Karl Bernhard Seidenstücker (1876-1936) : Leben, Schaffen, Wirken

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Kapitel 5: Seidenstücker auf Seiten Georg Grimms


von Ulrich Steinke

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Zitierweise / cite as:

Steinke, Ulrich: Karl Bernhard Seidenstücker (1876-1936) : Leben, Schaffen, Wirken. -- Kapitel 5: Seidenstücker auf Seiten Georg Grimms. -- Fassung vom 28. Juni 1996. -- URL: http://www.payer.de/steinke/steink05.htm. -- [Stichwort].

Letzte Überarbeitung: 28. Juni 1996

Anlaß: Magisterarbeit, Universität Tübingen, 1989

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5.0. Übersicht



5.1. Georg Grimm (1868-1945)


[Zu Georg Grimm s. Hecker, Hellmuth: Lebensbilder deutscher Buddhisten ; ein bio-bibliographisches Handbuch. -- Konstanz : Universität. -- (Forschungsprojekt "Buddhistischer Modernismus" -- Forschungsberichte)
Band I: Die Gründer. -- 1990. -- 179 S. -- (... ; 1). -- S. 44-57 (mit ausführlichen Literaturangaben)]

Georg Grimm, als Sohn eines Schmieds 1868 geboren, wechselte aus Glaubenszweifeln vom Theologiestudium über zur Juristerei, wurde Landgerichtsrat und ließ sich 1919 wegen Asthma frühzeitig pensionieren. Er kam über Schopenhauer und Karl Eugen Neumann's Übersetzungen zum Buddhismus.

Bereits im September 1915 hatte Georg Grimm Seidenstücker sein Buch "Die Lehre des Buddha" geschenkt, das tiefen Eindruck auf Seidenstücker machte. In einem Brief vom 10.Januar 1916 antwortete Seidenstücker:

"...muss ich sagen, dass ich eine so tiefe und treffende Darstellung der Buddha-Lehre noch nirgends gefunden habe. Vor allen Dingen freut mich die Bejahung und Betonung des transcendentalen Subjekts; dies war vor allen Dingen das Eine, was notwendig war."
[Yâna 9 (1956), Nr. 5 (Sept.Okt.). -- S. 205].


5.1.1. Der Große Syllogismus und die Anattalehre


In diesem seinem Hauptwerk legte Grimm folgendes dar:

"Ich bin: Das ist der sicherste Satz, den es gibt." [124]

Allerdings sagt Buddha: "Wobei ein Entstehen und Vergehen wahrgenommen wird, geht es nicht an, zu behaupten: »Das ist mein Selbst, das bin ich«." [129]

Weiter folgt: "Nun gut, wenn ich nicht in meiner Persönlichkeit bestehe, dann bin ich eben etwas Anderes." [148]

"...du bist in Wahrheit jenseits der Welt, jenseits des Alls, oder im Geiste des Buddha ausgedrückt: Alles ist nicht dein Selbst, »die ganze Welt ist anatta«." [170]

Für den Erlösten gilt: "Nichts in der Welt trifft mehr zu. Der Vollendete in seiner Reinheit, losgelöst von den Schlacken seiner Persönlichkeit, also jenseits des Todes, ist etwas Unerkennbares, ist unergründlich, aber er ist, ist immer noch, nämlich eben ein Unergründliches." [190]
[Grimm, Georg: Die Lehre des Buddha : die Religion der Vernunft. -- 1. Aufl. -- München : Piper, 1915. -- S. 124ff. (Hervorhebungen nicht berücksichtigt)].

Fünf Jahre später, in der sechsten bis achten Auflage seines Werkes, hatte Grimm dann den großen Syllogismus ausgearbeitet:

Ist dieser Syllogismus wirklich als absolut zwingend begriffen, dann steht mit derselben absoluten Sicherheit fest, nicht nur, daß ich selbst unvergänglich bin, indem »Erkennbar« und »Vergänglich«, wie man dann ebenfalls weiß, sich deckende Begriffe sind, sondern auch, daß ich mich jederzeit von allem Vergänglichen und daher Leidbringenden befreien und damit in den Zustand lauterster, ewiger Seligkeit übertreten kann, wie das der Buddha weiterhin im einzelnen ausführt."
[Grimm, Georg: Die Lehre des Buddha : die Religion der Vernunft. -- 6.-8. Aufl. -- München : Piper, 1920. -- S. 1XXIVff.].

Auch im Weltspiegel drückte sich Grimm klar aus:

"Der Buddha hat, wie immer, so auch hier, den goldenen Mittelweg gewiesen. Auch seine Lehre hat einen transzendenten Kern. Es ist ihr Giftzahn, der für den, der sich seiner bedient, die ganze Welt vergiftet und sie so für ihn tötet, eben weshalb der Buddha ja auch seine Lehre in der 23. Rede des Majjhima-Nikâya mit einer Kobra vergleicht: »Halt! Es bleibe die Kobra! Rühre nicht an die Kobra. Verehrung erweise der Kobra!« Dieser transzendente Kern aber heißt: »Nippapañcâ tathâgatâ: die Vollendeten sind jenseits der Erscheinungswelt«, heißt: Der erlöste gestorbene Mensch ist »erhaben über alle Begreifbarkeit, ist undefinierbar, unbestimmbar, unergründbar wie der große Ozean«, heißt »wandellose«, also zeitlos-ewige »Seligkeit«. Ist das nicht transzendent?"
[Buddhistischer Weltspiegel 1 (1919/20). -- S. 301].

Damit knüpfte Grimm an an die bereits in vorchristlicher Zeit ausgestorbene Lehre der Puggallavâdin und stand somit im Kreuzfeuer der anderen Lehrmeinungen, die den Begriff "anatta" mit "nicht ein Ich = Nicht-Ich" übersetzten.

Wolfgang Bohn bemerkte:

"Diese allein-wahre Buddhalehre war nach Grimm seit 2000 Jahren verloren gegangen, und erst seine Schule in Deutschland hatte sie wiedergefunden... Der Transzendentalbuddhismus der Grimm'schen Schule aber dürfte eher den Namen Atta-Buddhismus verdienen, da er ein ewig beharrendes Selbst (atta) zur Geltung bringen will... Die Auflösung des Ich im Transzendenten ist eine Ansicht... Denn wem der Erlösungsgedanke in seiner ganzen Tiefe und Wahrheit sich erschlossen hat, für den wird am Ende jedes Sein, auch das in höchster Transzendenz, -- zur Qual."
[Zeitschrift für Buddhismus 2 (1920). -- S. 6f.].

Rückblickend schrieb Maya Keller-Grimm:

"Der erste, der ihn [Georg Grimm] voll begriff, war Seidenstücker ... Ihm war es wie er später selbst gestand, beim Studium der Lehre des Buddha wie Schuppen von den Augen gefallen. Er war es, der als erster den Anatta-Gedanken fasste... Und so rief Seidenstücker seinen Freunden zu: »In der Welt, aber nicht von der Welt bist du, o Erdensohn!«"
[Yâna 4 (1951), Nr 4. -- S. 94].

Seidenstücker war begeistert:

"Ich halte es für sehr zweckmässig und wünschenswert ... wenn den führenden Geistern in Ceylon, Birma, Indien, sowie unsern deutschen Bhikkhus ... je ein Exemplar [von Die Lehre des Buddha] überreicht würde. Es werden sich auch dort »Verständige« finden, und überdies haben verschiedene einflussreiche Buddhisten daselbst, wie Jayatilaka, Lakshmi Narasu und ein Bruder des Anagârika Dharmapâla europäische Bildung und Geistesbildung genossen, so dass für sie auch die Diktion nicht zu hoch wäre. Ich bin geneigt anzunehmen, dass in Asien mit dem Studium Ihres epochemachenden Werkes eine Regeneration des Buddhismus, zunächst in kleineren Kreisen, einsetzen würde, namentlich den einflussreichen Kreis um Jayatilaka halte ich für zugänglich und empfänglich."
[Max Hoppe in: Yâna 9 (1956), Nr 5. -- S. 207].


5.2. Buddhistischer Weltspiegel


Sofort nach Kriegsende trafen sich Seidenstücker und Georg Grimm, um zusammen eine neue Zeitschrift herauszugeben. Im Juli 1919 erschien die erste Nummer des Buddhistischen Weltspiegels, um danach drei Jahre lang zweimonatlich etwa 80 Seiten stark zu erscheinen, und dann zwei weitere Jahre immer unregelmäßiger in immer geringerem Umfang. Durch längere Leitartikel legte Grimm seine Lehrauffassung dar, während Seidenstücker Erstübersetzungen aus dem Suttapitaka brachte, wertvolle Darstellungen zahlreicher Themen und kunstgeschichtliche Untersuchungen. Hans Much (1880-1932) steuerte Gedichte bei und Kurt Schmidt (1879-1975) lieferte einen Pâli-Kurs. Kurt Oelzner (1893-1966), Felix Kuh (1867-1925), Freiherr Mensi von Klarbach (1854-1933) und andere kamen zu Wort.

Zur ersten Nummer lieferte Bohn (1871-) eine Erzählung und startete die fünfzehnteilige Serie "Der Buddhismus in den Ländern des Westens", die sich mit verschiedenen Religionserscheinungen in Eurasien befaßte und im zweiten Jahrgang endete, ohne ins zwanzigste Jahrhundert gelangt zu sein. Wie Bohn den kontemporären Buddhismus einschätzte, läßt sich aus den zahlreichen Polemiken und Erwiderungen lesen, denn der Buddhistische Weltspiegel stand mit der Zeitschrift für Buddhismus in einem ständigen Dialog (s.u.).

5.3. Altbuddhismus und Neubuddhismus


5.3.1. Paul Dahlke (1865-1928)


[Zu Paul Dahlke s. Hecker, Hellmuth: Lebensbilder deutscher Buddhisten ; ein bio-bibliographisches Handbuch. -- Konstanz : Universität. -- (Forschungsprojekt "Buddhistischer Modernismus" -- Forschungsberichte)
Band I: Die Gründer. -- 1990. -- 179 S. -- (... ; 1). -- S. 13-36 (mit ausführlichen Literaturangaben)]

Schon seit Anfang 1918 gab der Neubuddhistische Verlag in Berlin vierteljährlich die Neubuddhistische Zeitschrift heraus. Die Zeitschrift verfügte weder über ein Impressum noch waren die verschiedenen Artikel gekennzeichnet, aber sie dürften ausschließlich von Paul Dahlke selbst bestritten worden sein. Dahlke war homöopathischer Arzt in Berlin. Auf mehreren Asienreisen hatte er ceylonesische Mönche kennengelernt und war nach und nach zum Buddhismus gelangt. [Dahlke in: Die Brockensammlung 1925. -- S. 81-88]. Ab 1903 veröffentlichte er ein paar Übersetzungen und vor allem Aufsätze, in denen er den Buddhismus aus empirisch-rationaler Sichtweise beschrieb. [Dahlke, Paul: Aufsätze zum Verständnis des Buddhismus. -- Berlin : Schwetschke, 1903. -- 2 Bände, zus. 300 S.]. Damit bildete Dahlke einen Gegenpol zu Grimm's religiös-gemütsmäßiger Anschauung.

"Dieses Ergreifen in seiner fünffachen Form, diese geist-körperliche Ausbreitung auf die Außenwelt, das ist die Persönlichkeit, darin geht Leben restlos auf... Der Schöpfer und Erhalter dieses Spiels ist nicht ein atta (Ichselbst, Seele), sondern die tanhâ, der Lebensdurst, der weder das gleiche ist wie das Lebensspiel selber, noch ein anderes, ebenso wie der Zündfunke weder das gleiche ist, wie die Flamme, die er entzündet hat, noch ein anderes. Tanhâ ist die Ichkraft, auf Grund deren das Spiel sich immer wieder selber erlebt. Daher nennt der Buddha den Lebensvorgang anatta, Nichtselbst."
[Neubuddhistische Zeitschrift 1921/4. -- S. 49].

Dahlke gründete keinen buddhistischen Verein, denn er empfand dies als Widerspruch, denn der Sinn des "Zurruhekommens aller Gestaltungen" war ja die Auflösung aller Gemeinschaften. Und gerade bei Vereinen ginge die Freiwilligkeit verloren und spielten die Fragen der Verwaltung etc. eine große Rolle und würden im wesentlichen nach demokratischen Grundsätzen festgelegt. Buddhistische Einsicht und Entwicklung wäre aber immer Sache des einzelnen und ließe keinerlei Abstimmung zu. [Buddhistisches Leben und Denken 3 (1932/33). -- S. 38f.].

Seidenstücker dachte anders:

"Wir wollen ... als klarsehende Menschen unsern in Angriff genommenen Bau auch äußerlich sicher fundieren und den Zeitverhältnissen anpassen. Die Gemeinde muß, um künftig zur Wahrung ihrer Rechte als staatlich anerkannte Religionsgemeinschaft gelten zu können, zunächst durch Eintragung in das Vereinsregister die Rechte einer juristischen Person erwerben.... Schließlich wird man auch daran erinnern dürfen, daß selbst ein Buddha ... nicht umhin konnte,... eine große Anzahl von Regeln und Verordnungen zu erlassen."
[Buddhistischer Weltspiegel 4 (1922/23). -- S. 46].].


5.3.2. Neubuddhismus versus Altbuddhismus


Bereits 1918 verurteilte Dahlke Grimm's Standpunkt rücksichtslos: "Transzendental-Buddhismus ist kein Buddhismus." [Neubuddhistische Zeitschrift 18/2 (1917/18). -- S. 34].Schon im vorhergehenden, dem ersten Heft überhaupt, verglich er Grimm in dem vierzehnseitigen Artikel "Bewiesener und erlebter Buddhismus : Eine Kritik" mit einem Topf, der auch im Meer nicht mehr als seinen eigenen Inhalt fassen kann.

"Herr G. gehört zu denjenigen, deren Herz beim Anhören der Lehre vom restlosen Entsagen sich nie erheitert hat...[73] Nun wird niemand, der Buddhist am allerwenigsten, Herrn Grimm einen Vorwurf daraus machen, daß seine lebensbejaherische Anlage, sein ganzes Wesen es ihm unmöglich machen, in die stille Kühle des buddhistischen Quell-Gedankens einzutauchen... [76f] Für ihn wird ... der Buddha zu einer paradoxen Figur, indem er das Unvergängliche lehrt durch Zeigen der Vergänglichkeit und je mehr, je eindringlicher er lehrt, daß alles ausnahmslos vergänglich ist, um so heller strahlt für diese Köpfe aus seiner Lehre der geheimnisvolle Schimmer eines Unvergänglichen... [79] Herr G. setzt bei seinem ganzen Beweisgang ein mit dem Axiom von der Lebensbejahung als natürlicher Notwendigkeit und damit vom Leben als Wert an sich. Die ganze Buddha-Tat aber beruht letzten Grundes darauf,... daß sie Leben als bedingten Wert gezeigt hat, der sich immer wieder neu aus Gegenwartswerten zusammenwebt." [82f]

Die Kritik wird gekrönt durch einen Spruch aus dem Dhammapada:

"Wenn der Tor auch all sein Leben
Sich im Dienst um den Weisen bemüht
Nie begreift er rechte Lehre
Wie nie der Löffel der Suppe Geschmack." [85]
[Neubuddhistische Zeitschrift 18/1 (1917/18). -- S. 73ff.].


5.3.3. Altbuddhismus versus Neubuddhismus


In den folgenden neubuddhistischen Heften wurden die Anschauungen Grimm's immer wieder aufs neue angegriffen und Seidenstücker blieb auch nicht verschont. So verwundert es nicht, wenn am Ende der ersten Nummer des Buddhistischen Weltspiegels eine abfällige Notiz von Seidenstücker über die Neubuddhistische Zeitschrift bemerkte:

"Da ihr Herausgeber sämtliche literarischen Beiträge selbst beisteuert und überhaupt nach ihrem ganzen Gepräge zu urteilen, trägt sie weniger den Charakter eines Journals als den einer Sammlung rein persönlich gedachter Äußerungen Dahlkes, welche sich direkt, vielfach auch sehr indirekt auf den Buddhismus beziehen, an seine Leser. Die Zeitschrift sowie alles, was in dem genannten Verlage bisher erschienen ist, ist ausgesprochen siamesisch orientiert. Wir haben in diesem Standpunkt eine grundstürzende Verkennung des Buddha-Gedankens zu erblicken und lehnen ihn auch persönlich für uns ab. Damit will ich indessen nicht ohne weiteres behaupten, daß es, soweit die rein praktische Seite in Frage kommt, unmöglich sei, auch mit denen um Dahlke gewisse Wegstreken gemeinsam zu gehen.".
[Buddhistischer Weltspiegel 1 (1919/20). -- S. 48. Auch wenn Seidenstücker nicht näher erläutert, um was es sich bei der "rein praktischen Seite" handeln könnte, so zeigt er doch zumindest doch noch guten Willen].

(Zwei Jahre später waren die gegenseitigen Polemiken soweit gediehen, daß Seidenstücker Dahlke als "eigentlichen Totengräber intra muros" bezeichnete und die Leser der Neubuddhistischen Zeitschrift fragte "merkt ihr denn gar nicht, wie niedrig ihr von eurem Propheten eingeschätzt und wie arg ihr genasführt werdet?" [Buddhistischer Weltspiegel 2 (1920/21). -- S. 276 und 278].)

Die Mahâbodhi-Gesellschaft dagegen, um die es seit 1916 still war, wurde kurz beschrieben und die Adressen von F. Hornung und C .T. Strauss für Interessenten angegeben. Ebenso wurde die Adresse von W. Bohn, dem Vorsitzendem des Bund für buddhistisches Leben genannt. Dabei wurde klargestellt, daß

"Der Bund... nicht ins Leben [trat], um den anderen buddhistischen Gruppen eine Konkurrenz zu schaffen, sondern mit einer neuen Aufgabe: Er erstrebt die Einführung der buddhistischen Heilswahrheiten und der hohen ethischen Heilslehren in das persönliche Leben der europäischen Freunde des Buddhismus. Sein Zweck ist, für die Beobachtung der fünf Sîlas ... zu wirken; ein Gewissenszwang zur Einhaltung derselben wird jedoch nicht ausgeübt."
[Buddhistischer Weltspiegel 1 (1919/20). -- S. 44].


Zu Kapitel 6: Eklektischer und sektiererischer Buddhismus