an der Univ. Leipzig mit der Promotion ab. 1878 habilitierte er sich an der Univ. Basel und übernahm das Lehramt für deutsche Sprache und Literatur an der Realschule. 1888-91 war er Pfarrer in Oberentfelden, 1891-1905 Prof. der Theologie in Basel und danach Pfarrer der Neumünstergemeinde in Zürich. Bolliger veröffentlichte u.a. Anti-Kant (1882)."

[Quelle: Deutsche biographische Enzyklopädie & Deutscher biographischer Index. -- CD-ROM-Ed. -- München : Saur, 2001. -- 1 CD-ROM. -- ISBN 3-598-40360-7. -- s.v.]

3 D'un coeur leger (französisch): Leichten Herzens

"Ollivier (Olivier, beides spr. olliwje), Emile, franz. Staatsmann, geb. 2. Juli 1825 in Marseille, wurde 1848 Präfekt in Marseille, kehrte aber im Januar 1849 zur Advokatur zurück. Seit 1857 Mitglied des Gesetzgebenden Körpers, ward er der glänzendste Redner der kleinen Gruppe der fünf, aus denen die ganze Opposition bestand. Doch machte Ollivier der Regierung keine systematische Opposition, billigte vielmehr die Politik des Kaisers in der italienischen wie in der deutschen Frage und verteidigte sogar 15. März 1867 die Einigung Deutschlands. Als 1869 die Neuwahlen herannahten, schrieb er über den liberalen Brief Napoleons III. vom 19. Jan. 1867 eine Broschüre (»Le 19 janvier«), in der er die Möglichkeit eines konstitutionellen Kaiserreichs auseinandersetzte, wurde im Gesetzgebenden Körper der Stützpunkt einer neuen Regierungspartei von gemäßigt liberalem Charakter und bildete 2. Jan. 1870 ein konstitutionelles Ministerium, in dem er das Portefeuille der Justiz und die oberste Leitung erhielt. Ollivier merkte nicht, dass er nur ein Werkzeug in der Hand der bonapartistischen Hofclique war. Das Plebiszit, das darauf berechnet war, den absoluten Imperialismus zurückzuführen, ließ er nicht nur zu, sondern betrieb dessen Annahme mit allen Mitteln der Stimmenfälschung. Kompromittiert bei sämtlichen Liberalen, befangen durch die Schmeicheleien der Hofpartei, gab er sich dazu her, obwohl er im Grunde friedliebend gesinnt war, die Kammern und die öffentliche Meinung in den Krieg mit Preußen fortzureißen. So half er 15. Juli den Gesetzgebenden Körper durch die bekannte Erklärung täuschen und übernahm »leichten Herzens« die Verantwortung für die Folgen seiner Handlungsweise. Die ersten Niederlagen der französischen Armee führten 9. Aug. den Sturz seines Ministeriums herbei. Er zog sich zunächst nach Italien, dann nach Marseille zurück. Er schrieb: »Une visite à la chapelle de Médicis; dialogue entre Michel-Auge et Raphael« (1872); »Lamartine« (1874); »Principes et conduite« (1875); »L'Eglise et l'État an concile du Vatican« (1879, 2 Bde.); »Thiers à l'Académie et dans l'histoire« (1879); »Nouveau manuel de droit ecclésiastique français« (1885); »1789 et 1889« (1889); »Michel-Auge« (1891); »Solutions politiques et sociales« (1894). Seit 1895 veröffentlicht er eine umfangreiche, aber parteiische, zu seiner Rechtfertigung bestimmte Geschichte seines Ministeriums: »L'Empire libéral; études, récits, souvenirs« (bis 1905: 10 Bde.)."

[Ollivier starb 1913]

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

4 Matthäusevangelium 5,8

5 Sophisma = Trugschluss

6 Brahmine = Brahmane (Angehöriger des indischen geistlichen Standes)


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