Religionskritisches von Josef Victor Widmann

Englische Mucker und ein katholischer Beter (1891)

von

Josef Victor Widmann


Herausgegeben von Alois Payer (payer@payer.de)


Zitierweise / cite as:

Widmann, Josef Victor <1842 - 1911>: Englische Mucker und ein katholischer Beter.  -- 1891. -- Fassung vom 2005-03-03. -- URL:  http://www.payer.de/religionskritik/widmann08.htm    

Erstmals publiziert: 2005-03-03

Überarbeitungen:

©opyright: Public Domain

Dieser Text ist Teil der Abteilung Religionskritik  von Tüpfli's Global Village Library


Erstmals veröffentlicht "Allerlei von meiner Fahrt nach Schwyz. 3. Teil" in:

Der Bund : unabhängige liberale Tageszeitung Verlag. -- Bern : Der Bund. -- 1891. --  Nr. 219.

Wieder abgedruckt in:

Widmann, Josef Victor <1842 - 1911>: Josef Viktor Widmann : "ein Journalist aus Temperament" : ausgewählte Feuilletons / hrsg. von Elsbeth Pulver und Rudolf Käser. -- Gümligen : Zytglogge-Verlag Bern, ©1992.  -- 304 S. : Ill. ; 21 cm. -- ISBN 3-7296-0426-0. -- S. 236f.  [Hier nach dieser Ausgabe wiedergegeben]


Zu Josef Victor Widmann siehe:

Widmann, Josef Victor <1842 - 1911>: "Die Sünden Gottes".  -- 1882. -- URL:  http://www.payer.de/religionskritik/widmann01.htm

Payer, Alois <1944 - >: Materialien zum Neobuddhismus.  --   Kapitel 14: Buddhismus in anderen Ländern. -- 1. Buddhismus in der Schweiz. -- URL: http://www.payer.de/neobuddhismus/neobud141.htm. -- Zugriff am 2005-02-03


Allerlei von meiner Fahrt nach Schwyz.
3. Englische Mucker und ein katholischer Beter.


Abb.: Lage von Luzern, Rothkreuz, Schwyz (©MS Encarta)

Da andern Morgens die Sonne schien, nahm ich an, auch meine Läuterung sei gelungen und ich dürfe nun die Fahrt nach Schwyz antreten. Dies geschah mit dem Extrazug, der kurz vor sieben Uhr von Luzern abging.


Abb.: Heilsarmee in der Schweiz, 19. Jhdt. [Bildquelle: http://www.armeedusalut.ch/qg/en/histoire/histo3e.htm. -- Zugriff am 2005-03-03]

In Rothkreuz hatte er zwanzig Minuten Aufenthalt, die uns Fahrgästen zu gesegneten Heilsminuten hätten werden können, wenn wir den Flankenangriff, den aus einem auf dem Nebengeleise stehenden Zuge eine Kompanie der Heilsarmee1 auf uns machte, mit gebührender Zerknirschung angenommen hätten. Aber der Angriff war ungeschickt ins Werk gesetzt. Die Heilsarmee, wie man weiß, bekämpft vornehmlich die Trunksucht und ihre Folgen. Zu diesen Folgen gehört unter anderem, dass berauschte Menschen wild lärmen und toben. Wenn nun zwischen unserem Bahnzuge und dem von Zürich eingetroffenen, in dem die Heilsarmee einen halben Waggon füllte, ein Unparteiischer gestanden und auf die Frage: „Wo sind die Betrunkenen?", eine Antwort gegeben hätte, so würde er auf die Heilsarmeesoldaten haben zeigen müssen, die zu den Klängen einer Okarina mit ganz unsinnigem Toben ihr „Kriegslied gegen den Satan" sangen. Da war besonders ein junger, bartloser Mensch mit Brillen, der so aussah, als ob er heute früh seine Mehlsuppe nicht hätte behalten können; der sang mit allen den Zeichen, die man sonst nur an Trunkenen bemerkt, leidenschaftlich das „Kriegslied" mit und wurde von Strophe zu Strophe käsebleicher. In unserm überfüllten Waggon, wo es keine Heilsarmeechristen gab, herrschte im Gegensatz zu diesem hottentottenhaften Lärm eine gemütlich anständige Heiterkeit, die von Bank zu Bank trauliche Gespräche gestattete.

Die Heul- und Heilssoldaten verteilten an uns auch eine eigens für diesen Tag geschriebene „Festzeitung". Auch vor diesem Machwerk konnte ich nur über die gedankenlose Ungeschicklichkeit staunen, mit der es abgefasst ist. Es hätte doch wahrhaftig nahe gelegen, wenn man bei dieser Jubelfeier des Schweizerbundes etwas für die Temperenzbewegung2 tun wollte, auf einem solchen Flugblatte hervorzuheben, dass die alten Schweizer am Rütli3 und bei Sempach4 u.s.w. ihre Begeisterung nicht aus der Flasche sogen, dass sie ein einfaches Hirtenvolk waren, das Milch trank und weder Früh- noch Spätschoppen (noch Mint-Julep!5) kannte, dennoch aber, ja gerade deshalb Taten verrichtete, die so gewaltig sind, dass wir, nur um sie zu feiern, uns mit unendlich viel Wein und Bier Kraft und Mut machen müssen. So wenigstens würde ich die betreffende Heilsarmeenummer redigiert haben. Statt dessen ist sie ein weinerliches Salbadern ohne Saft und Kraft. Nur an einer Stelle fanden wir den Schimmer eines folgerichtigen Gedankens, dass nämlich ein Volk, das wie das schweizerische, so viel Sinn für die Freiheit habe, auch andern Leuten, z. B. eben den Heilsarmeesoldaten ihre Freiheit nicht verkümmern sollte. Das klingt nun recht gut; aber man muss denn doch dagegen bemerken, dass die Heilsarmee uns Schweizern unsere individuelle Freiheit durch ihre Geschmacklosigkeiten verkümmert. Würde man es denn auch noch für erlaubte Freiheit halten, wenn in einer Stadt irgendwelche ungeschliffene Bengel, statt die hiefür eingerichteten Anstands- und Abstandsorte zu benutzen, mitten in der Straße . . . man versteht schon, was ich ungefähr meine? Nun, gerade so machen es aber die Heilsarmeesoldaten, sobald sie außer ihrem Lokal beim Publikum ihre Ansichten zu verbreiten suchen; denn auch sie beleidigen den guten Geschmack; ja, sie beunruhigen unter Umständen das Publikum ernstlich. In unserm Waggon verteilten sie z. B. noch ein anderes Flugblatt, welches die Mönchensteiner-Brückenkatastrophe6 (mit Bild) behandelte. Nun ist das die unangenehmste Lektüre, die man einem Reisenden in einem überfüllten Extrazug hineinwerfen kann. Schon die bloße Erinnerung an das Eisenbahnunglück bei Basel ist an solchen festlichen Tagen eine Ungezogenheit. Nebenbei bemerkt, war auch dieses Flugblatt recht geistlos. Im richtigen englischen Muckerton warf es nämlich die Frage auf:

„Wie steht es, lieber Christ, mit der Festigkeit der Brücke, die dich mit dem Himmel verbindet?"

Aber genug von diesen abgeschmackten englischen Religionszirkusclowns! Lieber, weils doch Sonntag ist, und ich nach Schwyz fahre, erzähle ich hier das Geschichtlein von dem katholischen Beter, so wie ich es in Luzern in Erfahrung gebracht.

Dort, in Luzern, sitzt ein vortrefflicher Augen- und Ohrenarzt, dem das Militärkommando der Gotthardbefestigungen jeweilen Arbeiter meist Italiener zusendet, die sich etwa durch einen Sprengschuss oder einen Steinsplitter verwundet haben. Der betreffende Arzt nimmt dann die Patienten, so weit es der Raum gestattet, zur besseren Pflege in seinem Hause auf. Nun hatte er neulich einen Venetianer, d. h. einen Arbeiter nicht aus Venedig selbst, sondern aus der ländlichen Umgebung, der noch wenig anderes gesehen haben mochte als zu Hause sein Dorf mit der Dorfkirche und dann droben am Gotthard die Berge und die Bauten. Eines Sonntag Morgens hört unser Doktor in seinem Salon ein Gemurmel. Er tritt leise ein und was sieht er? Der gute Italiener kniet auf dem roten Plüschsofa wie auf einem Betschemel, hält in den derben Fäusten seinen kleinen Rosenkranz und blinzelt gar andächtig empor zu den paar Bildern, die das Zimmer schmücken, wobei wir gerne hervorheben, dass unter diesen Bildern außer einer Kopie des Angelika Kaufmannschen Porträts des Kunsthistorikers Winkelmann auch eine besonders anmutige, gemalte Photographie der Gemahlin des regierenden Herzogs von Meiningen sich befindet. Vor diesen Bildern verrichtete der schlichte Mann, der das Klavier wohl für eine Orgel und folglich den kleinen Salon für eine Art Kapelle mochte gehalten haben, sein andächtiges Gebet. Glaubt etwa der Leser, der belauschende Arzt habe über den einfältigen Beter gelacht? Dann hätte es nicht - man hat ihn ja wohl schon erkannt - der Dichter Arnold Ott7 sein müssen.


Abb.: Helene Freifrau von Heldburg, Gattin von Herzog Georg II. von Sachsen Meinigen (1826 - 1914, regierte 1866 - 1914) [Bildquelle: http://www.meiningermuseen.de/historischesfs.html. -- Zugriff am 2005-03-03] 


Erläuterungen:

1 Heilsarmee

"Heilsarmee (engl. Salvation Army), eine aus den wesleyanischen Methodisten hervorgegangene Sekte in England, 1865 von William Booth (s. d. 2) gegründet und 1878 unter ihrem jetzigen Namen militärisch organisiert. Booth selbst ernannte sich zum General, unter ihm ein Generalstab und Offiziere männlichen und weiblichen Geschlechts (1903: 15,389), zu denen freiwillige Beamte (Lokaloffiziere, 1903: 60,000) hinzutraten. Das internationale Hauptquartier ist in London (101 Queen Victoria Street). Die Sekte zählt bei einem Jahreseinkommen von ca. 1 Mill. Pfd. Sterl., erworben durch Kollekten und industrielle Unternehmungen (Warenhäuser, Heilsarmeeseife u. a.), gegenwärtig über 2 Mill. Seelen in 4390 über 49 Länder verbreiteten Stationen. Sie bekämpft die bestehenden Kirchen als unfähig, das geistige und leibliche Wohl besonders der Armen zu fördern, und sucht ihre Ziele einerseits durch öffentliche gottesdienstliche Versammlungen (1903: 21/2 Mill.) mit Gesang, Musikvorträgen (1903: 16,000 Musikanten) und Predigt, sowohl in Theatern und andern Lokalen, als auf der Straße, anderseits durch Gründung von Wohltätigkeitsanstalten, Arbeitsstätten, Rettungsheimen etc. (1903: 700) zu erreichen. Die Heilsarmee gibt 45 Zeitschriften heraus, von denen 1903 wöchentlich rund 1 Mill. Exemplare abgesetzt wurden; die bekannteste Zeitschrift ist der »War-cry« (in Deutschland »Kriegsruf«). Die Mitglieder verschmähen geistige Getränke, leben einfach, meiden weltliche Lektüre und Vergnügungen und widmen sich namentlich der Pflege der Armen und Verwahrlosten. Ihr öffentliches Auftreten ist herausfordernd, unter Benutzung aller denkbaren Reklame, und erregt dadurch nicht selten, namentlich auf dem Festland, Ärgernis, so dass hier und da, besonders in der Schweiz, auch die Behörden einschritten. In Deutschland hat die Heilsarmee seit 1886 namentlich in Berlin, Pommern, der Rheinprovinz und Württemberg Fuß gefasst. Das deutsche Hauptquartier ist in Berlin SW., Blücherplatz 1 (Kommandeur: W. Oliphant); Zahl der deutschen Korps 1903: 132 (davon 20 in Berlin) mit 350 Offizieren, 650 Lokaloffizieren, 11 Wohltätigkeitsanstalten. 1896 hat sich die Heilsarmee in Amerika, geleitet von Booths Sohn Ballington Booth, als »Volunteers of America« verselbständigt, die als »Freiwilligenmission« auch in Deutschland (z. B. Frankfurt a. M.) Propaganda zu treiben scheinen."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

2 Temperenzbewegung = Mäßigkeitsbewegung (vor allem gegen Alkoholmissbrauch)

3 Rütli: Uferwiese am linken Ufer des Urner Sees. Hierher versetzt die Sage den Geheimbund der drei ersten »Eidgenossen«, Werner Stauffacher von Schwyz, Walter Fürst von Uri und Arnold Melchthal aus Unterwalden, die hier (12291 oder nach anderer Überlieferung 1307) mit ihren Gesinnungsgenossen zusammenkamen und schwuren, die Vögte zu verjagen. Das Rütli gilt darum als Geburtsort der schweizerischen Eidgenossenschaft.

4 Sempach: Ort im Kanton Luzern, am Ufer des Sempachersees. Hier siegten am 9. Juli 1386 die Schweizer über die Österreicher, was den Untergang der österreichischen Herrschaft in der Schweiz bedeutete. Herzog Leopold von Österreich stand mit 4000 Mann (darunter zahlreiche Ritter) etwa 1300 Schweizern gegenüber. Nachdem anfänglich die Herzoglichen im Vorteil gewesen, erfolgte in der Schlacht durch die Tapferkeit der Eidgenossen ein Umschwung, den die Überlieferung dem Opfertode des Arnold Winkelried  zuschreibt.

5 Mint-Julep: ein Cocktail aus Pfefferminzblättern,  Zuckersirup, Whiskey  und Sodawasser

6 Am 14. Juni 1891 brach unter der Last eines Personenzugs von Basel die von Gustav Eifel konstruierte und 1874/75 erbaute Eisenbahnbrücke bei Mönchenstein (heute: Münchenstein, bei Basel) zusammen. 73 Passagiere fanden den Tod, zahlreiche wurden verletzt.

7 Arnold Ott

"Ott, Arnold, schweizer. Ophthalmologe, Schriftsteller, geb. 5.12.1840 Vevey (Kt. Waadt), gest. 30.9.1910 Luzern

Ott studierte seit 1856 zunächst Architektur, dann Chemie und Medizin in Stuttgart, Tübingen und Zürich, wurde 1867 zum Dr. med. promoviert (Zur Pathologie des Magencarcinoms) und arbeitete anschließend als Fabrikarzt in Neuhausen bei Schaffhausen. Nach seiner Teilnahme als Lazarettarzt am Deutsch-Französischen Krieg setzte er 1871-73 seine Studien in Paris und Wien fort und ließ sich 1876 als Augenarzt in Luzern nieder. Seit 1875 war Ott zudem Theaterkritiker am "Schaffhauser Intelligenzblatt" und begann 1887, angeregt durch eine Aufführung des Meininger Hoftheaters, eine Tätigkeit als Dramatiker. Neben Festspielen schrieb er Historiendramen, u.a. das erfolgreiche Volksschauspiel Karl der Kühne und die Eidgenossen (1897) und St. Helena (1904). 1902 erschienen seine Gedichte. "

[Quelle: Deutsche biographische Enzyklopädie & Deutscher biographischer Index. -- CD-ROM-Ed. -- München : Saur, 2001. -- 1 CD-ROM. -- ISBN 3-598-40360-7. -- s.v.]


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