Zur Konzeption von Individualität im Theravāda-Buddhismus im Vergleich mit ausgewählten naturwissenschaftlichen Ansätzen

5. Teil V: Nirodha.  Abschließende Überlegungen


von Sabine Gudrun Klein-Schwind

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Zitierweise / cite as:

Klein-Schwind, Sabine Gudrun: Zur Konzeption von Individualität im Theravāda-Buddhismus im Vergleich mit ausgewählten naturwissenschaftlichen Ansätzen. -- 5. Teil V: Nirodha.  Abschließende Überlegungen. -- Fassung vom 2006-10-11. -- URL: http://www.payer.de/schwind/schwind5.htm.

Erstmals publiziert: 2006-10-11

Überarbeitungen:

Anlass: Magisterarbeit im Fach Indologie an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Mai 2000

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"When science has come close to the Buddhist Anatta-Doctrine, it did so, at least up to the beginning of this century, mostly through radical application of the analytical method.  Therefore its kinship to the Buddhist concept is only a partial one, and has to be accepted with some reservations."32

32 Nyanaponika: Studies, 1947. - S.6.

Bei seiner Mahabodhi hat der Buddha die paramattha-sacca realisiert. In gewissem Sinne haben Michael Gazzaniga, Joseph LeDoux u.a. das auch . Wo ist der Unterschied? Sind Gazzaniga und LeDoux Erleuchtete, die durch ihre Experimente mit hirngeschädigten Patienten zum Erwachen gelangt sind? Oder warum sind sie es nicht, obwohl Gazzaniga von "Nicht- Selbst" spricht und die modulare Organisation der Individualität erkannt hat? Wodurch zeichnet sich aus Sicht des Theravāda der "Wissensvorsprung" des Buddha aus?

Entscheidendes Kriterium in diesem Zusammenhang ist die Unterscheidung von drei Arten des Wissens:

Eine der Voraussetzungen, die in der Theravāda-Scholastik als objektive Kriterien für die Verwirklichung der Mahabodhi gelten, ist die Einsicht in den paṭicca-samuppāda. Während die Einsicht in die khandhas von viññāṇa geleistet werden kann, bleibt das Durchschauen des paṭicca-samuppāda paññā vorbehalten -- und ist somit nicht relativierbar und aus Sicht der Theravāda-Dogmatik über Zweifel und Kritik vollkommen erhaben. Das khandha-Modell als Gegenstand der Erkenntnis im Sinne von vijānana kann zur Diskussion gestellt werden, nicht aber der paṭicca-samuppāda. paññā bedeutet erlösende Erkenntnis: Und für die Erlösung genügt es nicht zu erkennen, dass Individulität modular organisiert ist und sich an keinerlei festem Wesenskern oder Substrat festmachen lässt.  Damit es zu nirodha kommt, muss vielmehr die Art und Weise, wie diese Module organisiert sind, der Bedingungszusammenhang, in den sie eingebunden sind, durchschaut werden. Nur so können die Mechanismen unwirksam gemacht werden, die für das Verbleiben im saṃsāra verantwortlich sind. Soweit also zur scholastischen Unterscheidung von paññā und viññāṇa bzw. pajānana und vijānana. Eine solche Unterscheidung scheint aber auch unter ganz elementaren Gesichtspunkten gerechtfertigt: Rein intellektuelles, analytisches Erkennen bewirkt nicht unbedingt eine Verhaltensänderung im Sinne dieser Erkenntnis. Paññā, Weisheit, hingegen bewirkt nicht nur notwendig eine solche Kongruenz zwischen Wandel und Erkenntnis, sondern darüber hinaus eine bleibende Modifikation der kognitiven Strukturen im Einklang mit der höchsten Einsicht. Das bedeutet Stromeintritt. Auch paññā funktioniert im Sinne von anattā, auch der Erlöste hat sich nicht "im Griff" -- wenn sich gerade das auch in einer Weise äußert, die als höchste Selbstkontrolle anmuten mag: im Unvermögen zu vicikicchā, zum gierigen Greifen nach sinnlicher Befriedigung usw. bis hin zur Unfähigkeit zu  avijjā (das ja als Verhalten beschrieben worden ist.  Die jeweiligen Stufen der Erlösung definieren sich mithin darüber, welche Verhaltensoptionen dem ariya-puggala bei ihrer Verwirklichung jeweils versperrt sind.

33 Heinrich von Stietencrons Aufsatz über Weisheit im indischen Kontext ist sehr aufschlussreich im Hinblick auf diese   Differenzierung. Vgl.  Stietencron, Heinrich von: Der Weise in   Indien: Entsprechungen zur Weisheit in der indischen Tradition. In: Assmann, Aleida (Hrsg.): Weisheit . - München: Fink, 1991. - (Archäologie der literarischen Kommunikation; 3). - S. 271-288 Ebd.   S. 271: "Entpuppt sich also die gepriesene indische Weisheit als bloße Projektion eines westlichen Ideals auf den Osten? Was den Begriff betrifft, ist dies in der Tat der Fall.  Dennoch irrten die Beobachter nicht, wenn sie Weisheit in Indien entdeckten. Das Phänomen ist vorhanden, aber sprachlich viel differenzierter gefasst. Schon die Tatsache, dass wir viele Begriffe mit dem gleichen Wort übersetzen, zeigt, dass es uns an Trennschärfe fehlt.  Das Wort "Weisheit" ist vage, es führt einen   Unschärfebereich mit sich, und vielleicht ist es gerade diese Unschärfe, die es so vielseitig verwendbar macht."

Dieser Bedingungszusammenhang kann nicht willkürlich, an einer beliebigen Stelle aufgebrochen werden: Im Hinblick auf die Erlösung hat es keinen unmittelbaren Effekt, irgendeine oder auch eine Reihe solcher Bedingungen, deren Zusammenhang man nicht erkennt, nachzuvollziehen.  Die Theravāda-Dogmatik erhebt den Anspruch, dass nur der mit dem paṭicca-samuppāda formulierte Bedingungszusammenhang eine Einsicht von der Art vermittelt, dass man erlösungswirksame Konsequenzen in Bezug auf die eigene Sichtweise und auf das eigene Handeln zu ziehen vermag -- und bleibt somit ein Privileg von paññā: Die Psychologie des Theravāda beschreibt Individualität, ohne auf eine Seele oder einen einheitlichen Geist zu rekurrieren. Nun leitet sich das Erkenntnisinteresse dieser Psychologie ab vom Selbstverständnis des Buddhismus als Erlösungsweg, d.h. als Weg zum Aufhören des Leidens, dukkha-nirodha-gāmini-paṭipadā. Dies geschieht durch eine Erkenntnis höherer Ordnung, paññā. Paññā ist nach der Definition des Visuddhi-Magga "das mit einem konstruktiven Bewusstseinsmoment einhergehende ungetrübte Erkennen" (kusalacittasampayuttaṃ   vipassanāñāṇaṃ paññā)35.

35 Buddhaghosa:   Visuddhi-Magga 14, S.  436;20.

Tatsächlich ist aus Theravāda-Sicht die Einsicht in anattā als eines der drei Merkmale bedingt entstandener Wirklichkeit nicht zwangsläufig mit paññā verbunden:

Saññā-viññāṇa-paññānaṃ hi samāne pi   jānanabhāve saññā: nīlaṃ pītakan ti ārammaṇasañjānanamattam eva hoti. Aniccaṃ dukkham anattā ti lakkhaṇapaṭivedhaṃ pāpetuṃ na sakkoti.   Viññāṇaṃ: nīlaṃ pītakan ti   ārammaṇañ ca jānāti lakkhaṇapaṭivedhañ ca pāpeti.  Ussakkitvā pana maggapātubhāvaṃ pāpetuṃ na sakkoti. Paññā vuttanayavasena ārammaṇañ ca jānāti, lakkhaṇapaṭivedhañ ca pāpeti, ussakkitvā   maggapātubhāvaṃ ca pāpeti.36

36 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 14, S. 437;1-8.

"Zwar sind konzeptualisierende Wahrnehmung (saññā), Bewusstsein (viññāṇa) und Weisheit (paññā) im Hinblick auf das Kriterium des Erkennens (jānanabhāve) vergleichbar: die konzeptualisierende Wahrnehmung (saññā) jedoch identifiziert die Objekte lediglich als blau, gelb usw. Sie vermag jedoch nicht die Einsicht in die Drei Merkmale der bedingt entstandenen Wirklichkeit zu leisten. Was das Bewusstsein (viññāṇa) angeht, so vermag es sowohl die Objekte als blau oder gelb zu identifizieren als auch die Einsicht in die Drei Merkmale der bedingt entstandenen Wirklichkeit zu leisten. Selbst wenn sie entsprechende Anstrengungen unternimmt (ussakkitvā pana), ist sie jedoch nicht in der Lage, den Pfad manifest werden zu lassen (maggapātubhāvaṃ). Die Weisheit (paññā) identifiziert die Objekte wie oben erklärt, leistet außerdem die Einsicht in die Drei Merkmale und bei entsprechender Anstrengung gelingt es ihr, den Pfad sichtbar werden zu lassen."

Dies bedeutet, dass viññāṇa grundsätzlich das Potential besitzt, die Drei Merkmale, tilakkhaṇa, als auch anattā, zu erkennen.37  Da aus Sicht der Theravāda-Dogmatik jede Person eine Konstellation der fünf khandhas ist, also bei jeder Person viññāṇa vorhanden ist, ist im Prinzip jedem menschlichen Wesen mit (intaktem) viññāṇa die Möglichkeit gegeben, anattā intellektuell nachzuvollziehen: vijānana, das von viññāṇa geleistete Erkennen, ist jedoch nicht erlösungswirksam.

37 Den Sanskrit-Begriff vijñāna erläutert H. v. Stietencron folgendermaßen: "Vijñāna ist die unterscheidende und beurteilende   Erkenntnis. Ihr Vorzug ist, dass sie Unterschiede deutlich zu erfassen versteht und daher Urteilsfähigkeit konstituiert."   Stietencron, Heinrich von: Der Weise in Indien: Entsprechungen zur   Weisheit in der indischen Tradition. In: Assmann, Aleida (Hrsg.):   Weisheit . - München: Fink, 1991. - (Archäologie der literarischen   Kommunikation; 3). - S. 274. - Diese Definition lässt sich   meines Erachtens auch uneingeschränkt auf die   Theravāda-Konzeption von viññāṇa  übertragen.

Sā pan' esā yattha saññā-vuññāṇāni, na   tattha ekaṃsena hoti.  Yadā pana hoti, tadā avinibhuttā   tehi dhammehi ayaṃ saññā, idaṃ viññāṇaṃ,   ayaṃ paññā ti vinibbhujjitvā alabbhaneyya-nānattā   sukhumā duddasā. Tan' āha āyasmā Nāgaseno: dukkaraṃ, mahārāja, Bhagavatā katan ti.38

38 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 14, S. 437;34 - S. 438;4.

"Da, wo konzeptualisierende Wahrnehmung und Bewusstsein vorhanden sind, ist keineswegs [immer] auch sie [die Weisheit] vorhanden. Sofern sie aber vorhanden ist, ist sie untrennbar von jenen Funktionen. Wenn man aber [die Weisheit] unterscheidet [in der Form] "das ist die konzeptualisierende Wahrnehmung, das ist das Bewusstsein, das ist die Weisheit", so ist das eine unzulässige Differenzierung (alabbhaneyya-nānattā), sie ist subtil und schwer erkennbar. Deshalb sagte der Ehrwürdige Nāgasena: etwas Schwieriges, Großkönig, hat der Buddha geleistet."

Der Kommentar beansprucht also für den dhamma kein Erkenntnis-Monopol in dem Sinne, dass Einsicht in anattā nur auf diesem Weg gewonnen werden kann. Das Erkenntnis-Monopol besteht vielmehr darin, dass er eine systematische Anleitung zur Hervorbringung von paññā39 ist. Das Ziel dieses Pfades ist nicht das bloße Durchschauen der Mechanismen von anattā: entscheidend ist vielmehr die Art und Weise, in der das geschieht: nämlich so, dass es diese Mechanismen und damit das Bedingte Entstehen außer Kraft setzt. --

39 H.v. Stietencrons   Erläuterung des Sanskrit- Terminus prajñā ist auch erhellend im Hinblick auf den Theravāda-Begriff: "Es [das Wort   prajñā] bezeichnet zunächst das den Sinneswahrnehmungen vorauseilende, ihren Bereich überschreitende Erkennen, folglich den   Verstand, die Einsicht in das Verborgene und schließlich das   erkennende Bewusstsein als solches. Wer prajñā besitzt,   der prājña, hat Einsicht in das, was nicht offensichtlich ist." Stietencron, Heinrich von: Der Weise in Indien:   Entsprechungen zur Weisheit in der indischen Tradition. In: Assmann, Aleida (Hrsg.): Weisheit . - München: Fink, 1991. - (Archäologie   der literarischen Kommunikation; 3). - S. 274f. 

Yāvatā bhikkhave dhammā saṅkhatā vā asaṅkhatā vā virāgo tesaṃ dhammānaṃ aggam akkhāyati, yadidaṃ madanimmadano pipāsavinayo ālayasamugghāto vaṭṭūpacchedo taṇhākkhayo virāgo nirodho nibbānaṃ.40

40Anguttara-Nikāya II, S. 34. - Zitiert in: Buddhaghosa, Visuddhi-Magga 8, S. 293;5-9.


Abb.: Stupa, Svayambhunath (स्वयम्भूनाथ), Kathmandu (काठमाडौं), Nepal (नेपाल)
[Bildquelle: Araleya. -- http://www.flickr.com/photos/araleya/73130408/. -- Zugriff am 2006-10-10. -- Creative Commons Lizenz (Namensnennung, keine Bearbeitung, keine kommerzielle Nutzung)]


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