Karl Bernhard Seidenstücker (1876-1936) : Leben, Schaffen, Wirken

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Kapitel 4: Wissenschaftliches Arbeiten und Militärdienst


von Ulrich Steinke

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Zitierweise / cite as:

Steinke, Ulrich: Karl Bernhard Seidenstücker (1876-1936) : Leben, Schaffen, Wirken. -- Kapitel 4: Wissenschaftliches Arbeiten und Militärdienst. -- Fassung vom 28. Juni 1996. -- URL: http://www.payer.de/steinke/steink04.htm. -- [Stichwort].

Letzte Überarbeitung: 28. Juni 1996

Anlaß: Magisterarbeit, Universität Tübingen, 1989

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4.0. Übersicht



4.1. Seidenstücker wird Doktor


Seidenstücker trat indessen seit Anfang 1912 nicht mehr öffentlich auf. Ende 1911 war sein Hauptwerk, "Pâli-Buddhismus in Übersetzungen" erschienen, und zwar als Festgabe zur 2500Jahresfeier der Mahâ-Bodhi des Buddha.

Jetzt widmete er sich seiner Doktorarbeit und promovierte am 29.April 1913 durch die philosophische Fakultät der Universität in Leipzig bei den Professoren Windisch und Brugmann mit einer Abhandlung über das Udâna aus dem Khuddaka-Nikâya des Sutta-Pitaka. Seine Dissertation erschien wenig später erweitert als Buch:

Seidenstücker, Karl: Das Udana : eine kanonische Schrift des Pali-Buddhismus. -- Leipzig : Kommissionsverlag H. Tränker, 1913.
Erster Teil: Allgemeine Einleitung. -- 135 S.
(Die Kapitel 6-8 der vorliegenden Arbeit sind 1913 in Leipzig als Inaugural-Dissertation unter dem Titel »Über das Udana« erschienen.)
[Widmung an seinen Vater]

[Gelegentlich heißt es, Seidenstücker sei ein Schüler von Winternitz gewesen. Dies muß eine Verwechslung sein. Das früheste Mal scheint sie Max Hoppe unterlaufen zu sein in seinem sorglosen und tendenziellen Artikel in: Presence du Boudhisme / ed. René de Berval. -- (France Asie : revue mensuelle de culture et de synthese. -- Saigon. -- 14 (1959), Nr 153-157 (Februar/Juni). -- S. 918)].


4.2. Arbeit im Museum


Anfang 1915 kam Seidenstücker mit Dr.Thilenius, dem Leiter des Hamburger Völkerkundemuseums, überein, dort als unbesoldeter Hilfsarbeiter indische Bestände zu ordnen und katalogisieren. Dafür wurde ihm geeignetes Material zur Veröffentlichung überlassen. Außerdem sollte er drei öffentliche Vorträge halten, von denen jedoch nur der erste, eine Dia-Serie über "die buddhistische Kunst und ihre Denkmäler in Vorderindien und Birma", zustande kam. [Jahrbuch der Hamburgischen wissenschaftlichen Anstalten. -- 23 (1915). -- Hamburg : Meissner, 1916. -- S. 100].

Seidenstücker's Dienstverhältnis begann am 1.April 1915 und währte bis zum 31.Dezember 1916. Doch einen großen Teil der Zeit verbrachte Seidenstücker in Leipzig, zum einen war er von Dezember 1915 bis Februar 1916 aus familiären Gründen zuhause, dann wurde er in der zweiten Aprilhälfte für drei Monate beurlaubt, um die besseren Bibliotheksverhältnisse in Leipzig für seine kunstgeschichtlichen Studien ausnutzen zu können. Nur von April bis Dezember 1915 arbeitete er regelmäßig im Museum und sammelte so das Material für seine "Südbuddhistischen Studien".


4.3. Südbuddhistische Studien


Seidenstücker, Karl: Südbuddhistische Studien. -- Hamburg, 1916. -- (Mitteilungen aus dem Museum für Völkerkunde ; 4 = Jahrbuch der Hamburgischen Wissenschaftlichen Anstalten : Beiheft ; 32.1914)
1. Die Buddha-Legende in den Skulpturen des Ânanda-Tempels zu Pagan. -- Mit 40 Tafeln, 11 Textfiguren und einem Plan von Pagan. [und einer Übersetzung des Avidûrenidâna]. -- 154 S.

Es handelte sich dabei um eine Beschreibung über "die Buddha-Legende in den Skulpturen des Ânanda-Tempels zu Pagan". Das Werk erschien dann auch 1916 in einer Auflage von 600 Stück, als "Beiheft zum Jahrbuch der Hamburgischen Wissenschaftlichen Anstalten 1914", und als "Mitteilungen aus dem Museum für Völkerkunde in Hamburg, IV 1916", in Zusammenarbeit der beiden Institute. Seidenstücker plante, dieses Werk fortzusetzen. Er schrieb an Thilenius:

"Ich habe mich entschlossen, als zweite Abhandlung der Süd-buddhistischen Studien die Mythologie des Pâli-Buddhismus herauszubringen, da dies eine Arbeit werden wird, die nicht nur für die Indologie, sondern auch für die allgemeine Religionswissenschaft und die Ethnologie von höchster Bedeutung ist. Allerdings handelt es sich da um eine ganz riesige Arbeit, zu deren Durchführung, da es eine streng quellenmässige Darstellung sein soll, ein kolossaler Apparat in Bewegung gesetzt werden muss. Allein zu den Vorarbeiten gehört eine übersetzung ganzer Bücher aus dem Pâli-Kanon sowie eine Durcharbeitung der ganzen Masse von Kommentar-Literatur, soweit dieselbe bisher ediert ist. Ich habe nun schon eine ganze Reihe von Texten übersetzt und mit der Lichtung des ungeheuren Materials begonnen. Wie ich den Gegenstand augenblicklich ansehe, wird es am besten sein, die Arbeit in drei Teile zu gliedern:

  1. Handbuch der Mythologie, d.i. eine systematische Darstellung der mythologischen Vorstellungen auf Grund der Quellen,
  2. mythologische Texte, also eine »Mythologie in Übersetzungen«,
  3. Bildmaterial mit Erklärungen."

[Personalakte Karl Seidenstücker vom Hamburger Völkerkundemuseum. -- Az A23. -- Brief vom 16.7.1916].


4.4. Karriere


Weiter schrieb Seidenstücker, daß er Mitglied des Leipziger Instituts für Kultur- und Universalgeschichte (der Universität) geworden war und eine besoldete Anstellung erhalten könne über eine Zeitspanne von zwei Jahren, was er ausnutzen wollte um bei Professor Goetz zu habilitieren. [Wahrscheinlich handelt es sich um Georg Goetz (geb. 1849), Direktor des Philologischen seminars der Universität Jena].

Dann erklärte er:

"Ich lege den grössten Wert darauf, sehr geehrter Herr Professor, die Beziehungen zu Ihrem Museum dauernd aufrecht zu erhalten. Vor allen Dingen möchte ich Sie bitten, mir das zugewiesene Material auch fernerhin zur Bearbeitung zu überlassen. Wenn ich Herrn Professor Goetz recht verstanden habe, würde er mit einer Fortführung der Südbuddhistischen Studien im Institut ganz einverstanden sein und letztere auch als Publikation des Hamburgischen Museums gelten lassen. Ich könnte also meine Arbeiten für das Museum auch in meiner neuen Stellung fortführen. ... Ich habe immer die Hoffnung, dass ich später noch einmal an Ihrem Museum dauernd eine Anstellung finden kann, vielleicht, wenn es sich als nötig erweisen sollte, die indische Abteilung von der ostasiatischen abzutrennen und selbständig zu machen. ... Würde es wohl in Hamburg auf Schwierigkeiten stossen, wenn ich eine Abhandlung der Süd-buddh. Studien, beispielsweise die »Mythologie«, gleichzeitig als Habilitations-Schrift hier einreichen würde?"
[Personalakte Karl Seidenstücker vom Hamburger Völkerkundemuseum. -- Az A23. -- Brief vom 16.7.1916].

Schwierigkeiten kamen weder von Thilenius noch von Goetz:

"Ich ... werde meinen Plan, mich an der Leipziger Universität zu habilitieren, verwirklichen, vorausgesetzt natürlich, dass meine Einberufung zum Heeresdienst nicht hindernd dazwischen tritt."
[Personalakte Karl Seidenstücker vom Hamburger Völkerkundemuseum. -- Az A23. -- Brief vom 21.7.1916].


4.5. Widrige Umwelt


Die Einberufung kam am 1.Dez.1916 und zerstörte die akademische Laufbahn. Durch die wirtschaftliche Not konnte das Hamburger Museum weder erweitert werden, noch Seidenstücker sich seinen erhofften Studien widmen. Immerhin gelang es Thilenius im Sommer 1924, ein Honorar in Höhe von 1000 Mark zu bewilligen, um Seidenstücker die Fortsetzung der "Süd-buddhistischen Studien" in kleinem Stil zu ermöglichen. Seidenstücker wollte als Buch "die vorgeburtliche Buddha-Legende (Jatakam) in den Skulpturen des Ananda-Tempels zu Pagan" veröffentlichen, doch da sich die Untersuchungen als schwieriger und zeitaufwendiger erwiesen als erwartet -- die Inschriften waren nicht in Pâli sondern in Altbirmesisch -- konnte Seidenstücker seine Studie kaum bewältigen. Eine längere Krankheit und wirtschaftliche Not zwangen ihn, anderen Arbeiten nachzugehen und als er das Manuskript schließlich nach eindringlichen Ermahnungen mit eineinhalbjähriger Verspätung im September 1926 ablieferte, konnte es aufgrund der vorangeschrittenen Wirtschaftskrise nicht mehr gedruckt werden. Es ruht nun in den Archiven des Museums.

Seidenstücker's wirtschaftliche Not war so groß, daß sogar das Leipziger Stadtamt als Vertreter seiner drei minderjährigen Kinder versuchte, seinen Lohn zu pfänden, was freilich nicht gelang da er ihn bereits als Vorschuß erhalten hatte. [Akte D4,65. -- Postzustellungsurkunde. -- Az 21 SR 1134]. Seidenstücker selbst schuldete dem Museum noch 310 Mark für Vorzugspreisexemplare seines ersten Buches und am 2.Januar 1928 vereinbarte der gutmütige Thilenius mit Seidenstücker, daß er seine Schuld abarbeiten dürfe, indem er einen Teil der Thomann-Sammlung übersetzen und beschriften sollte. [Akte D4,65. -- Einschreiben vom 2.1.1928].Obwohl Seidenstücker dankbar einwilligte kam es nie dazu.


4.6. Buddhistischer Krieger


Am 1.Dezember 1916 wurde Seidenstücker zum Militär einberufen und nach Verdun verfrachtet. Wie er diesen Dienst mit seiner buddhistischen Glaubensüberzeugung vereinbarte, bleibt offen. Es scheint jedoch, daß sich der Konflikt in Krankheiten ausdrückte. Max Hoppe schrieb dazu:

"Seinen Freunden ist bekannt, daß Dr. Seidenstücker monatelang an einer von den ärzten nicht erkannten schweren Krankheit im Lazarett darniederlag, bis er schliesslich zur Methode des Bhikkhu Girimânando seine Zuflucht nahm und sich von dieser Krankheit durch intensive Betrachtungen in Richtung der Vergänglichkeit alles Persönlichen, des Nicht-Ich, des Unreinen, des Elendes beim Körperlichen und des Aufgebens völlig kurierte."
[Yâna. -- 9 (1956) Nr 5 (Sept-Okt.). -- S. 205].

[Anguttaranikâya 5, 108ff.: Der Mönch Girimânanda war schwer krank, sodaß Buddha Ânanda zu ihm schickte, um ihm zu empfehlen, die zehn Betrachtungen (saññâ) durchzuführen, woraufhin Girimânanda sich erholte].

Von Seidenstücker's Töchtern war zu erfahren, daß Karl Seidenstücker als feinfühliger und intellektueller Mensch von seinen Vorgesetzten besonders aufs Korn genommen wurde. Einmal wurde er gezwungen, ein wildes Pferd zuzureiten, wobei er stürzte und eine schwere Gehirnerschütterung erlitt.

Seidenstücker arbeitete während des Kriegs weiter an dem Udâna und plante, ein Buch über das Leben des Buddha zu schreiben, das dem "Evangelium Buddha's" von Paul Carus ähneln würde und den Titel haben sollte: "Der Meister der indischen Erde". Doch dazu kam es nicht: "Leider sind mir hier die Hände vollständig gebunden, da ich keinerlei Hilfsmittel hier habe und auch keine kommen lassen kann..." [Max Hoppe in: Yâna. -- 9 (1956), Nr 5. -- S. 206f.]. Im Frühjahr 1918 erkrankte er wieder, diesmal an einer Lungenentzündung, so daß er aus Loewen nach Hause verfrachtet wurde und dort in seinem Heimatregiment Leipzig dienen mußte.

"Meine Erlebnisse im Kriege und die überstandene Krankheit haben mich derart zermürbt, dass meine Kraft für eine längere Konzentration auf einen Gegenstand nicht mehr ausreicht... ein Lungenkatarrh verbunden mit chronischem Bronchialkatarrh tut das seine, um die körperliche Spannkraft zu lockern. Dazu kommt dann noch der militärische Dienst hier in der Garnison, der einen grossen Teil meiner Zeit bindet... Ich bin durch den Kriegsdienst und meine Krankheit, die ein grosses Hindernis für flottes Arbeiten sind, gegenwärtig finanziell stark ins Hintertreffen gekommen; dazu kommen noch Zahlungen, die ich jetzt für Druckerkosten von 1916 und 17 habe leisten müssen, ferner hohe Steuersätze seit Ende 1916, die man mir trotz meiner Reklamationen und trotz meines Heeresdienstes seit Dezember 16 nicht erlassen will."
[Max Hoppe in: Yâna. -- 9 (1956), Nr 5. -- S. 207f.].


Zu Kapitel 5: Seidenstücker auf Seiten Georg Grimms